Versuch einer historisch-soziologischen Analyse der 'Petits Poèmes en prose' von Charles Baudelaire


Trabajo de Seminario, 2004

15 Páginas, Calificación: 2,0


Extracto


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Die « Petits Poèmes en prose“ unter historisch-soziologischer Betrachtung
1. Literatursoziologie
2. Einführung in die „Petits Poèmes en prose“
3. Motive der « Petits Poèmes en prose »
3.1. Außenseitertum
3.2. Longueur/ ennui
3.3. Sozialkritik
4. Beispiele
4.1. À Arsène Houssaye
4.2. Chacun sa chimère (VI)
4.3. Perte d’auréole (XLVI)
4.4. Assommons les Pauvres (XLIX)

III. Fazit

Literatur

I. Einleitung

Kein anderes Jahrhundert als das neunzehnte war so geprägt von Umbrüchen, Revolutionen, Veränderungen ob sozial, politisch und ökonomisch oder philosophisch, künstlerisch und literarisch. Gerade Frankreich als einer der ältesten Nationalstaaten Europas erlebte in dieser Zeit mehr und tiefgreifendere Veränderungen als die meisten anderen Länder oder Gegenden. Und in der Mitte dieses Jahrhunderts des Wandels lebte Charles Baudelaire, dessen „Petits Poèmes en prose“ hier im Hinblick auf die Kriterien der historisch-soziologischen Literaturwissenschaft untersucht werden sollen.

Als in der Öffentlichkeit stehender Künstler war Baudelaire geradezu gezwungen, sich zu äußern, ob es nun um die Revolution von 1848, die neu entstandene Bourgeoisie oder bisher nie gesehene Dimensionen von Armut ging. Es dürfte schwerfallen, genau herauszuarbeiten, welche Inhalte Baudelaire mit Absicht gewählt hat, um auf bestimmte Probleme hinzuweisen, ob er so etwas direkt verändern wollte, und welche Themen er nur halb-bewusst, als unpolitisch wahrgenommene Alltagserscheinungen aufgegriffen hat. Man kann seine Werke aber als wechselseitig beeinflusst-beeinflussende Ergebnisse aus seinem Kontakt mit seinen Mitmenschen, mit der zeitgenössischen Gesellschaft, verstehen und dementsprechend analysieren. So kann man die Position Baudelaires in Literatur und Gesellschaft klarer darstellen, seine Auffassungen und seine Ideen weitergehend hervorheben und so seine Bedeutung jenseits des Begriffs der direkten, absoluten, von allem abgelösten Kunst –der kaum noch zu halten ist- ergründen.

Um dieses Ziel zu erreichen, wird diese Arbeit erst eine Konzeption der Literatursoziologie, die sich weitgehend an Köhler orientiert, darstellen, um anschließend das Werk diesen, und weiteren, aus der Soziologie stammenden, Prinzipien folgend analysieren und interpretieren zu können. Einer punktuellen Aufstellung der wichtigsten vorkommenden Typen und ihrer Bedeutung werden einige eingehendere Untersuchungen von ausgewählten petits poèmes aus dem Spleen de Paris folgen, die am Beispiel die Prinzipien des Ganzen deutlicher machen sollen.

Die meisten Werke, die sich mit dem historisch-soziologischen Ansatz beschäftigen sind politisch eindeutig zuzuordnen und betreiben nicht nur eine Analyse des jeweiligen Werkes, sondern gleich eine der ganzen Literatur und so auch eine der Gesellschaft in ihrer Historizität und Aktualität. So sind Köhler[1] und Oehler[2] dementsprechend leicht zu kritisieren, wenn man nur die Grundvoraussetzungen ändert.

II. Die « Petits Poèmes en prose“ unter historisch-soziologischer Betrachtung

1. Literatursoziologie

Dem erst im 20. Jahrhundert entstandenen Anspruch folgend, Literatur sei immer auch gesellschaftlich[3], hat sich eine –vor allem unter Köhler ausgearbeitete- Literatursoziologie mit starken historischen Einflüssen (die verständlich sind, wenn man bedenkt, dass ein Großteil der untersuchten Literatur aus anderen Epochen von Gesellschaft stammt) gebildet. Gerade Köhler selbst setzt klare Definitionen für diese neue Disziplin innerhalb der Literatur-wissenschaft: „Literatursoziologie grenzt sich ab von Soziologie der Literatur.“[4] So ist die Literatursoziologie ein Bestandteil der Literaturwissenschaft, innerhalb der sie agiert und die sie nicht von außerhalb –wie eben die Soziologie der Literatur- betrachten kann. Dem folgend sind ihre Erkenntnisse in erster Linie auf Literatur beschränkt und können nur sekundär für Geschichtswissenschaft oder historische Soziologie/Anthropologie gebraucht werden.

Köhlers Ansatz ist, den damals gängigen Tendenzen der Soziologie, gerade der Frankfurter Schule gemäß, ein dialektischer, der sich schon im Gegensatz und Widerspiel von Geschichte –die, ihrem Anspruch gemäß, ewig ist in Vergangenheit und Zukunft- und Gesellschaft –die immer nur akut sein kann und gerade deshalb so schwer festzustellen ist- zeigt. So stellt Köhler –in entsprechend marxistischer Terminologie- auch heraus, was die Literatur-wissenschaft, so sie denn soziologisch ist, will. Ihr Ziel ist eine Untersuchung der „Abhängigkeit der subtilsten Ausgestaltungen des künstlerischen Überbaus von der Basis“[5], die nur durch eine Einbindung in den gesellschaftlichen –und werklichen- „Gesamtprozeß“[6] geschehen kann. Also will Literatursoziologie –etwas weniger ideologisch ausgedrückt- die Abhängigkeit der (literarischen) Ausprägungen von der allgemeinen (gesellschaftlichen) Situation aufzeigen und so zu interpretieren versuchen, was sicher nur unter Beachtung der historischen Gegebenheiten gelingen kann.

Die Nähe gerade Köhlers zur Frankfurter Schule zeigt sich in den Versuchen einer weiter umfassenden Einbindung sowohl der Disziplin als solcher als auch der untersuchten Objekte: „Nicht alle Vermittlungsschichten des Überbaus müssen materiell im Werk vorhanden sein; oft genug sind sie es nur als bereits vermittelte, d.h. in einer anderen Schicht (etwa der psychologischen) aufgehobene.“[7] Diese Anklänge von Psychoanalyse und Tiefenpsychologie entsprechen genau dem von Herbert Marcuse, Erich Fromm und den Vorläufern –oder eher Konkurrenten- dieser Art von Literaturwissenschaft, Adorno und Benjamin, propagierten Ansätzen, Gesamtgesellschaft und Einzelpsyche miteinander zu verbinden, um so die Totalität –um noch mal auf Adorno zurückzukommen- greifbar machen zu können.

Und gerade hier ergibt sich ein gewichtiger Kritikpunkt an Köhlers Auffassung. Die übernommenen Konzepte von Psychoanalyse stammen meist von wenig anerkannten oder –auch schon zu dieser Zeit- widerlegten Theoretikern, wie etwas Freud selbst, die von psychologisch nur wenig vorgebildeten Experten anderer Bereiche oft kritiklos auf ihr jeweiliges Gebiet angewendet werden. Die daraus resultierenden kaum zu kontrollierenden –oder gar zu widerlegenden- Interpretationen verlaufen am Rande einer „objektiv“ zu nennenden Wissenschaft, können aber, aufgrund konkurrierender Theorien innerhalb der Psychologie –und der Unmöglichkeit der Erforschung der menschlichen Seele schlechthin- nicht inhaltlich kritisiert werden.

Bei den folgenden Analysen wird eine abgewandelte Literatursoziologie verwendet, die gesamtgesellschaftliche Dialektik nicht so prominent in den Vordergrund stellt und weitgehend auf Psychoanalyse verzichtet, um so eine werkbezogene und keine Gesellschaftskritik zu produzieren.

2. Einführung in die „Petits Poèmes en prose“

Die « Petits Poèmes en prose », oder auch « Spleen de Paris », sind eine Sammlung von „Petits Poèmes“[8], die Baudelaire, einer theoretischen Weiterentwicklung eines Gedichtprinzips, das wohl Aloysius Bertrand begründet hat, folgend, in den letzten Jahrzehnten seines Lebens geschrieben hat. Die gängige Ausgabe beruht auf einer Zusammenstellung verschiedener Petits Poèmes durch Arsène Houssaye, Baudelaires wichtigsten Herausgeber, 1869, zwei Jahre nach Baudelaires Tod. Baudelaire selbst konnte also keinen Einfluss auf die konkrete Anordnung der einzelnen Petits Poèmes nehmen.[9]

Baudelaire entstammte einer Familie, die dem vermögenden Großbürgertum zuzuordnen war, und lebte das Leben eines Bohème, eines Künstlers ohne feste Arbeit, ohne in „geordneten“ Verhältnissen, wie z.B. einer Ehe, der andauernden Zugehörigkeit zu einem Verein oder ähnlichem, auch nur einem dauerhaften Wohnsitz. Diese Lebensweise beeinflusste seine Sichtweise, seine Schreibweise in fundamentaler Weise.

Ein durchgehendes und bedeutsames Motiv im Gesamtwerk Baudelaires, wie auch in den „Petits Poèmes en prose“, ist die Darstellung sozialer Unterschiede, die sich meist auf die Unterscheidung zwischen „typischen“ Bürgern des 19. Jahrhunderts[10] und ebenso „typischen“ Armen im weitesten Sinne. Die Bürger, die vermögenden Menschen in den Texten Baudelaires, werden müßig, in ihrer Freizeit[11], als von materiellen Zwängen befreit gezeigt, während die Armen gerade an den materiellen Zwang ihre Anmut, ihre Schönheit, die für Baudelaire von besonderer Bedeutung ist, verlieren. So versteht Baudelaire den Reichtum als korrumpierend, als einschränkend und sieht Armut –auch offensichtliche Hässlichkeit- oft als Anzeichen der Schönheit.[12]

Baudelaire ist in seinem Schreiben ein Vorreiter der Aufklärung im Sinne Adornos, sein mythisches Denken ist ein Versuch, Überzeichungen, überkommene Wahrnehmungen aufzulösen. « J’aime profondément le mystère, parce que j’ai toujours l’espoir de le débrouiller. »[13], wie das lyrische Ich im Petit Poème « Mademoiselle Bistouri » bemerkt. Auch so kann man das allgemeine Denken dekonstruieren, auch so kann man Opposition sein, ohne dem gesellschaftlichen Postulat der Aufklärung und der Vernunft in ihrem Kern zu widersprechen.

3. Motive der « Petits Poèmes en prose »

3.1. Außenseitertum

Baudelaire etabliert seine Außenseiterrolle, die Weg zu seinem Denken ist, auch in den „Petits Poèmes en prose“ wesentlich, sie ist nicht nur in der jeweiligen Sozialstruktur, sondern auch in konkret sozialen Zusammenhängen erkennbar. So stehen viele seiner Charaktere außerhalb der Machtzusammenhänge, außerhalb von Gruppen, denen Bedeutung innewohnt.

Dieses Außenseitertum ist bei Baudelaire –und wohl auch für ihn- ein Schicksal, dem man nicht entkommen kann, das aber den Blick gerade auf allgemein nicht wahrgenommene Erscheinungen öffnen kann. In den „Vocations“ (XXXI) zeigt er die Entstehung dieses zum Teil auch freiwilligen Ausschlusses an Kindern, von denen eines einer dieser Unverstandenen zu sein scheint: „L’air peu intéressé des trois autres camarades me donna à penser que ce petit était déjà un incompris [sic].“[14] Das Kind ist, wie die anderen Außenseiter auch, in der Minderheit, es besteht kein zwingender Grund, ihm zuzuhören, diese –vielleicht neuen- Gedanken ernsthaft für sich selbst abzuwägen. So ist seine Rolle sein Schicksal, er wird nie Gehör unter dem Gebot der Vernunft finden, er kann nur mehr sich der Zeichenhaftigkeit der Sprache widmen und sich so von jedem vernunftbezogenen Diskurs loslösen.[15] Er kann sich so den Bildern widmen, die bei Baudelaire immer Träumerei sind.[16]

Das Außenseitertum ist so „angeboren“, schicksalhaft von Beginn an. Im ersten Text des behandelten Werkes, „L’Étranger“, wird eine Person, ein Fremder, vorgestellt, für den weder die gängigen Werte, noch soziale Kontakte im Mindesten relevant sind, und wohl auch nicht bestehen. Er sieht sich eher zu Wolken hingezogen, die als regelmäßiges Phänomen mit unregelmäßigen Ausprägungen eine Abwechslung in der Sicherheit bieten, den Beobachter aber zugleich nicht teilnehmen lassen können. So ist der „Fremde“ent -fremdet, sein sozialer Kontext verliert jede Bedeutung, die einzige Sicherheit, die ihm noch bleibt ist dieses alltägliche Naturschauspiel. Die Urbanisierung, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen entscheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung der Gesellschaft nehmen sollte, führt auch hier zu Entfremdung, zu Anomie und Neuorientierung[17]. Der Mensch sucht sich neue Werte und wenn es sie nur im Traum findet.

3.2. Longueur/ennui

Das übergreifende Motiv der longueur und der ennui ist auch Bestandteil des Außenseitertums, es geht durch alle Werke und alle Lebensphasen Baudelaires hindurch. So verwundert es, dass diese Motivbildung in den „Petits Poèmes en prose“, verglichen z.B. mit „Les Fleurs du Mal“, eher im Hintergrund steht und weitgehend mit der Natur und Naturwahrnehmungen verknüpft zu sein scheint. Im dritten Text („Le confiteor de l’artiste“) verliert sich die handelnde Person nur in der Natur, in „Le mauvais Vitier“ (IX) wird die longueur zur unheilbaren Krankheit, an der viele zugrunde gehen müssen, zu einer todbringenden Energielosigkeit. In „À une heure du matin“ (X) schlägt diese Stimmung zu einem Lob der Einsamkeit und einer fast aristokratischen Menschenfeindlichkeit, die sich wiederum auf das Außenseitertum zurückbeziehen lässt, um.

Man kann longueur als Abwehrreaktion auf die schleichende Totalisierung der kapitalistischen Lebens- und Gesellschaftsform sehen, die nur überleben kann, wenn sie sich ausdehnt[18]. Anstatt sich ein Teil dieser Maschinerie werden zu lassen, flieht der Bohème, der Außenseiter in sich selbst, begründet eine fremde Welt, entweder in der Natur oder in einer selbstbezogenen Aristokratie und opponiert so gegen die Gesellschaft als Ganzes.

3.3. Sozialkritik

Die Darstellung von Reichtum und Armut bei Baudelaire, gerade in den „Petits Poèmes en prose“, ist eine Sozialkritik von karikaturhafter Intensität und eindeutiger –geradezu selektiver- Parteinahme. Die vermögenden Bürger fliehen immerzu vor der Realität, die sich ihnen auf den Strassen der Stadt bietet, sie feiern Feste „grouillant de capidités et de désespoir“[19], wie die Stadtmenschen zu Zeiten der Pest, um Elend und Verzweiflung zu überdecken. Sie haben Ferien, um ihr Alltagsleben zu vergessen: « En ces jours-là il me semble que le peuple oublie tout, la douleur et le travail; ils devient pareil aux enfants. »[20] Und dort fliehen sie in Masken, um sich selbst zu entkommen, um die „perfekte“ Welt, ohne Sorgen, ohne Armut zu schaffen, zu mindest für diese Zeit.

Die Armut, die Hässlichkeit aber ist mit ihnen, ihr können sie nicht entfliehen, sie können sie bestenfalls überspielen. Sie beobachtet, neidet, verzweifelt: « Les trois visages étaient extraordinairement sérieux, et ces six yeux contemplaient fixement le café nouveau avec une admiration égale, mais nuancée diversement par l’âge.»[21] Sie kämpft um die mitleidsvollen Gesten der Bürger[22], auch untereinander. Sie wird zum Tier in ihren Bedürfnissen, die nur materiell sein können. Sie verzweifelt, schicksalhaft verdammt: « Il ne riait pas, le misérable! […] Sa destinée était faite. »[23] Und sie vereinsamt „condamnée, par une absolute solitude“[24]

Leid wird noch unendlich viel stärker, wenn man arm, wenn man verlassen ist. « Quelle est la veuve la plus triste et la plus attristante, celle qui traîne à sa main un bambin avec qui elle ne peut pas partager sa rêverie, ou celle qui est tout à fait seule ? »[25]. Noch weniger kann man so Zerstreuung erreichen, eine Erinnerung an das Glück.

In „Un Plaisant“ (IV) treibt Baudelaire diese Wahrnehmungen auf die Spitze, indem er einen Esel in einer Silvesterfeier durch einen angetrunkenen Bürger „ehren“ lässt, „qui me parut concentrer en lui tout l’esprit de la France.“[26]

So stärkt Baudelaire seine Sicht auf die Armen als fast schon bessere Menschen, indem er die Reichen als blasiert und sinnlos zeigt. Die französische Gesellschaft funktioniert nicht (mehr), Armut nimmt gewaltige, nie gekannte Dimensionen an und die aus dem Spätmittelalter oder der frühen Neuzeit übernommenen Strukturen, gerade innerhalb der Städte können damit nicht umgehen, zerbrechen darunter.

4. Beispiele

4.1. À Arsène Houssaye

Die „Einleitung“, die gar nicht als solche geschrieben wurde, sondern vielmehr als Brief an den Herausgeber, erhebt in sich schon den Anspruch für die Petits Poèmes, in Vergangenheit, Gesellschaft, Kultur eingebunden zu sein („il n’a ni queue ni tête, puisque tout [...] [il] est à la fois tête et queue.“[27] ). Der Autor ist sich des von ihm –sowohl als Künstler der avant-garde als auch durch seinen progressiven Sprachgebrauch- immanent erhobenen intellektuellen Anspruches bewusst und sieht sich weniger als Teil der Gesellschaft, eher als ihr Beobachter. So spricht er Leser, Herausgeber und nicht näher genannte „Freunde“ an, die sich allesamt wohl einem kleinen sozialkritisch-elitärem Kreis von Denkern und Künstlern zurechnen lassen.

C’est en feuilletant, pour la vingtième fois au plus, le fameux Gaspard de la Nuit, d’Aloysius

Bertrand […], que l’idée m’est venue de tenter quelque chose d’analogue et d’appliquer à la

description de la vie moderne, ou plutôt d’ une vie moderne et plus abstraite, le procédé qu’il

avait appliqué à la peinture de la vie ancienne, si étrangement pittoresque.[28]

In diesem Abschnitt definiert Baudelaire zum Einen seine Neukonzeption dieser Art der Dichtung, woher er sie übernommen hat, und was er damit vor hat, zum Anderen aber lässt sich aus diesem Programm eine Bewusstheit des „modernen“ Lebens und seiner Absurdität und Unkontrollierbarkeit („ou plutôt d’ une vie moderne“[29] ) die Kritik eher begünstigt als ausschließt erkennen, und so eine Bewusstheit der Veränderung.

Diese ungewollte Einleitung zeigt sehr deutlich, dass Baudelaire ein Bürger seiner Zeit war. Er sieht die Veränderungen klarer als viele, er versucht Neukonzeptionen der vergangenheits-orientierten Literatur, hier der Konzepte von Bertrand, und so einen Wandel seiner Kunst wie seiner Welt zu erreichen. Dennoch ist er sich seiner Machtlosigkeit bewusst. Er sieht, dass seine Macht auf Kunst sich stützt, eine Macht der Bilder ist, und so beschränkt sein muss.[30]

4.2. Chacun sa chimère (VI)

Politisch wird der Autor im sechsten Petite Poème, dass als eine direkte, wenn auch in ihrem Inhalt diffuse Kritik an seiner Gesellschaft verstanden werden kann. Er beschreibt Männer, die Chimären, mythische Wesen der Antike, auf ihren Rücken tragen, von denen sie kontrolliert werden, aber : « aucun de ces voyageurs n’avait l’air irrité contre la bête féroce suspendre à son cou et collée à son dos; on eût dit qu’il la considérait comme faisant partie de lui-même. »[31] Diese Männer sind auch keinesfalls verzweifelt über diese Fremdsteuerung, oder sind es vielmehr auf eine bestimmte Weise: „ils cheminaient avec la physionomie résignée de ceux qui sont condamnés à espérer toujours.“[32]

Letztlich werden diese Männer durch ihre Chimären ersetzt, sind nurmehr Puppen dieser fremden Mächte, ohne freien Willen, ohne Grund selbst zu handeln, anders als ihre Beherrscher es wollten. Den Beobachter dieser Szene, das lyrische Ich hingegen befällt „l’irrésistable Indifférence“[33], die ihn dazu bringt, seine Betrachtungen zu unterbrechen, aber ebenso jede Aktivität unterbindet.

Diese Episode ist eine allgemeine Kritik Baudelaires an Gesellschaft und Staat; die vollständige, nicht hinterfragte Macht unbekannter oder ungesehener Kräfte über die große Masse der Menschen (hier bemerkenswerterweise nur Männer) betrifft ihn in ihren Auswirkungen auf das kulturelle Leben direkt. So sind diese Versklavten nicht fähig, ihre eigene Lage, geschweige denn irgendetwas anderes -wie z.B. seine Texte- sinnvoll reflektieren zu können, sie werden vollständig von ihren fremden Mächten kontrolliert, und sind so nicht fähig auch nur den Willen zur Veränderung zu entwickeln. Dieses Motiv ist auch in der zeitgenössischen Soziologie seit der Phänomenologie von Schütz bekannt, die auch durch ihre Nachfolger die Auswirkung von Machtstrukturen auf das Alltagsweltwissen der Menschen zu untersuchen versucht, und inwieweit Normen und Sitten von einer moralischen Mehrheit kontrolliert werden können, die natürlich wiederum von ökonomischer und politischer Macht gesteuert werden können.[34]

4.3. Perte d’auréole (XLVI)

Dieses petite poème sticht durch seine -in dieser Zeit keinesfalls unübliche- Kritik der modernen Stadt und des städtischen Lebens hervor. Anhand der Fabel des verlorenen Heiligenscheines, den man durchaus als den Nimbus der Person interpretieren kann, stellt Baudelaire die Situation in den Städten seiner Zeit, hier vor allem Paris, dar.

Vor allem die Betriebsamkeit, die Hektik und Lautstärke sind für den Autor kennzeichnend an der Stadt: „vous connaissez ma terreur des chevaux et des voitures.“[35] Geschwindigkeit, ein neuer Rhythmus prägt nun das Leben, und in eben diesem Lärm verliert eine „Sie“ ihre Aureole und wagt es auch nicht, sie wieder anzulegen, als sie sie wiederfindet. Sie hat in gewisser Weise Angst, aufzufallen, den Verkehr zu stören, sich als nicht-dazugehörig zu zeigen und so sanktioniert werden zu können: „J’ai jugé moins désagréable de perdre mes insignes que de me faire rempre les os.“[36] So kann sie nun anonym sein, so gelten die alten Regeln nicht mehr wie früher für sie: „Je puis maitenant me promener incognito, faire des actions basses...“[37] Auch hier kann man die noch namenlose Anomie erkennen, die den Menschen gerade in der Stadt einen unkontrollierbaren Freiraum schafft, in dem sie zwar tun können, was sie wollen, ohne Strafe fürchten zu müssen, aber ebenso auch keine Normen mehr sehen, an denen sie sich orientieren könnten.[38] In dieser neuen Regellosigkeit suchen sich die Menschen einen neuen Fixpunkt, an dem sie sich orientieren können. An die Stelle der überkommenen Sozialstruktur des Dorfes mit ihren festgeschriebenen Regeln und Normen rückt hier die Institution, die Bürokratie als neue Form der Sinngebung und Anzeichen der Verdinglichung ehemals Heiligem. Das Ich meint zur Sie: « Vous devriez au moins faire afficher cette auréole, ou la faire réclamer par le commissaire. »[39], und setzt so neue Instanzen zur Rechtsprechung ein, den Kommissar an Stelle Gottes, der sicher früher für so einen Fall zuständig gewesen wäre. Alles Heilige verliert seinen Mythos in dem Zwecksystem der bürgerlichen Stadt, Rationalität und Rationalisierung ist der neue Sinn und die Vernunft die neue Sanktionsinstanz.[40]

4.4. Assommons les Pauvres (XLIX)

Das letzte hier exemplarisch untersuchte Petite Poème weist auf die Jugend Baudelaires zurück, genauer wohl die Jahre 1848/1849 und die damit verbundene Revolution, ebenso wie auf den „Salon 1846“ aus Baudelaires Frühphasen.[41] „1846 und 1865 „predigt“ Baudelaire Gewaltanwendung gegen die Armen. Beide Male ist er an der Gewalttätigkeit selbst beteiligt [...] Freiheit wird [...] nicht kampflos zugestanden.“[42]

Im Text liest das Ich Bücher « de ceux qui conseillent à tous les pauvres de se faire esclaves, et de ceux qui leur persuadent qu’ils sont des rois détrônes. »[43] Hier sind zwei Arten der Sozialphilosophie zu erkennen, die Baudelaire beide gleichermaßen ablehnt, die Philosophie der Anpassung und die der Veredelung. Schon im Text selbst wirft er solchen Werken den Versuch der Verdummung vor: „On ne trouvera pas surprenant que je fusse alors dans un état d’esprit avoisinent le vertige ou la stupidité.“[44]

Und, diese Bücher lesend, entsteht in ihm „le germe obscure d’une idée supérieure.“[45] „Sein revolutionäres Gegenmodell beruht auf der Überlegung, daß der Wille zur Veränderung der Verhältnisse nur unter dem Druck der Verhältnisse zu mobilisieren ist.“[46] So setzt er konkretes Handeln an die Stelle von Sozialrhetorik. Doch konkret ist das Handeln nur bedingt: „Mais ce n’était que l’idée d’une idée quelque chose d’infiniment vague.“[47] Diese Lücke kann psychologisch auch erklärt werden, „daß Baudelaire die Hoffnung nährt, der (satanische) Erlöser der versklavten Menschheit werden zu können, dafür sprechen bereits die Einleitungsgedichte der Fleurs du Mal [...], und auch der späte Baudelaire der letzten Prosagedichte kann diese Hoffnung nicht verleugnen.“[48]

Hier steht er gegen das bürgerliche Mitgefühl, dass auch bei Adorno eine Ausnahme sein muss und somit eine Akzeptanz des Gegebenen und für eine Selbstbestimmung der mitleidig Betrachteten. « Celui-là seul est l’égal d’un autre, qui le prouve, et celui-là seul est digne de la liberté, qui sait la conquérir. »[49] Somit konzipiert Baudelaire das Konstrukt der Gleichheit neu, die Prinzipien der französischen Revolution werden so selbstbestimmt. In gewisser Weise nähert er sich so dem aufgeklärten Nihilismus de Sades an.

Und so ist er auch hochmütig gegen die Mächtigen. „Ein aristokratischer Haß gegen die Könige und gegen die Bourgeoisie paart sich mit einer Vorliebe für alles Exzessive –in der Kunst.“[50] Dadurch wendet sich Baudelaire auch gegen den Idealismus, der direkte Handlungen verabscheut und zeigt sich als handelndes Mitglied seiner Gesellschaft, die er vorspielt, nur von außen sehen zu müssen, in der er aber weit aufgeht. Er denkt seiner Zeit entsprechend, auch wenn er ihr voraus sein mag.

Der Bettler wird dem Ich schließlich gleich, nachdem er sich gegen es aufgelehnt hat: „Monsieur, vous êtes mon égal!“[51]

III. Fazit

Baudelaire, sosehr er doch Vorreiter und Außenseiter war, war doch ein Kind seiner Zeit, ein Bürger seines Staates, ein Mitglied seiner Gesellschaft. Seine Kritik an Sozialstruktur, Politik und dem Wandel der wirtschaftlichen Ordnung ist scharfsichtig und unzeitgemäß, für eine umfassende Rekonstruktion der damaligen Welt –für Wissenschaftler und Laien jeder Disziplin- kaum zu überschätzen. Dennoch entstammen seine Gedanken wiederum anderen Vordenkern, die damals nicht so unüblich waren, wie man denken könnte. Sein Anarchismus, sein Nihilismus und so oft attestierter Satanismus sind nicht seine eigenen Entwicklungen, zumindest nicht ausschließlich, auch er hat Gedanken nach -gedacht, um auf seine eigenen zu kommen. Dass er sie dann umso klarer, künstlerischer und inspirierender dargestellt hat, steht hier außer Frage.

Diese Abhandlung –so knapp und lückenhaft sie auch ist und sein muss- hat versucht, vor allem die sozialen Aspekte im Schreiben Baudelaires, in den „Petits Poèmes en prose“, herauszustellen und an Wahrnehmungen gerade soziologischer Art zu überprüfen. Er schrieb zur Zeit des Hochkapitalismus und konnte so die bis dahin massivste Erschütterung des sozialen Systems miterleben, Phänomene wie Anomie, Massenarmut, Nationalismus waren aktuell und seine Beschreibungen gehören zu den ersten –und vielleicht zu den umfassensten, zumindest intensivsten. Auch so haben sie heute große Bedeutung.

Ob Baudelaire aus diesen Beobachtungen revolutionäre Schlussfolgerungen zog, liegt nahe, seine Biografie lässt solche Vermutungen zu, dennoch kann dieser Punkt bestritten werden. Er war politisch, doch auf eine Weise, die ihn zugleich zu Untätigkeit verdammte. Die Zeit der Hofdichter, der literarischen Vorbereiter, war fast zu Ende, im Westen war sie es schon lange, so waren seine Möglichkeiten fast nur ästhetische sein konnten. Seine Hände waren gefesselt, Sprache war zu sehr Instrument, um noch etwas verändern zu können. So veränderte er die Kunst, ging Wege, die so unbürgerlich waren wie er selbst, und beeinflusste die moderne Literatur ganz Europas.[52]

Die Analyse Baudelaires, nicht einmal die in dieser Abhandlung angedeutete Art, kann hier ihr Ende finden, sie wird weitergehen. Baudelaire, ob in seinen Prosatexten, seinen Gedichten oder Mischformen der beiden, weist noch unendlich viele Lesarten auf, die kaum zu denken sind, er ist wohl einer der reichhaltigsten Schreiber der Literatur, wenn es um Sinnzusammenhänge und Interpretationsmöglichkeiten geht. Auch so kann man verändern, indem man denken macht.

Literatur:

- Adorno, Theodor W., Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1969.
- Baudelaire, Charles: Petits Poèmes en prose, Pocket, ohne Ort 1995 und 1998.
- Baudelaire, Charles: Die Blumen des Bösen/Les Fleurs du Mal, dtv, München 1997.
- Berger, Peter und Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1980.
- Köhler, Erich: Vermittlungen. Romanistische Beiträge zu einer historisch- soziologischen Literaturwissenschaft, München 1976.
- Oehler, Dolf: Pariser Bilder I (1830-1848). Antibourgeoise Ästhetik bei Baudelaire, Daumier und Heine, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1979.

[...]


[1] Köhler, Erich: Vermittlungen. Romanistische Beiträge zu einer historisch-soziologischen Literaturwissenschaft, München 1976.

[2] Oehler, Dolf: Pariser Bilder I (1830-1848). Antibourgeoise Ästhetik bei Baudelaire, Daumier und Heine, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1979.

[3] vgl. Tucholsky, Benjamin, Adorno

[4] Köhler, S. 8.

[5] Köhler: ebd..

[6] Vgl. Köhler; Adorno nennt dies „Totalität“ (siehe u.a. „Dialektik der Aufklärung“).

[7] Köhler: S. 9.

[8] Die Übersetzung als „Kurzgedichte“ wird hier vermieden.

[9] Vgl. zu diesem Abschnitt: Baudelaire, Charles: Petits Poèmes en prose, Pocket, ohne Ort 1995 und 1998.

[10] Vgl. v.a. die Texte XLIII und XLIV der „Petits Poèmes en prose“.

[11] Wobei anzumerken ist, dass „Freizeit“ erst seit dem frühen 19. Jh., seit der Entwicklung der eigentlichen Bourgeoisie, als solche besteht, vgl. u.a. Max Weber.

[12] Siehe dazu: u.a. „À une Mendiante rousse“ aus „Les Fleurs du Mal“.

[13] Baudelaire, S. 131.

[14] Baudelaire, S. 106.

[15] Vgl. Adorno, Theodor W., Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1969.

[16] Dazu auch das folgende Kapitel 3.2. Longueur/ennui.

[17] siehe dazu: Merton, Durkheim.

[18] Siehe dazu Marx, Adorno, Herbert Marcuse.

[19] Baudelaire, S. 31.

[20] Baudelaire, S. 54.

[21] Baudelaire, S. 86.

[22] Siehe PPP XV Le Gâteau.

[23] Baudelaire, S. 55f.

[24] Baudelaire, S. 51.

[25] Baudelaire, S. 51.

[26] Baudelaire, S. 31.

[27] Baudelaire, S. 25; diese Textstelle kann auch anders interpretiert werden, hier wird aber diese Interpretationsweise bevorzugt.

[28] Baudelaire, S. 26.

[29] Ebd.

[30] Vgl. Adornos Konzepte der Sprachentwicklung, die eine Trennung von Bild und Wort ausmacht in der „Dialektik der Aufklärung“.

[31] Baudelaire, S. 35/36.

[32] Baudelaire, S. 36.

[33] Ebd.

[34] Siehe hierzu: Adorno; Berger, Peter und Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1980.

[35] Baudelaire, S. 130.

[36] Ebd.

[37] Ebd.

[38] Vgl. Durkheim, Merton.

[39] Baudelaire, S. 130.

[40] Siehe auch Adorno: „Dialektik der Aufklärung“.

[41] Nach Oehler, S. 155.

[42] Ebd., S. 156.

[43] Baudelaire, S. 137.

[44] Ebd.

[45] Ebd.

[46] Oehler, S. 157/158.

[47] Baudelaire, S. 137.

[48] Oehler, S. 159.

[49] Baudelaire, S. 138.

[50] Oehler, S. 164.

[51] Baudelaire, S. 139.

[52] Vgl. vor allem Stefan George.

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Detalles

Título
Versuch einer historisch-soziologischen Analyse der 'Petits Poèmes en prose' von Charles Baudelaire
Universidad
University of Trier
Curso
Einführung in die franz. Literaturwissenschaft
Calificación
2,0
Autor
Año
2004
Páginas
15
No. de catálogo
V109147
ISBN (Ebook)
9783640073306
Tamaño de fichero
371 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Versuch, Analyse, Petits, Poèmes, Charles, Baudelaire, Einführung, Literaturwissenschaft
Citar trabajo
Philipp Altmann (Autor), 2004, Versuch einer historisch-soziologischen Analyse der 'Petits Poèmes en prose' von Charles Baudelaire, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109147

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