Pierre Lotis "Au Maroc": Exotischer Reisebericht oder Vorbereitung zur Kolonisation?


Term Paper (Advanced seminar), 2004

21 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Werkexterne Indizien
2.1 Frankreich als mediterrane Kolonialmacht
2.2 Lotis Biographie
2.3 Die Einladung von Patenôtre

3. Werkinterne Indizien
3.1 Spannungen zwischen Inhalt und Formen der Vermittlung
3.1.1 Ästhetik und Oberflächlichkeit
3.1.2 Pierre Lotis Selbststilisierung
3.1.3 Interpretation statt Kommunikation
3.2 Der kolonisatorische Subtext
3.2.1 Schilderung eines „alten Marokko“
3.2.2 Hinweise auf das Potenzial des Landes
3.2.3 Die Leserzentriertheit

4. Schluss

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Pierre Lotis Reisebericht „Au Maroc“ gilt als ein Hauptwerk der französischen Literatur zum Thema Marokko. Zu seinen Bewunderern zählt auch Henry de Montherlant, selbst Autor eines vielbeachteten Werkes zu diesem Thema, für den „Au Maroc“ das „meilleur livre que j’aie lu sur le Maroc“ (Loti 2000, S. 10) ist. Wer sich mit Marokko und seinem Verhältnis zur späteren Besatzungsmacht Frankreich befasst, kommt an diesem Text nicht vorbei. Denn „Au Maroc“ ist in vielerlei Hinsicht ein Stück Zeit- und Kulturgeschichte: ein Beispiel für die zur damaligen Zeit beliebten Reise in den Orient[1], für das Aufeinandertreffen zweier äußerst unterschiedlicher Kulturen, und in seiner Eigenschaft als nicht-fiktiver Text ist es auch Zeugnis für die Pflege diplomatischer Verhältnisse zwischen Nationen sowie ein Ausschnitt aus der Biographie Pierre Lotis.

Die vorliegende Untersuchung befasst sich weniger mit den literarischen Besonderheiten des Textes, sondern sieht ihn als in das Zeitgeschehen eingebettet. Aus dieser Perspektive wird der Frage nach den Motivationen und Zielen Lotis nachgegangen: Handelt es sich um einen „harmlosen“ Reiseroman, oder wirbt er um die Besitzergreifung Marokkos durch die Franzosen? Dabei wird in einem ersten Teil die Situation im Nordafrika des ausgehenden 19. Jahrhunderts skizziert, wie sie sich auf die Genese von „Au Maroc“ ausgewirkt haben kann. Der zweite Teil versucht dann, von der Mikroperspektive ausgehend Anhaltspunkte für die Beatwortung der Frage auf der Textoberfläche zu finden.

Da es hier nicht nur um die Analyse eines Buches geht, sondern auch der Autor im Blickfeld steht, kann nicht von Beweisen oder ihrer Widerlegung gesprochen werden – ein endgültiges Urteil über einen Menschen muss zwangsläufig falsch sein. Daher wird in dieser Untersuchung nicht die Rede von Beweisen sein, sondern von Indizien. Demnach können auch die Schlussfolgerungen, die aus diesem „Indizienprozess“ gezogen werden, keinesfalls den Status der Objektivität für sich in Anspruch nehmen, sondern nur als in sich schlüssiger subjektiver Eindruck eines Lesers verstanden werden.

2. Werkexterne Indizien

In diesem Kapitel sollen die äußeren Umstände analysiert werden, unter denen „Au Maroc“ entstand, und die aller Wahrscheinlichkeit nach, auf die Entwicklung des Textes Auswirkungen gehabt haben. In diesem Zusammenhang muss die politische Lage im Maghreb näher betrachtet werden, insbesondere die kolonisatorischen Interessen der Großmächte Frankreich, Deutschland und Großbritannien. Denn in der Hochzeit imperialistischer Aufteilung der Welt war die Kontrolle über Marokko, das sich lange jedweden Kolonisationsbestrebungen widersetzte, für mehrere Staaten ein wichtiges Ziel im Mittelmeerraum.

In seiner Funktion als Marineoffizier war Loti zwangsläufig in militärische und politische Belange Frankreichs involviert, und seine vielen Reisen führten ihn auch an Orte, an denen Frankreich aktiv war, wie Algerien, Senegal und Marokko. Selbst wenn er, wie er im Vorwort zu „Au Maroc“ versichert, keine „considérations sur la politique du Maroc, son avenir, et sur les moyens qu'il y aurait de l'entraîner dans le mouvement morderne“ (Loti 2000, S. 17) anstellen wollte, so war er gewiss nicht immer völlig neutral. Als bekannter französischer Schriftsteller und aufmerksamer Beobachter vor Ort war dies wohl schlechterdings unmöglich, schließlich musste er sich angesichts der Situation eine Meinung bilden. Ein Blick auf die Biographie Lotis soll beleuchten, in wieweit er wirklich so „dédaigneux de toute actualité politique“ (Dugas 1990, S. 12) war, wie er sich selber darstellte, und wo sich implizite Stellungnahmen zum Zeitgeschehen erkennen lassen.

Ein nicht unwesentliches Ereignis in Lotis Lebenslauf, und konstitutiv für das hier behandelte Werk, ist die Einladung des in Tanger stationierten französischen Diplomaten Jules Patenôtre zur Reise nach Fez, wo sich dieser beim marokkanischen Sultan Moulay Hassan präsentieren wollte. Vor allem anhand der Korrespondenz zwischen Patenôtre und Loti soll gezeigt werden, dass der Text bereits in der Projektphase im Spannungsfeld zwischen Interesse der französischen Außenpolitik und literarischer Zielsetzung Pierre Lotis stand. Welche der beiden Kräfte letztlich dem Text ihre Stimme gab, diese Frage zu beantworten ist eines der Ziele dieser Untersuchung.

2.1 Frankreich als mediterrane Kolonialmacht

Erste französische Versuche um 1830, Marokkos großen Nachbarn Algerien zu besetzen, scheiterten sieben Jahre später am Widerstand der unter Abd al-Qadir vereinigten Berberstämme; Nachdem dieser 1837 als Emir von Algerien anerkannt worden war, gelang es der französischen Armee erst nach zehn Jahre, das Land völlig in ihre Gewalt zu bekommen. 1844 flüchtete Abd al-Qadir nach Marokko, um von dort aus den Guerillakrieg gegen die Besatzungsmacht fortzusetzen. Nach heftigen Angriffen lieferte Marokko al-Qadir schließlich 1847 an Frankreich aus, und Algerien wurde französische Provinz. Zu dieser Niederlage kam, dass Marokko nach 1830 Gebietsverluste zugunsten Algeriens hinnehmen musste (vgl. Wikipedia-Artikel „Geschichte Algeriens“ und „Abd el-Kader“). Im Jahr 1869 vergrößerte Frankreich wiederum seinen Einfluss in Nordafrika. Tunesien wurde wegen finanzieller Schwierigkeiten unter französische, britische und italienische Aufsicht gestellt, um 1881 französisches Protektorat zu werden.

Neben Frankreich war im 19. Jahrhundert auch Spanien kolonisatorisch an Marokko interessiert; Als geographisch nächstes europäisches Land hatte es bereits gegen Ende der Reconquista die Städte Melilla im Norden und Ifni im Südwesten Marokkos besetzt, Ifni allerdings nach 48 Jahren wieder an die Marokkaner verloren. Als weitere Exklave überließen die Portugiesen 1580 Spanien die Stadt Ceuta, ebenfalls im Norden Marokkos (vgl. Internet-Dokument Meyer). Ifni gelangte erst 1860 wieder in spanische Hände. Die größte Kolonie in Nordafrika war jedoch Westsahara südlich von Marokko, das 1884 von Spanien annektiert wurde.

Als Zeitpunkt für den Beginn der „schleichenden Kolonisation“ Marokkos, die erst im Jahr 1912 abgeschlossen war, kann das Jahr 1877 angenommen werden. Zu diesem Zeitpunkt richteten zwei Imperien, Frankreich und England, jeweils eine militärische Botschaft ein, zum Zweck der Ausbildung einheimischer Armeekontingente[2] (vgl. Quella-Villéger 1991, S. 29). Das Fernziel der Engländer, ein Protektorat „vom Kap bis Kairo“, unterschied sich nur unwesentlich von dem der Franzosen; Konflikte zwischen den Parteien waren vorprogrammiert und wurden auch vom amtierenden Sultan Moulay Hassan geschickt für seine Zwecke genützt.

Betrachtet man nun die geographische Lage Marokkos, so fällt auf, dass es auf der kontinentalen Seite – in östlicher und südlicher Richtung – von den europäischen Nordafrika-Kolonien eingerahmt wird; Im Westen bildet der atlantische Ozean eine natürliche Barriere und nach Norden hin, in einer Distanz von nur 14 km über die Meerenge von Gibraltar hinweg, beginnt bereits der europäische Kontinent. Sowohl für Spanien, aufgrund seiner Nähe, als auch für Frankreich[3], wegen seines großen Einflusses in Nordafrika, war Marokko ein sehr attraktives Ziel. Englands schnell expandierende Industrie gründete ihr enormes Wachstum auf die stetige und zunehmende Einfuhr von billigen Rohstoffen aus den Kolonien, und Marokko hatte und hat noch immer große Mengen an notwendigen Ressourcen wie Eisenerz, Kohle, Blei, Kupfer und Zink.

So kam es zu einem mal mehr, mal weniger offen ausgefochtenen Wettkampf um die Vorherrschaft in diesem Land. Bei der Betrachtung von „Au Maroc“ darf die resultierende angespannte politische Situation in Nordafrika nicht außer Acht gelassen werden, zumal sie noch von nationalistischen Ressentiments auf allen Seiten aufgeladen war.

2.2 Lotis Biographie

Seine erste Berührung mit der Kultur und der Religion des Islam hatte Julien Viaud, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht das Pseudonym „Pierre Loti“ verwendete, 1969 im Alter von 19 Jahren. Als Offiziersanwärter zur See reiste er nach Alger, wo ihn das Leben der Einwohner faszinierte (vgl. Blanch 1983, S. 60). Und nur zwei Jahre später ereignete sich eine weitere Begegnung, die seinem Leben eine tiefe Prägung gab: Eine Fahrt zu den Osterinseln, deren Ziel kolonisatorische Reconnaissance war, gab ihm die Gelegenheit, Beschreibungen und Skizzen über die Eingeborenen und die exotische Schönheit der Inseln anzufertigen. Was er seit Jahren in seinem Tagebuch geübt hatte, nämlich das Einfangen von Stimmungen und Eindrücken einer Landschaft, wollte er dieses Mal gewinnbringend vermarkten. Er sandte die Artikel an französische Zeitungen, die sie begeistert annahmen. Seine ersten Einkünfte aus dem Schreiben stammten also nicht von Romanen, sondern von Texten, deren „impressions exotiques de coins reculés du globe étaient encore rares et fascinaient également les éditeurs et les lecteurs“ (ebd. 1983, S. 64).

Hierbei fallen zwei Besonderheiten auf: Erstens der recht frühe Kontakt – Viaud war damals 21 Jahre alt – mit dem Schreiben als lukrativer Tätigkeit, dem Text als Ware, und in der Konsequenz der Kontakt mit dem Text als eine Ware, die auf die spezifischen Bedürfnisse einer Zielgruppe hin produziert und so in ihrem Wert erhöht werden kann. Ob Viaud zeitgenössische Strömungen so konsequent analysiert und verwertet hat wie beispielsweise Jules Verne in seinen szientistischen Romanen, bleibt zu untersuchen. Dass er jedoch spürte, dass exotische Literatur auf große Nachfrage stieß und noch einiges an Potenzial in sich barg, dürfte nicht von der Hand zu weisen sein. Seine Arbeit für die Zeitungen Le Monde illustré und L’Illustration jedenfalls trug weitere Früchte (vgl. ebd., S. 68). Insofern wird in der Analyse von „Au Maroc“ zur Sprache kommen müssen, ob Viaud Konsequenzen aus seiner frühen Erfahrung zog und auch in seinem späteren Schreiben als Pierre Loti anwendete.

Die Ausbildung zum Marineoffizier abgeschlossen, kehrte Loti in sein Elternhaus in der Bretagne zurück. Doch das unstillbare Verlangen nach Meer und Ferne und die Sehnsucht nach seinem besten Freund Joseph, der in einer kleinen europäischen Kolonie in Senegal stationiert war, trieben ihn von zu Hause fort. Die Eindrücke, die er in Senegal machte, lieferten später den Stoff für seinen „Roman d’un spahi“, dessen Exotismus wieder einmal die Verleger begeisterte (vgl. ebd., S. 77 f.). In diesem Text erscheint ein Topos, der dem Leser auch in „Au Maroc“ immer wieder begegnet: der Hinweis auf die unüberwindliche kulturelle Distanz zwischen dem bereisten Land und Europa, die eine Kolonisation mit anschließendem friedlichem Zusammenleben und schrittweiser zivilisatorischer Entwicklung unmöglich macht: Senegal bleibe auf unbestimmte Zeit „un lieu d’exil fermé à toute civilisation, et les Européens n’y viendront jamais qu’en fugitifs“ (nach Blanch 1983, S. 79).

Nach dem Bruch mit seinem Freund Joseph, zu dem er eine fast homosexuell anmutende intensive Beziehung gehabt hatte, und nachdem Sarah Bernhardt seiner Verehrung eine unmissverständliche Absage erteilt hatte, flüchtete sich Loti in die Welt der romantischen Träumerei und der Verehrung des schönen menschlichen Körpers, vornehmlich seines eigenen, den er durch Übungen trainierte (vgl. ebd., S. 91 ff.). Zu dieser Zeit bildet sich die auf die Ästhetik der Dinge fixierte Perspektive Lotis weiter aus; Zwischen seinen Textarbeiten und seinen graphischen Arbeiten lässt sich ein enger Bezug herstellen. Betrachtet man beispielsweise eine Zeichnung, die er von der Besatzung der „Combattante“ anfertigte (ebd., Abbildungen), so erkennt man eine Thematik wieder, das er in seinem Tagebuch verfolgt: Der perfekt gebaute männliche Körper, der in Kombination mit festen Blick aus makellosem Gesicht ästhetische Werte der griechischen Antike aufgreift.

Nachdem nun einige Stationen im Leben Pierre Lotis aufgezeigt wurden, deren Nachwirkungen sich m.a.W. im Allgemeinen auf sein Schreiben und im Speziellen auf die Produktion von „Au Maroc“ niederschlugen, soll im nächsten Abschnitt die erste Phase der Textgenese auf Indizien analysiert werden, nämlich die Einladung zur Marokkoreise durch den Diplomaten Jules Patenôtre.

2.3 Die Einladung von Patenôtre

Ein erster zu bedenkender Punkt ist, dass das Projekt zu „Au Maroc“ nicht die, so problematisch der Begriff auch ist, unabhängige Idee eines Schriftstellers war, sondern von offizieller Stelle an Loti herangetragen wurde. Im ersten Brief an ihn schreibt Patenôtre, dass in Marokko neu angekommene Diplomaten im Rahmen einer Reise zum Sitz des Sultans ihre Aufwartungen machen; Das gebiete es das Protokoll. Ferner werde der Diplomat von einer Delegation ranghoher Militärs begleitet; Als Marineoffizier käme auch Loti als Kandidat in Frage. Die Erfahrungen dieser Reise ließen sich gewiss für ein „livre original“ verwerten, und von der Zeitung L’Illustration, die ja bereits Lotis Texte über die Osterinseln gedruckt hatte, stelle auch einen Zeichner zur Verfügung (vgl. Loti 2000, S. 265 f.).

Ein Köder, mit dem Loti für die Mitarbeit gewonnen werden konnte, war schnell gefunden: „Loti (…) was unashamedly materialistic about his talent“ (Hartman 1994, S. 57). Ein mit Unterstützung von hoher Stelle angefertigter Text wie der über die Marokkoreise konnte mit Recht auf guten Absatz im Heimatland hoffen, zumal der Schriftsteller zu diesem Zeitpunkt keineswegs mehr unbekannt war.

Loti erhielt über Patenôtre als offiziellen Vertreter der französischen Regierung den Auftrag, den Verlauf der Reise zu protokollieren. Diese Konstellation wirft natürlich Fragen auf nach den Gründen für die Nominierung Lotis und die Absicht des Diplomaten und anderer involvierter Personen, und bei näherer Betrachtung sind auch die Hintergründe der Reise selbst nicht ganz unproblematisch, behält man die politische Situation in Nordafrika im Auge: „The gift of toys (…) is strongly indicative of French disdain for the weak young Sultan whom they hoped to manipulate, if not replace“ (Hartman 1994, S. 60).

Dass die Wahl des Diplomaten auf Loti fiel verwundert kaum, wenn man den Ruf des Schriftstellers in- und außerhalb Frankreichs bedenkt: „Cette attitude [l’antipathie pour l’Angleterre] a des origines lointains dans son enfance, et la vieille rivalité entre les deux marines nationales a entretenu et alimenté encore son hostilité“ (Quella-Villéger 1991, S. 65). Darin lag er mit der französischen Regierung auf einer Linie, die erst 1904 in der Entente cordiale[4] entschärft wurde. Loti war ein eifriger Verfechter der französischen Vormacht in Nordafrika und der Rolle Frankreichs als „protecteur de l’Islam“: „La méditerranée est un lac français“ (ebd., S. 67). Patenôtre konnte sich darauf verlassen, dass sein Historiograph keine unbequemen Fragen stellen würde und dass sein künstlerisches Talent gepaart mit der „richtigen“ Ideologie[5] einen Texte hervorbrächte, der das Publikum begeistern und weithin Verbreitung finden würde: „La plume de l’écrivain est bien sûr une arme toute pacifique au service de ce qui ne s’appelle pas encore la francophonie“ (ebd., S. 57).

Was Patenôtre jedoch aushandeln musste war das heikle Thema der inhaltlichen Form. Der Bericht sollte weder eine Liste europäischer Untaten an der einheimischen Bevölkerung noch ein offensichtliches Pro-Kolonisations-Pamphlet werden. Einen konkreten Hinweis auf das erwünschte Ergebnis gab Patenôtre bereits in seinem ersten Brief an den Schriftsteller, in einem Nebensatz: „J’ai pensé que l’ideée de visiter (…) un des rares pays qui ne soient pas encore entamés par la civilisation occidentale aurait peut-être quelque attrait pour vous“ (Loti 2000, S, 266). Er stellt deutlich heraus, dass das Objekt der Beschreibung das ursprüngliche Marokko sein sollte, und hier liegt auch eine Wurzel des offenen Exotismus in „Au Maroc“. Eine Konzentration auf „unverfälschte“ Elemente des Landes („pas encore entamés“) hatte zwangsläufig auch ihre Verklärung zur Folge, da die Perspektive des Betrachters bzw. des Lesers nunmehr einseitig war, und zwar einseitig positiv. Diese Einseitigkeit verteidigt Loti in seinem Vorwort[6] als von politischen Überlegungen losgelöste Objektivität und Neutralität, als „pures déscription“ (Loti 2000, S.17). Ob hinter der Erklärung reine Naivität in Bezug auf die Unschuld der Worte steckt oder bewusste Manipulation und Beschwörung der Leser – oder auch eine Mischung aus beidem – wird im Anschluss an die Textanalyse zu entscheiden sein.

3. Werkinterne Indizien

Bisher standen die äußeren Umstände, unter denen „Au Maroc“ verfasst wurde, im Zentrum des Interesses. Die kommenden Kapitel werden sich dagegen mit dem Text selbst befassen; Dabei steht die Suche nach Mustern im Vordergrund, die Aufschluss geben könnten über die Motive des Autors. Es ist evident, dass das Ergebnis kein Extrem auf der Skala von „Kolonialliteratur“ bis „harmloser Exotismus in Reinkultur“ sein wird. Pierre Loti ist ein zu vielschichtiger Schriftsteller, und seine Biographie birgt zu viele Widersprüche und Uneindeutigkeiten, als dass die Frucht seiner Arbeit simpel und primitiv sein könnte. Im besten Fall werden die einzelnen Isotopien gemeinsam betrachtet ein einigermaßen kohärentes Bild ergeben, das den Ausgangspunkt für eine Interpretation darstellt.

Da wie bei jedem anderen Kunst-Werk auch in diesem Fall das Werk, seine Geschichte und die Geschichte miteinander verwoben sind und einander durchdringen, wird man bei der Textanalyse auch immer wieder auf die besprochenen werkexternen Aspekte eingehen müssen.

3.1 Spannungen zwischen Inhalt und Formen der Vermittlung

Der erste Teil der Analyse befasst sich mit Differenzen zwischen den Aussagen Lotis und der Art und Weise, wie sie vermittelt werden. Die Herangehensweise an diese Problematik ist eher intuitiver Natur: Es handelt sich hier um Stellen, bei denen der Leser ein Übermaß gewisser literarischer Ingredienzen verspüren mag, deren genauere Eingrenzung auf den ersten Blick jedoch schwerfällt.

3.1.1 Ästhetik und Oberflächlichkeit

Wie schon bei der Betrachtung der Biographie Lotis deutlich wurde, spielt das Äußere der Dinge für ihn eine extrem wichtige Rolle. Von Kindesbeinen lebte er im unmittelbaren Kontakt mit Musik, Malerei, Schrift; Schon in seiner Jugend zeichnete und malte er viel, führte Tagebuch und lernte, Klavier zu spielen. Seine verschiedenen Begabungen übte er so lange gleichberechtigt nebeneinander aus, bis der wirtschaftliche Aspekt das Gleichgewicht zu Gunsten des Schreibens veränderte. Doch Loti fand einen Weg, im künstlerischen Ansatz dennoch vielseitig zu bleiben: „In my opinion, he simply ceased being a professional illustrator and became a word-painter à la Gautier instead“; „Art and music were natural conjuncts of [his] literary [life]“ (Hartman 1994, S. 58). Gemäß Lotis kindheitlicher Prägung spiegelt sich seine fast schon ganzheitliche Perspektive auf die Welt in seinen Texten wider; In „Au Maroc“ gibt er in opulenter Sprache die Sinneseindrücke wieder, die auf den europäischen Besucher in Marokko einströmen. Die Hierarchie der Sinne entspricht dabei derjenigen, wie sie natürlicherweise im Menschen angelegt ist. Es dominiert eindeutig der Gesichtssinn, nahezu jede neue Szenerie wird zunächst in ihrem Anblick beschrieben – und oft werden ihre Akteure dann aus ästhetischer Perspektive bewertet. Nach dem Motto „beauty is everywhere“ (ebd., S. 70) gebraucht Loti das Wort „beau“ fast inflationär, bei schönen Reitern (vgl. Loti 2000, S. 40), dem schönen Caid (S. 44, 52), und in Ermangelung intensiverer Attribute bleibt ihm nur noch der Superlativ: „Les plus belles figures (…), les plus belles attitudes, les plus beaux bras musculeux, les plus beaux chevaux“ (S. 89).

Was Loti dem Leser jedoch schuldig bleibt ist der Blick hinter das mal schöne, mal abstoßende Äußere, unter die Oberfläche. Er verbeißt sich in der prosopographischen Kartierung Marokkos und versucht sich gelegentlich in physiognomischer Deutung der Gesichtszüge (S. 84, „Un vielliard à tête extrêmement intelligente et rusée“). Doch letztlich bleibt für ihn das Marokko hinter der Fassade unerreichbar. Die aus der Malerei in die Schrift transponierten Techniken, welche er vorzüglich beherrscht, mögen das Objekt Natur stimmig abbilden. Am Objekt Mensch [7] dagegen versagen sie erwartungsgemäß: „Les figures demeurent indifférentes, indéchiffrables; il n’est pas possible d’y démêler une expression de sympathie ou de haine“ (S. 110, Hervorhebungen d. Autors). Seine „semantische Blindheit“ geht in dieser Szene noch einher mit dem Fehlen akustischer Reize, an denen er sich orientieren könnte: „Et d’ailleurs toutes ces bouches sont closes ; aujourd’hui c’est partout ce même silence qui pèse sur ce peuple, sur ces villes, sur ce pays entier“ (ebd.).

In der Hierarchie der Sinne folgen akustische Eindrücke in gewissem Abstand zu den optischen und werden außerdem häufig als unangenehm markiert, was besonders im Falle von Sprache und Musik der Einheimischen interessant ist: „Du reste, avec les duretés et les aspirations haletantes de la langue arabe, entre hommes du peuple, on a toujours l’air de se vomir des torrents d’injures“ (S. 29). Wie an weiteren Stellen wird auch hier deutlich, dass Loti nie Arabisch gelernt hat. Auch mit der marokkanischen Harmonie war er offenbar überfordert: Das beim Einzug in Fez angestimmte Ehrenkonzert klingt in seinen Ohren nach einer „cacophonie sauvage, presque effrayante…“ (S. 113). An letzter Stelle stehen olfaktorische Eindrücke, die selbst bei der Schilderungen der „mounas“ kaum Erwähnung finden, und in Fez meistens dem Schmutz und den Abfällen der Straßen entstammen (vgl. S. 116).

Insgesamt ist festzustellen, dass Loti dem Leser auf seiner Reise durch Marokko keineswegs ausschließlich „pures descriptions“ liefert, wie er es im Vorwort ankündigt. Auf der rastlosen Suche nach dem Reinen und Schönen wendet er etwas vorschnell Kategorien an, die erstens eindeutig dem okzidentalen Kulturkreis entspringen, und zweitens bei Menschen das eigentlich konstitutive und zentrale Merkmal des Charakters übersehen. Hätte er den Diskurs mit mehr und tieferer Reflexion versetzt, wäre vielleicht ein interessanter Kulturvergleich das Ergebnis gewesen. Doch so liefert er Interpretationsansätze im Schnellverfahren: „Leurs figures, généralement belles, ont je ne sais quoi de sombre et de fermé ; en eux-mêmes, ils poursuivent un rêve religieux que nous ne pouvons plus comprendre“ (S. 67).

Wie im nächsten Abschnitt deutlich werden wird, ist Loti nicht nur ständig auf der Jagd nach ästhetischen Szenen, sondern sein Ziel ist auch die Befriedigung des unstillbaren Bedürfnisses nach Selbstinszenierung – im doppeltem Sinne: einerseits dem Bedürfnis nach Inszenierung seiner Person, andererseits nach Verortung seiner Person in der Fremde.

3.1.2 Pierre Lotis Selbststilisierung

Eng verbunden mit der Tendenz zur Überbewertung äußerlicher Merkmale ist Lotis Kult um seinen eigenen Körper und sein Spiel mit Rollenmustern. Auf Photographien ließ er sich in verschiedenen Kostümen und Posen festhalten, bei Gelegenheiten wie z.B. Maskenbällen: als Akrobat oder Matrose, als orientalischer Krieger oder ägyptischer Pharao (vgl. Blanch 1983, Abbildungen und Titelbild). Immer mit ernstem, stolzem Gesichtsausdruck, den abwesenden, melancholischen Blick in unbestimmte Ferne entrückt. Der abgebildete Mann ist zum Zeitpunkt der Photographie in Gedanken überall, nur nicht dort, wo die Kamera ihn einfängt. Doch die Verwandlung reicht tiefer: Kein Quäntchen ist mehr übrig von der personnalité Julien Viaud, er ist ganz und gar Pierre Loti, die Kunstfigur, eine personnage[8] – eine seiner Romanfiguren? Selbst im Alltag passte er sein Aussehen seinem hohen Schönheitsideal an. Er trug Absätze, um größer zu wirken, und korrigierte seinen Teint mit Rouge und Puder, wodurch er in seiner Umgebung für Aufsehen sorgte (vgl. ebd., S. 176).

Besonders gerne projizierte er sich in orientalische Rollen, wo seine vielzitierte „âme moitié arabe[JP1] “ zum Tragen kommt. Es genügte ihm nicht, mit der nordafrikanischen Kultur im unmittelbaren Kontakt zu stehen, nein, er wollte an ihr teilhaben, sie sich einverleiben und in ihr aufgehen. Er war regelrecht besessen vom „desire to become one of the natives, to melt into the foreign culture“ (Hartman 1994, S. 68) und versuchte dies wiederum über die äußere Hülle zu erreichen. Wie auf den oben erwähnten Photographien verkleidete er sich auch in den fremden Ländern und hoffte, möglichst einheimisch zu wirken. Wichtiger als die perfekte Täuschung der Umgebung war ihm allerdings die Täuschung seiner selbst. Anstatt das Leben in Fez aus der reflektierten Distanz zu beobachten, kokettiert[9] er – nach nur neun Tagen Aufenthalt – mit seiner fortgeschrittenen Adaption an die Stadt: „Je n’ai presque plus envie de rien écrire, trouvant de plus en plus ordinaires les choses qui m’entourent“ (S. 181). Dass dieses Gefühl eng mit seinem angepassten Äußeren verknüpft ist, wird einige Seiten später deutlich, als er sich ausmalt, mit seinen „Seelenbrüdern“ gemeinsam zu beten: „Je trouverais tout naturel de venir m’agenouiller à côté de ces gens dont je porte le costume “ (S. 189, Hervorhebungen d. Autors). Das Motiv tritt immer wieder auf und es wirkt so, als ob sich Loti selbst beschwört, dass sein Eindruck nicht täuscht und dass er von der Bevölkerung als einer der ihren akzeptiert wird. Ob er auch den Leser davon überzeugen kann, bleibt dahingestellt; Zumindest Denise Brahimi ist überzeugt von seiner „aptitude particulière à s’adapter au pays“ (Brahimi 1990, S. 13), die er beim Kennenlernen eines „tholbas“ beweist. Allerdings bleibt dieser Kontakt zu einem Einwohner Fez’ auch der einzige im Text erwähnte, der über die reine Begrüßung hinausgeht.

Die Schlüsselwörter des heuristischen Ansatzes von Loti in „Au Maroc“ sind regarder und connaître. Der Blick ist Ersatz für den Durch-Blick, und konsequenterweise verwechselt er dann auch erkennen und kennen. Statt stolz zu behaupten, „je connais maintenant chaque recoin de ce bazar“ (S. 189), sollte er lieber bescheidener von reconnaître im Sinne von „wiedererkennen“ sprechen.

3.1.3 Interpretation statt Kommunikation

Wie bereits erwähnt, sprach Loti keine der marokkanischen Sprachen, war also nicht in der Lage, direkt mit den Einheimischen zu kommunizieren. Folglich war er beim Versuch, seine fremdartige Umgebung zu begreifen, auf sich selbst zurückgeworfen. Hilfe erhielt er darin lediglich von den anderen französischen Mitreisenden, die allerdings selbst vor ähnlichen Problemen standen, und von Dolmetschern und Dienern, die ihrerseits wohl kaum großes Interesse an Loti hatten und einfach nur die Arbeit verrichteten, für die sie bezahlt wurden – und auch das nur in Grenzen: Seine Diener sagen morgens „bonjour, mettent leurs burnous et vont se promener. Ni par argent, ni par menaces, j’obtiendrai jamais qu’ils me servent un peu mieux“ (S. 143).

Wenn keinerlei Anhaltspunkte für das Verständnis eines fremden Gegenstandes gegeben sind, bedient man sich in aller Regel der Parallele und vergleicht das Unbekannte mit Bekanntem. Problematisch an dieser Technik ist, dass so beim Fremden möglicherweise Aspekte entdeckt werden, die zwar vertraut wirken, was sich jedoch als Trugschluss auf der Basis von Oberflächlichkeiten erweist[10]. Ein besonders perverses Beispiel für eine solche Fehlinterpretation findet sich in der Beschreibung des „supplice du sel“, bei der Loti die Grausamkeit der Foltermethode mit dem Hinweis relativiert, dass „les marocains (…) sont loin d’avoir notre degré de sensibilité nerveuse“ und außerdem „dédaignent absolument la mort“ (S. 97). Loti stellt eine fatale Verbindung her zwischen dem Grad der „Zivilisierung“ und der körperlichen Empfindungen der Marokkaner, was dazu führt, dass sie in seinen Augen offenbar näher am Tierreich stehen als Europäer[11].

Wo der Inhalt Loti verborgen bleibt, befasst er sich mit der Form. Der Klang der arabischen Sprache spricht ihn nicht sehr an, wie oben bereits bemerkt wurde, und es scheint ihm nicht der Sinn danach zu stehen, sich eingehender mit ihr zu beschäftigen; An arabischen Wörtern verwendet er im ganzen Text lediglich vier bis fünf, doch er hätte auch diese wenigen lieber vermieden, entschuldigt sich explizit dafür und erklärt umgehend ihre Bedeutung (S. 35, 43, 59). Zwar weiß er nicht, was die Einheimischen mit ihren Gesängen sagen wollen, doch für ihn sind sie „quelque chose de si mystérieusement triste, qu’on se sent glacer jusqu’aux moelles“ (S. 79). Denn sie passen gut ins Bild dieser weiten, menschenleeren Landschaft, die je nach Belieben „nos landes du sud de la France“ ähnlich sieht (S. 41) oder auch nicht: „Comme cela repose les yeux, après notre petite campagne française“ (S. 39).

Pierre Loti macht keine Fehler, die ihm nicht zu verzeihen sind. Es verlangt unendlich viel von einem Autor, unter derart ungünstigen Voraussetzungen – kurze Dauer des Aufenthalts, fehlende Sprachkenntnisse, Erwartungshaltung der Auftraggeber – ein Porträt eines Landes zu zeichnen, das ihm in jeder Hinsicht gerecht wird, zumal Loti als Mitglied der ambassade vom Volk abgeschottet war. Was man ihm allerdings vorwerfen muss, ist seine mangelnde Reflexion während des Schreibprozesses, denn sie führt dazu, dass er im Ergebnis ausgerechnet einer Sache zuarbeitet, von der er sich ausdrücklich distanziert, nämlich der leichtfertigen Öffnung Marokkos für Europa. Es bleibt die Erkenntnis, dass er „neither fully understood nor appreciated, what he saw“ (Hartman 1994, S.63), und dass es ihm nicht gelungen ist, die Kluft zwischen Wunsch und Realität zu überbrücken.

3.2 Der kolonisatorische Subtext

Nachdem eben einige Aspekte angesprochen wurden, die vermuten lassen, dass Pierre Loti nicht immer Herr über seine Feder war, sollen auf den folgenden Seiten Techniken herausgearbeitet werden, mit denen Loti sein Ziel zu erreichen suchte. Vielleicht macht ein Begriff in die Sprachwissenschaft den Unterschied deutlich: Lotis Aussagen sollen auf die Perlokution hin untersucht werden, also darauf, welche Reaktion er beim Leser auslösen will. Man muss sich folglich von der Textoberfläche lösen und auf die Ebene des Subtextes wechseln, um Isotopien besser ausmachen zu können.

3.2.1 Schilderung eines „alten Marokko“

Die wohl auffälligste Isotopie ist die des „vieux Maroc“, für die er sich zwar entschuldigt (vgl. S. 118), die er aber dennoch für so zutreffend hält, dass er sie bei jeder Gelegenheit anwendet. Seine Interpretation des Alters zielt immer in die Richtung des Gebrechlichen, Moribunden, schon lange vom „vieux suaire de l’Islam“ (S. 24) bedeckten. Dem afrikanischen Kontinent steht über das Mittelmeer Europa als „civilisation moderne“ (S. 26) gegenüber, das seinerseits dynamisch, agil und zum Guten hin erneuernd wirkt.

Unter dem Deckmantel des vordergründigen Respekts vor den „traditions millénaires“ (S. 43) der arabischen Kultur weist er ständig auf den Verfall hin, der Marokko dahinraffe. Schon offener kritisiert Loti das ineffiziente Straßen- und Brückensystem des Landes, das wirklich unvergleichlich schlechter als das französische ist (vgl. S. 73). Daran ist auch nichts Böses zu finden, schließlich sind gute Wege die Basis für gut funktionierende wirtschaftliche Strukturen. Das einfache Beispiel überzeugt jeden vernünftigen Leser, der diese Denkweise in der Konsequenz auch auf die übrigen maroden Einrichtungen in Marokko anwendet: die uralten Häuser und labyrinthartigen Gassen, die altertümlichen Transportmittel; im nächsten Schritt dann die Regierungsform, das Wirtschafts- und Bildungswesen, letztlich auch der Islam als eine Religion, die, wie Loti nicht müde wird zu betonen, wie ein Leichentuch über dem Land liegt. „Europa hat die Pflicht, diesem Land aus dem Mittelalter[12] in die Neuzeit zu helfen“, so muss der zeitgenössische Leser gedacht haben, wenn er den rasanten Fortschritt im eigenen Land, gegründet auf wissenschaftliche Erkenntnisse und deren industrielle Umsetzung, vergleicht mit dem Dahinvegetieren Marokkos.

Noch einmal: Loti schrieb nicht heimtückisch. Er versuchte redlich, sich gegen den Zivilisationswahn zu stellen, dem man als Europäer damals wohl nur schwer entkommen konnte. Da dies ihm aber offenbar nicht gelang, ist das Ergebnis umso gefährlicher.

3.2.2 Hinweise auf das Potenzial des Landes

Ein nur altes und hilfebedürftiges Marokko besitzt zugegebenermaßen wenig Attraktivität, und die Besetzung eines Landes, dessen Aufbau nur Geld und Energie kosten wird, wird weder in der Politik noch in der Bevölkerung Unterstützung erhalten. Loti warb also um Sympathie für das Land, zeigte auch die guten Seiten auf und versuchte mit rationalen Argumenten, aber auch mit emotionalen Anhaltspunkten die Idee Marokkos im kollektiven Gedächtnis zu verankern. Letzteres Ziel zu erreichen fiel ihm deutlich leichter, seine pittoresken Beschreibungen der Landschaft und der Menschen sowie regelmäßig wiederkehrende Vergleiche mit Frankreich (vgl. S. 41, S. 93, S. 151) bieten dem Leser „points de repère“ zur Identifikation mit Marokko. Das anfängliche Gefühl der Fremdheit, das auch Loti überkommt („l’impression de dépaysement que ce Maroc m’a causée d’abord“, S. 25) verflüchtigt sich in dem Maße, wie sich die Dinge wiederholen. Der unabänderliche Rhythmus der „fantasias“, „mounas“ und Blumenteppiche beruhigt und gibt Sicherheit in den im Kontakt zur fremden Kultur problematisch gewordenen Dimensionen Raum und Zeit.

Im Vorwort versagt sich Pierre Loti einer ökonomisch-politischen Perspektive auf Marokko; Allerdings hält er sich nicht ganz an diese Ankündigung, blitzt doch immer wieder ein begehrlicher Blick durch den Schleier seiner Schwärmereien hindurch: „Quel grenier d’abondance ce Maroc pourrait devenir !…“ (S. 62), und, richtige Verteilung der Güter vorausgesetzt, schnell wäre das Land frei von Hungersnöten (vgl. S. 75). Loti arbeitet mit Nachdruck daran, das Bild Marokkos als Wüstenstaat aus den Köpfen seiner Landsleute zu verbannen, wie sie es von Algerien kennen. Häufiger Niederschlag, saftige Wiesen und zahlreiche Gewässer lassen an eine „Bretagne d’autrefois“ denken, „une Bretagne préhistorique, vue au printemps“ (S. 51).

Überhaupt muss sich im Wirtschaftssystem der Araber und in ihrem Umgang mit den natürlichen Ressourcen einiges ändern, denn „détachés des commerces de ce monde et insoucis des acheteurs“ (S. 68) wie sie sind, können die Missstände des Landes nicht beseitigt werden. Sehr brisant ist außerdem der Hinweis auf den regen englischen Exporthandel, der auf einen großen und vor Allem stabilen Markt abzielt: nämlich auf die Einfuhr von Tee, den die Marokkaner so gerne trinken, „ainsi que les samovars pour le faire et les tasses dorées pour le boire“ (S. 69).

Seine Botschaft vermittelt Pierre Loti auf subtile Weise: Marokko mag alt und verkommen sein, doch unter all dem Schmutz lässt sich wahre Schönheit vermuten. Und wer letztlich den Schmutz beseitigt, darf auch für sich reklamieren, was er dort vorfindet.

3.2.3 Die Leserzentriertheit

Besonders tief auf der Sub-Ebene kann man Anzeichen für den appellativen Charakter des Textes finden, der sich auch aus der Betrachtung textexterner Ereignisse begründen lässt. Bereits im Auftrag durch Jules Patenôtre ist ja die Berücksichtigung der Leserperspektive enthalten (vgl. Kap. 2.3), was im Folgenden an ausgewählten Textstellen exemplifiziert werden soll.

Zunächst ist zu erwähnen, dass Loti selbst aus der sozialen Schicht entstammt, aus der ein Großteil seiner Leser kommt: Er ist „citoyen provincial, protestant, bourgeois“ (Quella-Villéger 1991: S. 54 f.), fand aber den Weg in die Kreise der Intellektuellen, Akademiker und – was weitaus wichtiger ist – der politischen Entscheidungsträger (vgl. ebd.). Er hat somit das Potenzial, als Mittelsmann zwischen Kleinbürgertum und Regierung zu fungieren, aber mindestens ist er Stimmungsdetektor und –lenker. In einer Welt, die zunehmend unübschaubarer wird, in der „l’homme de la rue a une perception limitée des questions internationales“ (ebd.), bietet Loti Orientierungshilfe an. Eingedenk dieser potenziellen Macht versucht auch Patenôtre Einfluss auf den Titel des Buches zu nehmen und bittet ihn, „Au Maroc“ durch „Une Ambassade à la Cour de Fez“ (vgl. Loti 2000: S. 269), unter Rekurs auf die Rezeption in Frankreich.

Schnell wird deutlich, dass sich dieses Schreiben der Eigenschaften des Mediums Buch sehr bewusst ist. Loti wendet sich nicht nur implizit, sondern auch explizit an die Leser. Bereits das Vorwort ist ja per se an das Publikum gerichtet, doch er wählt noch innerhalb dieser Menge einzelne Gruppen aus und trifft quasi die Entscheidung, wer den Text lesen soll und wer nicht: „Que ceux-là seuls me suivent dans mon voyage“, dagegen „pour ce qui est des autres, qu’ils s’épargnent l’ennui de commencer à me lire“ (S. 19). In Kapitel XV folgt ein weiterer Appell an „les personnes à théories humanitaires“ (S. 96), fast schon eine Maßregelung, in jedem Fall aber eine Belehrung, wie das „supplice du sel“ zu bewerten sei und ein reichlich misslungener Versuch, die marokkanische „Mentalität“ zu vermitteln.

Die genannten Stellen sind allesamt Zeugnisse der Reflexion Pierre Lotis über die Perspektive des Lesers und die Wirkung des Textes beim Publikum. Vom Verständnis von „Au Maroc“ als selbstvergessenes, im Rausch der Ästhetik schwelgendes Schreiben, muss man sich also trennen. Dagegen muss eine Interpretation des Textes in jedem Fall die Publikumsorientierung berücksichtigen.

4. Schluss

Blickt man auf die Aspekte zurück, die im Laufe der Analyse angesprochen wurden, so könnte man den Eindruck bekommen, Pierre Loti hätte sein „Au Maroc“ mit psychologisch durchdachter und zielgenau eingesetzter Propaganda zu einem Instrument im Dienste der Kolonisationsbestrebungen Frankreichs geformt. Dieser extremen Interpretation widersprechen nicht nur seine – wenn auch problematischen – antikolonialistischen Appelle, sondern auch die unzähligen glaubhaften Bekundungen echter Sympathie mit dem Land. Die Frage ob Loti schuldig im Sinne der bewussten Steuerung ist, bleibt offen. Es sprechen auch viele Indizien dafür, dass er selber dieses Land begehrte und die gleiche Leidenschaft auch in seinen Landsleuten entfachen wollte. Darunter finden sich sogar Anzeichen für sein Erfassen der rationalen Gründe, die für den Griff nach Marokko sprechen – dies rückt ihn wieder in die Nähe der Kolonialliteratur. Wenn Elwood Hartman den „Angeklagten“ Loti als „both guilty and innocent“ (Hartman 1994, S. 63) bezeichnet, so schafft er einen moralischen Hybridcharakter, der den Kern des Dilemmas trifft und den aufzulösen m. E. nahezu unmöglich ist.

Sollte man den Hintergründen seines Schreibens überhaupt gerecht werden können, so vielleicht durch einen Kompromiss. In seinen Augen war Marokko ein „kranker Mann an der Straße von Gibraltar“, der früher oder später fallen würde; Angesichts dieses unvermeidbaren Schicksals galt es lediglich denjenigen zu bestimmen, der in absehbarer Zeit die Führung übernehmen könnte. Wie bereits zur Genüge bezeugt wurde, kam für ihn nur Frankreich in Frage. In dieser Konstruktion liegt auch der grundsätzliche Widerspruch begründet, in dessen Spannungsfeld der gesamte Text steht. Der Autor schwankt zwischen „des réflexes viscéraux anticolonialistes (…) et les idées ouvertement colonialistes de quelques uns de ses amis“ (Quella-Villéger 1991, S. 71). So kann der Leser nicht klar erkennen, ob Loti nun das Protektorat oder das Reservat Marokko fordert.

Welchen kulturellen Schaden der vermeintlich sanfte Tourismus in fremden Ländern verursacht, ist heute bekannt; Die fatale Erfindung des „sanften Kolonialismus“ war Pierre Lotis großer Fehler.

Literaturverzeichnis

Primärliteratur:

Loti, Pierre (2000) : Au Maroc. Saint-Cyr-sur-Loire, Christian Pirot.

Sekundärliteratur:

(1994): Der Brockhaus in einem Band. Leipzig, F.A. Brockhaus.

Blanch, Lesley (1983): Pierre Loti. Paris, Seghers.

Hardy, Georges (1926): L’âme marocaine d’après la Littérature Française. Paris, Emile Larose.

Hartman, Elwood (1994): Three Nineteenth-Century French Writer/Artists and the Maghreb. Tübingen, Gunter Narr.

Quella-Villéger, Alain (1991): La politique méditerranéenne de la France. Paris, L’Harmattan.

Brahimi, Denise (1990): „Une ogive isolée, un dattier solitaire“, in: Les Carnets de l’exotisme n° 4/1990. Poitiers, Le Torii.

Verarbeitete Online-Dokumente:

Artikel zu „Geschichte Algeriens“ und „Abd el-Kader“ auf www.wikipedia.de

Zur Geschichte von Ceuta und Melilla: www.uni-bayreuth.de/departments/stadtgeo/ meyer/ceuta-melilla-internet.pdf

[...]


[1] Dass der Begriff „Orient“ problematisch ist, besonders im Zusammenhang mit Marokko, dem wohl am wenigsten orientalischen Land Nordafrikas, ist klar und wurde bereits an anderer Stelle ausführlich diskutiert (vgl. Hardy 1926). Hier wird er dennoch gebraucht, da er im zeitgenössischen Kontext intensive Verwendung fand, so auch bei Loti.

[2] Die durch die Engländer ausgebildeten Truppen erwähnt Loti bei der Beschreibung des Einzugs in Fez und bedauert stilistische Verfehlungen bei der Auswahl der Uniformen: „Ils donnent l’impression d’une armée de singes“ (Loti 2000, S. 112).

[3] Im Jahr 1889, als Loti die Marokkoreise machte, fand in Paris die Weltausstellung statt. Die Präsentation kolonisatorischer Erfolge stand dort gewiss nicht an erster Stelle; Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass auf einer Messe, die für die wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Erfolge einer Nation werben sollte, auch außenpolitische Themen eine Rolle spielten. Loti musste auf dieses Ereignis eingehen, denn das französische Publikum war dadurch stark auf alles sensibilisiert, was den Standpunkt ihrer Nation in der Welt betraf.

[4] In der Entente cordiale garantierte England u.a. Frankreich absolute Aktionsfreiheit in Marokko; Im Gegenzug beendete Frankreich alle Bemühungen in Ägypten (vgl. Brockhaus Enzyklopädie). Die Entente setzte also den Schlusspunkt für Spannungen, die ihren Ursprung auch im französischen Kolonialengagement hatten. Loti freilich war keineswegs einverstanden mit dem neuen Bündnis: „J’ai été humilié par cette ‚entente‘ comme par une honte nationale; ce n’est en effet qu’un pacte sans valeur“ (Quella-Villéger 1991, S. 67).

[5] Quella-Villéger enteckt außerdem „derrière le décolorisme de son écriture, le tricolore de sa conscience politique et nationale“ (ebd., S. 54)

[6] Wie er selbst betont stellt er „Au Maroc“ sein erstes Vorwort überhaupt voran; Offensichtlich war ihm klar, dass der Text auf verschiedene Weisen verstanden werden kann, besonders vom zeitgenössischen bürgerlichen Publikum, das bei der Lektüre bestimmte Erwartungen an den bekannten Schriftsteller herantrug.

[7] Elwood Hartman spricht von „ecstasy before the beauty of landscapes and peoples as objets d’art “ (Hartman 1994, S. 59)

[8] Im Vorwort zur neuen Auflage von „Au Maroc“ weist Denise Brahimi darauf hin, dass Pierre Loti selbst unterschied zwischen seiner eigenen, dauerhaften „personnalité“ und den „personnages“, deren Rollen er gelegentlich annahm (vgl. Loti 2000, S. 13).

[9] Das Kokettieren thematisiert er übrigens selbst in seinem Tagebuch; Dort entwirft er einen ganzen Plan, wie er sein Ausehen orientalischer gestalten könnte: „Je les [mes yeux] agrandirai encore un peu, à la manière arabe ; ce sera ma coquetterie du désert“ (S. 274).

[10] Einen ganzen Katalog derartiger Irrtümer, die von Autoren der exotischen Reiseliteratur begangen wurden und werden, hat Georges Hardy zusammengestellt (vgl. Hardy 1926).

[11] Loti evoziert an anderen Stellen tatsächlich Elemente aus der Fauna, so z.B. in Vergleichen zwischen dem Ruf des Muezzin und Tierstimmen (S. 187) oder dem entfernten „You! You!“ der Frauen, das ihn an das Zirpen von Zikaden erinnert (S. 83).

[12] Die Situation in Marokko mit dem europäischen Mittelalter zu vergleichen ist nach Hardy ein Topos, der nicht nur bei Loti auftaucht (vgl. Hardy 1926: S. 7).

Excerpt out of 21 pages

Details

Title
Pierre Lotis "Au Maroc": Exotischer Reisebericht oder Vorbereitung zur Kolonisation?
College
University of Bayreuth
Course
Le Maroc dans la Littérature Française
Grade
1,0
Author
Year
2004
Pages
21
Catalog Number
V109269
ISBN (eBook)
9783640074501
File size
394 KB
Language
German
Keywords
Pierre, Lotis, Maroc, Exotischer, Reisebericht, Vorbereitung, Kolonisation, Maroc, Littérature, Française
Quote paper
Simon Martin (Author), 2004, Pierre Lotis "Au Maroc": Exotischer Reisebericht oder Vorbereitung zur Kolonisation?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109269

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