Jurij Trifonows "Zwischenbilanz (Predvaritel'nye itogi)" und Franz Kafka


Elaboration, 1992

12 Pages


Excerpt


Jurij Trifonows Zwischenbilanz (Predvaritel’nye itogi)und Franz Kafka

In seiner 1970 erschienenen Erzählung Zwischenbilanz verweist Jurij Trifonow auf das Werk Franz Kafkas und speziell auf dessen Erzählung Die Verwandlung, indem der die Hauptfigur Gennadij Sergejewitsch eine groteske Vision haben lässt, die ihre berufliche Misere symbolisiert. Für den Ich-Erzähler Gennadij verhält es sich in dieser Vision „wie in der Welt Kafkas“ (91/82)[1]. Dabei muss er an Gregor Samsa, die Hauptfigur der Verwandlung denken.

Der vorliegende Aufsatz nimmt diese Vision zum Ausgangspunkt einer Interpretation der Zwischenbilanz im Vergleich mit der Verwandlung und anschließend mit Kafkas Roman Der Prozess.

Dabei wird im ersten Abschnitt versucht, die symbolische Bedeutung dieser Vision zu entschlüsseln und die mit ihr im Kontext stehende Erwähnung Kafkas als literarische Standortbestimmung Trifonows zu interpretieren, der sich dadurch von der damaligen orthodoxen sowjetischen Literatur distanzieren will. Der zweite Abschnitt widmet sich der politischen Bedeutung von Trifonows Bekenntnis zu Kafka, dem man von offizieller Seite mit Misstrauen begegnet, da seine alptraumhafte Welt an das sowjetische System erinnert. Außerdem sind beide Autoren pessimistisch, was ihnen von der sowjetischen Literaturwissenschaft und -kritik zum Vorwurf gemacht wird.

Der dritte Abschnitt analysiert die Zwischenbilanz im Vergleich mit der Verwandlung, wobei markante Parallelen zwischen Gennadijs und Gregors existentenzieller Situation aufgezeigt werden. Der vierte Abschnitt schließlich behandelt Gennadijs Kontakt mit der sowjetischen Justiz, weil dieses unangenehme Erlebnis an Kafkas Prozess erinnert.

1. Gennadijs Vision

Gennadij Sergejewitsch hat Frau und Sohn, die ihm fremd geworden sind, in Moskau verlassen und lebt seit zwei Monaten in Turkmenien, wo er sich seinen Lebensunterhalt durch die Übertragung eines Poems des Dichters Mansur verdient. Es ist der Versuch, aus seiner Ehe, in der er menschliche Wärme vermisst, auszubrechen. Doch Einsamkeit und die ungewohnte turkmenische Hitze machen den alternden Übersetzer krank und drohen, ihn nach Moskau zurückzutreiben. Seine Stimmung ist elend, woran auch seine übersetzerische Tätigkeit nichts ändert, da sie ihn intellektuell nicht befriedigt. Denn Mansurs Poem übersetzt er nicht etwa aus dem Turkmenischen. Er beherrscht diese Sprache nicht, wie überhaupt seine Fremdsprachenkenntnisse dürftig sind, was er sich mit Bitterkeit eingesteht (90/70f.). Gennadij liegt eine russische Interlinearversion (podstrotschnik) des Poems vor, die er in Verse zu bringen hat[2]. Außerdem ist - wie unten gezeigt wird - das Poem ästhetisch wertlos. Doch wegen seiner geringen Sprachkentnisse und weil es finanziell einträglich ist, gibt sich Gennadij nur mit solch schlechter Literatur ab, die unter seinem Niveau liegt. Seine Selbstachtung leidet darunter, sein Sohn hat ihm einmal ins Gesicht gesagt: „Fabrizierst Blödsinn, und dein Gewissen schweigt dazu?“ (80/73). Dieser Satz hat ihn tief gekränkt, denn: „Niemals wäre ich so aufgebraust, hätte ich aus diesem Satz nicht mich selbst herausgehört, meine geheime, wie ein böses Leiden verborgene Verachtung jedem >Blödsinn< gegenüber, meinen eigenen nicht ausgenommen.“ (81/74).

Die Unbefriedigtheit durch die eigene intellektuelle Leistung, die mangelnde Selbstachtung gehört zu Gennadijs „verborgener Krankheit“, die sich in einer grotesken Vision äußerst:

Neulich, ich hatte bis zum Umfallen gearbeitet, ging ich in die Teestube [...] und trank zur Aufmunterung vielleicht zwei Gläser von dem miserablen Aschchabader Wodka. Ich trank ihn mit Genuss, aber auch mit etwas Angst. Er wirkte merkwürdig auf mich. Nicht dass ich betrunken wurde - aber die lange Abstinenz machte sich wohl bemerkbar -, nein, der Kopf war völlig klar, alles war normal, bis auf einen Punkt wie in der Welt Kafkas, wo alles stimmt außer einem einzigen Umstand: dem Umstand beispielsweise, dass sich Samsa in ein Insekt verwandelt. Ich sah in dem minderwertigen Aschchabader Wodka vor mir auf dem Tisch eine Interlinearübersetzung, die ich im vierfüßigen Amphibrachus ins Russische umsetzen müsse, damit er sich in eine Flasche >Stolitschnaja< verwandele. (90f./81f.)

Kurz vor dieser Stelle charakerisiert Trifonow andeutungsweise den von Gennadij übertragenen Text:

Ich dichte ein gewaltiges Poem meines Freundes Mansur nach, 3000 Zeilen. Es heißt >Goldglöckchen<. Goldglöckchen ist, wie man richtig vermutet, der Kosename eines Mädchens, den ihm die Dorfbewohner seines hell klingenden melodischen Stimmchens wegen verliehen hatten. (90/81)

Dem Leser wird zu verstehen gegeben, dass es sich um kitschige Trivialliteratur handelt, die - wie Patera richtig feststellt[3] - zu der damals von offizieller Seite geforderten „lichten Literatur“ (lutschezarnaja literatura) gehört, die die sowjetische Welt in strahlenden Farben und optimistischer Zukunftsperspektive darstellt.

Trifonow charakterisiert diese Art von Literatur durch den Vergleich des Poems mit Wodka: Für Gennadij verwandelt sich die Interlinearversion des Poems, die er in Verse bringen soll, in seinen schlechten Aschchabader Fusel, das gereimte Produkt hingegen in Wodka der besseren Marke Stolitschnaja. Der Vergleich kennzeichnet Trivialliteratur als Betäubungsmittel wie auch Gennadijs Rolle bei ihrer Herstellung. Alkohol bleibt Alkohol, aber Stolitschnaja trinkt sich weniger unangenehm, „flutscht“ besser, so wie sich Manurs Poem in Versform gefälliger liest und leichter eingängig ist denn als Prosa.

Trifonow kritisiert also auf „äsopische“ Weise die offiziell geforderte Literatur. Dass er sie nicht direkt als Betäubungsmittel bezeichnet sondern mittels eines phantastischen Bildes, hatte den Vorteil, der Zensur keinen Angriffspunkt zu bieten. Vielleicht stellt sich statt direkter Kritik auch deshalb ein phantastisches Bild ein, weil, wie C. G. Jung[4] herausgefunden hat, das Unbewusste oft die bewusste Lebenseinstellung zu korrigieren versucht, indem es eine verdrängte seelische Tendenz in Erinnerung bringt, und zwar in Gestalt von Träumen oder traumähnlichen Visionen, Fantasien u. dgl. Sehen wir uns dazu eine Passage an, die wohl wegen der Zensur so sehr auf Anspielungen reduziert ist, dass man fast von Entstellung sprechen möchte, (und die deshalb nach Interpretation verlangt, wobei man auch zu viel hineininterpretieren kann):

Zu ärgerlich: verdammt wenig hab ich geschafft. Aber ein Außenstehender merkt davon nicht die Bohne. Ich bin wer, was und noch viel mehr. Aber ich mach mir nichts vor, alles Quatsch. Geplant war es anders. Aber wie anders? Was hätte ich anderes machen können? Als Junge kam ich an die Front, wurde vor Leningrad verwundet, kränkelte, wurde behandelt, dann stürzte ich mich gierig in das Leben der fröhlichen Nachkriegshochschulen, heiratete früh - aus dem gleichen Lebenshunger heraus. Und immer war es so: Eines packte ich - das Einfachere, das andere verschob ich auf später, auf irgendwann einmal. Und das, was ich aufschob, verflüchtigte sich allmählich, strömte wie warme Luft aus einem Haus, und keiner merkte das außer mir. Ja, und ich merkte es auch selten, irgendwann mal, in einer schlaflosen Nacht. (92 / 83)

Hatte Gennadij ursprünglich den Anspruch an sich selbst, wertvolle intellektuelle Leistungen zu schaffen, die ihn aber mit dem Sozialistischen Realismus in Konflikt gebracht hätten? Hatte er diesen Anspruch in der Stalinzeit, den „Nachkriegs“-jahren, nicht verwirklichen können und deshalb „aufgeschoben“ (in der Hoffnung auf liberalere Zeiten?) und ihn schließlich aufgegeben und sich aus dem Sinn zu schlagen versucht?[5] Drängt sich der unterdrückte Anspruch deshalb als traumähnliche Vision ins Bewusstsein und mahnt: Was du produzierst, ist ja ein Betäubungsmittel, das die Wirklichkeit lackiert?

Erwähnt Trifonov bei seiner Kritik der „lichten Literatur“ Frank Kafka, so bestimmt er damit seinen literarischen Standort: Trivial-optimistischen Erzeugnissen wie Mansurs Goldenem Glöckchen hält er den pessimistischen Prager Autor entgegen, der Licht in seelische Abgründe bringt und zu den Wurzeln existentieller Probleme vorstößt, statt wie die offiziell geforderte Literaur davon abzulenken und eine heile Welt vorzuspiegeln als Opium fürs Volk.

2. Zur Rezeption Kafkas in der Sowjetunion

Franz Kafka, zu dem sich Jurij Trifonov in Zwischenbilanz bekennt, wurde dem sowjetischen Leser erst ab 1964 zugänglich gemacht, als in der Zeitschrift Inostrannaja literatura (1964.1.) eine Auswahl in der Übersetzung von Solomon Apt erschien. 1965 folgte eine Buchausgabe. Kafkas Wirkung beim sowjetischen Leser war sofort sehr groß, was von offizieller Seite mit Misstrauen beobachtet wurde. Die Gründe dafür wie für die späte Publikation (im Westen erfuhr Kafka schon in den vierziger Jahren breite Beachtung) dürften vor allem die beiden Folgenden sein:

Zum einen Kafkas gesellschaftspolitische Brisanz; denn die von ihm geschilderten anonymen Machtapparate haben große Ähnlichkeit mit dem sowjetischen System. So gibt es, was die Verwaltung im Roman Das Schloss oder das Gericht im Roman Der Prozess betrifft, keinerlei Transparenz, und der Einzelne steht diesen allmächtigen Instanzen hilflos gegenüber. Josef K. im Prozess weiß nicht, warum er angeklagt ist, seine Richter kennt er nicht, jeder Einblick in den Stand des Verfahrens ist ihm verwehrt, gegen die Urteile gibt es keine Berufung, das Gericht ist nicht verpflichtet, seine Entscheidungen zu begründen. Unweigerlich beschwört diese Erzählung beim sowjetischen Leser Erinnerungen an das herauf, was tabuisiert werden sollte: an die Zeit der Großen Säuberungen vor allem, als eine undurchschaubare Maschinerie unter phantastischen Anschuldigungen verhaften ließ und niemand wusste, ob er schon auf der Liste der Opfer stand.

Anna Achmatowa, die besonders aus Angst um ihren verhafteten Sohn den Schrecken jener Jahre mitgelitten hatte, beschreibt, was sie bei der Lektüre von Kafkas Prozess empfand: [6]

Ich hatte das Gefühl, als ob mich jemand am Arm gepackt und in meine schrecklichsten Träume gezerrt hätte.

Kafkas große Wirkung wird für die Kulturfunktionäre zu einer heiklen Angelegenheit. So nimmt sich das Bildungsministerium der UdSSR des Falles Kafka an, in dem es eine Monographie von D. V. Zatonskij mit dem Titel Franz Kafka und die Probleme des Modernismus offiziell „als Lehrmittel für Studenten“ zulässt.[7] Das Werk soll, wie es in der Vorbemerkung heißt, „die Studenten mit marxistischer Ideologie für die Analyse komplizierter Fragen des Verhältnisses zum Erbe Kafkas ausrüsten.“

Von dem kafkaesken Charakter des sowjetischen Systems will dieses offizielle Lehrbuch natürlich nichts wissen. So spiegele die alptraumhafte Welt des Dichters „nichts anderes“ als den kranken kapitalistischen Westen und die kranke Psyche des Autors wider:

Die undurchschaubare Hierarchie des Schlosses, die muffigen, auf engen Dachböden untergebrachten Gerichtsbehörden des Prozesses, die undurchdringliche Finsternis der endlosen Gänge im Haus des Millionärs Pollunder in Amerika sind nichts anderes als Metaphern einer neuen sozialen Krankheit der westlichen Welt. Aber zugleich sind sie auch „die seelischen Labyrinthe“ von Kafka selbst, Symbole seiner individuellen Krankheiten, intimen Tragödien und psychologischen Sackgassen. (76)

Ein weiterer Grund für Kafkas Erfolg beim sowjetischen Leser besteht wohl darin, dass man bei ihm fand, was in der offiziellen sowjetischen Literatur verdrängt war: die Schattenseiten und Abgründe des Seelenlebens. Dazu gehört besonders das Erlebnis der Ohnmacht, die Verzweiflung des Menschen, der sich vergebens gegen gesellschaftliche oder schicksalshafte Mächte auflehnt und sich zu einer angepassten Existenz oder zu völligem Scheitern verdammt sieht. Kafka ist Pessimist und vor allem dadurch mit Trifonow wesensverwandt. Dessen Pessimismus bestimmt beispielsweise Gennadij Sergejewitschs Situation, der aus seiner beruflichen Misere nicht herauskommt und im Oeuvre seines Autors viele Schicksalsgenossen hat. Wie bei Kafka findet der Einzelne außer Unterordnung oder vergeblicher Auflehnung keine Möglichkeit. Ein Anpasser ist der rückgratlose Glebow im Haus an der Moskwa, der sich von den Mächtigen „wie ein Stück Knetgummi“ formen und als Werkzeug in einer gemeinen Hetzkampagne missbrauchen lässt. Josef K. im Prozess ist dem Gericht gegenüber machtlos, er wird zum Tode verurteilt und Freisprüche kommen nur in Legenden vor. Kafkas Heizer klagt erfolglos gegen seinen Vorgesetzten, der ihn schikaniert, K. im Schloss setzt sich nicht gegen die Schlossbürokratie durch, Sergej mit seiner Dissertaion in Trifonows Anderem Leben nicht gegen das Hochschul-Establishment, das unangenehme Wahrheiten unterdrückt.

Aussichtslosigkeit und Ohnmacht herrschen bei Trifonow jedoch nicht uneingeschränkt wie bei Kafka. Er schuf auch Figuren, die sich nicht anpassen, ihren Idealen treu bleiben und nicht unterliegen. Dazu gehören Ksenija Fjodorowna, die stolze, intellektuelle Mutter der Hauptfigur Dmitriew im Tausch, der Ich-Erzähler Pjotr Koryschew im Roman Durst, der erfolgreich gegen Stalinisten und Fortschrittsfeinde in der Chruschtschow-Ära kämpft, oder Alexandra Prokowjewna, Sergejs Mutter im Anderen Leben. Solche Figuren sind jedoch in der Minderheit, die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber den herrschenden Mächten macht Trifonow und Kafka geistig verwandt.

Beide Autoren stehen im Gegensatz zur Doktrin des Sozialistischen Realismus, der von den Künstlern Optimismus und Fortschrittsgläubigkeit fordert. Trifonows Berufung auf den Pessimisten Kafka ist deshalb auch ein Bekenntnis zu einer literarischen Position außerhalb dieses Kunstdogmas und somit von nicht zu unterschätzender politischer Bedeutung, wofür auch die Ähnlichkeit der Vorwürfe spricht, die beiden Autoren von der sowjetischen Literaturwissenschaft und -kritik[8] gemacht werden:

Sie würden den Menschen in hoffnungslosem Unglück darstellen und keine Möglichkeiten positiver Veränderungen sehen. Ihr Pessimismus erzeuge Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichen und politischen Problemen, Zurückgezogenheit auf das Privatleben und bedrückende Dominanz des Alltags mit seinen Sorgen. Engagement und Ideale, kraft derer die Figuren ihr Haupt „über den Alltagssumpf“[9] erheben könnten, würden nicht existieren oder seien wirkungslos. Dudintsew kritisiert am Anderen Leben, die Figuren hätten sich auf ihre Privatsphäre zurückgezogen und existierten wie in einer „Höhle, ähnlich der bei Kafka“, wobei der Rezensent wohl an die Erzählung Der Bau denkt.[10]

Browman wirft Trifonow vor, dass die „Freuden und Nöte der Menschheit, ihre hohen Ideale und großen Leistungen sich außerhalb der Interessen“ seiner Figuren befänden, Zukunftsperspektiven und „positives Pathos“ vermisst Sacharow bei ihm (S. 193).

Im selben Sinne kritisiert man von offizieller Seite bei Kafka, dass ihm die großen Umwälzungen, deren Zeuge er war (der Erste Weltkrieg und die vom ihm ausgelösten Revolutionen) gleichgültig ließen, weil er an die Möglichkeit positiver Veränderungen nicht glaubte.[11] So kritisiert Zatonskij Kafkas politisches Desinteresse, das er unter anderem durch Zitierung seines Tagebucheintrags vom 2. August 1914 vorführt:

Deutschland hat Russland den Krieg erklärt - Nachmittag Schwimmschule[12]

Missbilligend folgert Zantonskij aus diesem Zitat, dass der Ausbruch des Ersten Weltkrieges für Kafka nicht wichtiger sei als das ärztlich verordnete Schwimmen.

Um Kafkas gesellschaftspolitischen Pessimismus vorzuführen, zitiert Zatonskij aus einem Gespräch des Dichters mit Janouch[13] über die bolschewistische Revolution. Die angeführte Äußerung ist jedoch eher dazu angetan, dem Pessimismus des Prager Autors Recht zu geben, da er die sowjetische Entwicklung vorhergesagt hat:

Am Schluss jeder wirklich revolutionären Entwicklung erscheint ein Napoleon Bonaparte. [...] je weiter sich eine Überschwemmung ausbreitet, umso seichter und trüber wird das Wasser. Die Revolution verdampft, und es bleibt nur der Schlamm einer neuen Bürokratie.

3. Interpretation der Zwischenbilanz im Vergleich mit der Verwandlung

Als Gennadij Sergejewitsch an die „Welt Kafkas“ denkt, fällt ihm speziell Gregor Samsa, die Hauptfigur der Verwandlung ein. Der ehrgeizige, aber unter der Last seines Berufs zusammenbrechende Handlungsreisende wacht eines Morgens übermüdet in seinem Bett auf und stellt fest, dass er sich in ein riesiges Ungeziefer verwandelt hat. Seinem Beruf kann er nun nicht mehr nachgehen, sondern fällt seiner entsetzten und angeekelten Familie als Pflegefall zur Last. Die Situationen der Hauptfiguren in beiden Erzählungen weisen markante Analogien auf, dank derer es verständlich und wahrscheinlich ist, dass gerade Samsas Verwandlung Gennadij einfällt. Da diese Assoziation auftaucht, als Gennadij Art und Wert seiner beruflichen Tätigkeit durch den Sinn gehen, sei zuerst auf das Verhältnis beider Hauptfiguren zu ihrer Arbeit eingegangen.

Gennadij übersetzt ohne schöpferische Begeisterung, ohne Inspiration (90/81). Er gesteht sich ein, dass er „sein ganzes Leben“ eine Tätigkeit „ohne Neigung“ (80/73) ausübt, da er schlechte, die Wirklichkeit lackierende Texte übersetzt. Auch Samsa übt seinen Beruf zumeist lustlos aus:

„Ach Gott“, dachte er, „was für einen anstrengenden Beruf habe ich gewählt! Tagaus, tagein auf der Reise. Die geschäftlichen Aufregungen sind viel größer, als im eigentlichen Geschäft zu Hause, und außerdem ist mir noch diese Plage des Reisens auferlegt, die Sorgen um die Zuganschlüsse, das unregelmäßige, schlechte Essen, ein immer wechselnder, nie andauernder, nie herzlich werdender menschlicher Verkehr. Der Teufel soll das alles holen!“ (72)[14]

In seiner Arbeit vermisst Gregor menschliche Wärme. Außerdem empfindet er sie als Hast und Zwang, was auch für Gennadij gilt, der von seinem Auftraggeber Mansur finanziell abhängig ist und sich deshalb wie im Fangeisen („kak v kapkane“) vorkommt. Die ab dem Mai anwachsende turkmenische Hitze schadet seiner ohnehin angeschlagenen Gesundheit, aber er kann ihr nicht entfliehen, indem er nach Moskau zurückfliegt, da er kein Geld für ein Ticket hat und Mansur ihm das Honorar erst dann zahlen will, wenn das riesige Poem fertig übersetzt ist. Zwar streitet Gennadij mit ihm, ist sich aber der Vergeblichkeit seiner Auflehnung bewusst und weiß, dass auch die Drohung, die Arbeit abzubrechen und nach Moskau zurückzufliegen, nichts bewirkt (138 /123).

Bringt die Arbeit den Hauptfiguren keine innere Befriedigung, so zahlt sie sich jedoch finanziell aus. Beide verdienen genug, um ihren Angehörigen ein in materieller Hinsicht angenehmes Leben zu ermöglichen, so dass Gennadijs Frau Rita, sein Sohn Kirill, Samsas Eltern und dessen Schwester Grete nicht für ihren Unterhalt zahlen müssen. In beiden Familien ist für ein Dienstmädchen gesorgt, von Gennadij bekommen Frau und Sohn das Geld für verschiedene Luxusartikel. Besonders wichtig ist der Luxus des angenehmen Wohnens, den der Verdienst beider Hauptfiguren ermöglicht. Gennadijs dreiköpfige Familie hat einen für sowjetische Verhältnisse außergewöhnlich großen Wohnraum von 62 qm (89 / 80)[15], und Gregor fühlt „einen großen Stolz darüber, dass er seinen Eltern und seiner Schwester ein solches Leben in einer so schönen Wohnung hatte verschaffen können.“ (95).

Durch seine Arbeit bezahlt Gregor auch die Schulden seines Vaters ab, wodurch er verhindert, dass „der Chef die Eltern mit den alten Forderungen wieder verfolgen“ kann (81). Mit Stolz fühlt sich Samsa nicht nur als Ernährer der Familie, sondern auch als ihr Retter, der sie vor der drückenden Schuldenlast bewahrt, und dieses Bewusstsein hat zunächst die Frustationen seiner Arbeit wettgemacht, so dass er diese dennoch „mit ganz besonderem Feuer“ begonnen hatte und „fast über Nacht aus einem kleinen Kommis ein Reisender geworden [war], der natürlich ganz andere Möglichkeiten des Geldverdienens hatte, und dessen Arbeitserfolge sich sofort in Form der Provision zu Bargeld verwandelten, das der erstaunten und beglückten Familie zu Hause auf den Tisch gelegt werden konnte. Es waren schöne Zeiten gewesen [...]“ (101f.).

Wie Gregor ist sich auch Gennadij seiner Rolle als Träger der Familie wohl bewusst. Dass er es ist, der sie unterhält, bekommt seine Frau zu hören, als beide sich streiten (100 / 90). Den Unterhalt von Frau und Sohn nimmt er so wichtig, dass er selbst in Turkmenien nach der Trennung seine Pflicht, nach Moskau Geld zu schicken, nicht vergisst (135,138 / 120,122). Seine Rolle als Ernährer der Familie gibt er nicht so leicht auf.

Um Geld geht es auch in dem Streit zwischen den Eheleuten, den Gennadij zum Anlass nimmt, abzureisen. Rita ist wütend und beleidigt ihren Mann, denn sie hat eine bestimmte Bescheinigung nicht bekommen, weil er vergessen hat, die dafür erforderliche Gebühr zu überweisen. Als Beitrag zu diesem Streit dichtet Gennadij, der von Beruf Reimeschmied ist, einen Zweizeiler:

Im Hause des Gehenkten spricht man nicht vom Strick, im Hause des Beschränkten spricht man nicht vom Scheck (132 / 117)

Das russische Sprichwort in der ersten Zeile, in dem es um die Verdrängung einer Familienschande geht, wandelt Gennadij in der zweiten Zeile so ab, dass sich werjowka (= Strick) auf schirowka (wiedergegeben mit Scheck, eigentlich Überweisung) reimt. Er setzt die beiden Begriffe also parallel, da auch die versäumte Überweisung an einen wunden Punkt in der Beziehung der Eheleute rührt: Dass Rita eine Bescheinigung nicht bekommt, weil ihr Mann das Geld dazu nicht überwiesen hat, muss sie an ihre finanzielle Abhängigkeit erinnern; so erklärt sich, dass ein ärgerliches, aber banales Versäumnis einen derart kränkenden Streit auslöst, dass Gennadij Anlass abzureisen findet.

Gennadij muss erkennen, dass Geld als Grundlage einer menschlich befriedigenden Beziehung zu Rita und Kirill nicht genügt:

Ich wurde nicht mehr gebraucht. Das war offensichtlich. Na ja, Geld, Essen, Eintrittskarten für ein Jazzkonzert, nützliche Bekanntschaften waren Selbstverständlichkeiten. (85 / 77)

Menschliche Wärme muss Gennadij in seiner Familie vermissen:

Man kann krank sein, sein Leben lang eine Arbeit ohne Neigung verrichten, aber man muss sich als Mensch fühlen dürfen. Dafür ist nur eines nötig - eine Atmosphäre von Menschlichkeit, einfach wie die Arithmetik. (80 / 73)

Auch für Gregor gilt, dass ihn die Familie vorwiegend als Geldquelle und weniger als Menschen braucht:

Man hatte sich eben daran gewöhnt, sowohl die Familie als auch Gregor, man nahm das Geld dankbar an, er lieferte es gern ab, aber eine besondere Wärme wollte sich nicht mehr ergeben. (102)

Ein weiteres gemeinsames Motiv beider Erzählungen ist die Erkrankung mit psychischer Ursache.

Samsas Verwandlung in ein hilfloses Wesen ist Parabel für solch eine Krankheit. Sie liefert ihm die Rechtfertigung zur Verweigerung seines verhassten Arbeitsalltags. Dass die Erkrankung diesen Zweck verfolgt, ist auch die Überzeugung des Prokuristen, für den Samsa kein Opfer eines unverschuldeten Schicksalsschlags ist, und der die Position eines strengen Gewissens vertritt, das die Hinterabsicht der Erkrankung durchschaut und an das rigorose Prinzip mahnt, „dass wir Geschäftsleute [...] ein leichtes Unwohlsein sehr oft aus geschäftlichen Rücksichten einfach überwinden müssen.“ (81).

Mit Samsas Erkrankung beginnt Kafka seine Erzählung, was der dominierenden Bedeutung dieses Motivs entspricht. Ähnlich verhält es sich auch in der Zwischenbilanz, die Trifonow mit Gennadijs Beschwerden einleitet. Er verträgt die tropische Hitze in Turkmenien nicht, leidet unter Atemnot, Schwindelgefühlen und Beklommenheit in der Brust, was Schlaflosigkeit und Todesangst zur Folge hat. War Gennadij nach Turkmenien geflogen, um dort unabhängig von seiner Familie zu existieren, und hat er die Trennung bereits fast zwei Monate durchgehalten, so droht nun die Krankheit, ihn weich zu machen: Er gibt klein bei, ruft in Moskau an und gesteht seinen Wunsch nach Rückkehr.

Zwar lässt er sich dann von seinem Auftraggeber Mansur zum Bleiben überreden, doch die Möglichkeit der Rückkehr, verbunden mit der Furcht vor einer ernsten Erkrankung, beschäftigt seine Gedanken weiter, und er stellt sich vor, wie seine Frau, beraten von einer Freundin, reagieren könnte, wenn er sie anriefe und ihr sagen würde, er sei erkrankt und wolle nach Hause fliegen:

Du kommst zurück? Schön. Bist krank? Wir werden dich pflegen, Medikamente besorgen. Wenn nötig, bringen wir dich in einem guten Krankenhaus unter. Aber deine Krankheit kann leider das nicht ungeschehen machen, was du angerichtet hast, den Kummer, den du uns bereitet hast. Man muss für alles zahlen, mein Lieber. (76 / 69)

Offenbar glaubt Gennadij zwar, dass man sich zu Hause seiner annehmen werde, doch sind in Ritas Worten, wie er sie sich vorstellt, affektive Kühle und Distanz zu spüren. Gepflegt würde er wohl nicht besonders liebevoll und mit wenig Wärme. Augenscheinlich ist die Parallele zu Gregor, der von seiner Familie lieblos gepflegt wird. Man hält sich ihn vom Leibe und wünscht seinen Tod herbei.

Den die Erzählung einleitenden Textblock beschließt eine interessante Assoziation. Gennadij vergleicht sich mit einem Insekt - schwebt ihm dabei bewusst oder unbewusst Gregor Samsa vor?

Am 19. März, als ich in Nacht und Schneetreiben aus dem Haus trat, hatte ich gedacht: Wenn ich schon zu Hause in meinem Starkasten, dort, wo niemand außer mir seine Nase reinzustecken hat, nicht unabhängig sein kann, wenn ich dort nicht das Recht habe, etwas zu vollbringen, bin ich ein Nichts, ein Wurm [ Wurm ist eine freie Übersetzung für nasekomoje, das eigentlich Insekt bedeutet - G.W.]. (76 / 70)

Etwas pathetisch rechtfertigt Gennadij seine Flucht mit der als entwürdigend empfundenen Abhängigkeit von der Familie. Damit ist emotionale Abhängigkeit gemeint, der er sich durchaus bewusst ist:

Hatte Kirka nicht mal gedroht: „Na schön, ich hau ab, aber dann kriegst du’n Infarkt. Weil ich ohne dich leben kann, du aber nicht ohne mich.“ Dieser Dreckskerl hatte die Wahrheit gesagt. (139 / 123)

Gennadij muss seine emotionale Bindung als erniedrigend erleben, weil er an Menschen hängt, die ihn nicht brauchen, ja verachten und menschlich nicht akzeptieren. Frau und Sohn halten ihn für einen Versager, und tief hat es sich ihm eingeprägt, wie Rita ihn einmal mit „Ekel“ betrachtete (128 / 114). Ähnlich ergeht es Samsa. Seine Angehörigen ekeln sich vor ihm und akzeptieren ihn nicht.

Schwebt Gennadij, als er sich mit einem Insekt vergleicht, also Gregor Samsa vor? Zieht man in Betracht, dass Gennadij fürchtet, ähnlich Samsa ein ungeliebter Kranker zu werden, dass ihn Kafkas Verwandlung tief beeindruckt hat und ihn unterbewusst beschäftigt, was die Assoziation zu Samsa in der untersuchten grotesken Vision ja nahe legt, so kann man sich seinen Gedanken, zu Hause als unwürdiges Insekt zu vegetieren, durchaus als Folge der Lektüre der Verwandlung vorstellen[16].

Von Gennadijs Beschwerden ist die Atemnot bersonders wichtig, da sich an ihr der psychogene Charakter der Krankheit demonstrieren lässt:

Atemnot tritt in Gennadijs stets wiederkehrendem Alptraum auf. Er steigt eine endlose Treppe hinauf, was ihm mit jedem Schritt schwerer fällt. Immer schwerer fällt ihm auch das Atmen, bis es zum Atemstillstand kommt, was Gennadij mit dem medizinischen Terminus Asphyxie bezeichnet. Steht das endlose, beschwerliche Steigen für die Sisyphusarbeit des Übersetzens, so die Atemnot für seine Erkrankung infolge dieser täglichen Mühsal.

Im Symbolbereich des Atmens werden an einer anderen Stelle konkret-körperliche und metaphorisch-seelische Atemnot zusammengebracht, wodurch der psychosomatische Charakter dieser Beschwerde betont wird:

Wenn der Mensch nicht die Nähe seiner Nächsten spürt, dann [...] kriegt er keine Luft mehr - aus Mangel an Sauerstoff, und seine Seele krümmt sich vor Schmerz. (80 / 73)

Gennadij beklagt sich über die Gefühlskälte in seiner Familie. Der lebensnotwendige und belebende Sauerstoff der Nächstenliebe fehlt ihm als Kompensation zum Ertragen seiner beruflichen Mühsal.

Bei beiden Hauptfiguren lässt sich also die psychische Ursache der Krankheit ähnlich erklären: Gennadij will wieder nach Hause, Samsa will zu Hause bleiben. Beide wollen ihre berufliche Tätigkeit abschütteln, weil sie Zwang und Überlastung bedeutet und weder innere Befriedigung bereitet noch durch Zuwendung in der Familie kompensiert wird.

Beiden Erzählungen gemeinsam ist schließlich das caritative Motiv der Liebe eines jungen Mädchens und des Trostes, den sich Samsa - wenn auch vergebens - davon erhofft, und der Gennadij tatsächlich zuteil wird. Beide begehren die Person, die sie pflegt: Gregor seine Schwester Grete, die ihn nach seiner Verwandlung wartet, und Gennadij eine Krankenschwester, die junge Walja, die sich etwas um ihn kümmert, ihm den Blutdruck misst und fürsorgliche Ratschläge gibt.

Gregor erhofft sich speziell von Gretes Violinspiel Erlösung. War sie doch als einziges Familienmitglied ihm „noch nahe geblieben“ (102). Dennoch hatte er die Absicht, sein Geld auch in diese Beziehung hineinzubringen. Er wollte Grete, die „Musik sehr liebte und rührend Violine zu spielen verstand“ (102), eine kostspielige Ausbildung am Konservatorium bezahlen. Zur Rolle des Ernährers und Retters der Familie wäre die des Gönners der Schwester hinzugekommen, sein Geld hätte sie ihm verpflichtet. Beherrschenwollen ist Gregors eigentliches Motiv, und es ist bezeichnend, dass sich dieser Charakterzug in Zusammenhang mit Gretes Violinspiel unverhüllt und unsublimiert offenbart. Als sie den Untermietern vorspielt, ergreift ihn Eifersucht. Er will sie in seinem Zimmer gefangen halten, damit sie nur für ihn spielen kann. Er würde der Gefangenen dann gestehen, dass er sie aufs Konservatorium schicken wollte, worauf sie in seiner Wunschfantasie „in Tränen der Rührung“ (130) auszubrechen hat. Dafür darf das Ungeziefer sie dann auf ihren bloßen Hals küssen. Angesichts dieser Liebkosungsvorstellung und des erotischen Charakters von Musik überhaupt entsublimiert sich hier Gregors Herrschsucht als schlecht verdrängte Vergewaltigungsfantasie, während vor der Verwandlung das Streben des Sohnes, seine Nächsten von sich abhängig zu machen, in sublimierteren Formen wirksam war, indem er sich zum Ernährer und Retter der Familie aufschwang.

Als das Insekt sein Zimmer verlässt und auf die violinspielende Schwester zukriecht, bringt dieser Vorstoß das Fass zum Überlaufen. Grete erklärt, dass dieses „Untier“ unmöglich ihr Bruder sein kann (133), und die Familie ist sich einig, dass es verschwinden muss. Gregor versteht und stirbt.

Gennadij dagegen hat Glück. Walja weist ihn nicht zurück und löst dadurch in seiner Krise die Wende zur Besserung aus. Ihre Zuwendung hebt sein Selbstwertgefühl und beweist ihm, dass die vermisste menschliche Wärme für ihn doch noch zu erreichen ist.

Dass Gennadij bei Walja Erfolg hat, hängt mit seiner bescheidenen Haltung zusammen, mit der Einsicht in seine Unvollkommenheit:

„Alt bin ich, weil... Verstehen Sie, Walja. Ihr Vater ist Gärtner, Ihr Stiefvater Tierarzt. Sie sind Krankenschwester, ich aber bin mein Leben lang wo raufgekraxelt, immerzu. Alt ist man, wenn man zu müde ist, weiterzukraxeln. Alles Stuss, verstehen Sie?“

Das war nicht zu verstehen, aber sie verstand. (143 / 127)

Gennadij unterscheidet sich in positiver Weise von Gregor, der seiner Schwester als Ernährer, Retter und Gönner gegenübertreten, sie sich mit seinem Geld verpflichten und als Insekt sogar in seinem Zimmer gefangen halten will. Gennadij tritt Walja dagegen in einer weniger anmaßenden Rolle gegenüber: als Mensch, der sich zu seinem beruflichen Scheitern, zu seinem Alter bekennt. Aus diesem Grund enden beide Werke verschieden: Gennadij übersteht seine physische und psychische Krise, Gregor erliegt ihr, da er seine machtgierige, anmaßende und uneinsichtige Haltung nicht überwinden konnte.

Gennadijs Assoziation zu Samsa ist nicht nur Kommentar zu seiner grotesken Vision und gehört nicht nur zur literarischen Standortbestimmung des Autors. In diesen Funktionen hätte die Anspielung auf die Verwandlung ohne größeren Schaden für die Erzählung weggelassen oder durch eine Anspielung auf ein anderes Werk Kafkas ersetzt werden können.

Vielmehr stimmen die existenziellen Situationen der beiden Hauptfiguren so sehr überein, dass die Assoziation zu Samsa sich dem Kafka-Leser Gennadij geradezu aufdrängen muss, wodurch sie organisch in die Erzählung integriert ist.

4. Interpretation der Zwischenbilanz im Vergleich mit Kafkas Prozess

Eine weitere kafkaeske Situation in der Zwischenbilanz stellt Gennadijs Erlebnis mit der sowjetischen Justiz dar (121-129 / 108-115). [17] Ermittelt wird gegen seinen Sohn Kirill wegen illegalen Handels mit einer wertvollen Ikone, die einer armen frommen Frau gehört. Er hat sie auf wenig anständige Weise an sich gebracht, indem er die Naivität und geistige Verwirrtheit der kranken Besitzerin ausnutzte und sie überredete, ihm die Ikone, an der sie sehr hängt, zu überlassen. Als Vater soll er dazu eine Zeugenaussage machen, deshalb ruft ihn ein Untersuchungsrichter an. Kurzangebunden wird Gennadij zum nächsten Tag vorgeladen, ein Grund dafür nicht genannt, und er wagt es nicht, danach zu fragen. Den Stil des Telefonats prägt die Autorität einer Justiz, die es gewohnt ist, keine großen Umstände mit den Bürgern zu machen. Gennadij muss vermuten, dass ihm der Prozess gemacht wird, und gerät, obwohl er sich keiner kriminellen Tat bewusst ist, in panische Angst, lässt sich aber der Familie gegenüber nichts anmerken. Bis zum Termin am folgenden Tag dauert die zermürbende Ungewissheit.

Für viele westliche Leser ist es wahrscheinlich schwer zu verstehen, warum Gennadij sich so quält, dem sowjetischen Leser dagegen, besonders wenn er den Großen Terror der Stalinzeit erlebt hat, dürfte die Angst des Vorgeladenen vertraut sein, der als hilfloser Einzelner einem übermächtigen, immer noch stalinistische Züge tragenden Justizapparat gegenübersteht. Unverkennbar ist Trifonows Kritik an der sowjetischen Justiz, wenn er die Hauptfigur das Verschweigen des Vorladungsgrunds als Mittel zur Zermürbung des zu Vernehmenden bezeichnen lässt (122 / 108). Unverkennbar ist auch die Ähnlichkeit dieser Situation mit Kafkas Prozess, denn wie Josef K. kennt auch Gennadij - wenn auch nur für einen Tag und eine Nacht - nicht die Anklage, so dass sein Prozess, den er vermuten muss, noch bedrohlicher erscheint.

Im Prozess wie in der Zwischenbilanz prägt Rechtlosigkeit das Verhältnis des Bürgers zu den Gerichten, die es nicht nötig haben, die Gründe für ihre Maßnahmen offen zu legen.

Die Situationen in beiden Erzählungen ähneln sich auf jeden Fall, wenn man beide Gerichte als typische Bestandteile ungerechter, totalitärer Staatssysteme auffasst. Bleibt diese Ähnlichkeit aber bestehen, wenn man in Josef K. kein Opfer einer repressiven Maschinerie sieht, sondern einen Schuldigen, der seine Strafe verdient? So interpretiert zum Beispiel Martin Buber[18] den Prozess aus religiöser Sicht als Parabel für Schuld und Gewissen, indem er auf Josef K.s Hybris verweist:

[Josef K.] bringt es später fertig - offenbar ohne recht zu wissen, was er sagt - , das verwegene Wort auszusprechen, das keinem Menschenmunde zusteht: „Ich bin vollständig unschuldig.“ (723)

Josef K. legt kein Geständnis ab; er weigert sich zu verstehen, dass es ihm obliegt. [...]

Er besteht darauf, dass es die persönliche Existenzialschuld überhaupt nicht gebe. Sein Innerstes weiß es anders - weil Kafka, der diesem Josef K. nah steht, es anders weiß - , aber zu diesem Innersten vorzudringen scheut er sich eben, bis es zu spät ist. (725)

Das Gericht lässt sich als Projektion von Josef K.s Über-Ich sehen, das mit seinem Träger unzufrieden ist und ihn deshalb schikaniert, anklagt und verurteilt. Das Gericht wäre somit nicht oder nicht nur Parabel für einen totalitären Staat ohne Transparenz und Personenrechte. Die Anklage lässt sich, wie dies W. Emrich[19] tut, als Vorwürfe eines Bilanz ziehenden Gewissens interpretieren. Der Kafka-Forscher hebt dabei die Bedeutung des Alters der Hauptfigur hervor, die an ihrem dreißigsten Geburtstag verhaftet wird:

Zudem ist der Morgen des dreißigsten Geburtstags ein besonders ausgezeichneter Augenblick. In ihm liegt es nahe, gleichsam eine Rechtfertigung des gelebten und noch zu lebenden Lebens zu versuchen. Ähnlich wird auch der Kaufmann Block „kurz nach der Tod“ seiner „Frau“ verhaftet [...], d.h. in einem Augenblick, als sein gewohntes, normiertes Leben gestört ist, eine Besinnung über Leben und Tod einsetzt. Entscheidend aber ist, dass diese Besinnung von Josef K. als eine fremde, ihn „störende“ Macht empfunden, daher als ein objektiv ihm gegenüberstehendes Geschehen geschildert wird, nicht lediglich als eine innere Reflexion. (270)

Doch auch bei einer solchen Interpretation bleibt der Prozess der Zwischenbilanz ähnlich, denn diese trägt ebenfalls prozessualen Charakter: Auch Gennadij zieht Bilanz (Titel!) seines bisherigen Lebens, wägt ab, was er geleistet und versäumt hat, hält Gericht über sich selbst.

Gemeinsam ist beiden Erzählungen also die Thematik des anklagenden Über-Ichs; als wesentlicher Unterschied bleibt, dass Gennadij dieVorwürfe als eigene anerkennt, Josef K. dagegen die Unzufriedenheit mit sich selbst in das Gericht projiziert, indem er sein verurteilendes Über-Ich von sich abspaltet, da er es als Ausdruck seines Minderwertigkeitsgefühls nicht wahrhaben will.

Dieser Unterschied - Gennadij fühlt sich von sich selbst angeklagt, Josef K. von einem anonymen Gericht als Teil eines ungerechten Staatssystems - ist jedoch an einer Stelle aufgehoben: bei Gennadijs Kontakt mit der sowjetischen Justiz. Hier wird die Zwischenbilanz kafkaesk, weil sie ebenfalls jede Doppelwertigkeit annimmt, die Kafkas Prozess die drückende Atmosphäre verleiht: Die Anklage ist für Josef K. doppelt belastend, weil die Undurchschaubarkeit und Allmacht einer Behörde, der man rechtlos ausgeliefert ist, schon bedrohlich genug ist, wozu dann noch der Druck eines strengen, strafenden Über-Ichs hinzukommt.

Auch für Gennadij kommt an dieser einen Stelle zu dem Druck des Bilanz ziehenden, anklagenden Gewissens die Angst vor der noch stalinistisch geprägten sowjetischen Justiz hinzu. Die Kombination von Gewissensqual und Furcht vor einer unberechenbaren Instanz macht für Gennadij den Kontakt mit der Justiz besonders schrecklich.

Dieser Kontakt veranlasst ihn auch, nach eigenen Verfehlungen zu forschen. Zuerst geht er als Reaktion auf die Vorladung alle möglichen Delikte in seinem Gedächtnis durch. Dies sind überwiegend Bagatellen wie ein gestohlener Aschenbecher, aber auch Ernstes wie die Mitschuld an einem Autounfall, der ein Todesopfer gefordert hat. Durch diese Erinnerungsarbeit will Gennadij den Anklagepunkt finden, um dadurch dem Gericht ein Stück seiner einschüchternden Unberechenbarkeit zu nehmen. Doch ist dies nicht das einzige Motiv. Hinter dieser Selbsterforschung steht auch Gennadijs strenges, Bilanz ziehendes Gewissen.

Als er schließlich erfährt, dass sein Sohn der Beschuldigte ist, fühlt er sich dennoch nur kurz entlastet. Es bleibt das Bewusstsein, trotzdem als Schuldtragender in dieses Verfahren verwickelt zu sein, als ein Vater nämlich, der seinen Sohn nicht richtig zu erziehen vermochte.

Gennadij unterscheidet sich von Josef K. in der gleichen Weise wie von Gregor Samsa: durch seine Bescheidenheit und Bereitschaft, die eigenen Mängel einzusehen.

Josef K. dagegen ist sich keiner Schuld bewusst und behält gegenüber dem Gericht fast durchweg die stolze Haltung eines sich integer dünkenden Menschen bei.

Mit diesem Unterschied in der Haltung hängt es zusammen, dass Samsa verendet und Josef K. hingerichtet wird, Gennadij aber, obwohl ihn mehrmals Todesangst packt, die Krise übersteht.

[...]


[1] Aus Zwischenbilanz wird zitiert nach der Übertragung von Corinna und Gottfried Wojtek in: Jurij Trifonow: Moskauer Novellen. Der Tausch. Zwischenbilanz. Langer Abschied. Luchterhand-Verlag Darmstadt 1980. Die zweite Seitenangabe verweist auf den russischen Originaltext in: Sobranie sotschinenij v tschetyrjoch tomach (Gesammelte Werke in vier Bänden) Moskau 1985-1987. Bd 2 (1986). Hervorhebungen sind immer von Trifonow.

[2] Diese Art des Übersetzens wird als lukrative Verdienstmöglichkeit von vielen sowjetischen Literaten praktiziert. Wer bei einer Übertragung eines georgischen, usbekischen oder turkmenischen Gedichts als Übersetzer angegeben ist, muss keineswegs die Sprache des Originals auch beherrschen.

[3] T. Patera: Obzor twortschestwa i analiz moskowskich povestej Jurija Trifonowa. Ann Arbor 1983. S.192.

[4] Vgl. C.G.Jung: Die transzendente Funktion. In: Gesammelte Werke Bd 8.

[5] Vgl. Patera, a.a.O., S.197

[6] Natalija Roskina: Tschetyre glavy. Iz literaturnych vospominanij. Paris 1980. S.32

[7] D.V.Zatonskij: Franc Kafka i problemy modernizma. Izdanie 2-e, isprawlennoje. Dopuschtscheno Ministerstwom prosweschtschenija SSSR v katschestwe utschebnogo posobija dlja studentow institutow i fakultetow inostrannych jazykow. Moskwa 1972.

[8] Zu Kafka vgl. E. Knipowitsch: Franc Kafka. In: Inostrannaja literatura 1964.1. S. 195-204 B. Sutschkow: Franc Kafka. In: ders.: Sobr. Sotsch. v trjoch tomach. Moskwa 1984-1985. Bd 2 S. 88-158 Zu Trifonow vgl. Ju. Andreew: V zamknutom mirke. In: Literaturnaja gazeta 3.3.1971 S.5 [Rezension zu Zwischenbilanz ] G. Browman: Izmerenija malogo mira. In: Literaturnaja gazeta 8.3.1972. S.5 [Rezension zu Tausch, Zwischenbilanz und LangerAbschied ] V. Dudintsew: Stoit li umirat ransche wremeni. In: Literaturnoje obozrenie 1976.4. S. 52-57 [Rezension zum Anderen Leben ] V. Sacharow: Obnowljajuschtschijsja mir. Zametki o tekuschtschej literature. Moskva 1980 [Über Trifonow S. 173-196]

[9] Sacharow, a.a.O., S. 187

[10] Dudintsew, a.a.O. S. 55

[11] Knipowitsch, a.a.O., S. 198, Sutschkow, a.a.O., S. 112

[12] Franz Kafka: Tagebücher 1910-1923 [Frankfurt am Main] 1951. S.418 [=Band ohne Nummer von:] Franz Kafka: Gesammelte Werke. Hrsg. Max Brod. Lizenzausgabe von Schocken Books. New York 1948 und 1949. - Bei Zatonskij auf S. 61 zitiert.

[13] Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt am Main 1968. S.165. - Zatonskij zitiert es auf S. 66, wobei er verschweigt (oder verschweigen muss), dass es die bolschewistische Revolution ist, über die Kafka und Janouch sprechen.

[14] Zitiert wird nach: Franz Kafka: Erzählungen. [Frankfurt am Main 1952. = Band ohne Nummer von: Gesammelte Werke. Hrsg. von Max Brod. [Frankfurt am Main 1950ff.] Lizenzausgabe von Schocken Books New York 1946.

[15] Wohnraum war in der Sowjetunion äußerst knapp, die meisten Bürger wohnten beengt. Das spielt eine wichtige Rolle in Trifonows Erzählung Der Tausch.

[16] Interessant ist auch, dass Gennadij von seinem Zuhause als Starkasten spricht. Das ist eine Tier-Behausung. Assoziation zu Samsa?

[17] Vgl. Patera, a.a.O., S.203

[18] Martin Buber: Schuld und Schuldgefühle. In: Merkur XI (1957) 8, S. 705-729

[19] Wilhelm Emrich: Franz Kafka. Frankfurt am Main/Bonn 1970

Excerpt out of 12 pages

Details

Title
Jurij Trifonows "Zwischenbilanz (Predvaritel'nye itogi)" und Franz Kafka
College
University of Cologne
Author
Year
1992
Pages
12
Catalog Number
V107997
ISBN (eBook)
9783640062010
File size
497 KB
Language
German
Notes
Die vorliegende Arbeit ist ein Kapitel aus meiner Doktorarbeit über den sowjetrussischen Schriftsteller Jurij Trifonow, an der ich vom WS 87/88 bis SS 92 zuerst an der Uni Köln, dann an der Uni Bonn arbeitete, und die wegen persönlicher und fachlicher Differenzen mit den Doktorvätern scheiterte.
Keywords
Jurij, Trifonows, Zwischenbilanz, Franz, Kafka
Quote paper
Gert Wengel (Author), 1992, Jurij Trifonows "Zwischenbilanz (Predvaritel'nye itogi)" und Franz Kafka, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107997

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