Lehrerbild in Alfred Anderschs "Der Vater eines Mörders"


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2003

13 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung und biographische Anbindung

2. Handlungszusammenfassung

3. Textbeobachtungen und Interpretationsansätze

1. Einleitung und biographische Anbindung

Alfred Andersch, Der Vater eines Mörders, eine[1] Schulgeschichte. Ein recht ungewöhnlicher Titel für Erinnerungen an die Schulzeit, aber wenn man ein paar Seiten des Buches liest, wird schnell klar, was er zu bedeuten hat.

Oberstudiendirektor Gebhard Himmler, Rektor des angesehenen Münchner Wittelsbacher Gymnasiums, eine Anstalt alten Schlags, ein humanistisches Gymnasium, in dem Latein und Griechisch gepaukt wird. Aber eben nicht nur ein Rektor im München der ausgehenden 20er Jahre, sondern Vater eines Völkermörders, sein Sohn: Heinrich Himmler, späterer SS-Reichsführer.

Der Titel des Buches ist es, der die ganze Geschichte in einen Kontext stellt, der nachdenklich macht: Was hat der alte Himmler mit dem jungen zu tun? Haben die autoritären Erziehungsmethoden den Boden zur Verfügung gestellt, auf dem die wuchernde Saat des Nationalsozialismus eine fruchtbare Grundlage gefunden hat?

Wir sollten diese Leitfrage immer im Hinterkopf behalten, wenn wir uns im Folgenden mit den Schulerinnerungen des Alfred Andersch beschäftigen.

Wie gehen wir also an die Sache heran? Zunächst einmal möchte ich etwas zu Anderschs früher Biografie sagen, freilich nicht als Selbstzweck, wie das beim Herunterbeten von biographischen Daten allzu schnell geschieht, sondern weil diese Lebensgeschichte ungemein erhellend für die Deutung der Erzählung ist.

Alfred Andersch, geboren 1914 im Münchner Stadtviertel Neuhausen, keine feine Gegend, eher ein Arbeiterviertel, trist, grau, geprägt von den Kasernen und Ödnis. Lassen wir einmal Andersch selbst zu Wort kommen. In seinem autobiographischen Bericht „Die Kirschen der Freiheit“ findet er folgende Worte:

„In der übrigen Zeit lief meine Kindheit ab wie ein Uhrwerk. Wenn ich an sie denke, ergreift mich wieder das Gefühl der Langweile, das mich umklammert hielt, als ich zwischen den charakterlosen Fassaden der bürgerlichen Mietshäuser aufwuchs, aus denen der Münchner Stadtteil Neuhausen besteht. Meine damals schon bebrillten Augen blickten in eine Landschaft verwaschener Häuserfronten, toter Exerzierplätze, aus roten Ziegelwänden zusammengesetzter Kasernen; die Lacherschmied-Wiese war im Sommer ganz ausgedörrt und die Rufe der Fußballspieler drangen matt in das Zimmer, in dem ich lustlos an den Schularbeiten saß.“[2]

Nein, ein begeisterter Schüler war Andersch in der Tat nicht. Er war – das gibt er selbst zu – auch faul. Zu faul, um stupide auswendig zu lernen, was ihm durch seine Schulmeister aufgetragen wurde. Er wollte sich einfach nicht ins System fügen. Sein Vater hingegen engagierte sich leidenschaftlich im System und ließ scheinbar auch im privaten familiären Kreis keine Gelegenheit aus, um politische Propaganda zu betreiben. Die Roten, die Kommunisten waren die Todfeinde, die Juden sowieso. Die früheste Erinnerung des kleinen fünfjährigen Alfreds: Nach dem Scheitern der Münchner Räterepublik wurden Rotarmisten durch die Straßen geschleppt und erschossen. Freilich, der fünfjährige begriff nicht genau, was da geschah, aber das Ereignis musste sich tief in das Bewusstsein gegraben haben.

Dann kam er erste Weltkrieg, Deutschland befand sich in einer miserablen wirtschaftlichen Situation. Und der Vater, geschmückt mit dem Eisernen Kreuz, aber unfähig, seine berufliche Situation zu meistern, verlegt sich auf politische Agitation, engagiert sich im antisemitisch-nationalistischen Thule-Bund, ist sogar eines der Gründungsmitglieder, unter denen sich so prominente Namen wie Rudolf Heß finden. 1920 bereits, als einer der ersten, tritt er der NSDAP bei.

Und sein Sohn? Der scheint nicht übermäßig empfänglich zu sein für die politischen Visionen seines Vaters. Er las viel, beschäftigte sich mit der Kunst und besuchte regelmäßig die Pinakothek. Schriftsteller wollte er werden; ein Schöngeist war er.

An der Schule verlor er bald das Interesse. Sein Vater hatte ihn auf das angesehene Wittelsbacher Gymnasium geschickt, wie schon seinen Bruder Rudolf, der die Schule allerdings zugunsten einer Buchhändlerlehre abgebrochen hatte. Auch Alfred sollte dort seinen Abschluss nicht machen.

Wahrscheinlich hat es die in der Erzählung „Der Vater eines Mörders“ geschilderten Szenen nie genau so gegeben; hier nimmt sich die dichterische Freiheit einiges heraus Wahr aber ist, dass Alfreds Zeugnisse immer schlechter wurden. Die Warnung im Zeugnis von 1927, dass seine Versetzung aufs Äußerste gefährdet ist, beeindruckte ihn nicht sonderlich. Latein, Griechisch, Mathematik: im Endzeugnis alles Fünfen; Klassenziel verfehlt. Der Vater nimmt ihn von der Schule, schickt ihn auf das Alte Realgymnasium in München. Dort bleibt er nicht lange. Freilich, im Aufsatz, in Deutsch war Andersch glänzend. Aber auch hier in Latein, Mathematik und nun in Englisch: wiederum alles Fünfen. Ende einer Schulkarriere.

Soweit zum biographischen Rahmen. Behalten wir ihn im Hinterkopf und gehen nun an den Text selber. Zunächst gebe ich eine knappe Zusammenfassung des Inhalts, damit der grobe Ablauf der Erzählung durchschaubar wird. Danach folgt die Beschäftigung mit dem Lehrerbild, die gleichsam dazu geeignet ist, eine Auseinandersetzung mit dem Bild eines ganzen Schulsystems anzustoßen.

2. Handlungszusammenfassung

Ort der Handlung ist ein Klassenzimmer im humanistischen Wittelsbacher Gymnasium in München; man schreibt das Jahr 1928. Nahezu die gesamte Erzählung besteht aus der Schilderung einer einzigen Griechischstunde. Die Hauptpersonen der Handlung sind auf der Lehrerseite Studienrat Dr. Kandlbinder (Klassenlehrer) und Oberstudiendirektor Himmler (Rektor); auf der Schülerseite stehen ihnen Konrad von Greiff und Franz Kien gegenüber.

Die Schilderung beginnt mit dem Eintreten von Rektor Himmler, der sich die Klasse anschauen möchte, um sich über den Kenntnisstand der Schüler zu informieren. Der Klassenlehrer Kandlbinder tritt dabei zunehmend in den Hintergrund und der Rektor übernimmt de facto die Stundengestaltung. Im Ganzen werden innerhalb dieser Stunde die Griechischkenntnisse dreier Schüler an der Tafel geprüft. Den ersten Kandidaten, der Klassenprimus Schröter, darf zunächst noch der Klassenlehrer bestimmen. Kandlbinder lässt ihn sehr einfache Sachverhalte demonstrieren und Himmler ist nicht weiter interessiert. Er verlangt von Kandlbinder, einen weiteren Schüler aufzurufen.

Der Klassenlehrer bestimmt Konrad von Greiff als den nächsten Prüfling. Mit ihm hatte er zuvor schon einen Zwischenfall erlebt, weil dieser in überheblicher Weise auf der Anrede mit seinem Adelstitel bestanden hatte. Auch in dieser Stunde setzt von Greiff mit der Abgabe einer Bereitwilligkeitserklärung („Sehr gerne, Herr Doktor Kandlbinder“) beim Aufrufen an die Tafel eine gewollte Spitze. Es erschien zur damaligen Zeit als unerhört, nicht einfach schweigend der Anweisung des Lehrers nachzukommen. Zu einer ausgiebigen Fachprüfung des Schülers von Greiff kommt es nicht, da sich Rektor Himmler und von Greiff gegenseitig herabzusetzen versuchen. Die Konfrontation zwischen beiden endet mit der Relegation; von Greiff wird der Schule verwiesen.

Zu diesem Zeitpunkt hat Rektor Himmler de facto die Stunde übernommen. So ist es auch nur konsequent, dass er selbst den dritten Prüfling aussucht. Er entscheidet sich für Franz Kien (das alter ego des Alfred Andersch). In einer zähen und peinlichen Prüfung an der Tafel demontiert Himmler den Schüler Kien und führt ihm seine Faulheit vor Augen. Das Urteil über Kien lautet schließlich, dass er zum Besuch einer solchen Bildungsanstalt nicht geeignet ist.

Damit ist die lineare Schilderung der Griechischstunde abgeschlossen und die Erzählung endet schließlich mit einer Vorausblende, die knapp anreißt, wie Franz Kien und seine Familie mit dem Schulrauswurf fertig werden.

Soweit die knappe Schilderung des Handlungsrahmens. Die Aufgabe im folgenden Abschnitt wird es sein, tiefergehende Beobachtungen am Text zu machen und einige Interpretationsansätze zum Thema Lehrerbild/Bild eines Schulsystems zu geben.

3. Textbeobachtungen und Interpretationsansätze

Bevor ich in die weitergehende Textbetrachtung einsteige, möchte ich die Gelegenheit nutzen, die beiden Motti zu zitieren, die Andersch seiner Erzählung „Der Vater eines Mörders“ vorangestellt hat. Diese eröffnen nämlich bereits einen Deutungshorizont, der über das individuelle historische Schicksal der Hauptperson Franz Kien hinausgeht:

„Diesen, hör ich, sind wir los geworden

Und er wird es nicht mehr weiter treiben

Er hat aufgehört, uns zu ermorden.

Leider gibt es sonst nichts zu beschreiben.

Diesen nämlich sind wir los geworden

Aber viele weiß ich, die uns bleiben.“

Bertolt Brecht, Auf den Tod eines Verbrechers

„Fast niemand scheint zu fühlen, dass die

Sünde, die allstündlich an unseren Kindern

begangen wird, zum Wesen der Schule gehört.

Aber es wird sich nocheinmal an den

Staaten rächen, dass sie ihre Schulen zu

Anstalten gemacht haben, in denen die Seele

des Kindes systematisch gemordet wird.“

Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie

Starke Worte. Ich lasse sie hier einmal unkommentiert wirken, gehe direkt zur Beschäftigung mit der eigentlichen Erzählung über und fange mit der Person des Oberstudiendirektors Himmler an. Recht früh im Verlauf der Erzählung bekommen wir eine erste Beschreibung, die seine unbestrittene Führungsrolle am Wittelsbacher Gymnasium herausstellt:

„Er ist wirklich ein Rex, dachte Franz, nicht bloß ein Mann, dessen Titel man im Wittelsbacher Gymnasium auf dieses Wort abgekürzt hatte. Auch in den anderen münchner Gymnasien wurden die Oberstudiendirektoren Rexe genannt, aber Franz glaubte nicht, dass die meisten von ihnen wie Könige aussahen. Der da schon.“[3]

Wohlgemerkt, Gebhard Himmler ist wenigstens physiognomisch nicht der Stereotyp eines asketischen, verhärmten Schleifers, dem man seine geradezu militärisch geprägte pädagogische Einstellung bereits am Erscheinungsbild ansehen könnte. Dennoch erfahren wir bereits auf den ersten Seiten die Einschätzung von Franz Kien über seinen Oberstudiendirektor:

„[...] er trug eine Brille mit dünnem Goldrand, hinter der blaue Augen scharf beobachteten, das Gold und das Blau ergaben zusammen etwas Funkelndes, Lebendiges und jetzt ins Gütige Gewandtes, anscheinend herzlich Geneigtes in einem hell geröteten Gesicht unter glatten weißen Haaren, aber Franz hatte sofort den Eindruck, dass der Rex, obwohl er sich ein wohlwollendes Aussehen geben konnte, nicht harmlos war; seiner Freundlichkeit war bestimmt nicht zu trauen, nichteinmal jetzt, als er, jovial und wohlbeleibt, auf die in drei Doppelreihen vor ihm sitzenden Schüler blickte.“[4]

Soweit einmal die zunächst noch etwas oberflächlichen Betrachtungen aus der Perspektive des Schülers Franz Kien, die aber meiner Meinung nach schon einen ersten Eindruck vermitteln können von der Persönlichkeit eines Menschen, der zwei Gesichter hat. Auf der einen Seite der gemütliche, gar zu Scherzen aufgelegte Mann, der sich durchaus auf die Ebene der Schüler herabbegeben kann; auf der anderen Seite – so es denn nicht nach seiner Vorstellung läuft – der gnadenlose, dem reaktionären System verbundene Maßregler, der den Begriff der Gerechtigkeit zu seinen Gunsten dehnbar auslegt. Für beide Extreme finden wir zahlreiche Belege im Text; stellvertretend seien zunächst einmal die folgenden angeführt. Zuerst für den „jovialen Versteher“:

„‚Weiß einer von euch, was ein konsekutiver Relativsatz ist?’ Und als kein Arm sich hob, sagte er, wieder zu Kandlbinder: ‚Da haben Sie es! Ich weiß es nämlich auch nicht, muss jedenfalls erst scharf darüber nachdenken, was mit einem konsekutiven Relativsatz gemeint sein könnte.’ Er legte seine Hand schwer auf das Buch. ‚Diese Grammatik-Verfasser!’, grollte er. ‚Sie glauben, weil sie für den Unterricht an humanistischen Gymnasien schreiben, müssen sie alles und jedes auf den Begriff bringen.’ Er hielt inne, schüttelte den Kopf. ‚Höchste Zeit’, sagte er, ‚dass ich mich darum kümmere, ob es nicht eine Grammatik gibt, die von Tertianern verstanden werden kann. Eine, die anschaulich ist. Lehrmaterial muss anschaulich sein, sonst ist es bloß toter Ballast.’“[5]

Nehmen wir diese Szene für sich, so offenbart sich in ihre eine durchaus löbliche pädagogische Einstellung des Oberstudiendirektors. Allein, es steht zu befürchten, dass diese Ansicht vom Opportunismus geprägt ist, durch den er die Klasse noch stärker an seine Person binden möchte. An anderen Stellen scheint Himmler seine eigentliche Vorstellung vom Lernprozeß innerhalb der Schule zu entfalten. Hier wird auch deutlich, inwieweit Himmler selber durch das damalige Schulsystem geprägt ist:

„‚Jawohl, eintrichtern’, sagte er, von Kandlbinder ablassend und in ein Selbstgespräch verfallend. ‚Auf dem Gymnasium in Freising hat man uns von Anfang an die Oxytona und die Perispomena ohne Gnade und Erbarmen eingetrichtert.[...]’“[6]

An einer anderen Stelle im Text wird unmissverständlich deutlich, dass das harmlose, mitfühlende Gebaren eben nicht das eigentliche Wesen des Oberstudiendirektors ist:

„Sein Ton war jetzt nicht mehr leutselig. Der Vater der Schule, der gütig nach einer seiner Klassen sah – damit war es nun endgültig vorbei; dort oben, hinter dem Pult wie auf einem Anstand, saß jetzt ein Jäger, auf einer Pirsch in den Unterricht, dick, ungemütlich, einer von der feisten Sorte der Revierbesitzer und Scharfschützen. Die dreißig Untertertianer [...] duckten sich.“[7]

Himmler ist fest in die Gesellschaft und das herrschende System eingebunden und verfolgt mit seinem Auftreten innerhalb der Schule ganz deutlich einen geheimen Lehrplan, der ganz grob mit den Worten Gehorsam, Fleiß und Ergebenheit umschrieben werden könnte. Offensichtlich genießt er seine Machtstellung, die mit gesellschaftlichem Ansehen verbunden ist. In der Beurteilung des Vaters von Franz Kien liest sich das folgendermaßen:

„‚Der alte Himmler ist ein Karriere-Macher’, fügte er hinzu. ‚Hüte dich im Leben vor den Karriere-Machern, mein Sohn!’, sagte er feierlich. ‚Er geht jeden Sonntag zum Hochamt in die Michaelis-Kirche in der Kaufingerstraße. Dort kannst du sie alle beisammen sehen, die in München zur Créme gehören wollen.’“[8]

In der Sicht von Franz Kien wird Himmler als äußerst ambivalent wahrgenommen. Einerseits bringt er ihm durchaus Respekt entgegen, andererseits sind ihm seine Kauzigkeiten und Widersprüchlichkeiten zuwider. Diese Einstellung führt in letzter Konsequenz sogar dazu, dass er sich durchaus mit Himmlers Sohn, dem späteren SS-Reichsführer Heinrich Himmler, identifizieren kann und in höchst sarkastischen Tönen sich äußert:

„[...] nicht für viel Geld möchte ich dem sein Sohn sein, ich kann verstehen, dass sein Sohn mit ihm Krach bekommen hat und ihm davongelaufen ist, wenn er sich immer solche Sprüche hat anhören müssen wie den vom Sokrates –, dass eine Schallplatte mit der Stimme vom Sokrates das Größte wäre, was sich denken lässt. Und wie der Sokrates den Schierlingssaft runtergurgelt – würde der alte Himmler dabei auch zuhören können? Franz traute es ihm glatt zu. Oder Christus am Kreuz, die letzten Worte, - Franz’ Phantasie geriet ins immer Ausschweifendere –, das wär’s doch, was der Herr Oberstudiendirektor, der ja schwarz bis in die Knochen war, wie Vater behauptete, sich immer wieder auf dem Grammophon vorspielen würde, angenommen, sie hätten damals, auf dem Ölberg, schon dieses ‚Vater, Vater, warum hast du mich verlassen?’ aufnehmen können.“[9]

So viel einmal zum Charakterbild des Oberstudiendirektor Himmler, soweit es sich unmittelbar aus dem Text erschließen und beschreiben lässt. Bevor ich nun zur Betrachtung auf einer Metaebene ansetze, die in gebührendem Maße auch das Nachwort von Andersch selber berücksichtigt, noch einige kurze Anmerkungen zu der zweiten Lehrerperson in der Erzählung, dem Studienrat Kandlbinder.

Kandlbinder bleibt im Verlauf der Geschichte eine recht blasse Persönlichkeit. Als symptomatisch für sein Charakterbild gebe ich auch hier die Einschätzung von Franz Kien wieder:

„Obwohl Kandlbinder einen halben Kopf größer war als der auch nicht gerade kleine Rex [...] konnten sie auf einmal alle sehen, dass ihr Ordinarius, wie er so neben dem offensichtlich gesunden und korpulenten Oberstudiendirektor stand, nichts weiter als ein magerer, blasser und unbedeutender Mensch war, und eine Sekunde lang ihnen ein Licht darüber auf, warum sie von ihm nichts wussten, als dass auch er von ihnen nicht wusste und stets mit einer Stimme, die sich so gut wie nie hob oder senkte, einen Unterricht gab, der wahrscheinlich tip-top war, nur dass sie, besonders gegen Ende der Stunden, nahe daran waren, einzuschlafen. Heiliger Strohsack, was ist der Kandlbinder doch für ein Langweiler, hatte Franz manchmal gedachte. Dabei ist er noch jung!“[10]

Im Verlauf der Geschichte wird schnell klar, dass seine Rolle eine untergeordnete ist:

„Ganz schön peinlich für den Langweiler, dachte Franz, wie der Rex ihn gleich durchschaut und ihm auf den Kopf zugesagt hat, wo wir im Griechischen stehen. [...] Keinen Zweifel mehr konnte es in diesem Augenblick geben, dass der Rex die Stunde übernommen hatte. Kandlbinder würde von nun an nur noch eine Randfigur sein[...]“[11]

Aufgrund des stark hierarchisch geprägten Schulsystems hat Kandlbinder auch kaum eine Möglichkeit, sich angemessen zu profilieren. Tut er es dennoch einmal und wagt es, dem Oberstudiendirektor aus durchaus begründeter fachlicher Überlegenheit zu widersprechen, endet es in einer Katastrophe:

„Dann geschah, was Franz, die ganze Klasse und sicherlich auch Studienrat Kandlbinder ihm niemals zugetraut hätten: er verlor seine Selbstbeherrschung. ‚Schweigen Sie!’ fauchte er den Klasslehrer an. Und nocheinmal: ‚Schweigen Sie, Herr Kandlbinder!’ [...] ‚Da nehme ich mit einen Schüler aus Ihrer Klasse vor’, rief der Rex voller Zorn, ‚und was stellt sich heraus? Er hat nichteinmal die allereinfachsten Grundlagen des Griechischen mitbekommen. [...]“[12]

Bei dieser kurzen Darstellung möchte ich es bewenden lassen. Ich denke, es ist dennoch einiges deutlich geworden in Bezug auf ein Schulsystem, in dem es wichtiger ist, den Schein der autoritären und hierarchischen Methode aufrechtzuerhalten, anstatt ein Klima zu fördern, indem es möglich ist, die fachlichen Kompetenzen eines an sich Untergebenen ohne Angst vor dem eigenen Imageverlust anzuerkennen.

In den zurückliegenden Abschnitten haben wir zwei Lehrerbilder innerhalb einer Geschichte kennen gelernt, die – und damit versteige ich mich keineswegs in eine utopische Spekulation – so oder ähnlich in der damaligen Zeit wohl durchaus keinen Seltenheitswert besaßen. Mit dieser Betrachtung könnten wir es getrost bewenden lassen, hätte Andersch nicht – vor allem durch den Titel „Der Vater eines Mörders“ – eine Dimension angesprochen, die über den unmittelbaren Zeitrahmen der Geschichte hinausgeht und so eine Deutungskategorie eröffnet, die es wert ist, dass wir uns mit ihr eingehender beschäftigen. Nun sind wir in der glücklichen Situation, dabei nicht auf interpretatorische Winkelzüge angewiesen zu sein; vielmehr liefert der Autor selber einen Ansatz in seinem Nachwort, dem wir nachgehen wollen. Doch lassen wir zunächst einmal die Worte Anderschs unmittelbar auf uns wirken: „

„Einzig der Titel der Erzählung projiziert sie in eine Zukunft, denn er hält die unumstößliche Wahrheit fest, dass der alte Himmler der Vater eines Mörders war. [...] War es dem alten Himmler vorbestimmt, der Vater des jungen zu werden? Musste aus einem solchen Vater mit ‚Naturnotwendigkeit’, d.h. nach sehr verständlichen psychologischen Regeln, nach den Gesetzen des Kampfes zwischen aufeinander folgenden Generationen und den paradoxen Folgen der Familien-Tradition, ein solcher Sohn hervorgehen? [...] Ich gestehe, dass ich auf solche Fragen keine Antwort weiß, und ich gehe sogar noch weiter und erkläre mit aller Bestimmtheit, dass ich diese Geschichte aus meiner Jugend niemals erzählt hätte, wüsste ich genau zu sagen, dass und wie der Unmensch und der Schulmann miteinander zusammenhängen.“[13]

Mit diesen Worten liefert Andersch einen Diskussionsbeitrag innerhalb des nach dem Kriege akut gewordenen bundesrepublikanischen Bemühen, die Umstände des Entstehens des Nationalsozialismus zu beleuchten. Gleichfalls verbindet er die persönliche Bewältigung des Schicksals der Söhne von Tätern und Mitläufern mit der kollektiven Bewältigung der Schuld nach Jahren der Verdrängung. Dabei steht er in der Tradition von zahlreichen namhaften Schriftsteller der Bundesrepublik, die dieses Anliegen ebenfalls verfolgt hatten.

Natürlich wird sich eine radikale Antwort auf die Frage, ob aus einem solchen Schulsystem, wie es die Erzählung zeichnet, notwendigerweise der Nationalsozialismus entstehen müsse, nicht leicht finden lassen. Doch wird es schwerlich zu leugnen sein, dass ein solches System insofern mit seiner Autoritäts- und Gehorsamsstruktur einen entscheidenden begünstigenden Faktor bereitstellt, als dass Schule niemals frei ist von der gesellschaftlichen Formung der Kinder und Jugendlichen. Adorno hat es in seinem Vortrag „Tabus über dem Lehrberuf“ so ausgedrückt:

„Das beinhaltet allerdings Kritik am Erziehungsprozess selbst, der in dieser Kultur bis heut im allgemeinen misslingt. Dies Misslingen wird bezeugt auch von der doppelten Hierarchie, die sich innerhalb der Schule beobachten lässt: der offiziellen, nach Geist, Leistung, Noten und einer latenten, inoffiziellen, in der physische Kraft, ‚ein Kerl sein’, auch gewisse praktisch-geistige Fähigkeiten, die von der offiziellen Hierarchie nicht honoriert werden, ihre Rolle spielen. Jene doppelte Hierarchie hat der Nationalsozialismus, übrigens keineswegs nur in der Schule, ausgebeutet [...] Der latenten Hierarchie in der Schule wäre von der pädagogischen Forschung besondere Aufmerksamkeit zu widmen.“[14]

Die von Adorno angesprochene latente Hierarchie hat meiner Einschätzung nach einiges mit dem Begriff des „hidden curriculum“, dem geheimen Lehrplan, zu tun, der auch im heutigen Schulsystem keineswegs fehl am Platze ist und dessen Auswirkungen sich im Zweifelsfall tiefer in das Schülerbewusstsein eingraben, als es die wohlformulierten pädagogischen und sozialen Grundsätze der diversen Präambeln in den Bildungsplänen tun.

Der Mikrokosmos Schule ist für sich gesehen zwar ein quasi eigenständiges System; es sollte aber nicht verkannt werden, dass er gesellschaftliche Normen übernimmt und gleichsam wiederum zur Ausprägung ebensolcher entscheidend beiträgt, indem er in einem persönlichkeitspsychologisch enorm bedeutsamen Entwicklungszeitraum Verhaltensmuster vermittelt, die im späteren Leben ihre Fortführung erfahren.

Ursula Reinhold drückt dies in ihrem Aufsatz über die Andersche Erzählung ungleich radikaler aus:

„Er [Anm. Alfred Andersch] hat seiner Erzählung die Genrebezeichnung ‚Eine Schulgeschichte’ gegeben und stellt sich damit in eine große Tradition kritisch-realistischer Literatur, in der die Schule als der Ort gesehen wurde, an dem die Heranwachsenden für die herrschenden Machtverhältnisse zugerichtet und ihre elementaren Bedürfnisse und menschlichen Sehnsüchte verbogen und pervertiert wurden. Der humanistische Bildungsstoff erschien hier als bloße Zuchtrute für die Einübung von Verhaltensweisen, die auf unbedingten Gehorsam und blinde Pflichterfüllung aus waren.“[15]

Sowohl Alfred Andersch als auch sein Alter Ego Franz Kien versuchten sich dem Einfluss des Systems zu entziehen, jedenfalls seine Auswirkung zu relativieren und eine Gegenwelt aufzubauen, in der die Beschäftigung mit Literatur (z.B. Karl May und dessen phantastische Dimensionen) und Kunst eine wesentliche Rolle spielt. Albert von Schirnding resümiert in seinem Aufsatz über die Erzählung:

„Unter gewissen Umständen ist auch das Versagen in der Schule ein Sich-Versagen, ist die Entfernung aus ihrem Zucht- und Ordnungssystem ein Akt der Selbstbehauptung.“[16]

Abschließend möchte ich noch einmal den Autor selber zu Wort kommen lassen:

„Schützt Humanismus denn vor gar nichts? Die Frage ist geeignet, einen in Verzweiflung zu stürzen.“[17]

Ich hoffe, dass ich den geneigten Leser meiner Ausführungen nichts vollends in Verzweiflung gestürzt habe, sondern vielmehr einen Anstoß liefern konnte, einmal über die gesellschaftliche Rolle von Schule ein wenig tiefer nachzudenken. Damit wäre schon viel getan. Denn potentielle Antworten können erst dann gegeben werden, wenn wir gelernt haben, die richtigen Fragen zu stellen.

Literaturverzeichnis

Primärtexte:

- A. Andersch: Die Kirschen der Freiheit. Frankfurt/Main 1952
- A. Andersch: Der Vater eines Mörders. Zürich 1980

Sekundärtexte:

- T. W. Adorno: Tabus über dem Lehrberuf. In: T.W.A., Gesammelte Schriften, Bd. 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Hrsg. Von R. Tiedemann, Frankfurt am Main 1977, S. 656-673
- B. Jendri>- S. Reinhardt: Alfred Andersch - Eine Biographie. Zürich 1990
- U. Reinhold: Alfred Andersch, Der Vater eines Mörders. In: Weimarer Beiträge 28 (1982) Heft 2, S. 141-148
- Schirnding, Albert von: Es lohnt sich, Franz Kien zu lieben. Der Schriftsteller Alfred Andersch im Licht seiner nachgelassenen Schulgeschichte. In: Merkur 35 (1981), S. 329-334

Verfilmung:

- C.-H. Caspari: Der Vater eines Mörders (1985) – Fernsehfilm (ZDF)

Eine sehr engagierte und stark an der Buchvorlage orientierte Verfilmung, die ohne weiteres zu empfehlen zu ist. Oberstudiendirektor Himmler wird in grandioser Weise vom Schauspieler Hans Korte gespielt.

[...]


[1] Die biographischen Hinweise verdanke ich vor allem Jendricke (S. 8 bis S. 22) und Reinhardt (S. 25 bis S. 29)

[2] Kirschen der Freiheit, S. 11

[3] S. 17

[4] S. 16/17

[5] S. 77

[6] S. 107

[7] S. 36

[8] S. 61

[9] S. 64/65

[10] S. 15

[11] S. 30

[12] S. 105/106

[13] S. 134/135

[14] Adorno, S. 667

[15] Reinhold, S. 145

[16] von Schirnding, S. 334

[17] S. 136

Fin de l'extrait de 13 pages

Résumé des informations

Titre
Lehrerbild in Alfred Anderschs "Der Vater eines Mörders"
Université
University of Tubingen
Cours
Seminar: Lehrerbilder in der Literatur
Note
1,7
Auteur
Année
2003
Pages
13
N° de catalogue
V108336
ISBN (ebook)
9783640065332
Taille d'un fichier
369 KB
Langue
allemand
Mots clés
Lehrerbild, Alfred, Anderschs, Vater, Mörders, Seminar, Lehrerbilder, Literatur
Citation du texte
Dominik Benz (Auteur), 2003, Lehrerbild in Alfred Anderschs "Der Vater eines Mörders", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108336

Commentaires

  • invité le 25/10/2004

    humanismus.

    ,,Schützt Humanismus denn vor gar nichts? Die Frage ist geeignet, einen in Verzweiflung zu stürzen." , was ist mit diesem satz gemeint???

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Titre: Lehrerbild in Alfred Anderschs "Der Vater eines Mörders"



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