Edgar Wibeau, ein Spiegelbild des jungen Werther? Ein Vergleich von Ulrich Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W." und Goethes Briefroman


Pre-University Paper, 2004

14 Pages


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Inhaltsverzeichnis

1 Vowort

2 Ulrich Plenzdorf
2.1. Biographie
2.2. Plenzdorf in seiner Zeit

3 Textbetrachtung
3.1. Erzählerperspektive
3.2. Sprache

4 Eigene Interpretations- bzw. Vergleichsansätze
4.1. Flucht
4.2. Begabungen/Interessen
4.3. Liebesverhältnis
4.4. Der Tod
4.5. Das Scheitern

5 Fazit

6 Literaturverzeichnis

7 Anhang

8 Selbstständigkeitserklärung

1 Vowort

In dieser Facharbeit wird es um fünf verschiedene Gesichtspunkte gehen, in denen man Parallelen und Unterschiede zwischen Plenzdorfs Edgar Wibeau und Goethes Werther auf dem Weg zur eigenen Identität erkennen kann.

Da der Schwerpunkt meiner Facharbeit auf Plenzdorfs Roman „Die neuen Leiden des jungen W.“ liegt, habe ich mich deshalb deutlich mehr mit der Person Edgar Wibeau beschäftigt. Goethes Werther wird zwar nur in kurzen Ansätzen mit eingebracht, jedoch immerhin soviel, dass am Ende dieser Facharbeit auf jeden Fall die Frage „Edgar Wibeau ein Spiegelbild Werthers?“ beantwortet werden kann.

Eine Einleitung beschreibt kurz und knapp den Autoren und die Umstände zu seiner Zeit. Es folgt die Betrachtung des Textes (Erzählerperspektive, Sprache), dann der Schwerpunkt der Facharbeit, die Interpretations- und Vergleichsansätze. Zum Schluß wird das Ergebnis der Untersuchung dargestellt.

Die Hauptperson Edgar Wibeau wird im Verlauf der Arbeit, besonders durch den Punkt „Begabungen/Interessen“, charakterisiert. Ebenso werden auch die Charaktere der anderen Personen, welche eine Rolle im Buch spielen durch Edgars Ansichten und Meinungen beschrieben.

2 Ulrich Plenzdorf

2.1. Biographie

Ulrich Plenzdorf, geboren am 26. Oktober 1934 in Berlin, studierte zuerst Philosophie, später besuchte er die Filmhochschule und arbeitete anschließend als Szenarist im DEFA Studio. In den Jahren 1958/59 war er Soldat in der Nationalen Volksarmee.

Plenzdorf gehört zu den Autoren, die sich kritisch mit der DDR Gegenwart und besonders mit der DDR Jugend auseinandersetzten. Außer Büchern schreibt Ulrich Plenzdorf außerdem Prosatexte, Gedichte, Lieder und verfasst Hörspiele, Drehbücher und Theaterstücke. Die Uraufführung seines Stückes „Die neuen Leiden des jungen W.“, für welches er sowohl im Westen als auch International Anerkennung bekam, fand im Jahre 1972 statt. Weitere bekannte Werke sind „Die Legende von Paul und Paula“ (1974) und „Liebling Kreuzberg“ (1993). 1971 erhielt Plenzdorf den Heinrich Mann Preis der Akademie der Künste/DDR und den Heinrich Greif Preis, 1978 wurde er mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet und bekam 1982 den Jacob-Kaiser-Preis. Plenzdorf schreibt auch heute noch Drehbücher und Theaterstücke. (Ein Photo befindet sich auf S.14 im Anhang)

2.1. Plenzdorf in seiner Zeit

Von 1949 bis in die 60er Jahre beschäftigte sich die Literatur in der DDR einerseits mit dem geistigen Aufbruch, Bekenntnis zu Humanismus und mit dem Nationalsozialismus, andererseits spiegelte sie eine zunehmende Ideologisierung, die den Antrieb eines erzieherischen Auftrags mit literarischen Mitteln beinhaltete.

Theaterstücke, die mit dem Ziel, ein kritisches Bewusstsein zu wecken (ausgehend von Brecht) aufgeführt wurden, spielten eine wichtige Rolle. Autoren wurde in den 50er Jahren das Prinzip des sozialistischen Realismus vorgehalten. Einige Autoren fügten sich widerspruchslos oder unter Druck, viele verließen schon in dieser Zeit die DDR. Plenzorf blieb und wartete. Erst 1971 durften viele Schriftsteller und Drehbuchautoren endlich ihre bisher nicht veröffentlichten Werke, welche Konflikte innerhalb der Gesellschaft thematisierten, der Öffentlichkeit präsentieren. So auch Plenzdorf: Sein schon 1968 verfasstes Werk „Die neuen Leiden des jungen W.“ wurde 1972 uraufgeführt.

Plenzdorf kritisiert in seinem Werk durch die Darstellung Edgars’ alleingängerischer Haltung und Freiheitsgedanken, die schließlich zum Tode führen, keineswegs die Grundlagen des Sozialismus, sondern die Behinderung der Jugend durch den Staat, welche die Selbstverwirklichung in der sozialistischen Gesellschaft impliziert.

3 Textbetrachtung

3.1. Erzählerperspektive

Zu Beginn der Erzählung ist Edgar Wibeau schon tot. Das Buch beginnt mit seinen Todesanzeigen, die in verschiedenen Zeitungen abgedruckt worden sind. Der Tod wird sozusagen „rückwärts“ erzählt.

Edgars Vater versucht etwas über seinen Sohn herauszufinden um ihn nachträglich kennenzulernen. Er befindet sich mit Edgars Bekannten Willi, Charlie und Addi, die er nacheinander aufsucht, auf einer dialogischen Erinnerungsebene. Edgar kommentiert und ergänzt diese Gespräche in Monologen aus dem Jenseits. Eine weitere Erzählweise sind die Tonbändern mit den Werther-Zitaten, die Edgar aufgenommen und an Willi geschickt hat.

Bei Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“ ist der Text in zwei Bücher aufgeteilt. Diese wiederum bestehen aus Briefen die Werther überwiegend an seinen besten Freund Wilhelm, der Edgars Willi entspricht, schickt. Antworten auf die Briefe erfährt der Leser durch Reaktionen. In Goethes Roman gibt es den auktorialen Erzähler.

3.2. Sprache

Beide Autoren, sowohl Plenzdorf als auch Goethe, haben eine ihrer zeitgerechten Sprache benutzt.

Plenzdorf hat sich im Punkt der Sprache stark an Salingers „Der Fänger im Roggen“ orientiert. [1]

Edgar spricht den lockeren Jargon der damaligen DDR Jugend. Dieser könnte die Ablehnung der Normen deutlich machen und sich gegen das allzu korrekte Elternhaus richten. In seiner umgangssprachlichen Art benutzt Edgar oft englische Ausdrücke, z.B. „speech“, „jumpte“ „high“ aber auch „Salute“. Seinen „Bluejeans-Song“[2] hat er sogar ganz in Englisch verfasst.

Das zeigt, dass er eher der westlichen, moderneren „Welle“ nahesteht und sich nicht das russische Muster als Vorbild nimmt. Der (jugendliche?!) Leser wird sehr oft direkt angesprochen indem er sozusagen der stumme Gesprächspartner von Edgar ist. Bsp.: „Ich war vielleicht ein Idiot, Leute“ (S.30) oder „Leute, das konnte wirklich kein Schwein lesen“ (S.36)

Was für den Leser auch sehr auffällig ist, sind die vielen Wiederholungen die Edgar verwendet, z.B. „Ich weiß nicht, ob mich einer versteht“ (s.S.15,23,49).

Ebenfalls gebraucht Edgar umgangssprachliche Alltagswörter wie z.B. „...so einen fünfundzwanzigjährigen Knacker“ (S.27), „Zeug“ und „Kerl“.

Wenn ihm etwas überhaupt nicht in den „Kram“ passt, benutzt er häufig Sätze wie: „Ich wurd fast gar nicht wieder, Leute.“ oder „Es tötete mich immer fast gar nicht...“ (S.27).

Wenn er etwas sehr betonen will:„...malen können sie, dass man kaputtgeht.“ (S.50)

Edgars erkennbare Selbstüberschätzung und Naivität kann man an Zitaten wie „Ich wußte das.“ oder „Ich begriff doch, was das heißen sollte“ sehen.

Ausdrücke wie z.B. „kein Schwein“ (S.36), „ach du Scheiße“ und „Ach, der arme Arsch“ gehören ebenfalls in die Jugendsprache der DDR und drücken meiner Meinung nach eine rebellische Haltung gegenüber dem Elternhaus aus.

Sehr wichtig und deshalb besonders hervorzuheben sind natürlich auch jene Werther-Zitate, die Edgar aus Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ entnimmt. Diese benutzt er um seine Gefühle auf seine Art auszudrücken. Willi, dem Edgar diese Zitate per Tonband zuschickt, versteht die Zitate nicht, hält sie für einen Code und bittet um Aufklärung. Mit dieser Sprache, die der Zeitepoche des Sturm&Drang entspricht, versucht Edgar vorerst zu imponieren und sich zu verteidigen.

Auffällig ist zudem die Ironie in Edgars Sprache. („Ein verkannteres Genie als mich hatte es noch nie gegeben“ S.25)

Goethe benutzt in seinem Roman die für seine Zeit gebrauchte aber auch revolutionäre Sprache des Sturm und Drang. Der Stürmer und Dränger benutzt auffällig viele Inversionen, Ellipsen, lange Perioden und lässt Konjunktionen aus. Der Roman setzt beim Leser Literatur- und Kunstkenntnisse der damaligen Zeit voraus.

4 Eigene Interpretations- bzw. Vergleichsansätze

4.1. Flucht

„Edgar Wibeau, dieser intelligente, gebildete, disziplinierte Junge“ (S.39). Jahrelang Musterschüler und bester Lehrling. Ein Vorbild für alle.

Edgar, das „Muttersöhnchen“ (S.21), hätte es weit bringen können, doch eines Tages schmeißt er die Lehre und haut von zu Hause ab. Edgar will nicht mehr gesellschaftliche Zwänge als sein Lebensinhalt sehen und ständig überall „eingereiht“ (S.41) werden. Er will sich zurückziehen um seinem Wunsch, der Eigenständigkeit und Selbstbestimmung nachzugehen. Er möchte sich nicht mehr den Lehrmethoden und dem Leistungsdruck der Gesellschaft fügen („Erst sagten alle anwesenden Lehrer und Ausbilder, was wir daraus zu lernen haben, und dann sagten wir, was wir daraus gelernt hatten.“, S.42).

Ein weiterer Grund für die Flucht aus dem Alltag ist sein Gefühl der Einengung und Eingrenzung in Mittenberg („Ich stieg immer sofort aus, wenn einer behauptete, Mittenberg das sollte schon die Welt sein“ S.41/42). Den einzigen Weg zur Selbstverwirklichung sieht Edgar also im Ausstieg aus der sozialistischen Gesellschaft und der Flucht in die „Natur“. Diese bewahrheitet sich als eine alte Wohnlaube der Familie Lindner in Berlin, die kurz vor dem Abriss steht. Edgar verlässt kaum noch seine Laube und lebt in der völligen Isolation. Er möchte nicht mehr vorgesetzt bekommen was er zu tun hat und will auch nicht der lebende Beweis dafür sein „dass man einen Jungen auch sehr gut ohne Vater erziehen kann“ (S.23). Selbst den Erziehungsmethoden seiner sonst so geachteten Mutter, („Rausgehalten hab ich mich einfach, weil ich Muttern keinen Ärger machen wollte.“, S.22) der Berufsschulleiterin, will er sich entziehen. Mutter Wibeau ging mit der Anpassung ihres Sohnes sogar soweit, ihm die Linkshändigkeit abzugewöhnen (s.S.138). Dies zeigt, dass sie mit ihrer Erziehung ziemlich überfordert war. Sie selbst ist eine erfolgreiche Karrierefrau und will ihrem Sohn die gleichen Ideale aufzwingen.

Kritik am Sozialismus an sich war jedenfalls kein Grund für Edgar, die Flucht aus der Gesellschaft zu ergreifen: „Ich hatte nichts gegen Lenin und die. Ich hatte auch nichts gegen den Kommunismus und das, die Abschaffung der Ausbeutung auf der ganzen Welt. Dagegen war ich nicht. Aber gegen alles andere.“ (S.80)

Der junge Werther fühlt sich als Marionette in seiner Welt. Er lehnt das ungeliebte Stadtleben ab und flüchtet vor dem Schicksal in die befreiende Natur. In der städtischen Gesellschaft kann er sich, wie Edgar, nicht frei entfalten. Die Verhaltensregeln und Normen sind ihm ein Hindernis bei der Auslebung seines individuellen Verhaltens und der Suche nach dem Freiheitsgefühl. Auch seine Mutter hat einen Anteil an seiner Flucht, denn sie will, dass er eine „vernünftige“ Karriere beginnt.

4.2. Begabungen/Interessen

Edgar wird im Buch besonders durch seine Begabungen und Interessen charakterisiert. Fasziniert wird Edgar von seiner von ihm fast heilig gesprochene Jeans („Jeans sind die edelsten Hosen der Welt“ S.26). Die Jeans ist ein Teil von ihm, mit dem er sich gerne identifiziert. Er hält das Jeans-Tragen für eine „Sache für sich“ (vgl.S.26/27). „Für Jeans konnte ich überhaupt auf alles verzichten, außer der schönen Sachen vielleicht. Und außer Musik.“(S.26)

Die Musik spielt für Edgar eine lebenswichtige Rolle. Er sieht die Musik als eine Art Lebensgefühl an und verbindet sie mit dem Tanzen. Edgar hat sogar seinen eigenen „Bluejeans-Song“ geschrieben (s.S.30). Außerdem ist er sehr musikalisch („Irgendein Instrument, das er nach zwei Tagen nicht spielen konnte, gab’s überhaupt nicht“ S.20). Der Jazz, der ihm ungeheure Lebensfreude zu geben scheint, ist für Edgar „nicht totzukriegen“ (S.30).

Eine weitere Leidenschaft ist das Zeichnen. Willi beschreibt Edgars Bilder als „abstrakt“, Charlie sogar als „konfus“. „Es kommt nicht so drauf an, dass man etwas kann, man muß es draufhaben, so zu tun“ (S.45) fügt Edgar diesem Thema hinzu. Er hatte es jedenfalls sehr gut drauf, so zu tun (vgl.S.45). Ich denke, dass Edgars abstrakte Malerei möglicherweise eine Ablehnung der Normen sein könnte. Er scheint sich nicht besonders für die Kunst der DDR zu begeistern („Wenn ich mir schon Bilder ansah, dann bin ich lieber in einen Kindergarten gegangen, als in ein Museum“ S.50).

Auch seine Lektüren charakterisieren seine Person. Seine zwei Lieblingsbücher sind Robinson Crusoe und Salingers „Der Fänger im Roggen“ (s.S.33). Robinson Crusoe als eines seiner Lieblingsbücher zeigt seine leicht naive, träumerische Art. Salingers Hauptfigur in „Fänger im Roggen“ beeinflusst seine Lebenseinstellung entscheidend.

Das auf dem Klo gefundene Werk Goethes „Die Leiden des jungen Werther“, welches Edgars Interesse vorerst überhaupt nicht weckt („Das ganze Ding war in diesem unmöglichen Stil geschrieben“ S.19), spielt später eine entscheidende Rolle in Edgars Leben („Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Werther mal so begreifen würde“ S.124). Mit den ausgewählten Zitaten, die er aus dem Buch auswendig vorträgt, um zu schockieren zu verblüffen, abzublocken (s.S.55/56) oder anzugreifen (Zitate als seine schärfste „Waffe“ S.82; Sein Kommentar:„Dieser Werther hatte sich wirklich nützliche Dinge aus den Fingern gesaugt S.76), kann er sich immer mehr identifizieren. Zusätzlich hilft ihm der „Werther“ seine eigene Situation wahrzunehmen und zu realisieren. Insbesondere das Verhältnis zu Charlie und seine aufkommenden Gefühle für sie lassen ihn Werthers Worte immer mehr verstehen.

Aus dem „blöden Buch“ (S.44) wird von Zeit zu Zeit der gute alte „Old Werther“. (S.78)

Eine Parallele zwischen den Begabungen von Edgar und Werther ist der Umgang mit Kindern. Eine weitere ist das Zeichnen. Werther liebt das Zeichnen nach der Natur. Ihn begeistern die Landschaften um ihn herum, die durch ihre Natürlichkeit und Schönheit geprägt sind. Wie Edgar ist Werther Fachbüchern eher abgeneigt und widmet sich lieber Büchern wie Homers epische „Odyssee“.1

4.4. Liebesverhältnis

Der dominierende Teil des Buches impliziert sicherlich das Verhältnis von Edgar zu Charlie.

Die Beziehung zwischen Edgar und der 20-Jährigen Kindergärtnerin Charlie scheint auf den ersten Blick aufgrund der zahllosen neckenden Sprüche beider Parteien ziemlich nüchtern zu sein. Doch spielt sich zwischen beiden mehr Harmonie und Gefühl ab, als man vorerst denkt. Edgar will Charlie seit ihrer ersten Begegnung „haben“. Diese Gegebenheit beruht anfänglich allerdings nicht auf Gegenseitigkeit, denn Charlie ist mit dem spießigen Mustermenschen Dieter verlobt. Edgar lässt das relativ kalt, denn „Verlobt ist noch lange nicht verheiratet“ (S.55). Um bei Charlie anzukommen versucht Edgar es unter anderem mit seiner „Werther-Masche“, doch bei Charlie scheint er damit nicht besonders große Chancen zu haben. Sie ist eher verwirrt und geht nicht auf „seine“ Zitate ein.

Charlie, Edgar und Dieter, der gerade seine Wehrdienst geleistet hat, ein außerordentlicher Pedant und auf dem Weg zum Germanistik-Studium ist, bilden einen Dreieckskonflikt. Edgar tritt als Dritter in die Beziehung zwischen Dieter und Charlie und wird vom vertrauten Freund Charlies zum beziehungsstörerischen Liebhaber. Edgar kann Dieter nicht besonders leiden, denn dieser ist für ihn sozusagen die Reinkarnation der negativen Seiten, welche die sozialistische Gesellschaft mit sich bringt. Der neidische Edgar provoziert Dieter und versucht ihn mit seiner „schärfsten Waffe“ anzugreifen. Doch Dieter sieht Edgar nicht als Bedrohung für die Liebesbeziehung zwischen ihm und Charlie an. Als sie zu dritt einen Ausflug machen wollen, fordert Dieter Charlie und Edgar sogar dazu auf alleine zu fahren.

Edgar ist als vertrauter Freund für Charlie eine perfekte Ergänzung zu Dieter. Mit Dieter hat sie einen Menschen , der für sie durch seine spießiger Art eine gewisse Sicherheit für die Zukunft und ein geordnetes Leben bedeutet. Edgar ist der ergänzende Gefühlsmensch, Träumer und Freund. Er gibt ihr das, was Dieter ihr bewusst oder unbewusst nicht gibt. („Entweder er küßt Charlie nie, wenn er kam, oder er verkniff es sich wegen mir.““ S124)

Nachdem der Kontakt zwischen Charlie und Edgar für einige Zeit abgebrochen ist, lädt Charlie Edgar zu sich nach Hause ein. Charlie und Dieter haben inzwischen geheiratet. Edgars Reaktion lässt nicht lange auf sich warten: „Ich kriegte eine Art Schüttelfrost“ (S.116) und „die Knie wackelten mir“ (S.116). Edgars Reaktion lässt vermuten, dass er schon seit längerem darauf wartete, Charlie wiederzusehen, denn innerhalb weniger Minuten stand er vor ihrer Tür (s.S.117).

Als eine Bootstour zu dritt vereinbart wird und Dieter aufgrund starken Regens nicht mitkommen will, verlässt Charlie wutentbrannt mit Edgar im Schlepptau das Zimmer. Bei der Bootsfahrt bei strömendem Regen kommt es zum emotionalen Höhepunkt. Charlie fragt Edgar ob er einen Kuß von ihr haben will, woraufhin Edgar Charlie leidenschaftlich küsst (s.S.134). Dieser Höhepunkt bedeutet auch das Ende des Verhältnisses, denn kurze Zeit nach dem Kuss rennt Charlie davon. Vor diesem Ereignis gab es keinen Moment in dem die beiden sich auf erotische Weise näher gekommen sind. Für Edgar sollte es die letzte Begegnung mit Charlie gewesen sein, denn zwei Tage später stirbt er bei einem tragischen Unfall durch einen Stromschlag. Der Grund für Charlies plötzliche „tiefere Neigung“ liegt auf der Hand: Sie ist sauer auf ihren unternehmungslosen Mann, der durch seine strikte Lebenseinstellung hervorsticht und seine Frau grundsätzlich sehr enttäuscht, da sie sich von der Heirat sicherlich, gerade in den ersten Wochen/Monaten, mehr erhofft hatte als einen Mann, der sich offensichtlich für andere Sachen mehr interessiert als für sie. Der Frust sitzt so tief, dass sie die Nähe zu Edgar als Ausweg sucht.

Der Dreieckskonflikt in Goethes Fassung ist exakt gleich aufgebaut. Zwei Männer „kämpfen“ um eine Frau. Werther steigt wie Edgar als Dritter in die Beziehung Lotte-Albert ein. Albert entspricht Dieter. Er ist Rationalist und Mustermensch. Auch er sieht Werther nicht als Bedrohung an. Charlie steht im Anklang an Werthers Charlotte.

Ein Unterschied im Liebesverhältnis ist, dass Edgar von der Liebe zu seiner Geliebten nicht besessen und eingenommen ist. Er leidet auch nicht an der unerfüllbaren Liebesbeziehung, die ihn später in den Tod treibt. Ein entscheidender Punkt, denn dieser klärt auf, warum Plenzdorfs Buch trotz sehr vieler Parallelen zum Werther Roman „Die neuen Leiden des jungen W.“ als Titel trägt.

4.5. Der Tod

Der Tod kommt für Edgar völlig unerwartet. Beim finalen Test seiner in kurzer Zeit mit großem Aufwand gebauten, gedankenbestimmenden Erfindung, dem NFG (nebelloses Farbspritzgerät), die ihm zu großem Erfolg verhelfen soll, kommt es zu einem tragischen Unfall. Edgar trifft ein Stromschlag mit der Stärke von 380 Volt. Die „Spritze“, wie er seine Erfindung nannte, hat er nicht nur aus Spaß gebaut („Das Ding wäre eine echte Sensation gewesen, technisch und ökonomisch“ S.142), er wollte damit seine Wiederkehr in die Gesellschaft unter großem Ansehen einleiten („Es konnte einen berühmt machen...“ S.142) und bestätigt so eigentlich am Ende das System.

Folglich war der Tod notwendig! Wenn Edgars Erfindung erfolgreich gewesen wäre, hätte dies die Rückkehr in die Gesellschaft mit all ihren Zwängen bedeutet. Er hätte somit seine Ideale aufgegeben, sich wieder angepasst und seine eigens entwickelte Individualität verdrängt. Wenn Edgar Wibeau nicht gestorben wäre, wäre er nicht mehr Edgar Wibeau geblieben! So wäre Edgars Flucht aus der Gesellschaft nur eine inkonsequente, rebellische Phase des Lebens, die auch wieder endet.

Was ich mir allerdings auch vorstellen könnte, ist, dass sein alter Arbeitskollege Zaremba entscheidend auf ihn gewirkt hat und sein Denken möglicherweise umgekrempelt hat. Der Alte ist von Kopf bis Fuß Kommunist und lebt vor sich hin. Er arbeitet weiter für die Gesellschaft, obwohl er schon längst in Rente hätte gehen können. Edgar beeindruckt und verblüfft dies ungemein. („...das schönste war, dass er es noch mit Frauen hatte“ S.90). Zaremba ist der lebende Beweis dafür, dass man auch älter als achtzehn werden und trotzdem Spaß im Leben haben kann. Er ist über siebzig, lebt in der sozialistischen Gesellschaft („...beide Arme und die Brust voll Tätowierungen (...) das wimmelte bloß so von Fahnen, Sternen und Hammer und Sichel...S.90) und kann sich trotzdem auf seine individuelle Weise innerhalb der Gesellschaft entfalten.

Kurz vor Schluss sagt Edgar jedoch noch folgenden Satz: „Aber ich wär doch nie wirklich nach Mittenberg zurückgegangen“ (S.147)

Meines Erachtens kann man so von einem „Offenen Ende“ sprechen.

Die Theorie, dass es sich wie bei Goethes Werther um einen Selbstmord handelt, ist durch Edgars Worte selbst zu widerlegen: „Ich hätte nie im Leben den Löffel freiwillig abgegeben“ (S.147). Schon als er den Werther-Roman zum ersten Mal in die Hände bekommt, hält er nichts von Werthers Freitod:

„Ich war fast gar nicht sauer! Der Kerl in diesem Buch, dieser Werther, wie er hieß,

macht am Schluß Selbstmord. Gibt einfach den Löffel ab. Schießt sich ein Loch in

seine olle Birne, weil er die Frau nicht kriegen kann, die er haben will, und tut sich

ungeheuer leid dabei. Wenn er nicht völlig verblödet war...“ (S.36)

Edgar bedauert seinen eigenen Tod sogar sehr („Dass ich dabei über den Jordan ging, ist echter Mist ...S.16).

Eines steht auf jeden Fall fest: Das Liebesverhältnis spielt bei Edgars Tod keine Rolle.

Damit steht der Unfall Edgars im außerordentlich scharfen Gegensatz zu Werthers Tod. Goethes Werther wählt den Freitod. Er will somit seiner für ihn hoffnungslosen Lage, dem Verlust des Naturzustandes, entgehen. Dies beinhaltet auch das Motiv der Liebe zu Lotte, die ihn fast völlständig eingenommen hat und dessen Trennung er nicht erträgt. In der düstersten Zeit des Jahres, stirbt er, genau wie Edgar, einen Tag vor Heiligabend.

4.6. Das Scheitern

Es bleibt die Frage, wer Schuld am Tod des jungen Edgar Wibeau ist. Einerseits ist er sicherlich selbstverschuldet aufgrund seiner Selbstüberschätzung und des Willens, die gesellschaftlichen Erwartungen sogar noch zu übertrumpfen. Obwohl er handwerklich sehr begabt ist („Er konnte Rechenmaschinen aus Pappe baun, die funktionieren heute noch“ S.20) hat er sich mit seiner Spritze doch übernommen. Dies zeigt, das Edgar auch an sich selbst gescheitert ist.

Andererseits könnte die Gesellschaft die Rolle des Schuldigen spielen, da sie Edgars Fähigkeiten, Tugenden und seine individuelle Entfaltung nicht fördert und unterstützt. Edgars Tod wäre also auf den Satz: „Wer gegen die Gesellschaft ankämpft, verliert“ zurückzuführen. Er wäre nach diesem Muster an der Wiederanpassung in die Gesellschaft gescheitert.

Auch bei Werther kann man vom Scheitern an der Gesellschaft sprechen. Seine Flucht aus der städtischen Gesellschaft mit ihren Verhaltensregeln und Normen führt zur völligen Isolation in der Natur. Der Verlust des Naturzustandes, der für ihn durch die Liebe zu Lotte vollkommen ist, zwingt ihn zum Selbstmord. Werther, als Stürmer & Dränger, hält konsequent an seinen Idealen fest - bis in den notwendigen Tod.

Werthers Scheitern ist insofern auch auf die völlige Einnahme seines Körpers durch die Liebe zu Lotte zurückzuführen.

5 Fazit

Um die Frage „Edgar ein Spiegelbild Werthers?“ zu beantworten:

Edgar Wibeau ist sicherlich keine Reinkarnation von Goethes Werther. Er ist auch nicht, wie der Titel vielleicht vermuten lässt, der neue Werther in einer neuen Zeit. Zwar stimmen beide Charaktere in vielen Punkten überein, im Endeffekt jedoch sind es ganz neue Leiden, die Edgar entwickelt. Edgar ist sowohl Träumer als auch Realist.

Plenzdorf hat die Werther-Tragödie hervorragend auf seine Zeit übertragen. Man kann sehen, dass die Probleme von vor rund 200 Jahren trotz neuer Umstände die gleichen geblieben sind.

6 Literaturverzeichnis

Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, Mannheim 2004

Eike M., Christoph M., Philipp M., Deutsch-LK Müller: www.fhlueneburg.de/u1/gym03/homepage/faecher/deutsch/plenzdorf/biografie.htm vom 1.April 2004

Oldenbourg Interpretationen Band 51: Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werther, München 1991

Plenzdorf, Ulrich: „Die neuen Leiden des jungen W.“, Frankfurt am Main 1976

Reclam, Philipp: Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werther, Stuttgart 2001

Reclam, Philipp: Lektüreschlüssel Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen

Werther, Stuttgart 2002

Unbekannter Autor: www.dhm.de/lemo/html/biografien/PlenzdorfUlrich/ vom 1.April 2004

7 Anhang

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ulrich Plenzdorf im Jahre 1972

8 Selbsständigkeitserklärung

Erklärung

Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst und keine anderen als die im Literaturverzeichnis angegebenen Hilfsmittel verwendet habe.

Insbesondere versichere ich, dass ich alle wörtlichen und sinngemäßen Übernahmen aus anderen Werken als solche kenntlich gemacht habe.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]


[1] vgl.Oldenbourg Interpretationen Band 52: Die Leiden des jungen Werther, München 1991, S.94

[2] Plenzdorf, Ulrich: Die neuen Leiden des jungen W., Frankfurt am Main 1976, S.30

1 Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des jungen Werther, Stuttgart 2001, S.9

Excerpt out of 14 pages

Details

Title
Edgar Wibeau, ein Spiegelbild des jungen Werther? Ein Vergleich von Ulrich Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W." und Goethes Briefroman
Author
Year
2004
Pages
14
Catalog Number
V108700
ISBN (eBook)
9783640068951
File size
492 KB
Language
German
Keywords
Goethe, Johann, Wolfgang, Leiden, Werther, Edgar, Wibeau, Spiegelbild, Werther, Vergleichende, Textbetrachtung, Ulrich, Plenzdorfs, Leiden, Goethes, Briefroman
Quote paper
Benjamin Schubert (Author), 2004, Edgar Wibeau, ein Spiegelbild des jungen Werther? Ein Vergleich von Ulrich Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W." und Goethes Briefroman, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108700

Comments

  • guest on 1/10/2007

    Hilfe....

    Haben Sie da den Vergleich von den beiden büchern aufgestellt oder von dem neuen und alten werther?

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