Die Modifikation des Sozialstaates


Seminar Paper, 2002

34 Pages, Grade: 1,3


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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung (Teil I von Steffen Schröder)

2. Die erste Säule der sozialen Marktwirt -schaftsoziale Sicherungssystem
2.1. Die gesetzliche Rentenversicherung (GRV)
2.2. Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV)

3. Die zweite Säule der sozialen Marktwirtschaft -Beschäftigungspolitik
3.1. Arbeitszeitpolitik
3.2. Bildungspolitik
3.3. ArbeitsmarktbezogeneGleichstellungspolitk

4. Die dritte Säule der sozialen Marktwirtschaft – Kollektivvertragssysteme (TeilII von Sebastian Storbeck)

5. Soziale Sicherungssysteme
5.1. Zur gesetzlichenRentenversicherung
5.2. Die Zukunft der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)

6. Beschäftigungspolitik
6.1. Die Arbeitszeitpolitik
6.2. Bildungspolitik
6.3. Gleichstellungspolitik

7. DasKollektivvertragssystem

8. Fazit (gemeinsam von S. Schröderund S. Storbeck)

1. Einleitung

Die Wirtschaftswissenschaftler Bert Rürup und Werner Sesselmeyer stellen in ihrer Arbeit

„Wirtschafts- und Arbeitswelt“ aus dem Jahr 2001 den ihrer Ansicht nach dringend notwendigen Reformbedarf der sozialen Marktwirtschaft, bestehend aus den drei Pfeilern soziale Sicherung, Konsens zur Vollbeschäftigungspolitik sowie der kollektivvertraglichen Tarifautonomie, dar (Rürup 2001, 247).

Dieser Bedarf an Reformen resultiert den Autoren nach aus dem Strukturwandel der Wirtschaft, (ebda., 248-254), der demographischen Entwicklung (ebda. 254-261) und dem aus diesen Veränderungen hervorgehenden Strukturwandel der Arbeitswelt (ebda., 261-269). Der Strukturwandel der Wirtschaft ist v.a. auf den derzeitigen Wandel von der Industrie- hin zur Dienstleistungsgesellschaft zurückzuführen, deren Ursachen neben dem technischen Fortschritt hauptsächlich die Informatisierung der Produktion (ebda., 250ff.), die Entgrenzung der Unternehmen (ebda., 252f.), die Globalisierung sowie das Outsourcing (ebda., 254) sind. Die demographische Entwicklung der Bevölkerung wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten bestimmt sein durch eine Zunahme der Migration (ebda., 253ff.), einer sinkenden Fertilitätsrate (ebda.) sowie einem Anstieg der ferneren Lebenserwartung (ebda.). Der Strukturwandel der Arbeitswelt, basierend auf dem Strukturwandel der Wirtschaft, hat v.a. ein Abrücken vom sogenannten Normalarbeitsverhältnis (NAV) inkl. dem Verlust von altbewährten sozialen Sicherungsmustern sowie überwiegend erhöhte Flexibilitäts- und Qualifikationsanforderungen für Arbeitnehmer zur Folge (ebda., 261ff.) Die diesem sozioökonomischen Wandel in seinen unterschiedlichsten Facetten zugrunde liegende Notwendigkeit einer Modifizierung der Pfeiler der sozialen Marktwirtschaft ist folglich Voraussetzung für eben den Erhalt unserer Wirtschafts- und Sozialordnung, so die Autoren (ebda., 285).

Diese Arbeit soll einen Überblick über die in diesem Zusammenhang notwendigen Reformbestrebungen der alten und neuen Regierungskoalition, bestehend aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen, verschaffen und der Frage nachgehen, inwieweit beide Parteien in der Lage bzw. Willens sind, notwendige Strukturreformen in den o.g. drei Säulen der sozialen Marktwirtschaft im Sinne der beiden Autoren einzuleiten bzw. weiterzuführen, von denen zumindest Bert Rürup, seines Zeichens Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung („Wirtschaftsweiser“), Vorsitzender des Sozialbeirats, Vorsitzender der Sachverständigenkommission zur Neuordnung der Besteuerung von Altersvorsorgeaufwendungen und Alterseinkommen

(www.sachverstaendiegenrat-wirtschaft.de) sowie seit neuestem Vorsitzender der Kommission zur Reform der Sozialsysteme (Niejahr 2002, 6), einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Politikformulierung der Bundesregierung besitzen dürfte und dem mit Werner Sesselmeyer, Diplomvolkswirt der TU Darmstadt und tätig in den Arbeits- und Forschungsgebieten Arbeitsmarkt, Ursachen und Formen der Arbeitslosigkeit sowie Ursachen und Auswirkungen der Migration, ein sicherlich kompetenter Kollege bei der Ausarbeitung der o.g. Ausarbeitung zur Seite stand (www.ludwigsgymnasium.de).

Der erste Teil der Arbeit von Steffen Schröder konzentriert sich auf die separaten Reformvorschläge beider Parteien, wie sie unabhängig von den Interessen des Koalitionspartners im Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen bzw. im Regierungsprogramm der SPD zu finden sind und stellt diese Ergebnisse im Rahmen einer Policy-Analyse in Bezug zu Rürups und Sesselmeyers Ansichten. Dabei wird teilweise auch auf die grundlegenden politischen Prämissen beider Parteien in den zu behandelnden Politikfeldern eingegangen, welche sich zum Teil natürlich von den überwiegend ökonomisch geprägten Motiven der beiden Wirtschaftwissenschaftler, aber auch vom jeweiligen Koalitionspartner, unterscheiden und dementsprechend die Reformvorschläge prägen.

Dieser erste Teil ist in drei große Abschnitte gegliedert. Jeder dieser Abschnitte steht für eine Säule der sozialen Marktwirtschaft, wobei deren Reihenfolge sowie auch die Prioritätensetzung der Schwerpunkte innerhalb dieser Abschnitte nicht willkürlich festgelegt wurde, sondern sich an den Implikationen in Bezug auf den sozioökonomischen Wandel in der Arbeit von Rürup und Sesselmeyer orientiert.

Der zweite Teil der Arbeit von Sebastian Storbeck untersucht hauptsächlich die Kompromissfindung beider Parteien in Bezug auf die nach Rürup und Sesselmeyer notwendigen Reformen innerhalb der Säulen der sozialen Marktwirtschaft anhand des neuen Koalitionsvertrages und versucht herauszufinden, ob diese Kompromissfindung dem erwähnten Reformbedarf Rechnung trägt oder ob Modifizierungen im Sinne eines kleinsten gemeinsamen Nenners beider Parteien zu Lasten von Reformprojekten geht.

2. Die erste Säule der sozialen Marktwirtschaft – soziale Sicherungssysteme

Bert Rürup und Werner Sesselmeyer zufolge ist das deutsche Sozialversicherungssystem durch drei Charakteristika geprägt: dem Versichertenkreis, der Finanzierung und dem Sicherungsniveau (Rürup 2001, 270f.). Der Versichertenkreis hat den Autoren nach einen sehr engen Zuschnitt, der maßgeblich geprägt ist vom Idealbild der klassischen Ein-

Verdiener-Familie, in welcher der Mann i.d.R. für das Familieneinkommen verantwortlich ist und die Frau die Haushaltsführung übernimmt, ein Rollenverständnis, das sich auch an den Ansprüchen an die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) sowie die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) zeigt (ebda.). Allerdings geht der Trend weg vom klassischen NAV, was an der Zunahme von atypischen Beschäftigungsverhältnissen deutlich wird, wie z.B. Teilzeitarbeit, Telearbeit, geringfügigen Beschäftigungen, Leiharbeit sowie den befristeten Beschäftigungsverhältnissen (ebda., 265). Diese partielle und in Zukunft zunehmende Abkehr vom klassischen NAV bringt den Verlust bisheriger sozialer Sicherungsmuster mit sich, da viele Erwerbsbiographien verstärkt fragmentiert werden, was zu einer Veralterung der sich daran orientierenden sozialen Sicherungssysteme führt (ebda., 268f.). Auch muss nach Ansicht von Rürup und Sesselmeyer die paritätische Beitragsfinanzierung hinterfragt werden, vor allem aufgrund der daraus resultierenden stetigen Erhöhung der Arbeitskosten, die durch steigende Beitragskosten verursacht werden und folglich Neueinstellungen erschweren (ebda., 270f.). Zusätzlich geht es dem Staat durch die Ausrichtung der Sicherungssysteme auf ein lebensstandardsicherndes Niveau mehr oder weniger um die Statusaufrechterhaltung der Bürger durch den Staat, weniger um eine Sicherung der existenziellen Bedürfnisse (ebda.). An diesen drei Stellen müsste folglich die Reorganisation der Sozialversicherungen ansetzen, um dieses System langfristig aufrechterhalten zu können.

Vorstellbar wäre eine Ausweitung des Versichertenkreises auf alle Erwerbstätigen, wobei alle Arten der Einkommenserzielung berücksichtigt werden müssen, sprich die Sozialversicherung eine Grundsicherung für den gesamten Versichertenkreis darstellen sollte, ergänzt durch individuelle Vorsorgemaßnahmen, was einer Rückübertragung von Verantwortung vom Staat auf die Bürger gleichkommen würde (ebda., 271f.).

Im Regierungsprogramm (RP) der SPD ist zu dieser Thematik nur wenig zu finden. Zwar wird die Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse angesprochen, jedoch geht die SPD davon aus, dass auch künftig das NAV dominieren wird. Folglich sind die „flexiblen Ergänzungen“ zum NAV mit der Garantie der sozialen Sicherheit auszustatten, da Flexibilität nicht zu Lasten sozialer Sicherheit gehen darf (SPD 2002, 25f.). Und in der Tat, erscheint das Prinzip der privaten Zusatzversicherung einen wesentlichen Punkt nicht zu beachten: Die Möglichkeit einer zusätzlichen privaten Absicherung steht eventuell vor allem bei den einkommensschwächsten Mitgliedern der Gesellschaft in Frage, deren materielle Grundlagen derart knapp bemessen sind, das die zur Verfügung stehenden Ressourcen aller Wahrscheinlichkeit nach zuerst für den täglichen Bedarf an Allernötigstem verwendet werden, selbst wenn die gesetzlichen Beiträge in Folge der privaten Zusatzversicherung leicht sinken würden.

Bündnis 90/Die Grünen hingegen plädieren in ihrem Wahlprogramm (WP) für eine neue Definition des NAV: Zukünftig muss davon ausgegangen werden, dass Arbeitnehmer neben der Erwerbsarbeit (EA) und dem Lebensanspruch auf regelmäßige Freizeit auch Familienarbeit zu bewältigen haben, was die Partei für die Einführung dynamisch abgestufter Sozialversicherungsbeiträge plädieren lässt (Bündnis 90/Die Grünen 2002, 39f.), was eine geringere Belastung gerade der kleinen Einkommen zur Folge hätte. Zusätzlich müssten die Sozialversicherungen zu Bürgerversicherungen weiterentwickelt werden, was ein Einbeziehen aller Arten von Einkommen in das Versicherungssystem zur Folge hätte, wie z.B. Einkommen von Beamten und Selbständigen und Einkünfte aus Nichterwerbsarbeit wie beispielsweise Vermietung, Verpachtung und Kapitaleinkünfte (ebda.). Des weiteren wird für eine ökologisch-soziale Modernisierung des Abgabensystems geworben, was bedeutet, das eine Absenkung der Lohnnebenkosten durch Besteuerung von Energie aufgefangen wird (ebda. 18ff.), ein meines Erachtens sehr fortschrittlicher Gedanke, da die Kosten der infolge von Energieverschwendung auftretenden Umweltschäden von den Verbrauchern direkt getragen werden müssen, ungeachtet der Kritik bzgl. der Verwendung der Gelder. Als Beispiel wird die Ökosteuer herangezogen, die nach Angaben von Bündnis 90/Die Grünen die Rentenkasse 2002 um ca. 1,5 Prozentpunkte entlastet haben soll (ebda.), was die Notwendigkeit einer Neugestaltung des Sozialversicherungssystems nur noch deutlicher macht.

2.1. Die gesetzliche Rentenversicherung (GRV)

Rürup und Sesselmeyer zeigen zwei Variablen auf, deren Einwirken auf die GRV die Aktualität des heutigen umlagefinanzierten Systems in Frage stellen: das sind zum einen die Zunahme diskontinuierlicher Erwerbsbiographien und zum anderen die Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung, was einen steigenden Finanzbedarf in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wahrscheinlich macht, wobei als systemimmanente Lösung nur Leistungskürzungen in Frage kämen, denn eine weitere Anhebung des Rentensatzes würde durch eine zu starke Belastung der Arbeitseinkommen der jungen und zukünftigen Generationen dem Aspekt der Generationengerechtigkeit widersprechen (Rürup 2001, 272ff.). Des Weiteren würde eine weitere Spreizung zwischen den gesamten Arbeitskosten und den Nettolöhnen die bereits bestehenden Konflikte zwischen Arbeitsnachfrage und -angebot verschärfen (ebda.).

Den Autoren zufolge gibt es zwei Möglichkeiten von systemimmanenten Lösungen: Das wäre zum einen die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters, was eine kürzere Rentenbezugsdauer sowie steigende Einnahmen aufgrund einer längeren Lebensarbeitszeit zur Folge hätte, und zum anderen eine andere Verteilung der Kosten mittels einer Einbeziehung des demographischen Faktors in die Rentenformel, welcher die Restlebenserwartung eines 65-jährigen negativ zu Rentenanhebungen korrelieren ließe (ebda.).

Zu diesen systemimmanenten Reformvorschlägen ist sowohl im RP der SPD als auch im WP von Bündnis 90/Die Grünen wenig zu finden. Zumindest wird anerkannt, dass das frühzeitige tatsächliche Renteneintrittsalter von heute etwa 59 Jahren nicht aufrechterhalten werden kann, weshalb beide Parteien wenigstens für eine generelle Anhebung dieses tatsächlichen Renteneintrittsalters an die gesetzliche Regelung plädieren (vgl. SPD 2002, 24ff. / Bündnis 90/Die Grünen 2002, 32f.). Zusätzlich erwägt die SPD auch eine Anhebung der Lebensarbeitszeit über einen früheren Einstieg in die EA mittels kürzerer Ausbildungszeiten (SPD 2002, 49).

Die Forderung nach einem späteren Rentenbezugsbeginn steht jedoch im Gegensatz zu der bereits bestehen hohen Arbeitslosigkeit und der Tatsache, dass es kaum noch Arbeitnehmer von über 60 Jahren gibt, denn obwohl die Bevölkerung älter wird, werden die Belegschaften in den Betrieben zunehmend verjüngt (Rürup 2001, 277ff.). Nicht zuletzt aus diesem Grund werden Forderungen nach einer Abkehr vom Umlageverfahren hin zum Kapitaldeckungsverfahren lauter, da wahrscheinlich auch in Zukunft die Fertilitätsrate nicht entscheidend steigen wird. Folglich muss die dadurch entstehende Deckungslücke anders kompensiert werden (ebda. 272ff.). So erscheint eine Erhöhung kapitalgedeckter Elemente notwendig, da sowohl das Umlage- als auch das Kapitaldeckungsverfahren spezifische Vor- und Nachteile besitzen. Auf der einen Seite ist das Umlageverfahren wenig Inflationsanfällig und garantiert eine breite Vereilung der Risiken, auf der anderen Seite ist das Kapitaldeckungsverfahren unabhängig gegenüber der Fertilitätsrate und soll Rürup und Sesselmeyer zufolge zudem positive Effekte auf die gesamtwirtschaftlichen Ersparnisse und auf das Wirtschaftswachstum ausüben (ebda.).

Die Erhöhung kapitalgedeckter Elemente in der GRV sieht die SPD mit ihrer Rentenreform bereits als vollzogen an, wird dieser Ansicht nach bereits die Altersicherung langfristig stabilisiert, was die Renten auch in Zukunft auf hohem Niveau sichert und dabei die junge Generation nicht überfordert (SPD 2002, 51f.). Ob diese Behauptung tatsächlich Realität wird, muss jedoch hinterfragt werden, zumal Bündnis 90/Die Grünen, wie bereits geschildert, ihren Erläuterungen zufolge die Stabilität der Beitragssätze nur über die Einführung der Ökosteuer gewährleistet haben. Auch muss in dem Zusammenhang mit der Einführung von kapitalgedeckten Elementen das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit hinterfragt werden, weil vor allem die Einkommensschwachen Probleme mit der Beschaffung dieser Geldmittel haben dürften. Ist deren Existenzminimum dann mit Eintritt in den Ruhestand nicht mehr gesichert, muss die Differenz über die Sozialhilfe ausgeglichen werden; eine zusätzliche Belastung der öffentlichen Haushalte.

2.2. Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV)

Rürup und Sesselmeyer sind der Ansicht, dass es aufgrund der demographischen Entwicklung zu höheren Beitragssätzen in der GKV kommen wird. Um ähnlich wie bei der GRV die Liquidität sicherzustellen, sollten grundsätzliche Reformen in den nächsten Jahren angegangen werden (Rürup 2001, 274ff.). Auf der anderen Seite stellen höhere Beitragssätze noch keine Fehlentwicklung dar, interpretiert man die Ausgabensteigerungen als Folge von veränderten Krankheitsspektren, des medizinisch-technischen Fortschritts oder von geänderten Präferenzen. Folglich darf die Stabilität der Beitragssätze nicht das entscheidende Ziel sein, vielmehr muss es um die Beseitigung von Ineffizienzen gehen, welche die

„Anreizstrukturen im Gesundheitswesen“ verzerren und somit den wirtschaftlichen Umgang mit den knappen Ressourcen verhindern, was die Autoren für eine deutliche Steigerung des Wettbewerbs zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringern sowie für eine Schärfung des Kostenbewusstseins der Patienten infolge von höherer Transparenz plädieren lässt (ebda.). Zusätzlich sollte sich die Versicherungspflicht auf eine Grundsicherung beschränken, zu der sich je nach Bedarf individuelle zusätzliche private Vorsorgemaßnahmen gesellen (ebda.). Rürup und Sesselmeyer gestehen ein, dass ein derartiger Systemumbau auch immer für einige Gruppen der Bevölkerung ein Abbau von Sicherheit bedeutet, betonen aber, dass die Effizienz und die Effektivität des Systems im Vordergrund stehen müssen, um Individuen erst die Möglichkeit einzuräumen, Risiken eingehen zu können (ebda.).

Aber genau dieser Abbau von sozialer Sicherheit am unteren Rand der Gesellschaft ist sowohl nach dem RP der SPD sowie nach dem WP von Bündnis 90/Die Grünen mit den Koalitionspartnern nicht zu machen. Beide Parteien lehnen eine Aufteilung in Grund- und Wahlleistungen ab, da eine „Zwei-Klassen-Medizin“ verhindert werden soll (vgl. SPD 2002, 54 / Bündnis 90/Die Grünen 2002, 40ff.). So liegt beispielsweise die Betonung bei der SPD auf den Stärken unseres Gesundheitssystems: dem umfassenden Versicherungsschutz für alle, dem vom Einkommen unabhängigen Leistungsanspruch für jedermann sowie der strikten Orientierung am medizinisch Notwendigen (SPD 2002, 54). Und in der Tat würde eine private Zusatzversicherung wie auch in der GRV die Einkommensschwächsten vor das Problem der Finanzierung stellen. Nähme man eine gewisse „Ausfallquote“ der Effektivität und Effizienz wegen in Kauf, so stellt sich meines Erachtens grundsätzlich die Frage nach dem Sinn eines Fortbestehens unserer gesellschaftlichen Solidargemeinschaft, denn aller Wahrscheinlichkeit wären derartige Maßnahmen nur der Anfang in Richtung einer weitest gehenden privaten Absicherung, sind gewisse Hemmschwellen erst einmal überwunden. Demzufolge richtet sich der Focus beider Parteien auch auf mehr Transparenz und mehr Wettbewerb im Rahmen einer solidarischen Ordnung, zusätzlich plädieren Bündnis 90/Die Grünen für eine Beteiligung der finanziell Leistungsstarken an der GKV sowie für eine Einbeziehung von Einkünften aus Nichterwerbsarbeit, wie auch schon bei der GRV ( Bündnis 90/Die Grünen 2002, 40ff.). Konkret wird in diesem Punkt jedoch nur die SPD: So soll der Wettbewerb beispielsweise forciert werden mittels Behandlungsleitlinien für die wichtigsten Krankheitsbilder, einer Liberalisierung des Vertriebes und der Preisbildung für Arzneimittel sowie durch mehr Vertragsfreiheit für Ärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen (SPD 2002, 54f.).

Zur Steigerung der Effizienz wird ein bevorzugter Aufbau von integrierten Versorgungssystemen vorgeschlagen, was zu einer besseren Abstimmung zwischen stationären und ambulanten Bereich führen soll (ebda.). Einig sind sich beide Parteien mit Rürup und Sesselmeyer, dass die Behandlungskosten für die Patienten transparenter gestaltet werden müssen (vgl. Rürup 2001, 74ff. / SPD 2002, 54f. / Bündnis 90/Die Grünen 2002, 40ff.). Ein zusätzlicher wesentlicher Aspekt ist den Parteien zufolge auch die zunehmende Ausrichtung des Gesundheitswesens auf präventive Maßnahmen, wie z.B. die Stärkung von Gesundheitsförderung ab dem Kindesalter (Bündnis 90/Die Grünen 2002, ebda.).

Den seitens der SPD nicht zur Disposition stehenden Risikostrukturausgleich lehnen Rürup und Sesselmeyer mit der Begründung ab, dass dieser mit seiner Ausrichtung an den Morbiditätskriterien Alter, Invalidität und Geschlecht nicht ausreichende Anreize für Wirtschaftlichkeit setzt und stattdessen den „gesamtwirtschaftlich ineffizienten Wettbewerb der einzelnen Kassen um gute Risiken“ fördert (Rürup 2001, 74ff.).

Excerpt out of 34 pages

Details

Title
Die Modifikation des Sozialstaates
College
Free University of Berlin  (Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft)
Grade
1,3
Authors
Year
2002
Pages
34
Catalog Number
V107589
ISBN (eBook)
9783640058440
File size
645 KB
Language
German
Keywords
Modifikation, Sozialstaates
Quote paper
Steffen Schröder (Author)Sebastian Storbeck (Author), 2002, Die Modifikation des Sozialstaates, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107589

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