Die Jugoslawische Volksarmee und der Zerfall der SFRJ


Term Paper (Advanced seminar), 2004

25 Pages, Grade: 1,7


Excerpt


Inhalt

1. Einleitung

2. Die Jugoslawischen Volksarmee bis 1990
2.1 Entstehung und historische Hypothek
2.2 Ideologische und strukturelle Grundlagen der militärischen Macht
2.3 Ethnische Zusammensetzung der Armee bis 1991
2.4 Das System der Volks- und Territorialverteidigung
2.5 Der Militärisch-industrielle Komplex

3. Die JNA während des Konfliktes
3.1 Vom System zum Territorialkonflikt
3.2 Der Systemkonflikt und die JNA
3.3 Der Territorialkonflikt und die JNA

4. Zusammenfassung und Diskussion

Literatur

1. Einleitung

Krieg in Europa? Fast ungläubig wurde diese Frage Anfang der 90er Jahre von vielen Menschen gestellt. Ein vermeintlich bezwungenes Phänomen tauchte wieder in Europa auf. Jugoslawien und der Balkan, viele konnten diese Region noch mit erfolgreichen Kinoproduktionen oder einem guten Restaurant in Verbindung bringen. Doch von der Schlacht auf dem Amselfeld, der Präsenz Österreich-Ungarns auf dem Balkan oder dem Partisanenkampf Titos gegen die von den Nazis unterstützten Ustascha-Kämpfer war wenig in der gesellschaftlichen Erinnerung geblieben.

Viele kannten Jugoslawen aus ihren Heimatstädten, als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, die hier gemeinsam ihre Feiertage begingen und in Kulturvereinen organisiert waren. So wurden sie auch wahr genommen – als Jugoslawen. Umso überraschter waren die Menschen als es keine Jugoslawen mehr gab, stattdessen Serben, Kroaten, Slowenen, Mazedonier und Bosnier. Bosnien? Wo liegt denn Bosnien, werden sich viele gefragt haben. Auch das jugoslawische Lieblingsrestaurant war trotz kaum einer Veränderung auf einmal ein kroatisches. Und dann fangen „die da unten“ auch noch an, sich gegenseitig aus den Häusern zu jagen. Für viele war das nicht nachvollziehbar. Leider kann man rückblickend urteilen, reagierten auch viele Politiker ähnlich hilflos auf die aufkommende Krise.

In dem Seminar „Staat und internationales System“, geleitet von Herrn Dr. Schlichte im WS 2003/2004 an der Humboldt-Universität zu Berlin, wurde der Staatszerfall am Beispiel Jugoslawiens in einer Sitzung behandelt. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Rolle der Jugoslawischen Volksarmee in diesem Prozess. Insbesondere wird der Zeitraum bis 1991 betrachtet. Im Mittelpunkt stehen die strukturellen und ideologischen Grundlagen des jugoslawischen Militärs am Anfang des Konfliktes und deren Einfluss auf die spätere Entwicklung in der Armee. Geht man von dem vielzitierten Satz aus, dass die Armee das hervorgehobenste Symbol von Autorität und Kraft, als ein Teil des Apparates des legitimen Staates ist, so stellt sich zwangsläufig die Frage, wie sie auf innenpolitische Entwicklungen reagiert, die diese Legitimität in Frage stellen. Welche Handlungsoptionen hatte die JNA (Jugoslovenska Narodna Armija), die sich aus allen Bevölkerungsgruppen zusammensetzte, um auf die sezessionistischen Tendenzen in den Teilrepubliken zu reagieren? Welche wurden gewählt und warum?

Die zu dieser Hausarbeit verwendete Literatur stützt sich zum einen auf Veröffentlichungen die einen Überblick auf das gesamtgesellschaftliche Ausmaß der Balkankrise geben, wie von S. Woodward (Balkan Tragedy), C. Samary (Die Zerstörung Jugoslawiens) oder auch von K. Dominik (Dezentralisierung von Staatszerfall der SFR Jugoslawien). Die Autoren beziehen sich dabei auf eigene Forschungen, wobei die Rolle der Armee zum Teil nur peripher betrachtet wird. Nähere Informationen zum jugoslawischen Militär enthalten die Forschungsberichte von Miroslav Hadzic und Ozren Zunec/Tarik Kulenovic, sowie Beiträge in der Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens - „Osteuropa“. Hier finden sich über den Zeitraum von 1991–1996 Artikel und Interviews von Beteiligten sowie auch von „jugoslawischen“ Sozial- und Politikwissenschaftlern. Sie geben Auskunft zu den ideologischen Grundlagen der militärischen Macht in der SFRJ und den Zerfallsprozessen der JNA während des Konfliktes. Auch konnten bei der Internetrecherche das Thema behandelnde Aufsätze hinzugezogen werden, wie zum Beispiel von Dr. Mile Bjelajac, der die ethnische Zusammensetzung der JNA und die Folgen beschreibt.

Ein Kritikpunkt ist die Aktualität der Literatur. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, fehlen zu diesem Thema Veröffentlichungen aus dem Zeitraum der letzten vier Jahre.

Bei der näheren Betrachtung des Untersuchungsgegenstandes wird ersichtlich, wie vielschichtig die Gründe für den Zerfall der SFR Jugoslawien und des späteren Krieges waren. Zur Rolle der Armee stellt sich die Frage, wann die Führung der Armee von ihrem eigentlichen Auftrag, die territoriale Integrität der SFRJ zu verteidigen abgekommen ist?

Wie in dieser Arbeit gezeigt werden soll, ist die Entwicklung der Jugoslawischen Volksarmee durch folgende Faktoren bestimmt worden.

1. Das Handeln der militärischen Führung war geleitet von Besitzstandsdenken.
2. Die ideologischen und strukturelle Grundlagen der JNA verhinderten andere Handlungsoptionen.

Im Kapitel Eins wird erläutert, wie tief das Militär in der Gesellschaft verankert war. Die Angehörigen der jugoslawischen Armee hatten viele Privilegien, die sie zu bewahren versuchten. Die ideologische Ausrichtung auf den jugoslawischen föderativen Kommunismus verhinderte nach dem Zusammenbruch des Ostblocks eine schnelle Umorientierung, mit der sie der neuen Situation hätte begegnen können.

Um sich den in dieser Seminararbeit gestellten Fragen zu nähern, wird zunächst die Ausgangssituation von 1990 beschrieben. Ohne die Einbeziehung der ideologischen und strukturellen Grundlagen können viele Aspekte nicht erklärt und bewertet werden. Zu diesem Kapitel finden sich in der Forschung zahlreiche Publikationen aus verschiedenen Fachrichtungen. Vornehmlich die der Sozial- und Politikwissenschaften sollen hier ihren Eingang finden. Die Ergebnisse werden zusammenhängend dargestellt und kritisch bewertet.

Darauf aufbauend wird sich der Zweite Teil mit der Reaktion der Streitkräfte auf den Systemkonflikt seit 1990 befassen. Hier wird beschrieben, aus welchen institutionellen Zusammenhang die politischen Akteure aufgetreten sind, die den Verlauf der Entwicklung maßgeblich prägten und aufgrund von Machtinteressen die innerjugoslawischen Spannungen verstärkten. Der daraus hervortretende Territorialkonflikt führte schließlich zum Zerfall der SFRJ.

2. Die Jugoslawischen Volksarmee bis 1990

Der JNA wird in vielen Veröffentlichungen eine Mitschuld am Zerfall Jugoslawiens gegeben. Um diese Frage zu erörtern, ist es wichtig, die Entstehung und daraus resultierenden strukturellen und ideologischen Grundlagen zu klären, die das Bild des Militärs in Jugoslawien vor 1990 prägten.

2.1 Entstehung und historische Hypothek

Die Ursprünge der JNA, die bis 1951 „Volksbefreiungsarmee“ (PLA) hieß, liegen im Kampf der Partisanen Titos gegen die faschistische Okkupation während des Zweiten Weltkrieges. Die PLA wurde als bewaffneter Flügel des Widerstands gegründet und stand zunächst unter Führung der Kommunistischen Partei. Nach dem Ende des Krieges ging sie in eine reguläre Armee über, die weiterhin gekennzeichnet war durch die kommunistische Indoktrination der Armeeangehörigen sowie der gesamten Strukturen.

Die Gegner während des Zweiten Weltkrieges waren nicht nur die Angehörigen der Deutschen Wehrmacht, auch gegen die von den Deutschen unterstützen kroatischen Verbände der Ustascha und die monarchistischen Tschetniks wurde gekämpft.[1] So war der Kampf Titos nicht nur ein Kampf gegen ausländische Aggressoren, sondern auch ein innerjugoslawischer Konflikt. Nach dem siegreichen Ende des Krieges, führten die Partisanenkämpfer Racheaktionen gegen die Anhänger der Ustascha und die monarchistischen Tschetniks durch.[2]

Diese Zeit des Bruderkrieges wurde in der Nachkriegszeit nicht thematisiert. Die Traumata wurden von den Kommunisten durch eine Neudefinition der sachlichen und historischen Umstände zu unvermeidbaren einerseits, andererseits aber nebensächlichen Begleiterscheinungen des antifaschistischen Krieges.[3] Der Teilung der Völker während jener Zeit, versuchte man durch die Aufteilung der Kriegsbeteiligten in Befreiungskämpfer und Kriegsverbrecher nach der Devise „alle sind schuldig“ zu begegnen. Doch wurde dadurch nur scheinbar die nationale Kluft überwunden und der Weg frei gemacht für ideologische Brüderlichkeit und Einigkeit. Anstatt einer „Entnazifizierung“ wie sie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg versucht wurde, verlangte man in Jugoslawien von allen Beteiligten allseitige Vergebung. So gelang es zwar der Kommunistischen Partei, alle gesellschaftlichen Kräfte in den „sozialistischen Aufbau“ einzubeziehen, doch ging dies auf Kosten einer intensiven Aufbereitung der gemeinsamen Geschichte. Dabei leistete die Armee einen direkten Beitrag, indem sie in Zusammenarbeit mit anderen staatlichen Institutionen (Bildung, Information, Kultur etc.), die „Massenproduktion“ sozialistischen Bewusstseins betrieb. Das Wissen um historische Ereignisse wurde durch parteigemäße Versionen ersetzt.[4]

2.2 Ideologische und strukturelle Grundlagen der militärischen Macht

Die Rolle der JNA war in der Verfassung ohne ideologische Hintergedanken bestimmt. Dazu steht in der Verfassung der SFRJ von 1974: „Die militärischen Streitkräfte schützen die Unabhängigkeit, Souveränität, territoriale Unversehrtheit und die durch diese Verfassung begründete Gesellschaftsform.“ (Art. 240, Abs. 1).[5]

Tatsächlich verfügte das Militär aber über eine Fülle von politischen Machtkompetenzen. Es funktionierte wie eine außerstaatliche Zusammenfassung des Einparteiensystems. Das ursprüngliche Monopol der nach außen gerichteten Landesverteidigung wurde insofern erweitert, dass die Armee als „Schöpferin der Revolution“ die inneren parteiideologischen Werte zu verteidigen hatte. Sie erhielt somit auch die Rolle des „Wächters“ über die sozialistische Lehre und deren Errungenschaften.[6]

Die gesamte Armee war mit einem Netz von Parteiorganisationen durchzogen, das Militär bekam eine parteiähnliche Struktur. Im Bund der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ bzw. SKJ) waren 1990 rund 96 Prozent der Offiziere Mitglied, sowie die Hälfte der zivilen Angestellten der Armee. Organisiert waren sie in der BdKJ – Sonderorganisation der Armee. Sie war als unabhängiger Faktor in die Arbeit der föderalen kommunistischen Organisation eingebunden und hatte dabei den selben Einfluss wie jede andere Parteiorganisation auf Republiksniveau. Neben den regulären sechs Republiken der SFRJ, hatte sie in der Gesellschaft den Charakter einer „siebten Republik“. Der Vorsitzende, ein aktiver General, war auch ständiges Mitglied des höchsten Parteiorgans, des Parteipräsidiums.[7]

Dem ersten Staatspräsidium (1980-1984) nach Titos Tod gehörten acht Mitglieder an. Dies waren ausschließlich Reservegeneräle sowie Offiziere. Nach der Verfassung hatte das Staatpräsidium unter anderem die Funktion des Oberbefehlshabers der Streitkräfte. Das die Volksarmee ein Grundpfeiler des Regimes war, zeigt der Einsatz zu Repressionszwecken. Im Jahr 1950 wurde sie gegen Bauern in der Cazinska Krajina eingesetzt, auch zerschlug sie Aufstände in den 1980er Jahren im Kosovo. Im Jahr 1991 intervenierte sie gegen protestierende Bürger in Belgrad.[8]

Viel wichtiger war aber die Bedeutung der verschiedenen Institutionen und Funktionen innerhalb der Armee, mit der die gesamte Gesellschaft überwacht werden konnte. Dazu zählten insbesondere der militärische Sicherheitsdienst sowie der Gegenaufklärungsdienst, der als politische Polizei nicht nur innerhalb der JNA wirkte.

Mit dieser Erweiterung, der durch die Verfassung definierten Aufgaben und Befugnisse der Armee durch regelnde Vorschriften, ging ein Verlust normativer Kontrollmöglichkeiten einher. Dadurch entstand die Möglichkeit des willkürlichen Handelns der hierarchischen Verhältnisse innerhalb des Militärs.[9]

Die intensive politische Arbeit des BdKJ in der Armee bewirkte eine Verquickung von beruflichen und Partei-Rollen der Dienstvorgesetzten. Ideologische Einstellungen erhielten mehr Bedeutung als professionelle. Die Partei als Zentrum des Systems, sicherte sich in allen Bereichen die führende ideologische Rolle. Sie bestimmte nach ihrem Parteiprogramm die militärische Ausbildung und Erziehung. Die moralisch-politische Orientierung („Moralno – politiĉko stanje“, MPS) galt als das Schlüsselelement der Kampfbereitschaft der Streitkräfte. Sie stützte sich auf den Gedanken der Brüderlichkeit, Einheit und Gleichheit der Völker in der SFRJ und der Führung des BdKJ. Die MPS sollte mit ihrer Reproduktion von allgemeingültigen Feindbildern und Verteidigungsnormen hohe Zustimmung innerhalb der Bevölkerung und bei den Armeeangehörigen herstellen.[10]

Die Verstrickung von militärischem Kommando und Funktionen in der Partei von diensthöheren Rängen erweiterte das Instrumentarium disziplinarischer Maßnahmen mit dem Ziel der Gleichschaltung aller Armeeangehörigen. In dem Programm der ideologisch-politischen Aufgaben des BdKJ in der JNA heißt es dazu: „ (die Armee-Partei) muss sich in bezug auf die Bewusstseinsförderung und die moralisch-politische Einheit, auf den Erhalt und die Vertiefung des revolutionären Klassenbewusstseins, des multinationalen und jugoslawischen Charakters der JNA auch weiterhin als entscheidender Akteur zeigen.“[11]

Als Instrument zur Verwirklichung dieser Ziele wurde ein „Ideologisch-politisches Erziehungsprogramm für Diensthöhere und Soldaten“ geschaffen. Es sollte die Dienstvorgesetzten auf die gezielte politische Arbeit in der Jugoslawischen Armee vorbereiten. Hier ist hervorzuheben das in diesem Programm die Hauptfunktion der Armee, die Landesverteidigung, nicht thematisiert war. Es verlagerte den thematischen Schwerpunkts von der Verteidigung hin zum Schutz des Regimes und der Ideologie.[12]

Die vollständige Kontrolle der Verteidigung lag in der Hand der Partei. Sie konnte durch die geschaffenen Organisationsstrukturen die Planung, Entscheidungsfindung sowie den gesamten Alltag innerhalb der Armee kontrollieren. Außerhalb der Armee stellte sie die Komitees der „Volksverteidigung“ und sicherte sich dadurch die Kontrolle. In diesen Strukturen waren mehr als 100.000 Mann organisiert, sie besaßen eine absolute Autonomie in der Partei und bildeten so eine kommunistisch-militärische Parteieinheit.[13]

Die Angehörigen des Militärs waren aufgrund ihres Status ein wirtschaftlich privilegierter Teil der Gesellschaft. Ihre berufsmäßige Sonderrolle war mit zusätzlichen Befugnissen ausgestattet. Das System beinhaltete verschiedene Vergünstigungen, die sich an der Ranghöhe orientierten, aber grundsätzlich alle Mitglieder der Armee gegenüber Zivilisten privilegierten. Zu den Vergünstigungen gehörten unter anderem gesonderte Fonds von Wohnungen oder ein geschlossenes Netz von Erholungsstätten. Ende der 80er Jahre ist mit dem Aufbau einer subventionierten Geschäftskette begonnen worden.[14]

2.3 Ethnische Zusammensetzung der Armee bis 1991

Das Föderalismusprinzip, welches Tito für Jugoslawien vorsah, war auch für die Armee entscheidend. Es war der politische Wille, dass die Struktur der Ethnien innerhalb des Militärs auch die gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegeln sollte. In der Verfassung von 1974 wurde dies zum höchsten Prinzip erhoben. „Was die Anzahl der Offizierskorps und die Ernennung auf Kommando- und Führungspositionen in der Jugoslawischen Armee angeht, so wird das Prinzip der möglichst proportionalen Repräsentation der Republiken und Autonomen Provinzen angewendet.“ (Verfassung der SFRJ, Art. 242)[15]

Dieses formelle Kriterium wurde als eine der Grundlagen für die Legitimität der Jugoslawischen Armee in der Gesellschaft angesehen. Trotz diesem Repräsentationsprinzips existierte in der JNA eine statistische Dominanz der serbischen Armeeangehörigen.

Ein weiteres Instrument des Föderationsprinzips innerhalb der Armee war die Vorschrift, dass Rekruten ihren Wehrdienst in anderen Republiken ableisten mussten.

Tabelle 1: Nationale Struktur des aktiven Militärbestands (AMB) 1985

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: siehe Bjelajac

Tabelle 2: Nationale Struktur der Generäle nach Abstammung aus den einzelnen Republiken (1970 und 1985)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: siehe Bjelajac

2.4 Das System der Volks- und Territorialverteidigung

Im Jahre 1948 kam es zum Bruch zwischen Tito und Stalin. Grund dafür waren unterschiedliche Auffassungen vom Kommunismus und die Abneigung Titos „sein“ Jugoslawien zum Vasallenstaat der UDSSR zu machen.[16] Tito sah Jugoslawien in der Position eines blockfreien Staates, der sich weder der NATO noch dem Warschauer Pakt verpflichtete. Im Gegenzug bedeutete dies aber auch, dass im Falle eines Krieges die SFRJ ohne Beistand anderer Staaten sich hätte allein verteidigen müssen. Jugoslawien sah sich im Mittelpunkt einer Weltverschwörung die auf den richtigen Zeitpunkt wartete, das Land zu vernichten. Dazu in „Specijalni rat protiv“ 1981: 44: „(1) Das politische System der sozialistischen Selbstverwaltung, (2) die unabhängige und blockfreie Außenpolitik, (3) die Bedeutung der geopolitischen Lage Jugoslawiens“ sind „die Gründe, weshalb die SFRJ häufig erstklassiges Angriffsobjekt der Supermächte und ihrer Bündnispartner mit den Methoden des Spezialkriegs ist.“[17]

Nach den militärischen Interventionen der Roten Armee in Ungarn und in der Tschechoslowakei wurde 1968 die Verteidigungsfähigkeit durch die Partei analysiert. Koca Popovic, Mitglied des Politbüros, kritisierte den damaligen Verteidigungsminister Ivan Gosnjak mit den Worten: „In einer Zeit erhöhter Gefahr von Osten verlegt er Einheiten nach Westen, von wo uns niemand bedroht.“ (zit. nach Djuric/Bengsch 1992: 150). Diese Aussage macht deutlich, dass die politische Führung Jugoslawiens eine größere Gefahr in dem Machtbestreben der UDSSR sah, als in dem des kapitalistischen Westens. In der Folge wurde die Grenze zu Ungarn, Rumänien und Bulgarien verstärkt.[18]

Um die Verteidigungsfähigkeit gegenüber einer zahlenmäßigen überlegenden Gegner zu erhöhen, führte man früh das System der „Allgemeinen Territorialverteidigung“ ein. Das diesbezüglich 1955 erlassene Gesetz definierte die Territorialverteidigung als eine Form der bewaffneten Kräfte, die sich aus Fabrikeinheiten der Luftabwehr, Streifen und anderen Einheiten aus der zivilen Gesellschaft zusammensetzt und direkt der Bundesregierung unterstand. 1969 wurde die Verantwortung für Organisation und Ausbildung den gesellschaftlich-politischen Institutionen auf Republiksebene übertragen. Mit der neuen Verfassung von 1974 wurde die Territorialverteidigung schließlich als Teil der bewaffneten Kräfte in der SFRJ und als Form des nationalen Widerstands in den Republiken, Provinzen und Gemeinden definiert.[19] Im Falle eines Krieges sollten von diesen Kräften zunächst zivile Objekte geschützt und der lokale Widerstand organisiert werden.

Als Ergänzung wurde 1969 nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch die rote Armee das System der Volksverteidigung etabliert. In diesem System wurden alle Bürger in dem Alter von 18 – 60 Jahren erfasst. Die Gemeinden erhielten Uniformen, Ausrüstung und Bewaffnung.[20]

Die Folge dieser Entwicklung war eine hochmilitarisierte Gesellschaft. In der Praxis existierte ein paralleles Militärsystem in Jugoslawien zu dieser Zeit. Aus diesen Organisationsstrukturen entwickelten sich im Verlauf des Konfliktes die Armeen der sich neu konstituierenden Staaten.[21]

2.5 Der Militärisch-industrielle Komplex

In der politischen Terminologie definiert man den Begriff „militärindustrieller Komplex“ als Verbindung der Rüstungsindustrie eines Landes mit der Politik seiner Armee und Regierung.[22] Rüstung und militärische Stärke waren die wichtigste Machtressource des jugoslawischen Militärs.

Beim Aufbau der Wirtschaft und der Verteidigungsfähigkeit bezog Jugoslawien aufgrund des Status eines blockfreien Landes und der besonderen geopolitischen Lage während des kalten Krieges finanzielle Unterstützung auch aus dem westlichen Ausland. Die USA stellten in dem Zeitraum von 1948 bis Anfang der 70er Jahre für die Verteidigung und die wirtschaftliche Entwicklung rund 25 Milliarden Dollar zur Verfügung.[23] Besondere Anstrengungen wurden beim Aufbau einer eigenen Rüstungsindustrie unternommen. In der Mitte der 1960er Jahre gehörte die SFRJ zu den zehn größten Waffenexporteuren der Welt. In den 1980er Jahren war die JNA die viertgrößte Armee Europas. Dies verschaffte der Armee eine Unabhängigkeit, die eigenständige Armeeinteressen stärkte.[24] Das Wissen um die eigene Stärke der Armee und Rüstungsindustrie, ermöglichte in Verbindung mit der berufsmäßigen Sonderrolle der Armeeangehörigen, die Schaffung eines Korpsgeistes und Standesdenken.[25] Die JNA war eine Institution, mit der sich die meisten Mitglieder identifizieren konnten.

1991 umfasste die Rüstungsindustrie 56 größere Betriebe, wovon 80 Prozent auf dem Gebiet Bosnien-Herzegowina lagen. In ihnen waren rund 70.000 Arbeiter beschäftigt. Weiter zählen dazu die rund 1000 Zulieferbetriebe die im ganzen Land verteilt waren.[26]

3. Die JNA während des Konfliktes

In dem nun folgenden Kapitel wird dargestellt, wie sich die Jugoslawische Volksarmee während der aufkommenden Krise positionierte und welche Rolle sie tatsächlich einnahm. Dazu wird ein sehr kurzer Abriss über die Entstehung der Krise vorrangestellt. Anschließend werden die einzelnen Positionen und Aktionen der Streitkräfte behandelt.

Wie entwickelte sich die Armee von einer Institution die der Verfassung verpflichtet war, zu einer die an der Zerstörung des Staates mitwirkte?

3.1 Vom System zum Territorialkonflikt

Nach GANTZEL + SCHWINGHAMMER kann man vier Hauptgruppen von Konfliktarten als Gegenstand der Auseinandersetzung kategorisieren. Danach gibt es System-, Macht-, Territorial- und Fremdherrschafts-konflikte.[27] Letztere sind auf Jugoslawien nicht übertragbar, da es sich hier meist um Dekolonisationskriege handelt.

Der Systemkonflikt hatte seinen Ausgangspunkt in den Auseinandersetzungen über die Verfassungsreform während der zweiten Hälfte der 80er Jahre. Serbien forderte die Stärkung der Zentralinstanzen, was zu einer Schwächung der föderalen Organe in der SFRJ geführt hätte. Verschärfend wirkte der Niedergang des Kommunismus in Osteuropa. Am Ende dieser Entwicklung stand der faktische Zerfall des Bundes der Kommunisten 1990, und damit die Institution die in den vergangenen 40 Jahren alle gesellschaftlichen Gruppen vereinte.[28]

Ab 1990 verstärkten „Machtinteressen“ die innerjugoslawischen Spannungen. Die ersten freien und unabhängigen Wahlen in den Republiken brachten partikularistische Positionen der Regierungsparteien hervor. Es wurden einseitige Verfassungsänderungen vorgenommen. So beteiligte sich Slowenien nicht mehr am Finanzausgleich innerhalb der SFRJ.[29] In der kroatischen Politik und Öffentlichkeit bildete sich ein Abgrenzungsnationalismus gegenüber Serbien. Dabei bestand unter anderem das Problem, dass durch die Verfassungsänderungen die in Kroatien lebenden Serben von einem konstitutiven Staatsvolk zu einer nationalen Minderheit wurden.

Durch diese Profilierung nationaler Sonderinteressen entwickelten sich die Auseinandersetzungen zu Konflikten mit einer territorialen Dimension.[30] Slobodan Milosevic, der damalige Ministerpräsident Serbiens, bestand auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, was für ihn gleichbedeutend war mit der Vorstellung, dass alle Serben in einem Staat leben, entweder innerhalb einer Konföderation oder in einem größeren Serbien.[31]

3.2 Der Systemkonflikt und die JNA

Während der Bemühungen um eine Reform der jugoslawischen Verfassung von 1974 in den 1980er Jahren, befand sich die Armee in einem Umstrukturierungsprozess. Die von den Republiken geforderte höhere Selbständigkeit lehnte die Militärführung ab. Ganz im Gegenteil, sie strebte sogar auf Veranlassung des letzten jugoslawischen Verteidigungsministers General Veljko Kadijevic nach der Abschaffung des bestehenden Konzeptes der Streitkräfte, wie es in der Verfassung von 1974 bestimmt war. Insbesondere wollte sie sich von der finanziellen Abhängigkeit der Republiken lösen. Die militärische Führung der SFRJ verwehrte in der folgenden Zeit den föderalen Organen jegliches Mitspracherecht.[32] Dadurch war klar, dass sich die JNA gegen mögliche Dezentralisierungsprozesse positioniert.

Dabei blieb es aber nicht. Ein weiterer föderalistischer Grundsatz wurde aufgehoben. In der Verfassung war bestimmt worden, dass die Operationsgebiete der einzelnen Armeen im wesentlichen mit den Territorien der Republiken übereinstimmen sollten. Nun wurden aber anstatt der bisherigen sechs Armeen vier Kommandobereiche eingerichtet. Die neunte Armee in Slowenien wurde am 25. Dezember 1988 aufgelöst und dem Kommandobereich mit Sitz in Zagreb unterstellt.[33] Des weiteren gab es den Zentralbereich in Belgrad, den Kriegsmarinebezirk Split sowie den bereich Südost mit Sitz in Skopje. Die Militärführung hatte zu diesem Zeitpunkt angefangen, ihre Zentralisierungspläne in die Realität umzusetzen.[34] Dieses Umstrukturierungsprogramm lief unter den Namen „Einheit“ und verfolgte das Ziel nach Worten Veljko Kadijevic "die negative, zerstörende Wirkung des Konzepts der Streitkräfte, das in der Verfassung enthalten war, zu mildern"(Kadijevic 1991: zit. nach Bjelajac).

Von dieser Reorganisation der Befehlsstrukturen blieb auch die Territorialverteidigung der Republiken nicht unberührt. Durch die Einrichtung von Kommandobereichen statt Armeen verloren die Republiken wichtige Kontrollfunktionen über diesen Teil der bewaffneten Verteidigungsstrukturen.[35] Das System der Territorialverteidigung wurde von der Führung der JNA als Bedrohung für ihre Zentralisierungspläne angesehen. Mitte der 1980er Jahre wurde eine Doktrin zum Einsatz der JNA unter außergewöhnlichen Umständen in Kraft gesetzt. Sie besagte, dass die gesamte materielle Ausrüstung der Territorialverteidigung in Krisensituationen in die Lager der Volksarmee überstellt wird.[36] Die Folge dessen war, dass die JNA auf Befehl des Generalstabs vom 14. April 1990 nach den freien Wahlen in Slowenien und Kroatien damit begann, das Waffenarsenal dieser beiden Republiken zu übernehmen. Der slowenischen Territorialverteidigung gelang es einen Teil ihrer Waffen vor dem Zugriff der JNA zu verbergen.[37] Obwohl Kadijevic der Meinung war, dass die Territorialverteidigung aus Titos Zeiten ein großer Fehler war, bezog die Armeeführung gegenüber der serbischen Territorialverteidigung eine entgegengesetzte Position.[38] Tatsächlich wurde die Territorialverteidigung in der serbischen Republik nie entwaffnet. 1991 ließ Milosevic sogar Musterungen für die Territorialverteidigung in der Vojvodina durchführen.[39]

Das Resultat dieser Entwicklung war, dass die Militärführung nicht nur half, das Prinzip des Föderalismus in der SFRJ zu zerstören, es führte auch zu einer entscheidenden Veränderung des Kräfteverhältnisses.

In der Folge wurde die JNA von vielen Menschen als eine Armee im Dienste der Belgrader Politik unter Führung von Milosevic angesehen.[40]

Ante Markovic, 1990 Bundespremier der SFRJ, riet General Kadijevic Kontakt mit den Verteidigungsministern Sloweniens und Kroatiens zu unterhalten, was dieser kategorisch ablehnte. Dadurch stellte sich der jugoslawische Verteidigungsminister hinter die Politik Milosevics.[41]

Die Argumentation der Armeeführung nahm in dieser Zeit Bezug auf die in der Verfassung festgeschriebenen Aufgaben der Streitkräfte. Sie sah sich in der Pflicht, die Integrität der SFRJ gegen innere und äußere Aggressoren zu verteidigen. Dazu bezog sie eindeutig Stellung: „die Aufgaben der militärischen Kräfte zur Landesverteidigung sind in der Verfassung der SFRJ begründet, darum kann keine Diskussion darüber geführt werden.“ (Kadijevic 1989 zit. nach Hadzic 1995: 253). Das Hauptargument war, „das jedwede Veränderung der gesellschaftlichen Rolle der Armee zum Zerfall der SFRJ als Staat und gesellschaftliche Gemeinschaft führen würde.“ (General Mirkovic 1988 zit. nach Hadzic 1995: 253). Die Herausbildung von Streitkräften in der SFRJ, die nicht verfassungsgemäß waren, sollten vom Verteidigungsministerium unterbunden werden.[42] Somit wurde die von JNA durchgeführte Entwaffnung der slowenischen und kroatischen Territorialverteidigung rechtlich begründet. General Kadijevic war sich schon 1989 über die „Gefahr“ im Klaren, die von der Territorialverteidigung ausging. Er sah in ihr eine Struktur, die sich als paralleles Armeesystem entwickelt hat und es nur eine Frage der Zeit war, wann sie sich vom Freund zum Feind wandeln würde.[43]

Die Armee, von Tito als Schöpferin der Revolution und Wächterin über die sozialistischen Errungenschaften geschaffen, konnte nicht flexibel auf die Entwicklungen in den Teilrepubliken reagieren. Sie befand sich in einer ideologischen Selbstblockade. Die Ohnmacht der Armeeführung in Bezug auf die separatistischen Tendenzen in den Teilrepubliken beschreibt General Dozet: „Unsere Armee kann sich nicht von der Revolution distanzieren, sie kann sich nicht vom Sozialismus lösen. Sie muss sich für einen neue, humaneren Sozialismus einsetze und dabei auf ganzer Linie sozialistisch bleiben. (...) Diese Armee kann ohne Jugoslawien nicht existieren. Aber wie soll das verstanden und neutral behandelt werden, wenn in gewissen Teilen Jugoslawiens neue Regierungen mit nationalen Armeen gegen Jugoslawien vorgehen?“(Dozet 1999 zit. nach Hadzic 1995: 255).

Nach dem Zerfall des Bundes der Kommunisten 1990 wurde unter anderem vom General Mirkovic die „Kommunisten-Bewegung für Jugoslawien“ gegründet. In dieser politischen Organisation hatte die Frau von Slobodan Milosevic, Dr. Mira Markovic, die Funktion der Chef-Ideologin. Später erging ein Befehl der Militärführung, nachdem alle Angehörigen der Streitkräfte dieser Partei beitreten sollten.[44] Spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar, welche Politik die Armee verteidigen würde.

Nach den Wahlen in Slowenien und Kroatien, die einer Abstimmung über die Unabhängigkeit gleichkamen, bekam der Konflikt auch eine historische Dimension. Die Matrix „1941“ (Hadzic) kam auf die politische Tagesordnung. Der bisher mit einem Tabu belegte „Bruderkrieg“ wurde in der Gesellschaft wieder thematisiert. Hier machte sich die nicht durchgeführte Katharsis nach dem Zweiten Weltkrieg katastrophal bemerkbar. Militärische und politische Führer argumentierten mit der Geschichte für ihre Politik. So Kadijevic, 1990: „Wir sind Zeugen auflebender und extrem aggressiver antijugoslawischer und antisozialistischer Kräfte. Das sind dieselben, die schon einmal den Zerfall Jugoslawiens herbeigeführt haben. Im Volksbefreiungskrieg kooperierten sie mit dem Okkupator und wurden politisch und militärisch besiegt. Eine solche Niederlage erwartet sie auch aufs neue.“( Kadijevic 1990 zit. nach Hadzic 1995: 253)

In dieser Phase der Radikalisierung und des Aufkommens paramilitärischer Formationen, zog sich die Generalsspitze immer mehr aus der Politik zurück. Mit dem Beschluss der Generäle in der ersten Hälfte 1991 die SFRJ nicht bedingungslos zu verteidigen und der Zuordnung der Befehlsgewalt an die Belgrader Führung, wurden sie endgültig zu einem Machtinstrument der Regierung Milosevic.[45]

3.3 Der Territorialkonflikt und die JNA

Der Übergang zum offenen Krieg war durch Abspaltungsbestrebungen der Republiken und einzelner Regionen geprägt. Parallel kam es wie in der Krajina, zur Bildung von paramilitärischen Strukturen die hoheitliche Aufgaben übernahmen. Auslöser war der veränderte Status der Serben in der neuen kroatischen Verfassung.[46]

Das Ende dieses Prozesses und der Beginn der Auseinandersetzungen mit anderen Mitteln markiert die Unabhängigkeitserklärung Sloweniens vom 25. Juni 1991. Am folgendem Tag besetzten Mitglieder der slowenischen Territorialverteidigung die Grenzstationen. Die Schilder „Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien“ wurden mit Emailtafeln mit der Aufschrift „Republik Slowenien“ ersetzt. Dies geschah gegen den Willen der jugoslawischen Zentrale, der USA und entgegen der Empfehlung der Europäischen Gemeinschaft.[47]

Durch die Abtrennung von der SFRJ waren die in Slowenien stationierten Einheiten der JNA über Nacht zu einer Besatzungsarmee geworden. Am 27. Juni 1991 rückten Einheiten aus ihren Kasernen aus um die Hoheit über die Zollstationen zu übernehmen.[48]

Die Soldaten hatten weder einen Schießbefehl noch Munition. Sämtliche Bewegungen der JNA waren dem slowenischen Verteidigungsministerium bekannt. Diese wurden von slowenischen Offizieren weitergegeben. Obwohl das der Führung der JNA bekannt war, wurden keine entsprechenden Maßnahmen getroffen.[49] Der Generalstab konnte sich zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen das sich die Situation zu einer kriegerischen Auseinandersetzung entwickeln würde. Es galt immer noch die Devise die von Admiral Bovet am 16.Mai 1991 im Bundesparlament ausgegeben wurde: „die JNA, sollte sie die Kontrolle über die Situation und die Entwicklung der Ereignisse verlieren, wird keinesfalls gegen die Bevölkerung vorgehen, sondern gegen jene, die den Konflikt vorbereitet und provoziert haben.“ (Bovet 1991: zit. nach Hadzic 1995: S 257)

Die kriegerischen Auseinandersetzungen in Slowenien dauerten nur sieben Tage. Nachdem die JNA den Laibacher Flughafen und Grenzstationen bombardierte, handelte der slowenische Präsident Kucan einen Waffenstillstand aus.[50] Die Intervention der Jugoslawischen Volksarmee war ein letzter Akt gegen die Selbstbestimmung der Republiken, mit dem Ziel die territoriale Integrität der SFRJ zu verteidigen.[51] Die Existenzberechtigung der Armee, inklusive ihrer Privilegien hing von der Aufrechterhaltung des jugoslawischen Staates ab.[52]

In der „Deklaration von Brioni“ vom 7.Juli 1991 einigten sich die nördlichen Republiken und Belgrad auf die Aussetzung der Unabhängigkeitserklärung für die Dauer von drei Monaten. Am 18. Juli stimmte das jugoslawische Staatspräsidium dem Abzug der Truppen aus Slowenien zu.[53]

Mit dieser Entscheidung war die militärische Preisgabe Jugoslawiens besiegelt.

4. Zusammenfassung und Diskussion

Das Verhalten der Armee während der Balkankrise kann man vielleicht am besten mit den Worten von Catharine Samary beschreiben: die JNA wandte sich der Seite zu, „die sie noch haben wollte.“ (Samary 1995: 76) Durch die Ausrichtung der Armee auf den Jugoslawismus befand sie sich in einer ideologischen Selbstblockade, die keine alternative Reaktion auf die sezessionistischen Entwicklungen in den Teilrepubliken zuließ. Sie war zunächst nicht in der Lage, eine andere Realität außer die eines Jugoslawismus anzuerkennen.

In diesem Zusammenhang ist besonders die Rolle der Militärführung hervorzuheben. Die führenden Personen im Militär erkannten damals nicht, dass die Armee durch die Krise und die beginnende nationale Homogenisierung ihre strukturellen Grundlagen und damit auch ihre Verteidigungsfunktion verloren hatte. Eine Fehlannahme des Generalstabes der JNA war, dass der Großteil der gesellschaftlichen Kräfte sich an der inneren Verteidigung des Sozialismus und Jugoslawismus beteiligen würde. Die daraus entwickelten Strategien konnten dem Zerfall der SFRJ nicht entgegenwirken.

In dem Konflikt um den Fortbestand der SFRJ oder der Separation einzelner Republiken, folgte die JNA aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung der Belgrader Politik.

Darüber hinaus war sie geleitet von Besitzstandsdenken. Es bestanden zum einen finanzielle und materielle Vergünstigungen für die Armeeangehörigen, auf der anderen Seite hätte eine Pluralisierung zu einer Entpolitisierung des Militärs geführt, was gleichbedeutend war mit dem Verlust von politischen Machtkompetenzen.

Einen Endpunkt in diesem Prozess bildet die „halbherzige“ Intervention 1991 in Slowenien. Mit dem anschließenden verfassungswidrigen Rückzug der Armee, war die militärische Preisgabe Jugoslawiens besiegelt. Die Jugoslawische Volksarmee diente ab diesem Zeitpunkt nicht mehr ihrem verfassungsgemäßen Auftrag der Verteidigung der territorialen Integrität der SFRJ, sondern entwickelte sich zu einem Machtinstrument der politischen Elite Belgrads. Zwar kann die anfängliche Zurückhaltung der Armee im Slowenienkrieg noch als Versuch gewertet werden, den Krieg zu verhindern, doch spricht die danach folgende Verlegung und Konzentration in serbisch dominierte Regionen Kroatiens und Bosniens, sowie verschiedene Äußerungen Belgrader Politiker dagegen.

Im Zuge des beginnenden Territorialkonfliktes fand eine Homogenisierung der Ethnien innerhalb des Militärs statt. Der Slowenienkrieg war der Auslöser für eine Säuberungswelle im Militär. Gleichzeitig erfolgte eine Radikalisierung der nationalistischen serbischen Kräfte in der Armee.

Die Jugoslawischen Volksarmee konnte dem Zerfall der SFRJ insofern nicht entgegentreten, da sie seit dem Beginn der Krise die Entwicklungen in den Teilrepubliken falsch einschätzte. Den Bestrebungen der Republiken für mehr Selbstbestimmung standen die Zentralisierungspläne der Armeeführung gegenüber. Durch die Abschaffung föderalistischer Grundsätze und der Verweigerung der Kontrolle durch föderale Organe, verlor sie sämtliche Legitimation in der jugoslawischen Gesellschaft.

Mit der militärischen Intervention der JNA in Slowenien und dem darauffolgenden Abzug besiegelte sie endgültig die Auflösung der SFRJ.

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Skopljanac, N. 1996 (letzter Zugriff 29.03.2004):

www.gsoa.ch/gsoa/zeitung/Nr3/GZ3_Text12.htm

[...]


[1] Siehe Hösch S. 232

[2] Siehe Dominik S. 28

[3] Siehe Hadzic S.244

[4] ebda S.245

[5] ebda S.245

[6] Siehe Hadzic S. 245

[7] Siehe Zunec/Kulenovic S. 382

[8] Siehe Skopljanac

[9] Siehe Hadzic S. 245

[10] ebda S.246

[11] ebda S.247

[12] Siehe Hadzic S. 246

[13] ebda S. 246

[14] ebda S. 246

[15] Siehe Bjelajac

[16] Siehe Samary S. 55

[17] Siehe Hadzic S. 249

[18] Siehe Djuric/Bengsch S. 150

[19] Siehe Bjelajac

[20] Siehe Djuric/Bengsch S. 150

[21] ebda S. 150

[22] Siehe Jakovljevic S. A465

[23] Siehe Skopljanac

[24] ebda

[25] ebda

[26] Siehe Jakovljevic S. A466

[27] Siehe Giersch S. 38

[28] Siehe Dominik S. 246

[29] Siehe Giersch S. 39

[30] ebda S. 39

[31] ebda S. 39

[32] Siehe Zunec/Kulenovic S. 383

[33] Siehe Bjelajac

[34] Siehe Zunec/Kulenovic S. 383

[35] ebda S. 383

[36] Siehe Zunec/Kulenovic S. 383

[37] Siehe Samary S. 76

[38] Siehe Djuric/Bengsch S. 153

[39] Siehe Zunec/Kulenovic S. 383

[40] Siehe Djuric/Bengsch S. 15

[41] ebda S. 152

[42] ebda S. 253

[43] ebda S. 255

[44] Siehe Djuric/Bengsch S. 152

[45] Siehe Hadzic S. 257

[46] Siehe Semanov S. 54

[47] Siehe Djuric/Bengsch S. 162

[48] Siehe Hofbauer S. 25

[49] ebda S. 26

[50] Siehe Hofbauer S. 26

[51] Siehe Samary S. 74

[52] ebda. S. 75

[53] Siehe Hofbauer S. 27

Excerpt out of 25 pages

Details

Title
Die Jugoslawische Volksarmee und der Zerfall der SFRJ
College
Humboldt-University of Berlin
Course
Staat und internationales System
Grade
1,7
Author
Year
2004
Pages
25
Catalog Number
V109150
ISBN (eBook)
9783640073337
File size
408 KB
Language
German
Keywords
Jugoslawische, Volksarmee, Zerfall, SFRJ, Staat, System
Quote paper
Felix Grützmacher (Author), 2004, Die Jugoslawische Volksarmee und der Zerfall der SFRJ, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109150

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