Mann, Thomas - Der Tod in Venedig - Darstellung und Entwicklung der Person Gustav von Aschenbach in der Novelle


Thèse Scolaire, 2004

14 Pages, Note: 12 Punkte


Extrait


Inhalt

1. Thematik

2. Darstellung der Person Aschenbachs

2.1. Entwicklung Aschenbachs

3. Fazit

4. Literaturverzeichnis

5. Versicherung der selbstständigen Anfertigung

Darstellung und Entwicklung der Figur Gustav von Aschenbach in Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“

1. „, Sehen Sie, Aschenbach hat von jeher nur so gelebt“ – und er schloß die Finger seiner Linken fest zur Faust-; „niemals so“ – und er ließ die geöffnete Hand bequem von der Lehne des Sessels hängen.“[1]

Ich beschäftige mich im Folgenden mit dem Protagonisten Gustav von Aschenbach und stelle seine Person und Entwicklung im Laufe der Novelle dar.

2. Darstellung der Person Aschenbachs

„Das Bild der geballten Faust hat hier und auch sonst eine symbolische Bedeutung als Zeichen des Willens zur Größe.“[2]

Die Person Gustav Aschenbach ist eine Zusammensetzung aus Namen und Charakterzügen verschiedener, Thomas Mann bekannter, Personen:

Sein Vorname Gustav ist eine Reminiszenz an den verstorbenen Komponisten Gustav Mahler(1860 – 1911), den Thomas Mann bei der Uraufführung der 8. Symphonie 1910 in München persönlich kennen gelernt hatte und Erika Mann berichtete, dass er nach der Begegnung mit Mahler „das erste Mal in seinem Leben das Gefühl gehabt habe, einem wirklich großen Manne begegnet zu sein.“[3]

Der Nachname Aschenbach wurde von dem Maler Andreas Achenbach ( 1815 – 1905) abgeleitet, dessen Bilder Thomas Mann in der Neuen Pinakothek in München bewunderte; durch eine bewusste geringfügige Änderung des Namen von Achenbach in Aschenbach verbindet sich mit dem Wort ‚Asche‘ sogleich das dominierende Todesmotiv der Novelle.[4]

Auch erhielt Gustav Aschenbach einige Charakterzüge sowohl von Johann Wolfgang von Goethe als auch von Thomas Mann selbst.[5]

Gustav Aschenbach oder Gustav von Aschenbach, erhielt den Adelstitel zu seinem fünfzigsten Geburtstag für seine dichterischen Leistungen[6], ist „Künstler“, „Schöpfer“, „Autor“ und „Verfasser“. Er ist fünfzig Jahre alt und wohnt in München in der Prinz-Regentenstraße, eine der vornehmsten Straßen der Stadt. Er war in jungen Jahren verheiratet, doch seine Gattin starb und hinterließ ihm eine verheiratete Tochter, die weiterhin ungenannt bleibt.

Sein Aussehen ist gewöhnlich: er ist mittelgroß, brünett, rasiert, von zierlicher Gestalt mit einem, wie es scheint, etwas zu großem Kopf, er hat rückwärts gebürstetes Haar, das sich am Scheitel lichtet, aber an den Schläfen sehr voll und stark ergraut. Dies umrahmt eine hohe, zerklüftete, narbige Stirn. Und auf seiner gedrungenen, edel gebogenen Nase sitzt eine Goldbrille mit randlosen Gläsern. Seine Augen sind müde, tief und traurig.

Der Mund ist groß und oft schlaff, doch manchmal schmal und gespannt; seine Wangen mager und gefurcht, sein markantes Kinn gespalten. „ Bedeutende Schicksale scheinen über dies meist leidend seitwärts geneigte Haupt hinweggegangen zu sein, und doch war die Kunst es gewesen, die hier jene physiognomische Durchbildung übernommen hatte, welche sonst das Werk eines schweren, bewegten Lebens ist.“[7]

Aschenbachs Vorfahren verfolgten eine lange berufliche Tradition, sie waren im Dienste des Königs, des Staates: sein Vater war höherer Justizbeamter und folge damit wiederum seinem Vater und seinen Großvätern, die als Offiziere, Richter und Verwaltungsfunktionäre ein straffes, anständiges karges Leben geführt hatten. Doch rascheres und sinnlicheres Blut floss durch die Mutter Aschenbachs in die Familie: geboren als Tochter eines böhmischen Kapellmeisters, brachte sie etwas Dunkles und Feuriges in die Familie.[8]

2.1 Entwicklung Aschenbachs

Am Anfang der Novelle kommt Aschenbach „ Überreizt von der schwierigen und gefährlichen, eben jetzt eine höchste Behutsamkeit, Umsicht, Eindringlichkeit und Genauigkeit des Willens erfordernden Arbeit […].“[9]

Er ist übermüdet und überreizt, findet keinen, ihm so nötigen, entlasteten Schlaf und vermag „dem Fortschwingen des produzierenden Triebwerkes in seinem Innern“[10] keinen Einhalt zu gebieten. Seine Gemütsverfassung ist schlecht, dies wird auch deutlich, als Aschenbach von einer „zunehmender Abnutzbarkeit seiner Kräfte“[11] spricht. Der Schriftsteller wird hier schon auf der ersten Seite als jemanden, der in einer tiefen Krise steckt, bezeichnet, von der er selbst nichts weiß oder wissen will.

„Der Weg Aschenbachs ist vorgezeichnet: Wo bislang Behutsamkeit, Umsicht und Genauigkeit herrschten, stiehlt sich die heimliche Überreizung und Abnutzbarkeit seiner Kräfte ein.“[12]

Der Protagonist steckt in seinem Innern voller Gegensätze: das zeigt sich auch biologisch durch die Kombination seiner Eltern, die das Gegensätzliche verkörpern. Aber auch die erste Namensnennung ist charakteristisch für ihn[13], es gibt sozusagen zwei Personen: einmal der öffentlich anerkannte, renommierte Künstler Gustav von Aschenbach, der sich auf dem Zenit seines Ruhmes, vor allem durch die Erhebung in den Adelstand, befindet. Er verkörpert das Apollinische[14]: „ Er legt das Gewicht auf Form, Maß, Haltung, Würde, auf Klassizität und Regelhaftigkeit, auf Fleiß, auf Bürgerlichkeit und gesellschaftliche Annerkennung.“[15] Und auf der anderen Seite, den privaten, unbekannten Gustav Aschenbach, der im Laufe der Novelle immer mehr zum Vorschein kommt und den öffentlichen von Aschenbach am Schluss ganz einnimmt, dieser verkörpert im Gegensatz das Dionystische.[16]

So macht Aschenbach sich auf einen Spaziergang, in der Hoffnung, die frische Luft würde ihn wiederherstellen und ihn über seine Schreibblockade hinweg helfen.[17] Sein Weg führt ihn zu einem Friedhof, dort trifft er einen Fremden, der sehr stark an Hermes[18] erinnert, er ist einer der Todesboten, die ihn von nun an durch die ganze Erzählung bis in den Tod begleiten.

Dieser Fremdling lockte das Dionystische[19], hier durch die Reiselust dargestellt, in Aschenbach hervor: „Es war Reiselust, nichts weiter; aber wahrhaft als Anfall und ins Leidenschaftliche, ja bis zur Sinnestäuschung gesteigert.“

Doch den Schriftsteller plagte die Angst, mit seinem Lebenswerk nicht rechtzeitig fertig zu werden und dennoch spürte er ein gewisses Verlangen „ […] [er] fühlte sein Herz pochen vor Entsetzen und rätselhaftem Verlangen.“[20] Es liegt eine gewisse Zwiespältigkeit in seinen Gefühlen, die ihn bis hin zu seinem Tode nicht mehr verlassen wird.

Ab hier beginnt ein Weg fortschreitender Demaskierung, ein Weg in das Fremde, zu dem Gott Dionysos, ein Weg in den Tod und gleichzeitig in die Ekstase.[21]

Er gibt sich seiner Versuchung hin und folgt seinem Wunsch nach Befreiung, aber mit dem Vorsatz auf seiner Reise weiter zu arbeiten. Aschenbach glaubt irrtümlich diesen Drang mit einem Urlaub auf der Insel Adria stillen zu können, doch er merkt schnell, dass er noch nicht am „Ort seiner Bestimmung“[22] angekommen ist. Am Anfang des dritten Kapitel steht sein endgültiges Reiseziel fest: Venedig.

Auch auf dem Schiff begegnet er wieder einem Todesboten, der in Gestalt eines Matrosen auftritt und ihn von seinen Zweifeln abbringt und ihn in seinem Beschluss, die Reise auch wirklich anzutreten, bestärkt.

Auf dem Dampfer angekommen bemerkt er bald eine Gruppe junger Leute, die Aschenbach beobachtet, doch plötzlich fällt ihm mit Entsetzen auf, dass einer der Jünglinge „falsch“[23] war: „ Er war alt, man konnte nicht zweifeln. Runzeln umgaben ihm Augen und Mund.“[24] Auch dieser, als „greiser Geck“[25] beschriebene, ist ein Todesbote, der auf den Verlauf dieser Reise hindeutet. Aschenbach ist entrüstet über diesen gefälschten Jüngling, der nach Meinung des Protagonisten, zu Unrecht bei der jungen Reisegemeinschaft weilt. Dieses Verhalten, sein Alter und somit auch seine wirkliche Identität zu überschminken, widert Aschenbach auf das Derbste an, doch später bedient er sich selbst solchen Maßnahmen.

Der fortschreitende Weg der Demaskierung und des Wandels seiner Selbst, wird Aschenbach zum ersten Mal auf dem Schiff bewusst, er merkt eine Veränderung „In diesem Augenblick jedoch berührte ihn das Gefühl des Schwimmens, und mit unvernünftigem Erschrecken aufsehend, gewahrte er, daß der schwere und düstere Körper des Schiffes sich langsam vom gemauerten Ufer löste.“[26] Das Schiff, das sich jetzt von dem „gemauerten“ Ufer löst, ist Aschenbach selber, der sich nun aus einem gemauerten, tadellosen Leben, in eine „träumerische Entfernung“, die Welt des Dionysos begibt.

Der Reisende erlebt die Überfahrt, die auch wiederum an die Überfahrt ins Reich der Toten erinnert, in einem dämmerartigen Zustand in dem „ Schattenhaft sonderbare Gestalten, der greise Geck, der Ziegenbart aus dem Schiffsinnern […]“[27] umhergehen.

Auf diesen Seiten werden sehr oft der Himmel und das Wetter erwähnt und beschrieben, die Auskunft über den Gemütszustand Aschenbachs geben: „unter der trüben Kuppel des Himmels“[28] unternimmt der Künstler die Reise, seine Verfassung jedoch ist schlecht, er erhofft sich einen hellen Himmel über Venedig, doch auch da bleibt der Horizont trüb und bedeckt, denn in Venedig wird der Protagonist nicht die Lösung seines Lebensproblems, nämlich die bewusste und zugleich unbewusste Unterdrückung seiner, in ihm verborgene dionysischen Seite, finden, sondern nur den Tod, nachdem diese Seite letztendlich unbemerkt und unkontrollierbar in ihm hervorgebrochen ist.

Als der Reisende nun endlich in Venedig, dem eigentlichen Ziel, angekommen ist, wird ihm unwohl als er in eine Gondel, die ihn an Särge und den Tod erinnern: „ Das seltsame Fahrzeug […] [ist] so eigentümlich schwarz, wie sonst unter allen Dingen nur Särge sind, - es erinnert noch mehr an den Tod selbst, an Bahre und düsteres Begängnis […].“[29] einsteigen will.

Auch der Gondoliere ist eine Präfiguration des Todes. Wie die anderen Todesboten hat auch dieser eine ungefällige, brutale Physiognomie, er ist eine vom Geheimnisvollen umgebene, undurchsichtige Gestalt.

Der Gondoliere fährt Aschenbach nicht dahin, wo er hin will, sondern bestimmt den Weg; dem Künstler wird unwohl, er ist von Trägheit befallen und handlungsunfähig, als er glaubt sich in den Fängen eines Verbrechers zu befinden: „Die Vorstellung einem Verbrecher in die Hände gefallen zu sein, streifte träumerisch Aschenbachs Sinne, -unvermögend, seine Gedanken zu tätiger Abwehr aufzurufen.“[30] reagiert dieser nicht, wie er es sonst täte. Er lässt den Dingen ihren Lauf und ist nicht mehr auf den Vollzug seines Willens bedacht. Er verliert die Kontrolle und ist drauf konzentriert sich dem Lockenden, Einlullenden, diese Gefühle vermittelt der Stuhl ihm, da er so weich mit vielen Polstern ist, Gefährlichen hinzugeben. Es stellt sich schließlich heraus, dass der Gondoliere gar keine Konzession besitzt, um Passagiere zu befördern. Auch daran wird deutlich, dass Aschenbach unaufmerksam wird, er überprüft nicht alles, sondern lässt die Dinge einfach nur geschehen, ohne jegliche Kontrolle.

Auf die Frage, wie viel die Überfahrt kostet, antwortet der Gondoliere nur: „Sie werden bezahlen.“[31] Und zwar mit dem Tod.

Als der Künstler im Hotel angekommen ist, wird er begrüßt, da er sich vorher angemeldet hat, und bezieht sofort ein Zimmer mit Meeresblick. Doch Aschenbach fühlt sich in einsam und allein, er ist traurig als er das weite, grenzenlose Meer betrachtet: „[…] seine Gedanken schwerer, wunderlicher und nie ohne einen Anflug von Traurigkeit. […] Einsamkeit zeitigt das Originale, das gewagte und befremdend Schöne, das Gedicht. Einsamkeit zeitigt aber auch das Verkehrte, das Unverhältnismäßige, das Absurde und Unerlaubte.“[32]

Hier wird auch schon auf Aschenbachs zukünftiges Schicksal indirekt verwiesen, seine Liebe zu dem jungen Knaben Tadzio.

Diesen trifft der Schriftsteller während des Abendessens, bei dem Tadzio und seine Familie an einem Tisch in der Nähe sitzen.

Aschenbach war von seiner Schönheit begeistert und gleichzeitig benommen: „Mit Erstaunen bemerkte Aschenbach, daß der Knabe vollkommen schön war. Sein Antlitz, bleich und anmutig verschlossen, von honigfarbenem Haar umringelt, mit der gerade abfallenden Nase, dem lieblichen Mude, dem Ausdruck von holdem und göttlichem Ernst, erinnerte an griechische Bildwerke aus edelster Zeit, und bei reinster Vollendung der Form war es von so einmalig persönlichem Reiz, daß der Schauende [Aschenbach] weder in Natur noch bildender Kunst etwas ähnlich Geglücktes angetroffen zu haben glaubte.“[33]

Dieser Jüngling verkörpert für Aschenbach das vollkommen Schöne, doch er sieht, den aus Polen kommenden, Tadzio nur als ein Kunstwerk an. Auf diese Weise sublimiert und distanziert er sich von Tadzio.[34] So kommt es auch im Laufe der ganzen Novelle zu keinem einzigen Gespräch zwischen den beiden.

Mehr und mehr nimmt der Junge im Verlauf der Handlung die Gedanken des Schriftstellers ein und wird zu einer Folie dessen Entwicklung.[35]

Auch kann Aschenbach diesen wunderschönen Knaben nicht aus seinen Gedanken verbannen, er denkt pausenlos an Tadzio und sucht immer wieder mit seinen Augen nach ihm.

Doch Aschenbach fühlt sich, wenn er den Jüngling sieht, alt und verbraucht: „Er verweilte dort drinnen vor dem Spiegel und betrachtete sein graues Haar, sein müdes und scharfes Gesicht.“[36]

Bei einem Spaziergang erfährt der Protagonist einen völligen Stimmungsumschwung. Das schwüle Klima und die Enge der Stadt nehmen ihm den Atem, sodass er beschließt, Venedig wieder zu verlassen. Hier wird deutlich, dass Aschenbach überaus verantwortungsbewusst und zu Gunsten seiner Gesundheit entscheidet. Am nächsten Morgen bereut er seine Entscheidung schon, bleibt dennoch konsequent und bereitet alles für seine Abreise vor. Ein letztes Mal will er in Venedig frühstücken, doch man merkt schnell, als er den Portier bittet, ihn doch endlich in Ruhe zu lassen, dass er eigentlich nur auf Tadzio wartet. So geschieht es, dass Aschenbachs Gepäck falsch abgeschickt wird und sich somit eine glückliche Gelegenheit bietet, doch in Venedig zu bleiben, so wie er es eigentlich doch wollte: „[…] und was folgte, war eine Leidensfahrt, kummervoll, durch alle Tiefen der Reue.“[37]

Erst später gesteht sich Aschenbach endlich ein, dass er nur wegen Tadzio in der „ihn krank machenden Stadt“ geblieben war: „[Aschenbach] fühlte die Begeisterung seines Blutes, die Freude, den Schmerz seiner Seele und erkannte, daß ihm um Tadzios willen der Abschied so schwer geworden war.“[38]

„ Dann hob er den Kopf und beschrieb mit beiden schlaff über die Lehne des Sessels hinabhängenden Armen eine langsam drehende und hebende Bewegung, die Handflächen vorwärtskehrend, so, als deute er ein Öffnen und Ausbreiten der Arme an. Es war eine bereitwillig willkommen heißende, gelassen aufnehmende Gebärde.“[39]

Hier wird Aschenbachs Verwandlung sehr gut deutlich. Diese Textstelle erinnert an das Eingangszitat, in welchem Aschenbach als geschlossene Faust dargestellt wird, und hier breitet er die Arme aus, er nimmt Tadzio und somit auch den Tod in sich auf. Durch diese fehlgeschlagene Abreise gibt es kein zurück mehr, dieser Urlaub endet im Tod des Protagonisten.

Aschenbach will seine homoerotische, leidenschaftliche Liebe zu Tadzio vor sich selbst verbergen, indem er sie umdeutet zu einer Begegnung des Geistes mit dem Schönen. Doch das gelingt ihm nur schwerlich und so gesteht er sich am Ende des vierten Kapitels seine Liebe zu Tadzio ein.

Der Künstler lässt sich jetzt dazu herab und stellt Tadzio nach, verfolgt ihn durch die Straßen Venedigs, doch er will nicht bemerken wie lächerlich er sich macht, auch als er vor Tadzios Zimmertür Halt macht und sich „in völliger Trunkenheit an die Angeln der Tür“[40] lehnt.

Das Trotzdem, aus dem er bislang immer gelebt hat, verschwindet immer mehr, immer öfter und ohne Vorsicht nähert er sich dem Jüngling an. Jede Sicherung, jede Distanz geht ihm verloren.

Aschenbach ist jetzt nicht mehr der, der er früher war, er ist mitten in seiner Demaskierung, doch die dionysische Seite hat noch nicht ganz von ihm Besitz ergriffen, so versucht er sich für sein Handeln und Denken vor seinen Vorfahren und vor sich selbst zu rechtfertigen und vergleicht ihr Leben mit dem Seinen: „Er dachte ihrer [der Vorfahren] auch jetzt und hier, verstrickt in ein so unstatthaftes Erlebnis, begriffen in so exotischen Ausschweifungen des Gefühls, gedacht der haltungsvollen Strenge, der anständigen Männlichkeit ihres Wesens und lächelte schwermütig. Was würden sie sagen?“[41]

Der Schriftsteller bemerkt bald die schlechte Luft in Venedig, er weiß, dass sich etwas Unheilvolles ankündigt, doch will es nicht wissen, seine einzige Sorge besteht darin, dass Tadzio und seine Familie abreisen könnten.

Was sich bislang mit der in Venedig herrschenden Fäulnis, mit Krankheit oder Geruch nur andeutet, bekommt nun genauere Konturen: Aschenbach versucht dem „Geheimnis“ der Stadt auf den Grund zu gehen und findet bald heraus, dass es sich um etwas Tödliches, das mit „Übel“ benannt wird, handelt, das sich langsam überall verbreitet. Aschenbach versucht insistierend die Identität des Übels zu erfahren, doch alle Leute sind zum Schweigen verpflichtet, er weis nur, dass es etwas Gefährliches ist.

Doch Aschenbach hält dieses Geheimnis und das um die Liebe zu Tadzio eng verbunden. Auch mit diesem tödlichen Wissen reist Aschenbach nicht ab, seine Liebe zu Tadzio ist zu stark, als dass er noch klar denken könnte. Der sonst so auf das Maß und auf die Form bedachte Künstler verwandelt sich in eine Person, deren: „Herz sich mit Genugtuung über das Abenteuer, in welches die Außenwelt geraten wollte, füllte.“ Bei Aschenbach verschmelzen das „schlimme Geheimnis der Stadt“ und sein eigenes Geheimnis, an dessen Bewahrung ihm soviel liegt, zusammen. Der Protagonist, der bislang versucht hatte, ein herbes, standhaftes und enthaltsames Leben zu führen, weicht von dieser Lebensführung innerlich ab, indem er jenem „Abenteuer der Außenwelt, das mit dem seines Herzens dunkel zusammenfloss“[42] seine ganze Aufmerksamkeit widmet und zugleich sich seine „Leidenschaft mit unbestimmten, gesetzlosen Hoffnungen nährt.“[43]

Der Niedergang der Figur Gustav von Aschenbach hört nicht auf, sondern geht weiter, als er dem Straßensänger begegnet, der das Unsaubere, Fratzenhafte, Gesetzlose, Anarchische, das auch Aschenbachs Liebe zu Tadzio innewohnt, symbolisch verkörpert.[44] Er ist ein weiterer Todesbote auf dem Leidensweg des Protagonisten. Der Schriftsteller fragt den Straßensänger nach dem „Übel“, der Buffo bricht bei seinem Abgang in Hohngelächter aus, welches sich auf Aschenbach und sein späteres Schicksal richtet: Das Hohngelächter der Todesfigur ist die furchtbarste Stelle in der ganzen Erzählung, das groteske Lachen im verseuchten Venedig, dieses völlige Hinabgleiten ins Zuchtlose, Widrige, grausam Komische.“[45]

Aschenbach hat nun aufgrund eines Gespräches im Reisebüro von der indischen Cholera, die über Venedig liegt, erfahren. Doch allen Geboten seiner Moral trotzend warnt er die polnische Familie und Tadzio nicht vor der tödlichen Gefahr, bewusst unterlässt er die letztmögliche „reinigende Handlung“[46]

Kurz vor dem Ende träumt der Künstler einen Traum, der einen wichtigen Wendepunkt in der Entwicklung des Hauptprotagonisten darstellt:

Aschenbachs Seele wird selbst zu dessen Schauplatz und etabliert sich damit eindeutig als der Ort des Unterbewusstseins. Die Traumszene selbst wird als eine ins Äußerste getriebene, kaum steigerbare Ekstase beschrieben, in der alle Grenzen der Zucht und der Maßvollen, des Anständigen, aber auch alles Individuellen durchbrochen und aufgehoben werden. Endgültig wird Tadzio als Teil der maßlosen und ungeformten Welt enttarnt. Der fremde Gott ist kein anderer als Dionysos persönlich, dessen Charakteristika, Rausch, Ekstase, Fremdartigkeit, Entgrenzung und Formensetzung anschaulich präsentiert werden. Ausweglos angelockt und vollkommen vereinnahmt, ergreifen die Eindrücke Besitz von Aschenbach, dessen Widerstandskraft nach und nach versiegt. Er fühlt: „ […] [er war nun] dem fremden Gotte gehörig.“[47] Aschenbach ist nach dem Traum vollends dem Untergang verschrieben, endgültig ist sein Streben nach Disziplin und Ordnung gebrochen, gesellschaftliche Konventionen interessieren ihn nicht mehr und „er scheute nicht mehr die beobachtenden Blicke der Menschen.“[48] [49] Er ist nun ganz dem Gott Dionysos unterworfen.

Aschenbach hat als Künstler immer versucht die Ebene „im Geist leben“ zu erreichen, doch er hat es nie wirklich geschafft, er bleibt Opfer der Äußerlichkeiten. Es wirkt lächerlich, als der alte, verliebte Schriftsteller sich in die Hände eines Friseurs begibt, um sich einer Verjüngung zu unterziehen. Doch gerade dieser Versuch wird zum Symbol für die unüberwindbare Grenze zwischen äußerem Anschein und Wirklichkeit. Dieses Experiment steht im direkten Kontrast zu der Beurteilung des „falschen Jüngling“ am Anfang der Novelle auf dem Schiff. Er versucht durch die Veränderung seines Äußeren sich zu verjüngen, doch genau wie der greise Geck betrügt er sich und die anderen, ohne zu bemerken, wie durchschaubar und lächerlich seine Tarnung in Wirklichkeit ist. Seine Würde verfällt, nicht nur für die Außenstehenden, sondern auch aus der Sicht seiner eigenen, früheren Kriterien. Die Schminke ist die Maske des neuen Gottes Dionysos, der nun ganz in Aschenbach hervor gebrochen ist.

Während der Verfolgung Tadzios, durch dessen Gesten Aschenbach seine Gefühle erwidert sieht, stillt der Künstler seinen Durst mit überreifen, infizierten Erdbeeren und rekapituliert die Möglichkeiten des Künstlertums vor dem Hintergrund seiner eigenen Entwicklung.

Das Wetter wird immer schlechter, Aschenbach, der schon früher sehr anfällig auf solche Klimawechsel reagierte, beginnt langsam unter seiner Schminke zu fiebern, damit ist auch sein körperlicher Verfall eingeleitet.

Was ist jedoch aus dem Vorbild Aschenbach geworden?

Ein einem Knaben verfallener, höriger Mensch, der durch Venedig zigeunert, selbst ein zutiefst Elender, entwürdigt, nahe dem inneren und äußeren Abgrund. Es ist ein Aschenbach, der als ‚Hochgestiegener‛ tief gefallen ist und dem es wohl an jener Ironie zu sich selbst gemangelt hat, deren auch seine literarischen Werke entbehrten.[50]

An der Zisterne hält Aschenbach einen Monolog, der eigentlich einen Dialog zwischen Phaidros und Sokrates ist. Hier versteht er, dass der von ihm für möglich gehaltene Weg des Künstlers zum Geiste über die Schönheit nicht gehbar ist. Nachdem Aschenbach dann die „auflösende Erkenntnis“ verwirft, weil sie notwendigerweise zum Abgrund führt, ja sogar der Abgrund sei, verwirft er auch die Schönheit, denn „Form und Unbefangenheit führen zum Rausch und zur Begierde, führen den Edlen vielleicht zu grauenhaftem Gefühlsfrevel […].“[51]

Von Schwindelanfällen, die seinen Tod einleiten, heimgesucht, bemüht sich Aschenbach den regelmäßigen Rhythmus seiner Urlaubstage aufrecht zu erhalten, bis er schließlich von der bevorstehenden Abreise der polnischen Familie erfährt: „ […] [mit] einem Gefühl der Ausweg- und Aussichtslosigkeit, von dem nicht klar wurde, ob es sich auf die äußere Welt oder auf seine eigene Existenz bezog“[52] Ein Leben ohne Tadzio bzw. sein altes Leben sind aussichtslos, er will nicht zurückkehren.

Ein letztes Mal beobachtet der verliebte Künstler den geliebten Tadzio beim Spielen am Meer, es führt zum Fall des Schönen bei einem Ringkampf mit einem Spielkameraden, dann sinkt Aschenbachs Haupt auf seine Brust nieder, seine Augen sehen nach unten, aber vor seinem inneren Blick sieht er, als „ob der bleiche und liebliche Psychogog dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvolle-Ungeheure“[53] Aschenbach will dem Hinweis des Jungen folgen und sinkt in seinem Stuhl zusammen. Mit diesem inneren Gesicht, mit dieser im Konjunktiv formulierten Vision stirbt Aschenbach. Letztendlich konnte er sich nur erträumen, was er sein Leben lang wünschte.

Es ist kein Zufall, dass Aschenbach am Meer stirbt, er fühlt sich mit dem Meer verbunden, auch Tadzio, der sich am Ende als endgültiger Seelengeleiter des Künstlers erweist, hat einen großen Bezug zum Meer, er wird oft spielend am Wasser beschrieben, auch hat er oft einen Matrosenanzug an. Durch diesen wird Tadzios Zugehörigkeit zur Welt des Ungegliederten und Entgrenzenden, also dem Dionysischen ausgedrückt.

Die Außenwelt selber wusste nichts von alldem, was der ehrenwerte Künstler durchgemacht hatte, sie bekamen von seiner Verwandlung, seiner Demaskierung nichts mit, die Welt ist respektvoll erschüttert von dem Tod des Künstler „Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode.“[54]

3. Fazit

Die Entwicklung des renommierten Künstlers Gustav von Aschenbach, der bedacht auf Maß und Form war, zu dem Gustav Aschenbach, der sich dem Rausch und dem Chaos, also letztlich dem Tod, hingibt ist faszinierend und erschreckend zugleich. Thomas Mann beschreibt den Fall eines Künstlers, der auf der Suche nach dem Vollkommenen, den Tod findet. Beim anfänglichen Lesen erscheint das Buch langweilig und ohne Spannung, doch als ich mich besonders mit der Hauptperson beschäftigt habe, änderte sich meine Wahrnehmung, das Buch wurde interessant durch die vielen Facetten des Gustav von Aschenbach, der sich in der Novelle um 180°C dreht und ein völlig anderes Gesicht annimmt.

Auch beschreibt Thomas Mann durch die vielen Antonomasien, wie der Wartende, der Erfolgreiche, der Berückte, der Einsame, sehr gut die Gemütszustände des Aschenbachs.

Der Autor selbst interpretiert Aschenbach als eine Gestalt der literarischen Décadence und seine Entwicklung spiegelt die zeitgenössische Entwicklung wider, insofern Aschenbach den bürgerlichen Rahmen verlasse und sich dem Rausch hingebe.[55]

Literaturverzeichnis:

1. Mann, Thomas: Der Tod in Venedig. 16. Auflage. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1992.
2. Große, Wilhelm: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Königs Erläuterungen und Materialien. 2. Auflage. Hollfeld: C. Bange Verlag 2002
3. Zimmer, Thorsten: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Interpretationshilfe Deutsch. Freising: Stark Verlag 2001
4. Vaget, Hans Rudolf: Thomas Mann. Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München: Winkler Verlag
5. Bahr, Erhard: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Phillip Reclam jun. 1991

[...]


[1] Mann, Thomas: Der Tod in Venedig. Frankfurt a. M.: Fischerverlag 1992. S. 20f

[2] Vaget, Hans Rudolf: Thomas Mann Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München: Winkler Verlag S.171

[3] Zit. nach Bahr, Erhard: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Phillip Reclam jun. 1991, S. 7

[4] vgl. Königs Erläuterungen und Materialien Band 47. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Hollfeld: C. Bange Verlag 2002. S. 42

[5] vgl. Zimmer, Thorsten: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Freising: Stark Verlag 2001. S. 34

[6] vgl. Mann, Thomas. Tod in Venedig. S. 29

[7] zit. nach ebd. S. 30

[8] vgl. ebd. S. 19

[9] zit. nach ebd. S. 9

[10] vgl. ebd. S. 9

[11] vgl. ebd. S.9

[12] zit. nach Königs Erläuterungen und Materialien. Thomas Mann. Der Tod in Venedig S. 70

[13] vgl. Mann, Thomas. Der Tod in Venedig. S.9

[14] abgeleitet von Apollo, Gott der Erkenntnis und der Klarheit. Vgl. Königs Erläuterungen. S.38

[15] ebd. S. 39

[16] abgeleitet von Dionysos, Gott des Rausches und des Chaos. Vgl. ebd. S. 72

[17] vgl. Mann, Thomas. Der Tod in Venedig. S. 9

[18] Hermes: Seelenführer, Schlaf- und Traumgott, Begleiter der Toten in die Unterwelt

[19] vgl. Königs Erläuterungen und Materialien. Thomas Mann. Der Tod in Venedig S. 72

[20] zit. nach. Mann, Thomas. Der Tod in Venedig. S. 14

[21] vgl. Königs Erläuterungen und Materialien. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. S. 73

[22] zit. nach. Mann, Thomas. Der Tod in Venedig. S. 31

[23] vgl. ebd. S. 34

[24] zit. nach ebd. S. 34

[25] vgl. ebd. S. 34

[26] zit. nach ebd. S. 35

[27] zit. nach ebd. S. 36

[28] zit. nach ebd. S. 36

[29] zit. nach ebd. S. 41

[30] zit. nach ebd. S. 45

[31] zit. nach ebd. S. 45

[32] zit. nach ebd. S. 49

[33] zit. nach ebd. S. 50

[34] vgl. Königs Erläuterungen und Materialien. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. S. 85

[35] vgl. Zimmer, Thorsten: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Interpretationshilfe Deutsch. S. 38

[36] zit. nach Mann, Thomas. Der Tod in Venedig

[37] zit. nach ebd. S. 71

[38] zit. nach ebd. S. 77

[39] zit. nach ebd. S. 77

[40] zit. nach ebd. S. 104

[41] zit. nach ebd. S. 105

[42] vgl. Königs Erläuterungen und Materialien. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. S. 95

[43] vgl. ebd. S.94

[44] vgl. ebd. S. 94

[45] von Wiese, Benno: der Tod in Venedig. In: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Düsseldorf 1956. S. 304

[46] vgl. Zimmer, Thorsten: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Interpretationshilfe Deutsch. S. 70

[47] zit. nach Mann, Thomas. Der Tod in Venedig S. 127

[48] zit. nach ebd. S. 127

[49] vgl. Zimmer, Thorsten: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Interpretationshilfe Deutsch. S. 72

[50] zit. nach Königs Erläuterungen und Materialien. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. S. 98

[51] vgl. ebd. S. 99

[52] zit. nach Mann, Thomas. Der Tod in Venedig S. 136

[53] zit. nach ebd. S. 139

[54] zit. nach ebd. S. 139

[55] vgl. Königs Erläuterungen und Materialien. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. S. 66

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Titre
Mann, Thomas - Der Tod in Venedig - Darstellung und Entwicklung der Person Gustav von Aschenbach in der Novelle
Note
12 Punkte
Auteur
Année
2004
Pages
14
N° de catalogue
V108933
ISBN (ebook)
9783640071234
Taille d'un fichier
445 KB
Langue
allemand
Mots clés
Mann, Thomas, Venedig, Darstellung, Entwicklung, Person, Gustav, Aschenbach, Novelle
Citation du texte
Elin Roese (Auteur), 2004, Mann, Thomas - Der Tod in Venedig - Darstellung und Entwicklung der Person Gustav von Aschenbach in der Novelle, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108933

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