Wohmann, Gabriele - Analyse des Ländlichen Lebens


Presentation / Essay (Pre-University), 2004

6 Pages


Excerpt


Wohmann, Gabriele - Analyse des Ländlichen Lebens

Henning Kober

In der Kurzgeschichte „Ländliches Fest“ von Gabriele Wohmann aus dem Jahr 1979 wird eine halbstündige Bahnfahrt von Vater und Kind erzählt. Der Weg führt beide von Gratte nach Laurich. Dort soll das Kind ein Internat besuchen und die Erwartungen des Vaters er­füllen.

Die Wortwahl lässt auf eine Geschichte schließen, die in einer Zeit bis 1970 spielen kann. Eine geringe Präsenz von moderner Begrifflichkeit und altertümliche Benennungen (Bezug auf die Worte: Krämer, Delta) prägt diese Geschichte. Technische Alltäglichkeiten sind kaum vorhanden (Beispiel: Autos). In der Konversation wird eine starke komplementäre Beziehung deutlich. Der Vater nimmt seinem Kind jegliche Gestaltungsmöglichkeit des Gesprächs und lässt kein symmetrisches Verhältnis zu. Als Folge dessen, ist sein Kind in einer inferioren Posi­tion und wird von Unbehagen und Trübsal beeinflusst.

Beide Personen verlassen das heimatliche Dorf Gratte um nach Laurich zu fahren. Dort soll das Kind ein Internat besuchen. Die verlassene Heimat Gratte wird sehr proletarisch darge­stellt. Dieses Dorf scheint eine sehr praktische Umgebung zu sein. Es wird keinerlei Prunk oder Sehenswertes beschrieben. Man kann annehmen, dass dieses Dorf von einer spießigen arbeitsamen Gesellschaft bewohnt wird.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass dieses Dorf durch seinen Namen einen ge­heimnisvollen und stützenden Charakter erhalten kann. Leitet man das Wort Gratte aus der Zeit der Gotik ab, erkennt man einen gebauten oder gehauenen Bogen der als Stütze einer Decke dient. Als Kurzform kann auch ein so genannter Grat herhalten. Dieser wird als Kammlinie oder scharfer Rand der beim Gießen oder Stanzen eines Werkstücks entsteht be­zeichnet.

Dieses Dorf wird unter dem Einfluss dieser Deutung zu einer tragenden Einheit. Sie hat in der Vergangenheit den Charakter der Familie bewirkt. So kann auch die Tatsache der „Zweisam­keit“ und das auseinanderdriften der Familie mit dem „Internatsaufenthalt“ erklärt werden. Der Grat als scharfer Rand kann als Symbol für die nicht vorhandene oder anstehende Prä­gung des Kindes stehen. Ad rem: Ein Kind geht in ein Internat, verlässt die familiäre Umge­bung und erhält eine identitätschaffende Prägung.

Die anfängliche Kommunikation wird dadurch als gestört enttarnt, dass der Vater eine kontrollierende Position ausübt und seine superiore Position ausschöpft. Er diktiert dem Kind eine Realität. Damit verstärkt er das Unbehagen seines Kindes. Sein Kind erlebt diese Situation ähnlich wie die Wetterverhältnisse. Es ist kalt und winterlich. In dem Gespräch findet es schon keinen Halt, nun rutscht es stetig ab und findet auch mit den Händen keinen Halt (Bezug auf Zeile glatte Wolle seiner Handschuhe…). Ein interessanter Aspekt sind die Redewendungen des Vaters. Er bietet im verbalen Bereich keinerlei Bezugspunkt. Wenn man seine Sprache wirken lässt fällt eine Versachlichung des Kindes auf. Als Argument führe ich hier die Tatsache an, dass das Kind als Kind und nicht als Junge, Mann oder gar namentlich angesprochen wird.

In dieser Art der Ansprache schwingt ein hohes Maß an Alltäglichkeit und Abstand mit. Beide wollen diesen Abstand überwinden, verfehlen aber jede Möglichkeit dazu.

Die Zeile … bringt einen Koffer ins Spiel. Dieser Koffer ist als Symbol für die Trennung einzuordnen. Er stellt für einen kurzen Augenblick dar, wie belanglos sämtliche Umwelteinflüsse und Gespräche in diesem Moment sind. Der Koffer wird zu einem Reizpunkt für das Kind. Es spürt ihn an seinem Knie. Eine derartige Belanglosigkeit kann nur dann erwähnenswert sein, wenn sich damit ein Gefühl oder eine Ablenkung verbindet.

In der Zeile … wird das Heimatdorf Gratte sehr unsympathisch beschrieben. Sie fahren „durch eine Straße mit eckigen unfrisierten Gärtchen, und Gratte sah nur noch wie ein dicker dunkler Pickel aus“. Durch diese methaporische Beschreibung wird das Dorf unfreundlich und verlassenswert. Beinahe unangenehm. Es rückt in den Hintergrund. Im Gegensatz dazu wirkt zunächst die neue Heimat. Der Wald von Laurich wirkt zunächst erfrischend und wird vom Vater angepriesen. Er preist den Wald als tolles Spielgebiet und als außerordentliches interessantes Abenteuergebiet an. Unterdessen empfindet das Kind den Vater als Belastung. Seine übertriebene Anpreisung sorgt für Unbehagen. Die kalten Bäume und ein alltägliches, reizloses Bild eines Mädchens dass sich die Fingernägel reinigt könnten auch in der verlassenen Heimat stehen. Die örtliche Veränderung ist offensichtlich unnötig. Zumindest dann wenn man den Erlebniswert des Ortes auswertet. Für das Kind ist dieser Wald, diese Gegend sehr kalt, unsympathisch und ähnlich abweisend wie Gratte.

Da das Kind sich phlegmatisch verhält und das Gespräch wenig vorankommt, nutzt der Vater die Möglichkeit sich über einen Rad fahrenden Jungen zu ereifern. Er breitet vor seinem Kind die Möglichkeiten von starken Jungen aus. Es wird in dieser Phase der Versuch unternommen, dass Kind an Erwartungen zu binden, ein Idealbild als Vorbild zu erschaffen und einen emotionalen Kontakt zu dem fetten Jungen der auf dem Fahrrad sitzt und schwitzend fährt herzustellen. Dies schlägt ebenfalls fehl. Der dicke Junge erzeugt beim Kind nur Ekel und ein hohes Maß an Abneigung. Als Bezug dazu wird die eindeutige und kurze Beschreibung herangezogen, die Worte „fetter Junge, schwitzendes und bläuliches Gesicht, farblose Zunge“ sind der Eindruck den der Junge für das Kind verkörpert. Im Gegensatz dazu steht die Begeisterung des Vaters. Die Kommunikation der beiden ist weiter erheblich gestört.

Als Antwort des Kindes auf die Begeisterung des Vaters folgt erneut eine phlegmatische Antwort („Ich weiß nicht“). Nach dieser Antwort merkt dass Kind, dass es scheinbar eine geringe Macht über den Vater hat. Dieser bekommt glasige Augen und bestätigt damit die große Distanz. Das der Vater sich dieser kurzen Antwort und der unkooperativen Haltung des Kindes etwas annimmt wird durch sein folgendes Verhalten bestätigt. Er stärkt seine superiore Position in dem er die moralische Keule herausholt und an die nicht vorhandene Mutter erinnert. Mit diesem Ausspruch („…vergiss nicht die Liebe Deiner Mutter“) wird das Kind in eine defensive Haltung gedrängt. Es muss gegen einen Prozess ankämpfen der gegen eine vom Vater beanspruchte Größe stattfindet. Die Mutter wird als eine moralische Instanz eingesetzt und stützt den Vater. Es wird die Frage aufgeworfen, ob diese Mutter noch existent ist. Eine Mutter würde mit Sicherheit die Fahrt zu dem Internat begleiten. Fraglich ist, ob die Mutter verstorben oder auf anderem Wege weit entfernt wurde. Ein Hinweis darauf erschließt sich mir aus dem Text heraus nicht.

In den nächsten Zeilen vergleicht der Vater sein Kind mit dem dicken Jungen und appelliert an Kameradschaft und Konkurrenz. Die Enttäuschung des Kindes über dieses Verhalten des Vaters ist erkennbar und wird durch eine schlaffe Körperhaltung begleitet.

Im weiteren Verlauf der Kurzgeschichte wird das Reiseziel sichtbar. Es wird beschrieben, dass das Internat von der Abbildung in einem Prospekt abweicht. Erneut muss das Kind eine Enttäuschung ertragen und merkt, dass seine Vorstellung nicht unbedingt in der Realität vorhanden sein muss. Hier liegt eine Manipulation vor. Diese wurde durch die Glorifizierung des Vaters und einen qualitativ hochwertigen Prospekt gestützt.

Das der Vater sich erneut mit Schönfärberei beschäftigt wird in der Zeile „“ deutlich. Er glorifiziert die Umgebung und das mögliche Angebot der Umgebung. In diesen Zeilen wird von den sportlichen Werten gesprochen. Das Kind bekommt zum ersten Mal ein männliches Wesen zugedacht. Damit wird dem Leser bewusst, dass Gabriele Wohmann ein Kind für die Geschichte ausgewählt hat, dass schmächtig ist. Dessen geschlechtliche Zuordnung wird einmalig an dieser Stelle vorgenommen, das Kind dürfte sehr zart und unjugendlich sein. Es ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass ein einschneidendes Ereignis (Tod der Mutter) einen Entwicklungsrückstand unterstützt haben könnte. Dieser soll nun durch einen Internatsaufenthalt eingeholt werden.

So bekommt der Internatsaufenthalt eine stützende Funktion. Die gotische Gratte kann an dieser Stelle als Basis eingesetzt werden. Ich ziehe somit das Dorf Gratte als nie verschwindende Größe für das Fortkommen im Leben des Junges hinzu und nehme das Internat als Stück dieser Stütze.

Nach dem der Vater seinem Kind eine maskuline Veranlagung zugestanden hat, wird in den nächsten Zeilen beschrieben, wie ein Sportplatz auf das Kind wirkt. Der hohe Zaun, eine einheitlich schwarz wirkende Kindermasse und die planlose Bewegung der Kinder erzeugen eine dunkle Gefängnisatmosphäre.

Die Kinder spielen mit einem eiförmigen Ball. Dieser wird in der Phantasie des Kindes zu einem schwerfälligen, schwarzen Vogel. Dieser Vogel kann seine Schwerfälligkeit durch eine Veranlagung oder eine Krankheit erhalten haben. Der Ball erhält in dieser Phase eine besondere Bedeutung. Zum einen kann er als Unglücksbringer gedeutet werden. Raben oder Krähen wurden wegen ihres Aussehens und des Rufens lange als Unglücksboten gesehen. Von wenigen nordischen Völkern als Götterboten verehrt konnten sie aber auch als unheimlich betrachtet und werden in vielen Kindermärchen als unsympathische Todesvögel beschrieben. Eine hohe Lebenserwartung und ein hoher Erfahrungsschatz der Vögel besorgten ihnen einen unheimlichen Ruf, der bei Kindern Bewunderung und Abneigung auslösen kann. So kann das Kind in der Kurzgeschichte den empfundenen Gefängnishof mit einem Todesvogel ausschmücken oder den Götterboten nutzen. Dieser kann dem Kind einen Weg in die Realitätsflucht bieten.

Es kann mit dem Vogel vor dem flüchten und dem erzieherischem Einfluss des Vaters und der Umgebung entfliehen.

Die Zeile „“ bedeutet eine Chance zur Umkehrung der superioren Position. Als der Vater sein Kind berührt, verspürt dieses eine Gefühlswallung. Es möchte die Handschuhe ausziehen und dem Vater eine lange aufgestaute Zuneigung offenbaren. Das Kind schafft nicht den Sprung aus der emotionalen Zwickmühle und verbleibt in der Situation der gestörten Kommunikation und Gefühlswelt.

Während das Kind gedanklich weiter mit dem Ball spielt bleibt der Vater ebenfalls in seinem Gesprächsmuster. Seine moralische Wortwahl („ Behalte all das in Erinnerung", sagte der Vater. "All das Schöne und Liebe, das deine Mutter und ich dir zu geben versucht haben. Und wenn's mal trübe aussehen sollte, denk zum Beispiel an heut Nachmittag. Das war doch ein richtiger lustiger Ausflug. Denk immer an heut Nachmittag, hörst du? An alles, an die Wäffelchen, an Wicklers Schau, die Plattform, an den Jungen auf dem Fahrrad) erinnert an eine erzieherische Maßnahme (im Imperativ abgehalten!). Erst als das Kind Begreift, dass es bislang eine sehr beschränkte Sicht auf die Situation des Vaters hatte erkennt es die Schwachpunkte der „Vater-Kind-Beziehung“. Sofern man dem Kind unterstellt, dass es durch das Wort „es“ begriffen hat, das der Vater nur einen positiven Lebensweg für sein Kind möchte und es geprägt hat und weiter prägen möchte kann man ergänzen, das dass Kind seine inferiore Rolle als lernende Rolle wahrnimmt. Ob es sich zu einem Mann im Sinne der Vorstellung von Muskeln und Kraft entwickelt bleibt offen. Sofern es diesen Weg nicht nimmt bleibt es in seiner Unförmigkeit ein egozentrisches „es“. So bald eine Veränderung des Kindes stattfindet wird sich auch die Vater-Kind-Beziehung zu einer Vater-Sohn-Beziehung verändern.

Diese Kurzgeschichte ist weder im Mannschen Stil noch kafkaesk geschrieben. Sie folgt einem kurzen und schnörkellosen Erzählstrang. Dieser lässt zwar verschachtelte Sätze zu, hält diese aber in einem kleinen Rahmen der nicht ad infinitum ist.

Die Rhetorischen Fähigkeiten der Personen werden nicht konkret beschrieben. Es wird lediglich lesbar, dass die Gestik selten vorkommt und manchmal Gestenlos gesprochen wird.

Der Vater wird seine Rhetorik im Bereich der „Deckelung“ (Handflächen bestimmend nach unten) einsetzen, während das Kind aufnimmt und mit hängenden oder greifenden Händen Unsicherheit oder Verärgerung verarbeitet.

Eine Typzuordnung fällt mir in dieser Geschichte recht schwer. Weder der Vater noch sein Kind sind eindeutige kinästhetische, auditive oder gar visuelle Typen. Der Gesprächsfluss des Vaters wird durch mangelnde Gestik begleitet, erhält aber durch Augenbewegungen eine Möglichkeit zur Deutung. In den meisten Passagen wird er auf der (aus der Sicht des Betrachters!) linken Ebene agieren. D. h. er wird mit Augenbewegungen auf die linke Seite Bilder konstruieren (schönfärben!) und Gefühle konstruieren. Diese Augenbewegung macht seine Anstrengung deutlich, die er benötigt um seinem Sohn die Situation freundlich zu lügen.

In einer Situation wird er allerdings auf der rechten oberen visuellen Ebene eine Information abrufen. Sofern seine Aussage zur eigenen Schulzeit nicht gelogen war bewegt er sich hier in dem abrufenden Bereich. Zum Ende könnte ein innerer Dialog auf der unteren kinästhetischen Ebene erfolgen.

Unterdessen wirkt das Kind in einer starren Welt. Es wird wenig Rührung zeigen und nutzt nur in der Vogelpassage die die visuelle Ebene (oben rechts) um den Ball als Vogel aus dem Gedächtnis abzurufen.

Eine kulturelle Beeinflussung wird durch das europäische Bild eines „im Saft stehenden Mannes“ beschrieben. Muskeln, Sport, Familie, Kameradschaft und Konkurrenz werden zu einer Summe addiert die einen Mann streitbar und erfolgreich macht. Ein Kind wird zum Mann und steht mit beiden Beinen auf dem Boden. Es wird wehrhaft.

Excerpt out of 6 pages

Details

Title
Wohmann, Gabriele - Analyse des Ländlichen Lebens
College
Real Centro Universitario Maria Cristina
Author
Year
2004
Pages
6
Catalog Number
V109070
ISBN (eBook)
9783640072552
File size
339 KB
Language
German
Keywords
Wohmann, Gabriele, Analyse, Ländlichen, Lebens
Quote paper
Henning Kober (Author), 2004, Wohmann, Gabriele - Analyse des Ländlichen Lebens, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109070

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