Normalisierung, Parteilichkeit und Solidarität. Die Leitideen der Behindertenarbeit am Beispiel der Caritas Tagesstätte


Diplomarbeit, 1999

89 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

1 Darstellung der Caritas Tagesstätte für schwerst körperbehinderte Erwachsene
1.1 Vorgeschichte und Entstehung der Caritas Tagesstätte
1.1.1 Caritas Kontaktstelle für Behinderte
1.1.2 Konzeptarbeit für die Tagesstätte
1.1.3 Anfangsproblematiken
1.2 Strukturelle Rahmenbedingungen
1.2.1 Finanzielle Problematiken
1.2.2 Behindertenarbeit des Caritasverbands als Träger und Dachverband
1.3 Prinzipien sozialarbeiterischen Handelns in der Tagesstätte
1.3.1 Normalisierung
1.3.2 Parteilichkeit
1.3.3 Solidarität

2 Die Arbeit in der Caritas Tagesstätte – Umsetzung der Prinzipien der Normalisierung, Parteilichkeit und Solidarität
2.1 Von der Passivität zur Aktivität oder: Vom Patienten zum Konsumenten
2.2 Alltagsorganisation
2.2.1 Helferorganisation
2.2.2 Administration
2.2.3 Bildungsarbeit
2.2.4 Kommunikation im sozialen Umfeld
2.2.5 Partnerschafts- und Sexualberatung

3 Konzeptioneller Hintergrund der Tagesstätte zur professionellen Sozialarbeit in der Caritas Tagesstätte
3.1 Körperbehinderte Menschen – ein Leben lang in einem Sondersystem
3.1.1 Der behinderte Mensch als zu korrigierendes Mängelwesen
3.1.2 Auswirkungen von totalen Institutionen auf die Betroffenen
3.2 Die ‚Selbstbestimmt-Leben-Bewegung‘
3.2.1 Geschichtlicher Hintergrund: ‚Die Independent-Living-Bewegung‘
3.2.2 Anfänge der ‚Selbstbestimmt-Leben-Bewegung‘ in Deutschland
3.3 Theoretisches Wissen als Grundlage professioneller Arbeit
3.3.1 Öko-sozialer Ansatz nach Wendt
3.3.2 Netzwerkarbeit
3.3.3 Empowerment – neue Möglichkeiten in der Sozialen Arbeit

4 Konsequenzen dieser Konzeption für die Behindertenarbeit am Beispiel der Caritas Tagesstätte
4.1 Problematiken dieses Arbeitsansatzes
4.1.1 Geringe persönliche Distanz zu den NutzerInnen der Einrichtung
4.1.2 Umgang mit ‚institutionalisierten‘ NutzerInnen
4.1.3 Ablehnung des Konzeptes und der Einrichtung durch die Fachbasis
4.2 Weiterentwicklung dieses Ansatzes
4.2.1 Etablierung des Gesamtkonzeptes in der Fachbasis
4.2.2 Betreutes Einzelwohnen
4.3 Einsetzbarkeit der vorgestellten Sozialarbeitstheorien

5 Schlußgedanken

6 Anhang

7 Literaturverzeichnis

Vorwort

Der folgende Text ist einem Plakat der Aktion Grundgesetz entnommen

“Die Würde des Menschen ist antastbar”

“Die denken, ich kann nicht denken. Aber nicht mein Kopf ist spastisch gelähmt, sondern mein Körper” (Arne Maiwald).

“Im Heim wird mir vorgeschrieben, wann ich zu Bett gehen, wann ich nach Hause kommen, was ich zu essen habe.

Darauf, wie ich gewaschen, angezogen, gehoben werde, habe ich kaum Einfluß” (Roman Desorno)

“Es regt mich auf, wenn wir Stotternden in Filmen als dumm und tolpatschig dargestellt werden. Als ob Stottern etwas mit Intelligenz zu tun hätte” (Konrad Schäfers)

“Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.”

(Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz)

Aktion Grundgesetz

Eine Initiative der Aktion Sorgenkind und 85 Verbänden und Organisationen der Behindertenhilfe und Selbsthilfe.

Einleitung

Mit der vorliegenden Arbeit soll ein alternatives und innovatives Konzept der offenen Behinderten­arbeit aufgezeigt werden. Darstellen möchte ich dieses am Beispiel der Caritas Ta­gesstätte für schwerst körperbehinderte Erwachsene unter besonderer Be­rück­sichtigung der Grundsatzprinzipien Normalisierung, Parteilichkeit und Solidarität. Erreicht werden soll durch dieses Projekt die größtmögliche Autonomie für behinderte Menschen. Die Ermöglichung eines ‚Selbstbestimmten Lebens‘ ist daher auch der rote Faden, der diese Arbeit durchziehen soll.

Die praktische Umsetzung der Konzeption ist meines Erachtens nach in kleineren, überschaubaren Einrichtungen gut möglich, da hier eine höhere Flexibilität im profes­sionellen und ganzheitlichen Handeln gewährleistet ist.

An dieser Stelle möchte ich zunächst darauf hinweisen, daß ich mich nachfolgend ausschließlich auf die Arbeit mit körperbehinderten Menschen beschränken werde. Die Prinzipien Normalisierung, Solidarität und Parteilichkeit gelten selbstverständlich auch für die Arbeit mit geistig und psychisch behinderten Menschen. Für das sozialar­beiterische Handeln sind dann jedoch andere konzeptionelle Schwerpunkte erforderlich, um ganzheitliche und individuelle Unterstützung leisten zu können.

Für den Begriff der Behinderung gibt es keine einheitliche Definition, es ist ein ge­bräuchlicher Begriff, der in verschiedenen sozialen Systemen und wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich benutzt wird.

Behinderung kann als eine gesetzlich definierte Regelwidrigkeit betrachtet werden. Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) § 124, Abs. 4, Satz 1-4 beschreibt Behinderung als “eine nicht nur vorübergehende erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit, die auf dem Fehlen oder auf Funktionsstörungen von Gliedmaßen oder auf anderen Ursachen beruht ... Weiterhin liegen Behinderungen bei einer nicht nur vorüber­gehenden erheblichen Beeinträchtigung der Seh-, Hör und Sprachfähigkeit und bei einer erheblichen Beeinträchtigung der geistigen oder seelischen Kräfte vor.”[1] Hier wird lediglich die Schädigung beschrieben, nicht aber die gesellschaftliche Dimension.

Die Definitionen für diesen Begriff sind auf internationaler Ebene sehr unter­schiedlich. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterteilt den Behindertenbegriff in 3 Berei­che.[2]

Impairment (Schädigung)

Darunter werden Mängel oder Abnormitäten der anatomischen, psychischen oder physio­logischen Funktionen oder Strukturen des Körpers verstanden. Impairment be­zeichnet Behinderung als eine organische Schädigung, ist also eine medizinische Begriffsdefinition und wird allgemein innerhalb des medizinischen Bezugsrahmens fest­gestellt.

Disability (Beeinträchtigung)

Unter diesen Begriff fallen Funktionsbeeinträchtigungen oder –mängel aufgrund von Schädigungen, die typische Alltagssituationen behindern oder unmöglich machen, also die individuellen Konsequenzen der Behinderung.

Handicap (Behinderung)

Dieser Ausdruck bezeichnet die Nachteile und Benachteiligungen, die aus einer Schä­digung oder Beeinträchtigung resultieren. Hierbei geht es vor allem um den Verlust oder die Einschränkung der Möglichkeiten, gleichberechtigt am Leben der Gemein­schaft teilzunehmen.

Behinderung wird als soziale Beeinträchtigung gesehen. Mit diesem Begriff wird die gesellschaftliche Dimension des “Behindert-Seins” aufgegriffen. Behinderung kann deshalb als soziales Phänomen verstanden werden, das durch die Haltung und das Verhalten der Umwelt bestimmt wird.

Das Forum behinderter Juristen der BRD fand eine sehr treffende Erklärung des Behin­dertenbegriffs: “Eine Behinderung ist jede Maßnahme, Struktur oder Verhaltensweise, die Menschen mit Beeinträchtigungen Lebensmöglichkeiten nimmt, beschränkt oder erschwert.”[3] Diese zuletzt genannte Formulierung entspricht auch der Sichtweise der Tagesstätte bezüglich des Begriffs ‚Behinderung‘. Übertragen auf das professionelle Handeln der Tagesstätte bedeutet dies, das Individuum bei der Aufhebung bzw. Einschränkung der sozialen Beeinträchtigungen zu unterstützen.

Einleitend möchte ich noch auf begriffliche Besonderheiten eingehen. In der ganzen Arbeit habe ich vermieden, den Begriff “Behinderte” zu benutzen, da in diesem Fall die Behin­derung im Vordergrund stehen würde. Gemäß den Prinzipien der Nor­malisierung, Par­teilichkeit und Solidarität steht jedoch der Mensch im Vordergrund, der neben vielen anderen persönlichen und individuellen Merkmalen auch das Merkmal ‚Körperbehinderung‘ aufweist. So werde ich Formulierungen wie ‚Menschen mit Beein­trächtigung‘ oder ‚körperbehinderte Menschen‘ verwenden, um die personale Identität und Würde zu betonen.

Des weiteren vermeide ich den Begriff ‚KlientIn‘, der in gewisser Weise ein Ab­hän­gig­keitsverhältnis von professionellen Diensten ausdrückt. Zeitgemäße Sozialarbeit soll den Menschen Mög­lichkeiten geben, sich selber aktiv am Hilfeprozeß zu beteiligen im Sinne einer ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘.

Die Caritas Tagesstätte möchte eine Alternative zu traditionellen – insbesondere voll­stationären - Behinder­ten­einrichtungen anbieten. Es soll ein Angebot für Menschen sein, die (künftig) selbstbestimmt und unabhängig von Fremdbestimmung leben wollen. Daher verwende ich nachfolgend den Begriff ‚NutzerInnen‘, der meiner Meinung nach auch am besten zu der ganzheitlichen Konzeption der Tagesstätte paßt. Der Begriff ‚NutzerInnen‘ bringt auch die Freiwilligkeit und Wahlmöglichkeit zum Ausdruck.

Die Arbeit ist inhaltlich wie folgt aufgebaut:

Zu Beginn wird die Tagesstätte für schwerst körperbehinderte Menschen vorgestellt, deren Entstehungsgeschichte und Konzeption. Daran anknüpfend werde ich auf die struk­turelle Rahmenbedingungen eingehen, insbesondere auf die finanziellen Proble­matiken. Abgeschlossen wird dieser Abschnitt mit der Erläuterung der Prinzipien der Normalisierung, Parteilichkeit und Solidarität erläutert.

Im nächsten Teil wird die Umsetzung dieser Prinzipien transparent gemacht und anhand eines Fallbeispiels dargestellt. Damit Menschen mit Behinderungen selbständig leben können, sind bestimmte Voraussetzungen und Fertigkeiten nötig, die hier eingehend behandelt werden.

Der nachfolgende Abschnitt beginnt mit einer Betrachtung traditioneller Be­hin­dertenarbeit und den Konsequenzen totaler Institutionen für die Betroffenen. Die ‚Selbstbestimmt-Leben-Bewegung‘ stellt die Autonomie behinderter Menschen in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit. Da sich die Tagesstätte an wesentliche Zielsetzungen der ‚Selbstbestimmt-Leben-Bewegung‘ anlehnt, wird diese Initiative ausführlich vorgestellt, ebenso deren geschichtlicher Hintergrund.

Das professionelle Handeln in der Tagesstätte stützt sich im wesentlichen auf den öko-sozialen Ansatz nach Wendt, auf die Erschließung sozialer Netzwerke und auf das Empowerment-Prinzip. Die Theorien werden zwar separat vorgestellt, aber erst durch die Kombination und Verknüpfung dieser Handlungsansätze kann das Konzept der Tagesstätte verwirklicht werden.

Im nächsten Abschnitt soll auf spezielle Problematiken eingegangen werden, die als Folge dieses neuen Arbeitsansatzes auftreten. Da die Tagesstätte ein bisher einmaliges Projekt ist, soll auch auf die geplante Weiterentwicklung und den Ausbau von Unter­stützungsleistungen hingewiesen werden.

Abschließen werde ich die Arbeit mit einem Transfer der Theorieansätze auf die praktische Tätigkeit in der Tagesstätte. Als Anhang füge ich die persönlichen Auf­zeichnungen eines körperbehinderten Menschen bei.

1 Darstellung der Caritas Tagesstätte für schwerst körperbehinderte Erwachsene

Die Tagesstätte wurde mit dem Ziel errichtet, schwerst körperbehinderte Menschen, die bislang noch im Elternhaus oder in vollstationären Einrichtungen leben, bei der Ge­staltung eines eigenver­antwortlichen Lebens zu unterstützen. Dabei wird der etwas irre­führende Begriff ‚Tagesstätte‘ allerdings nur aus finanztechnischen Gründen be­nö­tigt. Es handelt sich bei der Tagesstätte keineswegs um eine Aufbewahrungsstelle mit täglichem therapeutischen Beschäftigungsprogramm.

Als Zielgruppe angesprochen sind schwerst körperbehinderte Erwachsene, die vom Arbeits­amt als ‚nicht werkstattfähig‘ eingestuft werden oder in einer Behinderten­werk­statt geistig unterfordert wären. Die Tagesstätte soll jedoch keine Konkurrenz zu be­ste­hen­den voll­stationären Einrichtungen darstellen, sondern behinderten Menschen die Mög­lichkeit geben, entscheiden zu können, wie und wo sie leben möchten. Viele Men­schen mit Behinderungen leben nur mangels vorhandener, adäquater Alternativen in Heimen.

1.1 Vorgeschichte und Entstehung der Caritas Tagesstätte

In den letzten 20 Jahren formierten sich in der Bundesrepublik zahlreiche Selbst­hil­fe­gruppen im Behindertenbereich. Immer lauter wurden die Forderungen nach einem selbst­bestimmten Leben, nach einem Leben ohne Aussonderung. Unter selbst­be­stimm­ten Leben ist in diesem Zusammenhang die ‚Kontrolle über das eigene Leben‘ zu ver­ste­hen. Das heißt, daß sich der behinderten Mensch von den Zwängen der Fremd­be­stimmung seitens etablierter Behinderteneinrichtungen oder der eigenen Familie befreit.

Körperbehinderte Menschen gelten in unserer Gesellschaft häufig immer noch als:

- Kognitiv eingeschränkt
- hilflos, schutzbedürftig, unselbständig, verantwortungslos
- unästhetisch
- behandlungsbedürftig, betreuungsbedürftig, separationsbedürftig
- Belastung für ihr Umfeld
- Kostenfaktor

um nur einige Beispiele zu nennen.

Aufgrund dieser Aussagen werden behinderte Menschen in Sondereinrichtungen betreut und therapiert. Behinderung allein aus medizinischem Blickwinkel rechtfertigt eine Heim­unterbringung immer noch als generelle Lösung für die Integration behinderter Menschen. Eine derartige Unterbringung erfordert jedoch eine Anpassung an die dort herrschenden Strukturen, die kaum mehr eigene Entscheidungen ermöglichen. Es wer­den den BewohnerInnen Lebensmöglichkeiten genommen, die von nichtbehinderten Menschen als selbstverständlich und nicht mehr hinterfragbar angesehen werden, wie etwa Wohnort, Erwerbstätigkeit, Freizeitgestaltung.[4]

Somit werden behinderte Menschen, die eigentlich in die Gesellschaft eingegliedert wer­den sollen, de facto ausgeschlossen, sie werden lediglich in Institutionen einge­gliedert.

Die behinderten Menschen selbst wollen in den allermeisten Fällen jedoch:

- in ihrer Familie leben
- mit den Nachbarskindern Kindergarten und Schule besuchen
- teilnehmen am alltäglichen Leben
- eine Berufsausbildung erhalten und ein eigenständiges Leben gestalten
- ihr Recht auf Beziehung, Partnerschaft und Kinder leben
- sich selbst als Mensch definieren und nicht als reparaturbedürftiges Mängelwesen
- Macht über sich selbst haben
- keinen Institutionen und Theorien ausgeliefert sein

Der Wechsel in die Eigenständigkeit ist für behinderte Menschen, die bislang in Re­ha­bilitationseinrichtungen lebten, nicht einfach. Wichtige lebenspraktische, or­gani­sa­torische und soziale Kompetenzen zur Führung eines selbstbestimmten und eigen­ver­antwortlichen Lebens konnten sich nur unzureichend entwickeln. Die Organisation des Alltags wird ihnen abgenommen und für die elementaren Bedürfnisse des Alltags ist gesorgt. Man braucht sich keine Gedanken darüber zu machen, wer einkauft, kocht, wäscht, die Miete bezahlt. Der Preis für diese Sicherheit ist der Verlust an Frei­heit und Unab­hängigkeit.

Die MitarbeiterInnen der Tagesstätte sehen in der Behinderung eines Menschen primär gesellschaftliche und sozialpolitische Macht- und Austauschprobleme[5], die den Men­schen Kompetenzen und Entscheidungsmöglichkeiten für das eigene Leben nehmen, das sind insbesondere

- die Entscheidung über den Tagesablauf
- die Kompetenz der Anleitung der Hilfe
- die Wahlmöglichkeiten der Wohnform
- die Selbstbestimmung des Aufenthaltsorts
- die Schaffung eines privaten Lebensraums
- die Entwicklung eines eigenen Lebensstils
- das Recht und die Chancen auf Freundschaften, Liebe und Sexualität
- das Recht auf Arbeit

Für Menschen, die jahrelang in beschützenden Einrichtungen lebten, ist der Übergang zu einem autonomen Leben, wie bereits erwähnt, sehr schwierig. Er bedeutet für die Be­trof­fenen harte Arbeit. Die MitarbeiterInnen der Tagesstätte möchten die NutzerInnen bei der Verwirklichung eigener Lebensziele und auf ihrem Weg in die Eigen­ständigkeit unterstützen und begleiten. Hier verwende ich ausdrücklich die Verben ‚unterstützen‘ bzw. ‚begleiten‘und nicht ‚helfen‘, da der behinderte Mensch selber aktiv an seiner Unabhängigkeit arbeiten soll. Er muß lernen, sein Leben eigenverantwortlich in die Hand zu nehmen.

1.1.1 Caritas Kontaktstelle für Behinderte

Im Jahr 1989 beschloß der Caritasverband der Erzdiözese München und Freising e.V., eine Beratungsstelle mit ambulantem Hilfsdienst für Behinderte einzurichten. Zur Ziel­gruppe der Kontaktstelle zählen schwer und schwerst körperlich und geistig behinderte, sinnesgeschädigte, chronisch kranke Menschen, Familien mit behinderten Angehörigen und behinderte Kinder. Aufgabe der Kontaktstelle ist es, Behinderten, deren Ange­hörigen und Bezugspersonen Beratung und Hilfe anzubieten und deren Lebensqualität aufrecht zu erhalten. Weiterhin soll be­hinderten Menschen ermöglicht werden, in der gewohnten Umgebung zu verbleiben, um ein Leben nach individuellen Bedürfnissen und Vorstellungen zu führen.

Da die Kontaktstelle an keine Institution gebunden ist, wie etwa die Sozialdienste voll­stationärer Einrichtungen, kann parteiliche Beratung und Unterstützung angeboten wer­den. Die BeraterInnen sind in ihrem Handeln autonom und können somit nicht in Kon­flikt mit den Interessen einer Institution und den Interessen des Betroffenen kommen. Dies ist für die BesucherInnen von großer Wichtigkeit, da sie offen über ihre Wünsche, Vor­stellungen und Probleme sprechen können ohne befürchten zu müssen, daß diese Informationen einrichtungsintern in Form von Dienstgesprächen etc. weitergegeben werden.

Assistenzdienste zur Bewältigung und Erleichterung des Alltags sind ein wich­tiger Be­stand­teil der Arbeit. Allerdings stellt die finanzielle Absicherung dieser Dien­ste ein großes Problem dar, da die betroffenen Menschen meist nicht unter die Kri­terien der Pflegeversicherung fallen und somit häufig die Dienste aus eigenen Mitteln bestreiten müssen.

Im Laufe der Zeit nahmen auch zunehmend Menschen die Dienste der Beratungsstelle in Anspruch, die bislang in Heimen oder noch im Elternhaus lebten und den Wunsch nach einer eigenen Wohnung und einem eigenständigen Leben hatten. Dieser Wechsel von einer behüteten Umgebung in die Selbständigkeit erfordert intensive Unterstützung. Hier waren die angebotenen Beratungen und praktischen Hilfestellungen durch Zivil­dienst­leistende bei weitem nicht ausreichend, um die Betroffenen hinreichend auf diese neue Lebensform vorzubereiten und zu begleiten. Es stellte sich deutlich heraus, daß ein intensives und individuelles Trainingsprogramm benötigt wird, um diese Autonomie zu erreichen.

1.1.2 Konzeptarbeit für die Tagesstätte

Nachdem sich klar herauskristallisierte, daß Beratung allein nicht ausreichte, um be­hin­derte Menschen den Weg in die Selbständigkeit zu ermöglichen, wurde nach adä­qua­ten Lösungen gesucht. Dabei orientierte man sich an den wichtigsten Grundsätzen der ‚Inde­pendent-Living-Bewegung'[6], d.h. vor allem, daß Menschen mit Behinderungen die gleichen Rechte, Pflichten und Teilnahmemöglichkeiten in der Gesellschaft haben sollen wie jeder andere Bürger.

Bezogen auf das Konzept der Tagesstätte bedeutet dies insbesondere, daß behinderten Menschen die Wahl und die Möglichkeit gegeben wird, selber zu entscheiden, wie und wo sie leben wollen, welche Hilfeleistungen in Anspruch genommen werden und von wem. Schwer­punkt­mäßig sollte ein Angebot geschaffen werden, das im Sinne des Empowerment-Prinzips folgende Unterstützungen anbietet:

- Vermittlung von Wissen
- Stärkung des Selbstbewußtseins
- Vertreten von eigenen Interessen

In diesem Sinne zielt die Arbeit in der Tagesstätte darauf ab, für behinderte Menschen in allen Bereichen des Lebens die Möglichkeiten zu schaffen, ein Höchstmaß an Selbst­be­stimmung zu erreichen.

Die Konzeptarbeit für die Tagesstätte war langwierig und zog sich über einen Zeitraum von ca. 2 Jahren hin. Die Schwierigkeit bestand vor allem darin, daß es sich bei der Ta­ges­stätte meines Wissens nach um ein Pilotprojekt handelt. Trotz umfangreicher Recherchen ist es mir nicht gelungen, eine vergleichbare Einrichtung in Deutschland ausfindig zu machen.

Vor allem der Kostenträger mußte von der Wichtigkeit und Qualität des Projekts über­zeugt werden. Ein sehr einleuchtendes Argument war dabei, daß Menschen, die in Zu­kunft nicht mehr in Heimen leben, auch dem Kostenträger, dem Bezirk Oberbayern, nicht mehr zur Last fallen.

1.1.3 Anfangsproblematiken

Problematisch war und ist seit der Planungsphase der Tagesstätte die Akzeptanz in der Fach­basis und zum Teil auch innerhalb des Caritasverbands. Das liegt vermutlich primär an der Tatsache, daß sich das Projekt größtenteils an einem Konzept aus Amerika orientiert, der ‚Independent-Living-Bewegung‘[7].

Vor allem etablierte Behinderteneinrichtungen waren und sind der Ansicht, daß kein Be­darf für Projekte wie die Tagesstätte vorhanden sei. Es wurde und wird auch jetzt noch für relativ un­möglich gehalten, daß Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung in Heimen untergebracht sind, jemals eigenständig außerhalb einer beschützenden Einrich­tung leben können.

Daß aber ein Leben für behinderte Menschen außerhalb von Pflegeheimen und Sonder­ein­richtungen realisierbar ist, haben Mitglieder der ‚Selbstbestimmt-Leben-Bewegung‘ und ähnlicher Selbsthilfegruppen mittlerweile bewiesen. Dabei erreichten diese Men­schen ohne eine Rehabilitation häufig die Ziele, welche die Rehabilitation vorgab zu er­reichen und nicht schaffte[8]. Voraussetzung dafür ist, daß diesen Menschen die Mög­lichkeit zur Übernahme der Verantwortung für sich selbst gegeben wird und die not­wen­digen Unterstützungen, die für ein selbstbestimmtes Leben nötig sind, bereitgestellt wer­den. Ebenso notwendig ist die Abkehr vom medizinischen Modell[9], die den be­hinderten Menschen aufgrund körperlicher Einschränkungen in die Rolle des Kranken drängt.

1.2 Strukturelle Rahmenbedingungen

Die Caritas Tagesstätte befindet sich in der Trägerschaft des Caritasverbands der Erz­diözese München und Freising e.V. Der Caritasverband stellt dabei sowohl die räum­li­chen wie auch die personellen Voraussetzungen. Die Tagesstätte gehört zum Geschäfts­bereich der Behinderteneinrichtungen des Caritasverbands, ist örtlich lokali­siert in einem Gebäude des Katholischen Siedlungswerks München GmbH und teilt sich diese Räum­lichkeiten mit dem Caritas Stadtteilzentrum.

Beschäftigt sind derzeit 2 SozialpädagogInnen in Teilzeit mit jeweils 20 und 10 Wo­chenstunden. Ferner stehen eine Verwaltungskraft mit einer wöchentlichen Ar­beitszeit von 4 Stunden und 2 AssistentInnen mit jeweils 30 Stunden Wochenarbeitszeit zur Verfügung. Dieser Personalschlüssel errechnet sich aufgrund der 6 vorhandenen Plätze für NutzerInnen.

1.2.1 Finanzielle Problematiken

Die Tagesstätte wird finanziert durch Pflegesatzvereinbarungen mit dem Bezirk Ober­bayern entsprechend dem Bundessozialhilfegesetz. Das bedeutet, daß nur die im Augen­blick belegten Plätze finanziert werden. Problematisch war dies vor allem in der An­fangs­phase, als nur 2 NutzerInnen vom Angebot der Tagesstätte Gebrauch machten. Ent­sprechend hoch waren die Defizite.

Der Tagesstätte, die mittlerweile voll belegt ist, steht nach dem derzeitigen Pflege­schlüs­sel keine volle Planstelle für eine SozialpädagogIn zu. Da es sich bei der Tages­stätte um keine stationäre Einrichtung, sondern nach den Vorgaben des Bezirks von Ober­bayern um eine Einrichtung mit tagesstrukturierenden Maßnahmen handelt, ist auch der Personalbedarf entsprechend geringer angesetzt. Dies bedeutet für die Mitar­beiterInnen eine überdurchschnittlich hohe Belastung, um allen Anforderungen gerecht zu werden. Um die NutzerInnen noch besser begleiten, unterstützen und fördern zu können, wäre eine zusätzliche Planstelle für eine SozialpädagogIn dringend er­for­derlich. Ohne die hohe Einsatzbereitschaft der MitarbeiterInnen und die überaus kooperative Zusammenarbeit mit der Caritas Kontaktstelle für Behinderte wären die Ziele der Tagesstätte kaum zu verwirklichen.

1.2.2 Behindertenarbeit des Caritasverbands als Träger und Dachverband

Die Behindertenhilfe im Deutschen Caritasverband will gemäß ihren Leitzielen der Aus­grenzung von behinderten Menschen aus der Gesellschaft entgegentreten. So sollen Hilfen nicht nur als fachliche Leistungen, sondern auch als Hilfen zur gegenseitigen Akzeptanz von Behinderten und Nichtbehinderten verstanden werden.

Als fachliches und organisatorisches Ziel in der Behindertenhilfe wird die Orientierung am Bedarf und der Lebenswelt der Betroffenen angestrebt. Dabei sollen die behinderten Men­schen als ExpertInnen ihrer eigenen Not oder ihres eigenen Anspruchs in die Ent­wick­lung und Festlegung der fachlichen und organisatorischen Standards mit einbe­zo­gen werden. Leistungen und Hilfen sollen bedarfs- und leistungsgerecht finanziert werden.

In der Caritas in Bayern sind rd. 6100 Facheinrichtungen und Projekte zusammen­geschlossen, wobei die Behindertenhilfe mit 8 % vertreten ist.

Der Caritasverband der Erzdiözese München und Freising e.V. ist derzeit Träger von 18 Behinderten­einrichtungen, nämlich

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In diesen Einrichtungen werden zum augenblicklichen Zeitpunkt 1.600 behinderte Men­schen von ca. 600 MitarbeiterInnen betreut. Anzumerken ist hier noch, daß der über­wiegende Teil der Einrichtungen für Menschen mit geistigen Behinderungen konzipiert ist.

Die Tagesstätte wurde auf Drängen der LeiterIn der offenen Behindertenarbeit errichtet, die aufgrund ihrer langjährigen Praxiserfahrung einen hohen Bedarf für eine derartige Einrichtung sah. Der Caritasverband betrachtet die Tagesstätte - nach anfänglicher Skepsis - als gute Ergänzung zu anderen Einrichtungen der Behindertenarbeit, nicht aber als zukunftsweisendes Projekt. Es ist als äußerst positiv zu bewerten, daß das Konzept trotz der schwierigen Finanzlage verwirklicht werden konnte. Wegen der mo­mentanen angespannten Finanzlage wird auch die weitere Etablierung dieses Konzepts nicht einfach zu gestalten sein. Die Tagesstätte soll vorerst ein Einzelprojekt bleiben, da der Caritasverband augenblicklich keinen weiteren Bedarf für ähnliche Einrichtungen – weder in München noch im Umland – vermutet.

1.3 Prinzipien sozialarbeiterischen Handelns in der Tagesstätte

Jede Einrichtung folgt in ihren Handlungen und in ihren Konzepten bestimmten Prin­zipien, die sich im Regelfall auf wissenschaftliche Lehrmeinungen beziehen. In der Sozialarbeit haben wir es mit Basiswissenschaften, wie z.B. Soziologie, Psychologie, Medizin, Jura, Pädagogik zu tun. Im Rahmen der praktischen Arbeit sind die Er­kenntnisse aus den verschiedenen Basiswissenschaften in konkretes Handeln umzusetzen.

Die Tagesstätte für schwerst körperbehinderte Erwachsene leitet aus den Basiswissen­schaften im wesentlichen und schwerpunktmäßig drei Handlungsprinzipien ab: Normalisierung, Parteilichkeit und Solidarität.

Das Prinzip der Solidarität kann in der Tagesstätte nur deshalb aktiv umgesetzt werden, da ein Teil der SozialpädagogInnen selbst vom Merkmal der Körperbehinderung be­trof­fen ist. Für die praktische Tätigkeit in der Tagesstätte ist diese persönliche Betrof­fenheit zwar sehr hilfreich, generell jedoch nicht zwingend erforderlich. Aus diesem Grund habe ich den Begriff der Solidarität im Thema dieser Arbeit nicht explizit erwähnt.

1.3.1 Normalisierung

Der Däne Bank-Mikkelsen prägte den Begriff Ende der 50er Jahre. Der (geistig) be­hin­derte Mensch sollte nach dem Normalisierungsprinzip[10] ein möglichst normales Leben füh­ren können, vor allem bezüglich Wohnen, Arbeit, Schule, Freizeit, Lebensstandard, Sexualität.

“Das Grundprinzip der Normalisierungstheorie ist es, daß alle Menschen, seien sie be­hin­dert oder nicht, die gleichen Rechte haben; es ist also ein Gleichheitsprinzip. Trotz­dem darf man nicht vergessen, daß alle Menschen verschiedenartig sind, daß sie ver­schie­dene Bedürfnisse haben, so daß Gleichheit lediglich bedeutet, jedem ein­zelnen Men­schen Hilfe und Unterstützung anzubieten, die seinen individuellen Bedürf­nissen anzupassen sind. Der Behinderte ist in gesetzlicher und humaner Hinsicht als gleich­ge­stellter Bürger zu betrachten, auch wenn die verschiedenen Formen von Therapie­be­hand­lungen die Behinderung nicht zu beseitigen vermögen. Ich möchte hier über den Be­griff, der an sich so einfach ist, nicht theoretisieren. Es ist keine neue Ideologie, son­dern an und für sich ein Antidogma, das sich gegen die Diskriminierung behinderter Per­sonen wehrt.”[11]

Die Prinzipien des Normalisierungsbegriffs wurden von verschiedenen AutorInnen weiterentwickelt und es gibt sehr viele unterschiedliche Ansichten darüber. Dabei kann es immer wieder zu Mißverständnissen kommen. Daher möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen, daß das Prinzip der Nor­ma­lisierung, wie es die Tagesstätte zu verwirklichen versucht, dem dänischen Begriffs­verständnis entspricht.

Für die Gruppe der körperbehinderten Menschen bedeutet dies im wesentlichen die Nor­malisierung der Beziehungsebene. Behinderte Menschen verbringen ihr Leben und Erleben zum großen Teil in einem ärztlich-therapeutischen Beziehungs­geflecht. Sie werden von frühester Kindheit an diagnostiziert, prognostiziert und therapiert, wodurch der Blick auf das wahre Kind häufig verstellt wird.[12] Der Blick aller Kontaktpersonen außerhalb, aber teilweise auch innerhalb der Familie, richtet sich von Anfang an auf das Vorhandensein und die Behebung bestehender Defizite. So steht zum Beispiel für Ärzte die Korrektur äußerer Mängel im Vor­der­grund, von psychologischer Seite her soll der behinderte Mensch an die Gegebenheiten der Umwelt angepaßt werden.

Schönwiese äußert sich zu dieser Problematik folgendermaßen: “Vieles, was als speziel­le Didaktik oder Therapie für be­hin­derte Kinder und Jugendliche gilt, ist nichts anderes als der instituionalisierte Versuch, wie­der heil und normal zu machen, wo es zu­erst einmal darum ginge, die Selbst­be­stim­mung und eigene Ausdrucksfähigkeit des behinderten Kindes oder des Jugend­lichen zu akzeptieren.”[13]

Während nichtbehinderte Kinder im Normalfall den Arzt nur zur Vorsorgeuntersuchung oder aufgrund einer akuten Erkrankung sehen, und dieses Ereignis ausgesprochen tem­porär stattfindet, gehören Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte für körper­behin­derte Kinder zu ihrem Alltag. Problematisch dabei ist nach Mayr, daß sich behinderte Menschen immer mehr “Rehabilitationsmaßnahmen” unterziehen und diese nur im Rahmen von Institutionen durchführen lassen und einen längeren Aufenthalt dort erforderlich machen.[14]

Nichtbehinderte Kinder haben ihren Lebensmittelpunkt in der Familie. Ihr Verhalten wird unmittelbar und handlungsbezogen von der Familie sanktioniert. Auch ist deren Alltag geprägt vom Umgang mit Menschen aus ihrem jeweiligen sozialen Umfeld: Leben in der Familie, spielen mit Nachbarskindern, Besuch von Krabbelgruppen und Kindergarten – Orte, an denen Sozialverhalten erlernt und praktiziert werden kann. Behinderte Kinder können nicht mehr durch Nachahmen von gesunden Kindern lernen, ebenso lernen gesunde Kinder nicht frühzeitig, mit behinderten Kindern zu leben. Selbst wenn Kinder die Einrichtung nach einiger Zeit wieder verlassen können, wird die Rück­kehr schon dadurch erschwert, daß Kontakte zu Nachbarskindern verlorengingen. Durch die lange Trennung haben dann auch die gesunden Kinder gelernt, Behinderte auszu­sondern.

Das Verhalten von behinderten Kindern wird korrigiert und geprägt durch die Heim­struktur, durch Therapien und äußere Rahmenbedingungen. Besonders in voll­sta­tio­nären Einrichtungen ist es Kindern aufgrund der stundenplanmäßigen und gestrafften Ta­gesstruktur kaum noch möglich, eigene Interessen zu entwickeln, spontane Ideen zu ver­wirklichen oder sich gelegentlich – wie bei nichtbehinderten Kindern selbst­ver­ständlich – alleine zurückzu­ziehen. Es werden Lehrmeinungen an ihnen vertreten, er­probt und geändert[15]. Direkte Vermittlung von persönlichen familiären Werten und Vor­stel­lungen kann unter diesen Umständen nicht stattfinden. Zusätzlich verschärfend kom­men bei der Sozialisation behinderter Menschen häufig lange Krankenhaus­auf­enthalte hinzu, die in ihrer Institutionalisierung noch totaler[16] sind als die Behinder­ten­ein­richtungen.

Wegen dieser oben genannten Gegebenheiten sind behinderte Menschen in einem ersten Schritt darauf an­ge­wiesen, eine direkte personale Beziehung aufbauen zu können, um ein selbständiges, selbstbestimmtes Leben verwirklichen zu können.

Die Tagesstätte bemüht sich in ihrem Kon­zept darum, die personale Beziehung in den Vordergrund zu stellen. Wichtigster Grundsatz dieser Arbeit bedeutet für die Nor­malisierung, daß die Tages­stät­ten­nutzerInnen die MitarbeiterInnen total in der Person erleben, d.h. nicht aus­schließlich in der Funktion als SozialpädagogIn, sondern auch in ihrer mensch­lichen Person. Fehl­ver­halten und korrek­turbedürftiges Ver­halten wird unmittelbar und direkt durch die be­troffenen Personen sanktioniert.

Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten zwischen behinderten Men­schen im Heim werden im Regelfall von pädagogischen Fachkräften geschlichtet und ggf. werden noch PsychologInnen zu Rate gezogen. Für die meisten ehemaligen Heim­be­wohnerInnen ist es daher ungewohnt, Auseinandersetzungen selbst in adäquater Wei­se auszutragen. Von Seiten der MitarbeiterInnen ist man bemüht, eine pädagogi­sie­rende und alltagsferne Sprache zu vermeiden. Dies ist für die NutzerInnen ein langer Um­ge­wöhnungs- und Lernprozeß.

Eines der wichtigsten Ziele des Normalisierungsprinzips sowie der Tagesstätte über­haupt ist es, die behinderten Menschen mit ihrer schwierigen Sozialisation dahingehend zu unterstützen, sich mit normalen Erwartungen und Normen der Gesellschaft vertraut zu machen, um diesen, wenn auch mit Unterstützung, im Laufe der Zeit entsprechen zu können, und nicht mehr nur hauptberuflich ‚behindert‘ zu sein.

1.3.2 Parteilichkeit

Der Begriff Parteilichkeit kann synonym für Gerechtigkeit verwendet werden. Hierbei kann zwischen politischer (Leitidee für Recht, Staat und Politik) und personaler Ge­rechtigkeit (im Sinne einer Tugend) unterschieden werden.

Gerechtigkeit beinhaltet u.a. die Unantastbarkeit der Menschenwürde, Freiheit, Soli­da­rität und als Kernpunkt das Gleichheitsprinzip. Das Gleichheitsgebot als ‚Goldene Re­gel‘ fordert, daß alle Menschen in gleichen Umständen gleich behandelt werden sol­len und jede willkürliche Ungleichbehandlung als ungerecht anzusehen ist (Willkür­ver­bot). Rechte, Pflichten, Güter und Lasten sollen vor allem nach folgenden Maßstäben ver­teilt werden:[17]

- jedem das Gleiche
- jedem nach seiner Leistung/Leistungsfähigkeit
- jedem nach seinen Bedürfnissen

In Politik und Wirtschaft, aber auch in der traditionellen Behindertenarbeit geht dieser formulierte Gleichheitsgrundsatz häufig an den Bedürfnissen behinderter Menschen vorbei (z.B. Recht auf Bildung, Besuch von Regelschulen, freie Wahl des Aufenthalts).

Für das sozialar­beiterische Handeln in der Tagesstätte ist vor allem folgende For­mu­lie­rung bezüglich Gerechtig­keit von Bedeutung: “Gerechtigkeit als Tugend zeigt sich dort, wo man trotz größerer Macht und Intelligenz andere nicht zu übervorteilen sucht oder wo man sein Tun – als Gesetzgeber, Richter, Lehrer, Eltern, Mitbürger – auch dann an der Idee der objektiven Gerechtigkeit aus­rich­tet, wenn Recht und Moral Lücken und Ermessensspielräume lassen oder ihre Durch­setzung höchst unwahrscheinlich ist: Gerechtigkeit als Tugend der Bürger ist eine wich­tige Schranke gegen das Abgleiten einer politischen Gemeinschaft in eklatante Unrechts­ver­hältnisse.”[18]

In diesem Sinne möchten auch die MitarbeiterInnen der Tagesstätte die NutzerInnen befähigen, ihre Rechte einzufordern bzw. sie bei der Durchsetzung ihrer Rechte unter­stützen.

[...]


[1] Bundessozialhilfegesetz, § 124 Abs. 4, Satz 1-4

[2] vgl. World Health Organization

[3] vgl. Österwitz, o.J.

[4] vgl. Lüpke, 1994

[5] Silvia Staub-Bernasconi geht davon aus, daß Menschen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse (z.B. Nah­rung, Sexualität, Wohnung, Bildung, physische und soziale Sicherheit, kulturelle Bedürfnisse) existentiell auf andere Menschen und somit auf Austauschbeziehungen angewiesen sind Unter Tauschmedien versteht die Autorin z.B. Wissen, Gefühle, Handlungskompetenzen, soziale Beziehungen, sozio­öko­nomische Güter. Pro­ble­me treten dann auf, wenn die Austauschbeziehungen nicht mehr symmetrisch sind, d.h. ein Tauschpartner verliert im Austauschprozeß immer mehr, während der andere Partner immer wieder Nutzen und Gewinn daraus zie­hen kann. (Staub-Bernasconi, 1996, Seite 20 f). Da behinderte Menschen aufgrund ihrer funk­tionellen Ein­schränkungen und mangelhafter Ausstattung an Tausch­medien keine attraktiven Tausch­partnerInnen darstellen, können sich diese Asymmetrien stabilisieren und für den stärkeren Partner zu Machtquellen werden. “Der mit reicheren Quellen versehene Partner er­hält dadurch die Chance, Aus­stattung, Verhalten und Beziehungen seiner Tauschpartner in seinem Sinne, ge­nauer: zu seinen Gunsten zu steuern und zu kontrollieren” (ebd. S. 23).

[6] Siehe Abschnitt 3.2.1

[7] siehe Abschnitt 3.2.1

[8] vgl. Wetzel, 1988

[9] siehe Abschnitt 3.1.1

[10] Die Wurzeln des Normalisierungsprinzips gehen zurück auf das Jahr 1943. Mit einer Un­ter­suchung sollte ein schwedischer Regierungsausschuß herausfinden, auf welche Art und Weise behinderten Menschen Arbeitsmöglichkeiten erschlossen werden könn­ten. Normalisierungsprinzip nannte man den sozialpolitischen Gedanken, der für die Ar­beit des Ausschusses richtungsweisend war. Es sollte ein Sozial- und Gesund­heitswesen geschaffen werden, das behinderten Menschen ein annähernd normales Leben ermöglicht. Hierzu wurden vom schwedischen Regierungsausschuß drei Vorschläge ausgearbeitet:

- Menschen mit Behinderung sollen am System der sozialen Dienste teilhaben können. Sie dürfen von der sozialen Planung nicht ausgeschlossen werden.

- Dienstleistungen, die nichtbehinderten BürgerInnen angeboten werden, sollen auch behinderte Menschen für sich in Anspruch nehmen können.

- Behinderten Menschen soll durch geeignete Maßnahmen erleichtert werden, Arbeit und dadurch Einkommen zu erhalten, mit welchem sie für sich selbst sorgen können.

Dabei sollte auch erreicht werden, daß behinderte Menschen am Leben in der Gemein­schaft teilnehmen können und nicht weiterhin in Anstalten untergebracht werden.

[11] Bank-Mikkelsen/Berg, 1982, S. 109

[12] vgl. Schönwiese, 1994

[13] vgl. ebd.

[14] vgl. Mayr, 1989

[15] vgl. Klee, 1980, Seite 103

[16] siehe Abschnitt 3.1.2

[17] Lexikon der Ethik, 1997, Seite 93

[18] Lexikon der Ethik, 1997, Seite 91 f

Ende der Leseprobe aus 89 Seiten

Details

Titel
Normalisierung, Parteilichkeit und Solidarität. Die Leitideen der Behindertenarbeit am Beispiel der Caritas Tagesstätte
Hochschule
Katholische Stiftungsfachhochschule München  (Fachhochschule)
Note
2,0
Autor
Jahr
1999
Seiten
89
Katalognummer
V10755
ISBN (eBook)
9783638171014
Dateigröße
613 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Normalisierungsprinzip und Parteilichkeit als Leitideen in der Behindertenarbeit. Diese Prinzipien sozialarbeiterischen Handelns werde ich als Alternativen zu den Konzeptionen der traditionellen Rehabilitationseinrichtungen vorstellen. Durch die Umsetzung dieser Prinzipien soll körperbehinderten Menschen die Möglichkeit eröffnet werden, selbstbestimmt leben zu können. Selbstbestimmt leben heißt in diesem Kontext, ein Leben ohne Fremdbestimmung, ein eigenständiges Leben außerhalb vollstationärer Einrichtungen, nach eigenen Wünschen und Vorstellungen zu führen. Der behinderte Mensch bleibt dann nicht länger in der Rolle des passiven Empfängers von Hilfeleistungen, sondern wird aktiver und kritischer Konsument von Dienstleistungen.
Schlagworte
selbstbestimmtes Leben für behinderte Menschen
Arbeit zitieren
Monika Ommerle (Autor:in), 1999, Normalisierung, Parteilichkeit und Solidarität. Die Leitideen der Behindertenarbeit am Beispiel der Caritas Tagesstätte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/10755

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