Die Kabbala und das Pendel - Spekulationen über jüdisch-mystische Analogien bei Umberto Eco


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2002

21 Pages, Note: 1


Extrait


„Siehst du, sagte ich mir, um dich der Macht des Unbekannten zu entziehen, um dir selbst zu beweisen, daß du nicht an diese Dinge glaubst, akzeptierst du ihren Zauber. Wie ein bekennender Atheist, der nachts den Teufel sieht und sich gut atheistisch sagt: Er existiert nicht, was ich da sehe, ist bloß eine Täuschung meiner erregten Sinne, vielleicht liegt es an meiner Verdauung; aber er weiß das nicht, er glaubt an seine umgekehrte Theologie. Was könnte ihm, der seiner Existenz so sicher ist, Angst einjagen? Du schlägst das Kreuz, und der andere, gläubig, verzieht sich mit Blitz und Schwefelgestank.“[1]

EINLEITUNG

Kabbala und Hermetik

Die Kabbala ist zu vielen Zeitpunkten in der Geschichte außerhalb des Judentums stark rezipiert worden.

So sahen sich zahlreiche nichtjüdische Esoteriker im fünfzehnten Jahrhundert (und den folgenden) angehalten, auch mit Mitteln der jüdischen Mystik nach der letzten Weisheit zu suchen. Ursächlich dafür war wohl die zu dieser Zeit einsetzende allgemeine Begeisterung für die Hermetik, zu verdanken dem Corpus Hermeticum, das nach dem Fall Konstantinopels zur Zeit der Renaissance unter anderen die europäische Imagination anregenden Werken von griechischsprachigen Gelehrten nach Mitteleuropa gebracht worden war. In diesem ursprünglich vermutlich aus dem ersten bis dritten nachchristlichen Jahrhundert stammenden umfangreichen Schriftkorpus fanden sich – wenn auch vor einem „ägyptischen“ Hintergrund – griechisches Gedankengut theologischer, philosophischer und okkulter Prägung, zugeschrieben Thoth, dem ägyptischen Gott (unter anderem) der Schrift und aller damit verbundenen Künste, Hermes Trismegistos mit seinem griechischen Namen.

So fanden sehr alte Ideen neue Leser, und die Alchimie begann sich neuer Beliebtheit zu erfreuen. Anhänger dieser Richtung, in der die Lehre von der Entsprechung eine zentrale Rolle spielte („Wie oben, so unten; wie unten, so oben“[2] ), neigten dazu, in jeder für sie geheimnisvollen, möglichst fremden geistigen Strömung den Schlüssel zum großen Geheimnis zu suchen, über dessen Natur allerdings sich auch die Hermetiker nicht einig waren. Als nun Ende des 15. Jahrhunderts nach der Vertreibung der Juden aus Spanien die jüdische Mystik sich wandelte von einer in kleinem Kreise stattfindenden „Grübelei“ einer Elite, wie Scholem es nennt, zu einer sehr viel öffentlicheren, weite Teile des Judentums erreichenden Bewegung[3], bot sich eine Situation, in der die Kabbala, die den Suchenden angemessen fremd und geheimnisvoll erschien, auf den fruchtbaren Boden der Hermetik fallen konnte. So bildeten bald Corpus Hermeticum, Alchimie und Einflüsse aus der Kabbala miteinander den Komplex der hermetischen Wissenschaft.

Christen und Kabbala

[4] Auch auf christlicher Seite – meist ohne das Wohlwollen der Kirche - fand die jüdische Mystik Freunde; manch ein christlicher Mystiker sah in der Dreifaltigkeit der ersten Sefiroth-Gruppe von Krone, Weisheit und Intelligenz eine Entsprechung zur göttlichen Trinität, wenn auch ohne das bei den Sefiroth wichtige weibliche Element zu berücksichtigen. Gidal nennt als Zentrum dieser Strömung im der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Platonische Akademie in Florenz, mit Giovanni Pico della Mirandola an ihrer Spitze, der glaubte, die Göttlichkeit Jesu mit Mitteln der Kabbala beweisen zu können. Durch Pico inspiriert, versuchter sich wenig später der deutsche Johannes Reuchlin an der Materie, der als erster Nichtjude eigene Schriften über die jüdische Mystik veröffentlichte, namentlich „De verbo mirifico“(1494) und „De arte cabbalistica“(1517), und 1516 veröffentlichte Paulus Riccius, zum Christentum konvertierter Jude und Leibarzt des Kaisers Maximilian, die „Portae Lucis“, eine lateinische Übersetzung der „Scha´arei Ora“ von Joseph ben Abraham Gikatilla. Das Titelblatt zierte ein Mann, der einen Sefiroth-Baum hält.

Um die Wende zum 17. Jahrhundert war es der Mystiker Jakob Böhme, in dessen Arbeiten man innere Verwandtschaft mit der Kabbala fand, und in der geistigen Nachfolge Böhmes veröffentlichte Christian Knorr von Rosenroth seine „Cabbala denudata“(1677), in der erstmalig Originaltexte des Sohar und der Mystik des Isaak Luria ihre Übersetzung ins Lateinische fanden. Im siebzehnten Jahrhundert war es auch, daß der Jesuit Athanasius Kircher den Begriff „christliche Kabbala“ prägte.

Der Einfluß dieser Bewegung war recht groß; so veranlaßte Prinzessin Antonia von Würtemberg 1663 die Anbringung einer Lehrtafel zur christlichen Kabbala in der Kirche von Bad Teinach im Schwarzwald, und Gershom Scholem, so Gidal, fand gar Spuren der jüdischen Mystik in Werken von Hegel und Schelling.

Die Grenzen zum ebenso populären wie per definitionem geheimen Okkultismus jedoch scheinen hier oft fließend: Die „Cabbala denudata“ von Knorr von Rosenroth wurde ins Englische übersetzt und kommentiert von MacGregor Mathers, dem Mitbegründer des „Golden Dawn“, neben der Theosopie der Helena Blavatsky die wohl einflußreichste Gruppe in der Formung der modernen, populären Variation der Hermetik. Auf diesem Umweg und in dieser den ursprünglichen jüdischen Ideen recht fernliegenden Interpretation (und vor allem in darauf basierenden Um- und Nachinterpretationen) gelangte also die Kabbala, jetzt geschrieben „Qabalah“, in so manchen heutigen Esoterikladen.

Der geheime Bibelcode

Später, nachdem man sich bewußt wurde, was die Computer zur Buchstaben- und Zahlenkombinatorik beitragen können, ereignete sich meines Erachtens im Christentum eine weitere Renaissance des ohnehin stets nach außen hin bekanntesten Aspektes der Kabbala: Temurah und vor allem Gematria fanden Eingang in die populärchristliche Bibelentschlüsselung, auch wenn nach meiner Kenntnis die Herkunft dieser Idee aus dem Judentum an keiner Stelle ausdrücklich gewürdigt wird.

In diesem Bereich existieren verschiedene Theorien, die sich zumindest in der Vehemenz, in der sie Endgültigkeit für sich in Anspruch nehmen, nur wenig unterscheiden.

Eine von mir aufs Geratewohl herausgegriffene Strömung innerhalb dieser offenbar sehr populären Bewegung mit großem Selbstbewußtsein nennt sich „Theomatics“, eine Wortschöpfung aus „Theology“ und „Mathematics“, deren Begründer Del Washburn (The Original Code In The Bible, 1994) und Jerry Lucas („of basketball and memory fame“[5] ) sind:

“It is absolutely, completely, and totally impossible to mathematically disprove theomatics. The overall validity of this discovery ~ the fact that God did it ~ is unimpeachable. Theomatics will never be disproven. In fact, no one will even come close to it. The evidence is so thoroughly convincing and so absolutely conclusive, that those who examine it carefully, their knees will buckle and they will quite literally fall to the ground ~ they will not be able to stand up against it.”[6]

Man tut hier, jedenfalls der Form nach, woran auch einst Abraham Abulafia Freude gehabt hätte: Aus den Zahlenwerten der hebräischen (bzw. griechischen im neuen Testament) Buchstaben der Bibel wird der „theomatische“ Wert eines Wortes oder Satzes gebildet. Wörter oder Sätze mit dem gleichen Wert an verschiedenen Stellen der Bibel werden in Beziehung gesetzt; explizit in der heiligen Schrift genannte Zahlen werden als Schlüssel zu wichtigen Worten mit dem entsprechenden theomatischen Wert angesehen. Auf diese Art und Weise wird deutlich, was Gott von uns verlangt, denn man sucht nach sehr konkreten Botschaften, nicht etwa nach dem wahren Namen Gottes. Allerdings, und spätestens hier hätte Abulafia vermutlich empört den Saal verlassen, besorgt diese Arbeit ein Computer, eine Abkürzung zur Weisheit unter Umgehung des beschwerlichen, aber zur Vorbereitung notwendigen Weges der langen Meditation, was wohl kaum ein Kabbalist als legitim zugelassen hätte; es handelt sich um eine technisierte, gewissermaßen entmystifizierte Mystik.

DAS FOCAULTSCHE PENDEL

Im Roman Das Focaultsche Pendel von Umberto Eco konstruiert ein Triumvirat hochgebildeter Intellektueller, inspiriert durch die obskuren Verschwörungstheorien obskurer Okkultisten, aus Spott und Freude an der eigenen Gewitztheit einen komplexen Plan aus zahllosen Teilen der europäischen Geschichte, nach dem seit Jahrhunderten einige mächtige initiierte Gruppen im Untergrund nach dem Geheimnis der Weltherrschaft suchen. Das machen sie so gut, daß die falschen Leute schließlich daran glauben, und der Plan, obwohl als große, geistreiche Lüge geplant, eine gewisse Realität gewinnt und zur Gefahr wird. In seiner ganzen Inszenierung scheint mir Das Focaultsche Pendel zu einem wesentlichen Teil ein Produkt sehr kreativ rezipierter Kabbala zu sein, in dem sich alle weiter oben angesprochenen Aspekte der jüdischen Mystik außerhalb des Judentums in der einen oder anderen Form wiederfinden.

Es liegt auf der Hand, daß die Kabbala im Buch zunächst insofern wichtig ist, als daß die Anschauungen einer nahezu unübersehbaren Zahl hermetischer Geheimgesellschaften in der Handlung eine große Rolle spielen, die natürlich, wie weiter oben bereits aufgezeigt, von jeher durch die jüdische Mystik stark beeinflußt waren. Aber neben diesem offensichtlichen Element gibt es zahlreiche weitere. Die verschieden abstrakten Ebenen, auf denen Eco die Kabbala als Stilmittel einsetzt, möchte ich im Folgenden aufzeigen und ansatzweise analysieren.

Aufbau nach den zehn Sefiroth

Das augenfälligste kabbalistisch inspirierte Element des Romans ist sein Aufbau nach den zehn Sefiroth. Schlägt man die erste Seite auf, findet man eine Abbildung des Sefiroth-Baums aus einem Werk von Cesare Evola. Das Buch ist in zehn verschieden umfangreiche Teile gegliedert, von denen ein jeder einer der Sefiroth entspricht, wie sie im Prozeß der Schöpfung emanieren, symbolisch parallel zu den Stationen der Handlung, wobei vielleicht anzumerken ist, daß Eco sich dabei nicht an einen linearen Ablauf hält: Das Focaultsche Pendel ist alles andere als linear aufgebaut, sondern besteht aus vielen Zeitsprüngen vor und zurück über einen Zeitraum von ungefähr vierzig Jahren.

Ich möchte nun die Art zu beschreiben versuchen, auf die die Struktur des Buches korrespondiert sowohl mit der Entwicklung des Großen Plans im Roman als auch mit der kabbalistischen Sichtweise der Schöpfung durch die Sefiroth.

Dabei bin ich mir natürlich einiger Schwierigkeiten bewußt, sind sich doch über die ungeheure symbolische Bedeutungsvielfalt einer jeden Sefira nicht einmal die Kabbalisten schlüssig (sicherlich ein Grund, aus dem Eco an der Idee gefallen gefunden hat, der, so scheint mir, ein Freund möglichst vieldeutiger Symbole ist), deren Wissen meines wohl zwangsläufig um Einiges übersteigen muß. Allein im Sohar gelten viele verschiedene Interpretationen zugleich:

„Die Sefiroth sind in solcher mystischen Rede die ‚mystischen Kronen des heiligen Königs’, von denen doch zugleich gilt ‚Er ist sie und sie sind Er.’ Sie sind jene zehn Namen, mit denen Gott vornehmlich genannt wird. Sie bilden, im Ganzen genommen, seinen großen Namen. Sie sind die ‚Gesichter des Königs’, das heißt also, die Aspekte, unter denen er erscheint, und heißen so auch das ‚innerliche’ oder mystische ‚Antlitz Gottes’. Sie sind die zehn Stufen des All, in denen Gott von der tiefsten Verborgenheit bis zur Offenbarung in seiner Schechina herabsteigt. Sie sind die Gewänder der Gottheit, aber auch die Lichter die aus ihr strahlen. Sie sind der Urmensch oder Makro-Anthropos, aber auch die mystischen Urtage aller Schöpfung, aus denen die Zeit der realen Schöpfung hervorquillt.“[7]

Es läßt sich vielleicht grob zusammenfassen, daß die Sefiroth als die zehn Eigenschaften Gottes zu verstehen sind, die im Vorgang der Schöpfung eine nach der anderen und aus der anderen hervortreten und damit En-Sof, den verborgenen Gott, gleichsam in seiner Handlung als Offenbarung dem Menschen erfahrbar machen. Ich werde versuchen, mich in meiner Analyse an die im Buch selbst verwendete Darstellungsweise der Sefiroth zu halten, die sich, soweit ich es übersehen kann, weitestgehend an Ideen des Sohar und dessen Interpretation durch Isaak Luria orientiert.

1. Kether

Die Handlung beginnt, zeitlich schon sehr kurz vor ihrem Ende, im Conservatoire des Arts et Metiers in Paris, wo der „Held“ sich ein Versteck sucht, um die Ankunft der Hermetiker am focaultschen Pendel zu erwarten, aber zugleich auch im Landhaus Belbos, nach den Ereignissen um das Pendel, im „Jetzt“, wo Casaubon die Gesamtheit der Entstehung des Großen Plans resümiert, um dem Leser die Geschichte erzählen zu können: „Jetzt und hier, wie vorgestern Abend im Periskop, ziehe ich mich zusammen, kontrahiere mich zu einem fernen Punkt des Geistes, um eine Geschichte herauszupressen.“[8]

Dieser Abschnitt des Buches entspricht Kether, der Krone, der ersten Sefira, und zwar nach Motiven vor allem der lurianischen Kabbala, die auch an anderer Stelle eine große Rolle spielt; so klingt schon im vorangegangenen Zitat deutlich der Gedanke des Zimzum an.

Wichtig sind die philosophischen Implikationen des Pendels, unter dem entgegen dem Augenschein die Erde sich dreht, ohne daß sich seine Schwingungsebene ändert, das Pendel, dessen Aufhängung, ideell verlängert, auf den einzigen festen Punkt des Universums verweist:

„Das Pendel sagte mir, daß – während alles bewegt war, die Erde, das Sonnensystem, die Sternennebel, die schwarzen Löcher und alle Kinder der großen kosmischen Emanation, von den ersten Äonen bis zur zähflüssigsten Materie – daß dort oben ein einziger Punkt in Ruhe verharrte, als Zapfen, Bolzen, ideeller Aufhänger, um den sich das ganze Weltall drehte. Und ich hatte teil an dieser höchsten Erfahrung, ich, der sich zwar mit allem und dem All bewegte, aber Ihn sehen konnte, Ihn, den Nicht-Bewegten, den Felsen, die Garantie, den leuchtenden Dunst, der kein Körper ist, keine Form, Gestalt, Schwere, Quantität oder Qualität hat, der nicht sieht, nicht hört, nicht gefühlt werden kann, sich an keinem Ort befindet, in keiner Zeit und in keinem Raum, der nicht Seele ist, nicht Intelligenz, Phantasie, Meinung, Zahl, Ordnung, Maß, Substanz oder Ewigkeit, der weder Dunkel noch Licht ist, der nicht Irrtum ist und nicht Wahrheit.“[9]

Der zweite Teil des Zitats in seiner Negativbestimmung der Natur des festen Punktes läßt gleich an En-Sof denken, den verborgenen Gott, der sich jeder Beschreibung durch den Menschen entzieht. Und so ist der Sprung in die Kabbala, mit dem dieser Abschnitt endet, nicht weit: „Diotallevi hatte es mir gesagt, die erste Sefira ist Kether, die Krone, der Anfang, die ursprüngliche Leere. Als erstes schuf Er einen Punkt, und es ward das Denken, worin Er alle Gestalten entwarf... Er war und war nicht, eingeschlossen im Namen und dem Namen entronnen... Doch vielleicht war in diesem Zimzum, in diesem Rückzug und dieser Einsamkeit – sagte Diotallevi – schon die Verheißung des Tiqqun enthalten, das Versprechen der Wiederkehr.““[10]

Der letzte Satz kann sich sowohl auf das „klassische“Zimzum Gottes selbst beziehen, als auch genauso gut auf das Casaubons, der sich in sich selbst zurückzieht, um eine Geschichte zu schöpfen, und ebenso verhält es sich mit dem Tiqqun: Casaubon wünscht sich, aus seinem einsamen Exil im Landhaus Belbos wieder heimkehren zu können, wenn auch seine Hoffnung gering ist.

Eco läßt Casaubon auf den ersten Blick einen Parallelität konstruieren zwischen Gott, der die Welt schuf, und sich, der mit seinen Freunden den großen Plan erdachte, aber im weiteren Verlauf der Geschichte, beziehungsweise im vorangegangenen Verlauf, der dem Leser nach und nach enthüllt wird, zeigt sich, daß es nicht der jüdisch-christliche Gott ist, mit dem er sich „artverwandt“ sieht, sondern vielmehr der ursprünglich gnostische Demiurg, Urheber einer mißglückten Schöpfung, der in der Hermetik vielerorts wieder auflebte.

2. Chochma

Es nicht ganz einfach zu erkennen, inwieweit die Handlung in diesem Abschnitt Chochma entspricht. Das ist wohl auch Eco aufgefallen; dieser Absatz ist der einzige im Buch, in dem er nicht an irgendeiner Stelle Casaubon einen Ausspruch Diotallevis zitieren läßt, der die enstprechende Sefiroth erklärt. Chochma, die Scholem als die „Weisheit“ oder die „Uridee“ Gottes bezeichnet[11], ist die Quelle, die aus dem ursprünglichen Punkt entspringt. In diesem Teil des Focaultschen Pendels beschreibt Casaubon, wie Belbo zu Beginn der Geschichte seinen Computer im Büro des Verlagshauses aufstellt und warum er ihn Abulafia nennt. Diese Rechnenmaschine soll in der Schöpfung des großen Plans noch eine wichtige Rolle spielen, und zwar gleichsam durch Mittel der Temurah, der Buchstabenkombinatorik. Casaubon beschreibt auch, wie er kurz vor dem Ende der Geschichte versucht, das Paßwort für die in Abulafia gespeicherten Daten herauszufinden, um das Verschwinden Belbos zu ergründen; hierbei bedient er sich unter anderem verschiedener Permutationen des Namen Gottes, die er mit Hilfe des Computers erstellt.

Beide Vorgänge lassen sich auf verschiedenen Ebenen der Zeit und der Bedeutung als symbolische Anklänge an die Quelle, wiederum als Metapher für die Vorbedingung, auffassen; es wird durch beide Vorgänge die jeweils folgende Entwicklung erst ermöglicht: Der Computer und das Nachdenken über seine Fähigkeit zu quasi-kabbalistischen Akten steht zu Beginn der Geschichte. „Abu“ liefert zu einem großen Teil die Inspiration für die Art und Weise, auf die es Casaubon, Belbo und Diotallevi gelingt, den Großen Plan zu kreieren und ist somit Quelle all dessen, was die Verbindungen zwischen der Handlung des Romans und seiner Haltung auf der einen und der Kabbala auf der anderen Seite ausmacht.

Die Entschlüsselung des Codes, der Casaubon den Zugang zu den Daten Abus erlaubt, gleichzeitig im Buch, aber fast am entgegengesetzten Ende des zeitlichen Verlaufs der äußeren Handlung, bildet auf einer anderen Ebene, die nicht direkt auf den Großen Plan bezogen ist, die Wurzel und Quelle der Geschichte, die er dem Leser erzählt. Steht die Entscheidung, die Geschichte zu erzählen, die Casaubon im Landhaus am Ende fällt, zusammen mit der inneren Rückschau, die er zwei Tage vorher in seinem Versteck im Conservatoire in Paris für das Zimzum, so bietet das Material, auf das er schließlich in Abu zugreifen kann, die Weisheit, Chochma, auch in ganz simplem, historischen Sinn die „Quelle“, aus der er das Wissen über Belbos Verschwinden schöpft, das es ihm erst möglich macht, die Geschichte als Ganzes zu erzählen. Dabei ist es von keiner großen Bedeutung, das rein zeitlich gesehen Casaubon die Disketten Belbos liest, lange bevor er nach Paris reist und sich später in das Landhaus zurückzieht, Chochma also vor Kether stattfindet, was der klassischen Reihenfolge der Sefiroth widerspricht, denn es wäre wohl engstirnig, diese Reihenfolge als absolut zu postulieren (was die Kabbalisten auch meines Wissens nicht getan haben), wenn die Zeit selbst im Verlauf der Schöpfung erst hat geschaffen werden müssen.

Das mag natürlich insgesamt als eine etwas zu sehr gewollte, forcierte, vielleicht auch oberflächliche Interpretation anmuten, und, wie schon weiter oben angesprochen, dessen mag sich auch der Autor bewußt gewesen sein. Deshalb bitte ich, diesen Absatz mit Vor- und Nachsicht zu behandeln.

3. Binah

„Als ich die Stufen zu Garamond hinaufstieg, war ich in den Palast eingedrungen. Also sprach Diotallevi: Binah ist der Palast, den Chochmah sich errichtet, indem sie sich ausdehnt aus dem ursprünglichen Punkt. Wenn Chochmah die Quelle ist, so ist Binah der Fluß, der ihr entspringt, um sich dann zu teilen in seine vielerlei Arme, bis sich alle schließlich ins große Meer der letzten Sefirah ergießen – und in Binah sind alle Formen schon vorgeformt.“[12] So verhält es sich tatsächlich auch im Roman. Chochmah war der Anstoß, Binah, die sich entfaltende göttliche Intelligenz, ist der fortschreitende Prozeß; wichtig ist für die Analogie ist im obigen Zitat vor allem der Zusatz über die Vorbestimmtheit alles Kommenden und die Assoziation von Unaufhaltsamkeit, die das Bild des Flusses weckt. Es wird gerade bei der zweiten Lektüre des Buches der Eindruck vermittelt, daß in den in diesem Teil stattfindenden Ereignissen der Fortgang der Geschichte bereits beschlossen liegt: Der Oberst Ardenti taucht im Verlag auf, präsentiert die Ergebnisse seiner Forschungen über den geheimen Fortbestand des Ordens der Templer nach ihrer Auflösung Anfang des 14. Jahrhunderts und verschwindet kurz darauf unter geheimnisvollen Umständen; die drei „Demiurgen“ des Großen Plans lernen sich kennen und faszinieren einander durch ihre jeweiligen intellektuellen Steckenpferde und Spielereien, deren Mischung sich fast zwangsläufig in die Richtung dieser Verschwörungstheoretisierung entwickeln muß: Diotallevi, der sich , wenn auch voller Respekt für die Materie, als legitimer Kabbalist betrachtet und sehr vertraut ist mit den entprechenden Schriften, ohne jedoch Jude zu sein, Belbo, der seine Arbeit als Lektor gerne zur Demiurgie am Werk anderer stilisiert, und Casaubon, der an einer Dissertation über den Templerprozeß arbeitet und Zuhörer sehr gut für diese Materie zu begeistern weiß; diese drei werden in Binah einander und dem Leser vorgestellt, und es entwickelt sich eine sehr eigene Dynamik, oder, um es ein wenig zu dramatisieren, das Schicksal nimmt seinen Lauf.

4. Chessed

„Chessed, sprach Diotallevi, ist die Sefirah der Gnade und der Liebe, weißes Feuer, Südwind. Vorgestern abend im Periskop dachte ich , daß die letzten Tage, die ich mit Amparo in Bahia verbrachte, unter diesem Zeichen standen.“[13]

Casaubon folgt seiner Geliebten nach Brasilien und verbringt dort eine glückliche Zeit; genug, um in der Situation und dem Zustand, in dem er sich am Ende befindet, Chessed damit zu assoziieren. Aber die Analogie geht noch einen Schritt weiter: „Heute weiß ich, daß Chessed nicht nur die Sefirah der Gnade und der Liebe ist. Wie Diotallevi sagte, ist sie auch der Moment der plötzlichen Expansion des göttlichen Wesens, das sich ausdehnt zu seiner unendlichen Peripherie.“[14] – also auch der unsausweichlichen Notwendigkeit, den Zusammenhängen mit dem göttlichen Wesen an jedem Ort des Universums zu begegnen.

Die Analogie der für das Focaultsche Pendel symbolischen Terminologie der Kabbala zu der Entstehung des Großen Planes mag also auch im Folgenden liegen: Nach seiner Dissertation und vor allem nach den rätselhaften Ereignissen um das Verschwinden Oberst Ardentis hoffte Casaubon, in Brasilien den Templern für eine Weile nicht begegnen zu müssen. Er muß jedoch widerwillig erkennen, daß er sich den großen Zusammenhängen nicht entziehen kann. „Aber damals war es auch, heute weiß ich es, daß ich anfing, mich vom Gefühl der allgemeinen Ähnlichkeit einlullen zu lassen. Alles hing irgendwie mit allem zusammen, alles konnte mysteriöse Analogien mit allem haben. Als ich nach Europa zurückkehrte, verwandelte ich diese Metaphysik in eine Mechanik – und deshalb bin ich in die Falle geraten, in der ich nun sitze.“[15]

Es mag angemerkt sein, daß dieser Satz, ausgesprochen von Casaubon, einen sehr ernsten, fast resignierten Beiklang hat, aber stellte man an Umberto Eco die Frage, wie er sein Buch geschrieben habe, so könnte er fast im gleichen Wortlaut antworten, und sicherlich würde bei Eco zumindest ein kleiner Teil Genugtuung mitschwingen. Schließlich ist die von ihm konstruierte Analogie zwischen den Sefiroth und der Handlung seines Romans, mit der ich mich hier auseinanderzusetzen versuche, nur eine von zahlreichen Ebenen im Buch, in denen Dinge auf ungewohnte Weise ganz anderen Dingen entsprechen.

5. Geburah

Geburah, die Sefirah der göttlichen Strenge, ist nach Isaak Luria das Stadium der Schöpfung, in dem nach dem Bruch der für das Licht der Sefiroth erschaffenen Gefäße die Qelippoth, die „Schalen“ oder die Kräfte des Bösen reale Existenz gewinnen. So auch für die Welt Casaubons: „Wenn es einen Bruch der Gefäße gab, dachte ich, hatte der erste Riß sich vielleicht an jenem Abend in Rio während des Ritus gebildet, aber zur Explosion kam es erst bei meiner Rückkehr nach Hause. Zu einer langsamen Explosion, ohne Getöse, so daß wir uns alle unversehens im Schlamm der rohen Materie fanden, wo Gewürm aufkeimt durch spontane Zeugung.“[16]

Casaubon wird beim Verlag Garamond angestellt, für den auch Diotallevi und Belbo arbeiten, und alle drei kommen in immer größerem Umfang in Kontakt mit den „Diabolikern“ und ihren Manuskripten, die zunächst nur vereinzelt, dann, nachdem Signor Garamond mit dem „Hermes-Projekt“ eine Schlinge auslegt für derartig gewinnbringende Kunden, sehr zahlreich im Haus auftauchen und ihre Werke veröffentlicht sehen wollen. Die Weltverschwörungstheoretiker treten auf, und der Faszination der Weltverschwörungstheorien, welche die drei schließlich dazu bringen wird, den Großen Plan zu ersinnen, anfangs nur eine milde Belustigung, wird der Grundstein gelegt.

6. Tifereth

Tifereth, die Barmherzigkeit, steht im Baum der Sefiroth zwischen Chessed, der Liebe, und Geburah, der Strenge Gottes, und gleicht zwischen den Extremen der vierten und fünften Sefirah aus. In dem dieser Sefirah entsprechenden Teil des Romans findet die eigentliche Erschaffung des Großen Planes statt: „Denn ich hatte die Kreation des Großen Plans wie den Moment von Tifereth erlebt, das Herz des Sefiroth-Leibes, die Eintracht von Regel und Freiheit.“[17]

Casaubon formuliert bewußt, daß er diesen ohne Frage intellektuell sehr erfüllten Abschnitt seines Lebens als Tifereth lediglich „erlebt“, denn in seiner jetzigen Situation, am Ende des Buches, weiß er sehr wohl, daß der Eindruck der „Eintracht von Regel und Freiheit“ nur ein sehr subjektiver gewesen ist; der Bruch der Regeln insbesondere in der als Tifereth empfundenen Zeit hat letztlich dazu geführt, ihn in die Notlage zu bringen, in der er sich nun befindet.

7. Nezach

„Nezach ist für einige Interpreten die Sefirah der Ausdauer, des Errtragens, der beharrlichen Geduld. Und in der Tat erwartete uns eine Prüfung. Doch für andere Interpreten ist Nezach die Überwindung, der Sieg. Wessen Sieg? Vielleicht war in dieser Geschichte von lauter Besiegten – die Diaboliker genarrt von Belbo, Belbo genarrt von den Diabolikern, Diotallevi genarrt von seinen Zellen – im Augenblick ich der einzige Sieger.“[18]

Offenbar ist für Casaubon unbestreitbar, daß seine Geschichte in ihrem Ablauf dem Ablauf der Sefiroth entsprechen muß, und zwar nicht, weil es ihm so gefällt, die Ereignisse auf diese Weise darzustellen, sondern, weil (wie auch bei den Sefiroth eigentlich zu erwarten), eine höhere Macht diese Entsprechung diktiert. Deswegen muß es auch nicht weiter verwunderlich scheinen, wenn das genaue Verständnis dieser Entsprechung sich nicht immer ganz erschließt. Es läßt sich aber spekulieren: Dieser Teil des Buches steht unter dem Zeichen Nezachs als Sefirah der Ausdauer, weil Casaubon zu den beiden Zeitpunkten der Rekapitulierung seiner Geschichte ausdauernd verharrt, ein Ereignis mit unsicherem Ausgang erwartend: In seinem Versteck im Periskop im Conservatoire wartete er auf die Ankunft der Diaboliker, die mit dem Hinweis, den sie sich vom Pendel erhoffen, die Weltherrschaft an sich reißen wollen; im Landhaus Belbos, nach den Geschehnissen in Paris, rechnet er jeden Augenblick mit der Ankunft der Diaboliker, die das vermeintliches Geheimnis, die Lösung des Großen Plans, von ihm erfahren wollen.

Außerdem ist Casaubon In zweierlei Hinsicht Sieger: Im seinem Versteck, weil er dort ist, alles sieht und keiner von ihm weiß, und später, weil er tatsächlich das Geheimnis kennt und weiß, daß die Diaboliker es niemals kennen werden, weil es zu einfach ist, als daß sie es jemals als Lösung anerkennen könnten: Es gibt gar kein Geheimnis. Das verschafft ihm einen gewissen Triumph, auch wenn dieser ihn vermutlich das Leben kosten wird.

8. Hod

Hod, die Sefirah des Glanzes und der Majestät, genießt im Buch eine Sonderstellung, da es hier nicht Diotallevi ist, den Eco eine Erklärung der Sefirah geben läßt, sondern Aglié, der dem Ritual der vereinigten Diaboliker unter dem Pendel vorzustehen scheint:

„Denn wahrlich, ich sage dir, diese Nacht bist du, bin ich, sind wir alle in Hod, der Sefirah des Glanzes, der Majestät und der Glorie, in Hod, das die zeremoniale und rituelle Magie regiert, in Hod, dem Augenblick, da sich die Ewigkeit auftut.“[19] Aglíe bedient sich hier großer Worte und großer Geste, um Belbo einzuschüchtern, der sich in der Gewalt der Esoteriker befindet und sich weigert, das Geheimnis der Karte, die die Position des tellurischen Nabels der Welt verrät, preiszugeben. Wie sollte er auch, ist dieses Geheimnis doch nicht existent.

Diese Sonderstellung Hods ist insofern eine degenerierte, als daß – jedem ernsthaften Kabbalisten würden sich die Haare sträuben – hier die Interpretation durch den sowohl populären wie auch geheimen Okkultismus nach Art eines MacGregor Mathers zum Tragen kommt: Die jüdischen Mystiker haben (größtenteils) stets ihr Möglichstes getan, um eben nicht mit solch blasphemischen Praktiken in Verbindung gebracht zu werden und hätten sich gehütet, Hod als die Sefirah der Magie darzustellen.

Dieser Teil des Buches entspricht auch insgesamt einer pervertierten Form Hods; zwar gibt es reichlich Glanz und Majestät beim rituellen Gepränge der Okkultisten im nächtlichen Conservatoire, aber bei näheren Hinsehen entpuppt sich all das als absurder Tand und Lärm, multimedialer Flitterkram, der Erhabenheit vortäuschen soll.

9. Jessod

„Diotallevi hatte ihm noch nicht gesagt, daß man in Jessod sein kann, der Sefirah des Fundaments, dem Zeichen des Bundes des hohen Bogens, der sich spannt, um Pfeile abzusenden auf Malchuth, sein Ziel. Jessod ist der Tropfen, der aus dem Pfeil quillt, um den Baum und die Frucht zu erzeugen, Jessod ist die Seele der Welt, denn es ist der Moment, in dem die männliche Kraft als zeugende alle Seinszustände miteinander verbindet.

Wer diesen Venusgürtel zu weben weiß, der macht alle Fehler des Demiurgen wieder wett.“[20]

Den ekstatischen Augenblick Jessods, des Fundaments, in dem sich der Glanz der oberen acht Sefiroth zu einem Strom vereinigt und gebündelt in Malchuth, die zehnte Sefirah fließt, findet Casaubon in dem Schrank voller alter Aufzeichnungen Belbos, im Landhaus im Piemont, während er auf die Okkultisten wartet, die ihn selbst dort mit Sicherheit finden werden: Belbo hatte den großen Augenblick, nach dem er sein Leben lang gesucht hatte, bereits gehabt, ohne es zu merken, als er als kleiner Junge auf einer Beerdigung den langersehnten Auftritt als Trompeter haben durfte; er richtete sein Instrument auf die Sonne, wie sich der Bogen Jessods auf Malchuth richtet, und er spielte seine Töne, so wie der Bogen Jessods seine Pfeile absendet, und dieser perfekte Augenblick schien ewig anzudauern.

Hier trifft sich die Erzählung mit der Gegenwart des Erzählenden, so daß auch auf der Ebene der gesamten Geschichte ein Jessod stattfindet; die verschiedenen Erzählstränge als Entsprechung der Sefiroth finden sich, um zusammen auf Malchuth, das Ende, zuzulaufen.

10. Malchuth

„Jetzt weiß ich, was das Gesetz des Reiches ist, das Gesetz jener armen, verzweifelten und zerlumpten Malchuth, in die sich die Weisheit gerettet hat, wie ins Exil, tastend nach ihrer verlorenen Klarheit suchend. Die Wahrheit von Malchuth, die einzige Wahrheit, die in der Nacht der Sefiroth leuchtet, ist, daß die Weisheit sich nackt in Malchuth enthüllt, und sie enthüllt, daß ihr Geheimnis im Nicht-Sein liegt, im Nicht-Existieren außer für einen einzigen Augenblick, nämlich den letzten. Danach fangen die Anderen wieder an.

Und mit den Anderen die Diaboliker, die nach Abgründen suchen, in denen sich das Geheimnis verbirgt, das ihre Verrücktheit ist.“[21]

Malchuth, das Reich, die Glorie, auch die Schechina, die Herrlichkeit Gottes, ist die letzte Sefira, in der die Offenbarung in ihrer physischen Manifestation, der Schöpfung, ihr Ziel findet, den Menschen.

Jetzt, am Ende, begreift Casaubon die Herrlichkeit der Schöpfung in all ihrer Einfachheit: Es gibt kein Geheimnis, keinen Abgrund, den es zu verehren gilt, nur jenes:

„Zwischen den Reihen – aber man muß barfuß gehen, mit einer Hornhaut an den Fersen seit Kindertagen – stehen Pfirsichbäume. Sie tragen gelbe Pfirsiche, die nur zwischen den Weinreben wachsen, man kann sie mit einem leichten Daumendruck zerteilen, und der Kern kommt fast von selbst heraus, sauber wie nach einer chemischen Reinigung, nur da und dort hängt noch ein weißes Fruchtfleischwürmchen mit einem Atom daran. Man kann sie essen, fast ohne die Samthaut zu spüren, die einen von der Zunge bis in die Lenden erschauern läßt. Einst weideten dort die Dinosaurier. Dann hat eine andere Oberfläche die ihre bedeckt. Und doch, wie Belbo in dem Augenblick, als er die Trompete blies: wenn ich in die Pfirsiche biß, verstand ich das Reich und war ganz mit ihm eins. Der Rest ist nur Cleverneß. Erfinde, erfinde den Großen Plan, Casaubon. Das ist alles, was ich getan habe, um die Dinosaurier und die Pfirsiche zu erklären.

Ich habe alles begriffen. [...]

Malchuth ist Malchuth, und damit basta. Aber sag ihnen das mal. Ihnen fehlt der Glaube.“[22]

Und damit basta. Keine weitere Interpretation notwendig.

Kabbala, wohin man blickt – Schlußbetrachtung

Der sefirothische Aufbau ist zwar der offenkundigste kabbalistische Aspekt des Buches, aber es existieren viele weitere Möglichkeiten, Eco als „Kabbalisten“ zu entlarven. Einige möchte ich hier abschließend noch kurz ansprechen.

Wie weiter oben schon angedeutet, liegt eine weitere Interpretationsmöglichkeit in der Schaffung des Großen Plans selbst als kabbalistischer Akt.

Hier liegt die Analogie vor allem in Bezügen zur Temurah, die bei den mittelalterlichen deutschen Chassiden und beeinflußt davon später vor allem in der Kabbala Abraham Abulafias, der ja ohnehin im Buch eine große symbolische Rolle spielt, im Mittelpunkt stand. Man sehe die Weltgeschichte als Torah und deren Ereignisse als die Buchstaben, aus denen in Vereinigung mit den Sefiroth die gesamte Schöpfung besteht, dann wird klar, inwieweit die Protagonisten durch die Umstellung und neue Verknüpfung dieser Ereignisse Temurah betreiben.

Und man braucht sich nur das Schicksal Diotallevis ansehen, der an Krebs erkrankt und bald im Sterben liegt, um zu erkennen, daß diejenigen, die uneingeweiht und ohne den nötigen Respekt diese Entsprechung der Kabbala betreiben, auch die Entsprechung der Strafe ereilt, die respektlose und unwissende Kabbalisten ereilt hätte:

„Rabbiner, Rabbiner sind alle. Alle sprechen von derselben Sache. Glaubst du, daß die Rabbiner, die von der Torah sprachen, von einer Rolle sprachen? Sie sprachen von all den Leuten, die versuchen, ihren Leib durch die Sprache neu zu machen. Jetzt höre. Um mit den Lettern des Buches umzugehen, braucht man viel Demut, und wir haben keine gehabt. Jedes Buch ist verwoben mit dem Namen Gottes, und wir haben alle Bücher der Geschichte anagrammatisiert, ohne zu beten. [...] Monatelang haben wir wie fromme Rabbiner mit unseren Lippen eine andere Kombination des Buches ausgesprochen. GCC, CGC, GCG, CGG. Was unsere Lippen sagten, das haben unsere Zellen gelernt. Was haben meine Zellen gemacht? Sie haben einen abweichenden Plan gefunden, und jetzt gehen sie ihre eigenen Wege Sie invertieren, transponieren, alternieren, permutieren, sie kreieren neue, nie gesehene und sinnlose Zellen oder solche, deren Sinn dem richtigen Sinn zuwiderläuft.“[23]

Diese Stelle wirkt wie ein modernes Echo auf Abulafia, der warnte: Wenn einer Buchstaben zusammensetze, von denen ein jeder mit verschiedenen Gliedern des menschlichen Körpers korrespondiere, „so muß man sich sehr, sehr vorsehen, keinen Konsonanten und keinen Vokal von seinem Orte zu verändern, denn wenn er sich beim Lesen des Buchstaben, der über ein bestimmtes Glied regiert, irrt, so kann jenes Glied losgerissen werden und seinen Platz vertauschen, oder seine Natur sofort ändern und eine andere Form erhalten, so daß der Mensch infolgedessen zu einem Krüppel werden könnte.“[24]

Und vermutlich ist sie das auch.

Desweiteren scheint mir, daß Eco als einer der ersten – jedenfalls lange vor dem ganz oben angesprochenen Del Washburn mit seinen Theomatics – sich mit der Bedeutung des Beginns des Computerzeitalters für die Kabbala auseinandergesetzt hat. Dabei liefert er – ganz im Gegensatz zu Washburn und seinen Brüdern im Geiste - einige Gedanken über die philosophischen Implikationen, die die Abkürzung zur Erleuchtung durch Verwendung von Rechenmaschinen mit sich bringt - und erteilt ihr letzten Endes, wie es jeder genuine Kabbalist auch getan hätte und anders als die modernen Bibelentschlüssler, eine deutliche Absage, indem er alle seine Charaktere scheitern läßt: Sie haben sich auf dem falschen Wege der Weisheit genähert.

Zum dritten ist da noch die sehr viel abstraktere Sichtweise des Romans, nach der meines Erachtens Eco mit einer gewissen Ironie die Kombinatorik in der Kabbala als Analogie zur postmodernen Schreibweise funktionieren läßt: Reduziert man die Postmoderne aufs Wesentliche, basiert sie darauf, aus alten Elementen durch neue, ungewöhnliche Rekombination etwas Neues zu schaffen, das auf Nichteingeweihte oftmals kryptisch wirken muß. Ein weiterer Hinweis in diese Richtung ist die Tatsache, daß die Kapitelüberschriften nicht Überschriften im herkömmlichen Sinne sind, sondern Zitate aus allen möglichen Bereichen der okkulten und weniger okkulten Literatur, die sich im Inhaltsverzeichnis hintereinander lesen wie ein typisch kryptisches postmodernes Gedicht. Das erinnert an Italo Calvino – über dessen „Postmodernität“ sich wohl die meisten einig sind – der in Wenn in einer Wintersnacht ein Reisender das Inhaltsverzeichnis durch die Titel der Kapitel eine ganz eigene (sehr kurze) Geschichte erzählen läßt, die auf den ersten Blick mit der eigentlichen Handlung nichts zu tun hat.

In der Nachschrift zum Namen der Rose spricht Eco über den Postmodernismus:

„Unglücklicherweise ist ‚postmodern’ heute ein Passepartout-Begriff, mit dem man fast alles machen kann. Ich habe den Eindruck, daß ihn inzwischen jeder auf das anwendet, was ihm gerade gefällt. Außerdem gibt es, wie mir scheint, eine Tendenz, ihn historisch immer weiter nach hinten zu schieben: Erst schien er auf einige Schriftsteller und Künstler der letzten zwanzig Jahre zu passen, dann gelangte er, rückwärts durch die Jahrzehnte wandernd, allmählich bis zum Beginn des Jahrhunderts, dann ging er noch weiter zurück, und er ist immer noch unterwegs; bald wird die Kategorie des Postmodernen bei Homer angelangt sein. Ich glaube indessen, daß ‚postmodern’ keine zeitlich begrenzbare Strömung ist, sondern eine Geisteshaltung oder, genauer gesagt, eine Vorgehensweise, ein Kunstwollen. Man könnte geradezu sagen, daß jede Epoche ihre eigene Postmoderne hat...“[25]

Diese Ansicht mag man teilen oder nicht, aber von diesem Blickpunkt erscheint es fast logisch – wenn man die notwendige Ironie aufzubringen bereit ist - die Kabbala als Postmoderne des Judentums anzusehen. Somit wäre die Analogie auch umgekehrt gültig: Nicht etwa steht Kabbala nur für postmoderne Schreibweise, sondern auch die Postmoderne für die Kabbala; eine weitere Mehrdeutigkeit, die durchaus in die Tradition der zahllosen Mehrdeutigkeiten des Focaultschen Pendels innerhalb und außerhalb der Handlung paßt.

LITERATUR

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

ANMERKUNGEN:

[...]


[1] Eco 1989: 197

[2] Corpus Hermeticum, zit. nach Reinalter 2000: 47-48

[3] Nachzulesen bei Scholem 1980: 267-314

[4] Nach Gidal 1997: 81

[5] Unbekannt (1) 2001

[6] Unbekannt (1) 2001

[7] Scholem 1980: 233

[8] Eco 1989: 26-27

[9] Eco 1989: 11-12

[10] Eco 1989: 27

[11] Scholem 1980: 232

[12] Eco 1989: 189

[13] Eco 1989: 224

[14] Eco 1989: 250

[15] Eco 1989: 196

[16] Eco 1989: 258

[17] Eco 1989: 636

[18] Eco 1989: 672

[19] Eco !989: 699

[20] Eco 1989: 744

[21] Eco 1989: 752

[22] Eco 1989: 753-4

[23] Eco 1989: 664-5

[24] Abraham Abulafia, zitiert nach Scholem 1980: 150

[25] Eco 2000 (2): 695-6

Fin de l'extrait de 21 pages

Résumé des informations

Titre
Die Kabbala und das Pendel - Spekulationen über jüdisch-mystische Analogien bei Umberto Eco
Université
University of Marburg
Cours
Jüdische Mystik
Note
1
Auteur
Année
2002
Pages
21
N° de catalogue
V108465
ISBN (ebook)
9783640066629
Taille d'un fichier
401 KB
Langue
allemand
Annotations
Diese Arbeit bietet zunächst eine kleine Rezeptionsgeschichte von Elementen jüdischer Mystik außerhalb des Judentums (Hermetik, christliche Kabbala, "Bibelcode" etc.), um dann den sehr kreativen Umgang Umberto Ecos mit eben dieser Ideengeschichte im Roman " Das Focaultsche Pendel" nachzuzeichnen.
Mots clés
Kabbala, Pendel, Spekulationen, Analogien, Umberto, Jüdische, Mystik
Citation du texte
Nico Czaja (Auteur), 2002, Die Kabbala und das Pendel - Spekulationen über jüdisch-mystische Analogien bei Umberto Eco, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108465

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