Lenin und die Presse - Sozialistische Pressekonzeption und ihre Umsetzung in der UdSSR


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2001

15 Pages, Note: 1,7


Extrait


Gliederung

1. Einleitung
1.1. Einführung
1.2. Literatur
1.3. Aufbau der Arbeit

2. Lenin und seine Pressearbeit – ein biographischer Überblick
2.1. Anfänge im Exil
2.2. Die Iskra
2.3. Die Prawda
2.4. Nach der Revolution von

3. Die Pressekonzeption Lenins
3.1. Lenins Vordenker – Marx und seine Pressekonzeption
3.2. Lenin und die Presse
3.2.1. Aufgaben der Presse
3.2.1.1. Propagandist
3.2.1.2. Agitator
3.2.1.3. Organisator
3.2.2. Stil
3.2.2.1. Parteilichkeit
3.2.2.2. Polemik
3.2. Pressefreiheit

4. Was von Lenin übrig bleibt – die Umsetzung der Pressekonzeption unter Stalin

5. Ausblick

Anhang:

Literaturliste

Verzeichnis der Zeitungen

Einleitung

1.1. Einführung

Lenin – Revolutionstheoretiker, Parteiführer, Staatsgründer[1]– hat in vielen Bereichen des politischen Lebens und der Wissenschaft seine Spuren hinterlassen. Auch für die Kommunikationswissenschaft ist seine marxistische Pressekonzeption interessant, v.a. da Marx selbst kein eindeutiges Konzept entwickelt hat, nach dem sich die Presse im nachrevolutionären Staat zu richten hätte.

Noch interessanter wird Lenins Konzeption dadurch, dass sie – im Gegensatz zu anderen Beiträgen zur marxistisch-sozialistischen kritischen Medientheorie (wie z.B. Brecht oder Enzensberger) kein reines Gedankengebäude geblieben ist, sondern im neugegründeten Staat der Sowjetunion ihre praktische Umsetzung fand.

Es lohnt sich also, Lenins Pressekonzeption – und was daraus geworden ist – genauer unter die Lupe zu nehmen.

1.2. Literatur

Es scheint, dass Lenin und die sozialistische Presse in der momentanen Forschung etwas aus der Mode gekommen ist. Biographische Titel zum Leben Lenins sind noch sehr leicht zu finden: „Lenin – eine Chronik“ (1983) und „Lenin – Utopie und Terror“ von Dimitri Wolkogonow seien hier als Beispiele genug. Es fiel mir jedoch schwer, wirklich aktuelle Literatur zum Thema Lenin und die Presse ausfindig zu machen. Als sehr hilfreich erwies sich die in diesem Jahr im Internet veröffentlichte Dissertation des Juristen Jens Joachim Deppe zum Thema „Über Pressefreiheit und Zensurverbot in der Rußländischen Föderation“[2], der in seiner Arbeit auch auf die ursprüngliche Konzeption Lenins eingeht, bevor er sich dem Wandel unter Gorbatschow und Jelzin zuwendet. Ebenfalls unverzichtbar war die schon etwas ältere Arbeit „Pressepolitik und Parteijournalismus“ von Hans-Jürgen Koschwitz. Für die Untersuchung der Pressekonzeption konnte ich Wladimir Gorbunow, „Der Beitrag Lenins zur marxistischen Kulturtheorie“ zu Hilfe nehmen, ebenso wie „Lenin and the revolutionary party“ von Paul LeBlanc. Den allgemeinen Hintergrund von Presse im totalitären Staat behandelt der Sammelband „Totalitarismus im 20.Jahrhundert“, 1996 herausgegeben von Eckard Jesse.

Quellen, aus denen ich die Konzeption Lenins selbst erschließen konnte, fand ich v.a. in dem Sammelband „Lenin über die Presse“ und aus den gesammelten Schriften Lenins, herausgegeben von Hermann Weber. Äußerst interessant für die Umsetzung von Lenins Theorien war der Konferenzbericht „Die Kritik der Prawda – eine unschätzbare Hilfe für die Sowjetpresse“ aus dem Jahr 1958, mit dem DDR-Journalisten zum Parteijournalismus erzogen werden sollten.

1.3. Aufbau der Arbeit

In dieser Arbeit geht es v.a. darum, Lenins Pressetheorie und die daraus resultierende Praxis miteinander zu vergleichen, um so zu einer abschließenden Bewertung der Wirksamkeit von Lenins Konzeption zu gelangen.

Ich werde mich daher im ersten Teil der Arbeit in einem kurzen biographischen Abriß mit Lenins wichtigsten publizistischen Tätigkeiten beschäftigen, um deutlich zu machen, wie Lenin aus seiner praktischen Arbeit heraus seine Theorie entwickeln konnte. Im zweiten Teil schließlich werde ich versuchen, die Pressetheorie zu skizzieren, und dabei auch untersuchen, inwieweit Lenin von Marx‘ Pressevorstellungen abweicht. Ein spezielles Augenmerk gehört in diesem Teil Lenins Vorstellung von Pressefreiheit. Im dritten Teil schließlich werde ich kurz darauf eingehen, wie Stalin in seiner Regierungszeit die Lehren Lenin gedeutet und wie ich meine, original-getreu weiterentwickelt hat.

Zur Konzeption der Arbeit bleibt zu sagen, dass ich das Thema eher kommunikationshistorisch als kommunikationwissenschaftlich bearbeitet habe. Es fehlen also genauere Stil-, Layout-, und Sprachbetrachtungen, da mir für diese Arbeit der historiographische Umgang mit den Quellen wichtiger erschien.

2 Lenin und seine Pressearbeit – ein biographischer Überblick

1.1. Anfänge im Exil

1895 reist Wladimir Iljitsch Uljanow nach Genf, zur Erholung von einer Lungenentzündung, so sagt es seine Ausreisegenemigung. In Wirklichkeit will Lenin die in der Schweiz lebenden Führer der russischen Sozialdemokratie Paul Axelrod und Georg Plechanow kennenlernen.[3]Nach der Schweiz besucht Lenin auch Deutschland und lernt in Berlin eine von Wilhelm Liebknecht gut organisierte sozialdemokratische Opposition kennen sowie deren wichtigstes Organ „Der Sozialdemokrat“, das während des zwölfjährigen Verbots durch das Bismarcksche Sozialistengesetz zuerst in der Schweiz und dann in London illegal gedruckt wurde.[4]Es ist anzunehmen, dass Lenin von der Bedeutung des Parteiorgans für die illegale Arbeit der SPD und ihre Erfolge bei Wahlen etc. sehr beeindruckt war. Jedenfalls macht er sich gleich nach seiner Rückkehr nach Petersburg an die Herausgabe einer eigenen illegalen Zeitung, der „Rabotscheje Delo“. Aber in der Nacht vor Erscheinungstermin der ersten Ausgabe beschlagnahmt die zaristische Geheimpolizei die Entwürfe und Lenin wanderte am 20.12.1895 ins Gefängnis, drei Jahre (1897 bis 1900) verbringt Lenin wegen Verbreitung aufrührerischer Schriften in Sibirien.[5]Die Idee von der gesamtrussischen revolutionären Zeitung, „dem Blatt, das Rußland verändern wird“[6], gibt er dennoch nicht auf. Aber mehr als die Veröffentlichung einiger „auf legal getrimmte“ Artikel und Lenins Faktensammlung „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland“ ist im zaristischen Rußland nicht möglich.

1.2. Die „Iskra“

Nach seiner Verbannung kehrt Lenin nach Petersburg zurück und plant mit anderen russischen Jungsozialisten die Herausgabe der „Iskra“. Dieser Funke soll das Feuer der Revolution entfachen, so Lenin. Damit die russische Geheimpolizei den Funken nicht vorzeitig löschen kann, beschließt man, die „Iskra“ im Ausland drucken zu lassen. Lenin setzt sich in dieser Entscheidung gegen den „Gottvater“ des russischen Marxismus Georg Plechanow durch und erreicht, dass die „Iskra“ nicht – wie von Plechanow favorisiert – in der Schweiz, sondern in Deutschland erscheint[7]. Schnell wird klar, dass Lenin in der Redaktion der „Iskra“ die Fäden in der Hand hält. Im Leitartikel der „Iskra“ Nr. 1, die am 24.12.1900 erscheint, legt er die Marschroute der illegalen Revolutionszeitung fest: „Es ist also begreiflich, dass wir nicht die Absicht haben, unser Organ zu einem einfachen Sammelplatz der verschiedenartigen Anschauungen zu machen. Wir werden es im Gegenteil im Geiste einer streng festgelegten Richtung führen. Diese Richtung kann nur durch ein Wort gekennzeichnet werden: Marxismus.“[8]Lenin verurteilt alle Abweichungen vom orthodoxen Marxismus (Bernstein, Struve, etc.) hart und macht sich damit auch unter den Geburtshelfern der „Iskra“ nicht nur Freunde.

Drei Jahre lang leitet Lenin die „erste gesamtrussische revolutionäre illegale Zeitung“[9], doch die Spaltung der russischen Arbeiterbewegung kann er damit nicht verhindern. Auf dem II.Parteitag der SDAPR (Sozialdemokratische Partei Rußlands) 1903 wählt zwar die Mehrheit, die Bolschewiki, Lenin zu ihrem Parteiführer, die Minderheit, die Menschewiki bekommen jedoch viel Zuspruch in der Redaktion der „Iskra“, v.a. Plechanow wechselt das Lager.[10]Lenin tritt daraufhin aus „seiner“ Iskra aus und hat für das Organ der Abweichler fürderhin nur noch Hohn und Spott übrig. „Zwischen der alten und der neuen „Iskra“ liegt ein Abgrund, wie er tiefer nicht sein könnte.“ so der Menschewik Trotzki.

1.3. Die „Prawda“

Nach der Enttäuschung „Iskra“ arbeitet Lenin in verschiedenen kurzlebigen Publikationen[11](Sarja, Wperiod, Proletari, Sozial-Demokrat, Rabotschaja Gaseta) mit, keine scheint seiner Idee von der revolutionären und revolutionierenden Zeitung wirklich nahe zu kommen. Erst 1912 entdeckt Lenin in der legalen bolschewistischen Tageszeitung „Prawda“ revolutionäres Potential, er arbeitet beratend an der Erstausgabe mit. Dennoch kritisiert er in einem Brief an die Redaktion die am 5.5.1912 erschienene Nr. 1 der „Prawda“ als zu angepasst: „[Sie machen sich] selbst zu einem trockenen und eintönigen, uninteressanten, unkämpferischen Organ. Ein sozialistisches Organmusspolemisieren: unsere Zeit ist eine Zeit schlimmster Verworrenheit, und ohne Polemik geht es nicht!“[12]Die Redaktion nimmt sich die Kritik zu Herzen, der Stil der „Prawda“ ändert sich über das Jahr 1912 in die von Lenin gewünschte Richtung, und somit werden auch die Leninschen Artikel in der Tageszeitung immer häufiger. Von 1912 bis 1917 arbeitet Lenin von der Schweiz aus als Korrespondent der „Prawda“, 1917 kehrt er während der Revolution nach Rußland zurück und tritt noch während den Revolutionswirren in die Redaktion der „Prawda“ ein und versucht, durch seine Pressearbeit Einfluß auf den Verlauf der Revolution zu nehmen: Fast in jeder Ausgabe erscheint ein Lenin-Artikel zum Vorgehen der Revolutionäre.[13]Ende des Jahres wird die „Prawda“ Zentralorgan der SDAPR.

1.4. Nach der Revolution von 1917

Nachdem Lenin sich mit seinem orthodoxen Marxismus gegen die Konterrevolution und im Bürgerkrieg durchgesetzt hat, bleibt dem frischgebackenen Staatsoberhaupt nicht mehr viel Zeit für eigene Veröffentlichungen in den Medien. Statt dessen denkt er jetzt in größeren Kategorien: Der Sowjetstaat macht sich unter seiner Leitung an den Wiederaufbau – besser: Umbau – des Landes. Das Primärziel Lenins war dabei die Neuordnung der Medien – alles andere hatte zu warten.[14]Um die Pressefreiheit in leninistischem Sinne zu gewährleisten[15], werden als erstes sämtliche Druckereien und Papierfabriken verstaatlicht. Schon 1917, als die Position der Bolschewisten noch keineswegs gesichert war, veröffentlicht Lenin eine erste Resolution zur Pressefreiheit[16]und gibt damit seiner Pressekonzeption einen realen rechtlichen Rahmen. Die „Prawda“ entwickelt sich vom Meinungsführer zum Meinungsmacher[17]und verwirklicht damit Lenins Ideen, die er zwei Jahrzehnte zuvor bei der Konzeption der „Iskra“ entwickelte.

3 Die Pressekonzeption Lenins

3.1. Lenins Vordenker – Marx und seine Pressekonzeption

Wenn man sich mit Lenin oder dem Sozialismus beschäftigt, kommt man an Marx und seinen Urtheorien nicht vorbei. Deshalb möchte ich, bevor ich Lenins Pressekonzeption genauer erläutere, zuerst die Marx’schen Theorien zu diesem Thema betrachten.

Marx‘ bekannteste und entscheidenste journalistische Tätigkeit ist die Mitarbeit bei den kurzlebigen Blättern „Rheinische Zeitung“ und „Neue Rheinische Zeitung“. In diesen Zeitungen liberaler Ausrichtung veröffentlichte Marx einige flammende Artikel zur Aufgabe und Funktion der Presse, die seine leninistischen Nachfolger gerne zitieren. Dabei unterscheiden sich einige Ansichten des jungen Marx stark von der Interpretation Lenins, wie im nächsten Punkt gezeigt wird.

Für Marx ist die Presse öffentliche Wächterin und Denunziantin der Machthabenden sowie Unterwühlerin der aktuellen Zu- bzw. Missstände.[18]Sie muss also die schlechten Seiten des herrschenden Systems aufdecken und einen Widerstand organisieren. Marx praktiziert zu diesem Zweck die Verschmelzung von Nachricht und Kommentar, um zu informieren, aber gleichzeitig auch eine gegen das System gerichtete Ideologie zu vermitteln.

Interessant sind die Ansichten des jungen Marx zur Pressefreiheit: Ganz im liberalen Geist Görres‘ stehend verlangt er eine absolut freie Presse ohne Zensur: „Die Regierung hört nur ihre eigene Stimme, sie weiß, dass sie nur ihre eigene Stimme hört und fixiert sich dennoch in der Täuschung, die Volkstimme zu hören, und verlangt ebenso vom Volke, dass es sich diese Täuschung fixiere.“[19]

Wir werden sehen, daß diese scharfe Verurteilung der Zensur in starkem Widerspruch zu Lenins Auffassung von Pressefreiheit steht.[20]Gleichzeitig steht die hier zu Tage tretende individualistische Freiheit in Widerspruch zu Marx‘ späterem kollektivem Freiheitsverständnis. Da sich Marx in späteren Jahren nicht mehr zur Funktion der Presse geäussert und nie deren Rolle im nachrevolutionären Staat festgelegt hat, blieb Lenin viel Raum für Interpretation.

3.2. Lenin und die Presse

Lenin hat im Gegensatz zu Marx in seinem Artikel „Womit beginnen?“ in der „Iskra“ Nr. 4 und seiner Broschüre „Was tun?“ die Aufgaben seiner (Partei-)Presse soviel für die vorrevolutionäre Zeit als auch für den sozialistischen Staat klar festgelegt. Seiner Konzeption merkt man deutlich die Grundprobleme der sozialistischen Bewegung um 1900 an: Zersplitterung, Unorganisiertheit, ideologische Streitigkeiten. Die einzelnen agitatorischen Kreise wussten selten voneinander, laut Rosa Luxemburg gab es ebensoviele verschiedene Marxismus-Deutungen wie Marxisten[21]. All diese Probleme schwächten die Schlagkraft der Revolutionäre. Lenin sah daher in einer gesamtrussischen revolutionären Zeitung ein Heilmittel für diese „Kinderkrankheiten“ der Sozialisten.[22]

3.2.1. Die Aufgaben der Presse

Propagandist

Die Presse sollte zuallererst der Propagandist sein, der die theoretischen Grundlagen und Glaubensinhalte des Marxismus-Leninismus an die Massen bringt. Längerfristig angelegt sollte sie eine festgefügte Ideologie vermitteln, in die sich das Volk problemlos und zu seinem Vorteil einfügen kann.[23]

Agitator

Um die Ideologie praktisch erfahrbar zu machen, sollte die Presse weiterhin als Agitator fungieren, d.h. tagespolitische Ereignisse ideologisch umdeuten, um so den Massen am konkreten Beispiel die positive Wirkung des Marxismus-Leninismus zu zeigen. Ausserdem sollte sie die Massen mobilisieren, sie zur Mitwirkung an der Revolution, später am Aufbau des sozialistischen Staats anstacheln.

Organisator

Zuletzt sollte Lenins Presse als Organisator der Revolution arbeiten. Sie sollte die Fahne sein, um die sich die verstreuten Revolutionäre sammeln konnten, die nicht nur redaktionelle Mitarbeit an der Zeitung sollte die Sozialisten vereinen. Gleichzeitig würden aus dem Kreis der Mitarbeiter nach und nach ideologisch gefestigte Revolutionsführer heranwachsen, die im nachrevolutionären Staat mit ihrer Erfahrung und ideologischen Sicherheit das Steuer in die Hand nehmen konnten – die Presse als Talentschule für Berufsrevolutionäre.

Da sich diese drei Hauptaufgaben der Presse gegenseitig bedingen, ergibt sich folgendes Schema nach dem Lenins Presse funktionieren sollte:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3.2.2. Stil

Parteilichkeit

Lenin wollte eine Presse die nach aussen hin, also den bürgerlichen Antirevolutionären, das Bild eines kampfstarken, weil geeinigten Sozialismus vermittelte. Für diesen Anschein der Einigkeit war er bereit, das Recht auf freie Meinungsäußerung unter den Tisch fallen zu lassen. Kritik an der Idee des Sozialismus war nicht erlaubt, höchstens „konstruktive“ Kritik an der Inkompetenz des einen oder andern Parteigängers war genehm.[24]

Polemik

Lenin verstand die Presse vor allem als Kampfmittel der sozialistischen Bewegung.[25]Daher sollte auch der Stil dieser Presse den Kampfcharakter beinhalten. Immer wieder fordert Lenin die Redaktionen verschiedener Presseorgane (Sozial-Demokrat, Prawda, etc.) dazu auf, in ihren Artikeln mit „größerer Schärfe und Unduldsamkeit“[26]gegen die politischen Gegner vorzugehen. Allerdings warnte er auch vor allzu schreiender bloßer Demagogie. Lieber sollten die journalistischen Fehden mit harter Polemik, aber am konkreten Beispiel geführt werden.

„Charakteristikum der leninschen Publizistik war die Verbindung einer (...) rationalen Argumentation mit dem Streben nach emotionaler Wirksamkeit.“ so Hans-Jürgen Koschwitz über den Stil der leninistischen Presse.

3.2.3. Pressefreiheit

Im Gegensatz zum jungen Marx, der die Pressefreiheit im bürgerlich-liberalen Sinn als individuelles Recht der Unterdrückten im Kampf gegen einen absoluten Staat gesehen hatte, versteht Lenin die Pressefreiheit im nachrevolutionären Staat eher als Kollektivrecht. Hatte er vor 1917 noch für seine eigenen Publikationen von der „bourgoisen“ Pressefreiheit profitiert, erklärt er im November 1917 in einer Resolution zur Pressefreiheit, dass der Hauptbestandteil der bürgerlichen Pressefreiheit, nämlich der Kampf gegen Gutsbesitzer und Adel durch die sozialistische Revolution gegenstandslos geworden sei. Jetzt gehe es darum, die Presse von ihrer letzten Unterdrückung, „vom Joch des Kapitals“ zu befreien.[27]Die bürgerliche Auffassung von Pressefreiheit als Zensurfreiheit beinhalten keine wahre Meinungsfreiheit für jeden Bürger, besser: für jeden Arbeiter, so Lenin. Solange die Presse abhängig ist vom Kapital der Reichen, vom Anzeigengeschäft und von den Papierfabriken und Druckereien, solange kann sie nicht wirklich frei sein.[28]Lenin schlägt daher bereits 1903 in einem Artikel in der „Iskra“ vor, im nachrevolutionären Staat zuallererst sämtliche Papierfabriken und Druckereien zu verstaatlichen sowie ein staatliches Anzeigenmonopol zu erheben, um die Presse vom Kapital unabhängig zu machen. Die Nutzung der staatlichen Medien sollte schließlich prozentual unter den Interessentengruppen aufgeteilt werden und sich an der „Nützlichkeit“ der Gruppierungen für den sozialistischen Staat orientieren. Nach diesem Schema fielen die Hauptnutzungsrechte der Medien an den Staat, danach an die großen und kleinen anderen Parteien und schließlich an sämtliche Bürgerorganisationen ab 10000 Mitgliedern. Auf diese Weise sei erst eine wahrhafte Meinungsfreiheit gegeben, da nun alle Gruppen unabhängig von ihrer Vermögenssituation die Möglichkeit hätten, sich mitzuteilen, so Lenin in der „Iskra“.[29]Trotz dieser guten Absichten ging für Lenin die freie Meinungsäusserung nur soweit, wie er den sozialistischen Staat nicht gefährdet sah. Harte Einschränkungen zum Schutz vor Kritik an der Revolution zeigen sich am Dekret über die Presse von 1917: Jegliche Pressekritik war ab jetzt verboten, die Nutzung der Presse ist an die „Übereinstimmung mit den Interessen des arbeitenden Volkes und der Stärkung der sozialistischen Ordnung“ gebunden. Eine, wie sich bald zeigte, sehr dehnbare Formulierung, die für den Artikel 125 der Stalin-Verfassung von 1937 übernommen wurde.[30]

Lenin gesteht der Presse also im Gegensatz zu Marx keine Eigengesetzlichkeit zu, sondern unterstellt sie ganz der Sache des Sozialismus.

4 Was von Lenin übrig bleibt – die Umsetzung der Pressekonzeption unter Stalin

Während der kurzen Tauwetter-Periode unter Chrustschow und ebenfalls während der Perestroika unter Gorbatschow distanzierte man sich gern vom Nachfolger Lenins, sprach von Entstalinisierung und unter Chrustschow auch von einer Rückkehr zu den Lehren Lenins. Zumindest für den Bereich Pressepolitik habe ich im Verlauf dieser Arbeit nicht den Eindruck gewonnen, dass Stalin mit seiner Politik tatsächlich die Lehren Lenins falsch interpretiert hätte.

Der schlechte Journalist Stalin hatte genau wie Lenin die Macht und Bedeutung der Presse für einen totalitären Staat begriffen.[31]Er trieb die Gleichschaltung der Presse voran, bezeichnete diese Maßnahme aber nicht – wie bei Marx konzipiert – als vorübergehende Maßnahme, die nach der Schaffung des kommunistischen Staats ihre Gültigkeit verlieren sollte, sondern verankerte im Gegensatz diese Monopolisierung als Pressegesetz. Von diesem Zeitpunkt an wurde die russische Presse endgültig reine Parteipresse, die Journalisten werden zu „Kommandeuren der öffentlichen Meinung“, die von der KPdSU festgelegt wird.[32]

Stalin deutet die Organisator-Rolle der Presse nach Lenin um in eine Erzieher- und Vermittlerposition. Die Presse hat eine aktive (das Volk erziehende), aber auch dienende (nämlich der Partei) Rolle.

Die Journalisten der „Prawda“ sind unter Stalin viel unterwegs: Sie besuchen Industriezentren, schreiben Wettbewerbe nach dem Motto „Wer leistet am meisten für den Sozialismus?“ aus, interviewen Arbeiter über ihre Erfolge und berichten später über die Entwicklung des Sozialismus in den verbündeten Staaten des Ostblocks. Die Berichte sind, wie Lenin sich es vorgestellt hat, kritiklos positiv und geben westlichen Kapitalisten keinerlei Ansatz zu Kritik oder „Lügenhetze“[33]

Dass die aus dieser Kritklosigkeit entstehende Erstarrung der russischen Presse in festen Formen der Agitation und Propaganda in der westlichen Welt bald eher ein Bild der Lächerlichkeit denn des ernsthaften Journalismus darbot, war wohl hingegen weniger in Lenins Sinne...

Ausblick

Nach diesen Erläuterungen der Pressekonzeption Lenins wäre es nun interessant, den Ansatz von Punkt 4 fortzuführen, und in den einzelnen politischen Phasen der UdSSR und später der Russischen Föderation nach den Spuren Lenins zu forschen. Kommunikationshistorisch besonders untersuchungswert ist dabei die Übergangsphase zwischen totalitärer Diktatur und Demokratie unter den Staatsführern Gorbatschow und Jelzin.

Wie bereits Jens Joachim Deppe in seiner mehrfach zitierten Dissertation gezeigt hat, fiel es der Russischen Föderation in der Pressegesetzgebung schwer, das Erbe des sozialistischen Pressemonopols abzustreifen und ein wirklich demokratisches Pressegesetz zu schaffen. Noch schwieriger war es vermutlich, die journalistische Elite der Wendezeit zum Umdenken zu bewegen. Es wären daher einige statistische Untersuchungen sinnvoll, um festzustellen, wie lange leninistisch-stalinistische Presse-Dogmen in Layout, Stil und Inhalt der Pressemeldungen überdauert haben – falls die heutige russische Presse tatsächlich völlig frei von Staatsgeheimnissen und Vertuschung sein sollte.

Dabei hat in diesem Zusammenhang der katastrophale Umgang der russischen Presse mit dem Skandal um den Untergang des U-Bootes Kursk im August 2000 gezeigt, dass der Russischen Föderation v.a. eines zum wirklich demokratischen Staat fehlt – eine demokratische Presse.

Anhang

Literaturverzeichnis

Bäumler, Ernst; Verschwörung in Schwabing; München 1991

Friedrich, Carl Joachim, Die allgemeinen Merkmale der totalitären Diktatur, in: Jesse, Eckhard (Hrsg.); Totalitarismus im 20. Jahrhundert; Bonn 1996

Freiherrn zu Guttenberg, Karl Ludwig; Die zeitgenössische Presse Deutschland über Lenin; Würzburg 1931

Gorbunow, Wladimir; Der Beitrag Lenins zur marxistischen Kulturtheorie; Berlin 1983

Internationale Organisation der Journalisten (Hrsg.); Lenin über die Presse; Prag 1970

Jahnel, Bernhard (Hrsg.); Die sowjetische Presse in Dokumenten, Moskau 1961

Koschwitz, Hans-Jürgen; Pressepolitik und Parteijournalismus; Düsseldorf 1971

Kunze, Christine; Journalismus in der UdSSR; München New York 1978

Le Blanc, Paul; Lenin and the revolutionary party, Atlantic Highlands 1990

Laschitza, Annelies; Rosa Luxemburg und die Freiheit der Andersdenkenden, Berlin 1990

Verband der deutschen Presse (Hrsg.); Die Kritik der Pravda – eine unschätzbare Hilfe für die Sovietpresse; Berlin 1958

Weber, Hermann (Hrsg.); Lenin – Aus den Schriften 1895 – 1923, München 1980

Weber, Hermann/Weber, Gerda (Hrsg.); Lenin – Chronik; München Wien 1983

Wolkogonow, Dimitri; Lenin – Utopie und Terror; Düsseldorf Wien New York Moskau 1994

Links

http://www.russianmedia.de/dissertation/index.htm Dissertation von Jens Johann Deppe: Über Pressefreiheit und Zensurverbot in der Rußländischen Föderation, Wuppertal 2000

http://rferl.org/nca/special/rumdiager/index.htm

http://www.nyu.edu/globalbeat/pubs/npi091698.htm

http://ltz-muenschen.de/~oeihist/vomg65.htm

Verzeichnis der Zeitungen

Iskra: (der Funke) erste gesamtrussische illegale Zeitung der revolutionären Marxisten, von 1903 bis 1905 Zentralorgan der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR); erschien bis Nr. 51 unter Lenins Redaktion ab Nr. 52 Organ der Menschewiki; Leipzig München London Genf 1900 – 1905

Prawda: (die Wahrheit) legale bolschewistische Tageszeitung, ab 1917 Zentralorgan der SDAPR; Petersburg Moskau ab 1912

Proletari: (der Proletarier) illegale bolschewistische Zeitung, 1905 Zentralorgan der SDAPR; danach faktisch Zentralorgan der Bolschewiki; Wiborg Genf Paris 1906 – 1909

Rabotschaja Gaseta: (Arbeiterzeitung) illegale volkstümliche Zeitung, Organ der Bolschewiki; Paris 1901 – 1912

Die Rote Fahne: deutsche Tageszeitung, Zentralorgan des „Spartakusbundes“, später Organ der KPD, Berlin Prag Brüssel 1918 – 1939

Sarja: (die Morgenröte) marxistische wissenschaftlich-politische Zeitung in russischer Sprache, Stuttgart 1901/1902

Sozial-Demokrat: (der Sozialdemokrat) illegale Zeitung, Zentralorgan der SDAPR, Wilna Paris Genf 1908 –1917

Wperjod: (Vorwärts) illegale bolschewistische Zeitung, ab 1906 in Petersburg legal erschienen; davor Genf 1904/05

[...]


[1] Weber/Weber, Lenin-Chronik, München 1983, S.1

[2] Siehe Anhang, Literaturverzeichnis, Links

[3] Bäumler, Verschwörung in Schwabing, S. 89

[4] ders., S. 95

[5] Weber, Lenin-Chronik, S.17

[6] Bäumler, Verschwörung, S. 102

[7] ders., S.116

[8] Lenin über die Presse, S. 70

[9] Aus: Womit beginnen? Ebd. S. 77f.

[10] Weber, Lenin-Chronik, S. 55

[11] Lenin über die Presse, S. 510-515

[12] Weber, Lenin-Chronik, S. 116

[13] Weber, Lenin-Chronik, S. 183

[14] Koschwitz, Hans-Jürgen, Pressepolitik und Parteijournalismus, S. 20

[15] siehe Punkt 3.3.

[16] wie Anm. 15

[17] Koschwitz, Pressepolitik, S. 24

[18] Koschwitz, Pressepolitik, S. 16

[19] ders., S. 15

[20] siehe Punkt 3.3.

[21] Laschitza, Annelies (Hrsg.), Rosa Luxemburg und die Freiheit der Andersdenkenden, S. 9

[22] Nach „Womit beginnen?“ in: Lenin über die Presse, S. 73 - 79

[23] Deppe, Über Pressefreiheit, http.//www.russianmedia.de/disseration/3.htm

[24] Deppe, Über Pressefreiheit, http://www.russianmedia.de/dissertation/3.htm

[25] Verband der dt.Presse (Hrsg.), Die Kritik der Pravda, S. 100

[26] Koschwitz, S. 23f.

[27] Koschwitz, Pressepolitik, S. 20

[28] Lenin über die Presse, S. 213-215

[29] ebd., S. 216

[30] Deppe, Über Pressefreiheit, in: http://www.russianmedia.de/dissertation/Seite11.htm

[31] nach Carl-Joachim Friedrich ist die Gleichschaltung und Kontrolle der Presse eines der sechs Merkmale des totalitären Staats; in: Friedrich, Die allgemeinen Merkmale der totalitären Diktatur, S.230f.

[32] Koschwitz, Pressepolitik, S. 25ff

[33] Verband der dt. Presse (Hrsg.), Die Kritik der Pravda, S. 11-16

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Résumé des informations

Titre
Lenin und die Presse - Sozialistische Pressekonzeption und ihre Umsetzung in der UdSSR
Université
LMU Munich
Cours
Proseminar II
Note
1,7
Auteur
Année
2001
Pages
15
N° de catalogue
V108070
ISBN (ebook)
9783640062744
Taille d'un fichier
519 KB
Langue
allemand
Mots clés
Lenin, Presse, Sozialistische, Pressekonzeption, Umsetzung, UdSSR, Proseminar
Citation du texte
Ingrid Lommer (Auteur), 2001, Lenin und die Presse - Sozialistische Pressekonzeption und ihre Umsetzung in der UdSSR, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108070

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