Die Anomietheorie. Eine kritische Analyse


Dossier / Travail de Séminaire, 2002

28 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Durkheims Verdienst für die Anomietheorie

3. Die Anomietheorie von Robert K. Merton
3.1. Die Kulturelle Struktur
3.2. Die Soziale Struktur
3.3. Zum Begriff der Anomie bei Merton
3.4. Formen der Anpassung
3.5. Annahmen der Theorie

4. Kritische Beurteilung der Anomietheorie von Merton
4.1. Einordnung
4.2. Beurteilung der Theorie

5. Empirische Studien zur Anomietheorie
5.1. Methodologische Notwendigkeiten
5.2 Die Beziehung von sozialer Schicht und Gewaltdelinquenz.
5.3 Beurteilung der Ergebnisse

6. Fazit
6.1. Abschließende Beurteilung der Anomietheorie von Merton
6.2. Ausblick in die Zukunft

Anhang

Literaturliste

1. Einleitung

Die erstmals 1938 publizierte Anomietheorie von Robert K. Merton, „die für einen Zeitraum von fast 30 Jahren als das Glanzstück einer soziologischen Theorie abweichenden Verhaltens galt“ (Bohle 1975: 199), übt noch heute, fast 65 Jahre nach ihrer Veröffentlichung, einen großen Einfluss auf die kriminologische Forschung und Theoriebildung aus.

In der nachfolgenden Arbeit werden zunächst die Ursprünge der Anomietheorie anhand einer Würdigung der Arbeiten Durkheims beleuchtet, ehe im zweiten Kapitel eine ausführliche Darstellung der Anomietheorie Mertons erfolgt. Dabei wird das für die Theorie essentielle Ziel – Mittel – Schema beschrieben und eine genaue Erörterung des Begriffs der „Anomie“ vorgenommen. Es folgt eine Analyse der „individuellen Formen der Anpassung“ als auch der grundsätzlichen Annahmen der Theorie.

Anschließend wird die Anomietheorie einer kritischen Beurteilung unterzogen. Es werden die theoretische Konzeption und die Geltungsansprüche der Theorie thematisiert, ehe anhand einer umfangreichenErörterung, der Mikro – und der Makroteil der Theorie und die ihr zugrundeliegenden Variablen bewertet werden. Hierzu werden die Ansätze von Explikationen der Mertonschen Konzeption, Kritik von außen, das heißt von Vertretern konkurrierender Theorien abweichenden Verhaltens, als auch eigenständige Überlegungen einfließen.

Der nachfolgende empirische Teil der Arbeit umfasst einerseits eine Darstellung der methodologischen Notwendigkeiten, die für eine adäquate Überprüfung der Anomietheorie zu befolgen sind, andererseits wird ein kleiner Teilaspekt der Theorie, die Beziehung zwischen sozialer Schichtung und dem Delikt der Körperverletzung, anhand einer Studie der Autoren Albrecht und Howe untersucht, um dann zu einer Beurteilung der Ergebnisse der Studie überzugehen.

Im letzten Kapitel wird unter Berücksichtigung der in der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse, eine abschließendes Fazit zur Anomietheorie gezogen und der Versuch unternommen einen Ausblick in die Zukunft zu werfen.

2. Durkheims Verdienst für die Anomietheorie

Die Anomietheorie von Robert K. Merton erscheint, ohne die Vorarbeiten seines herausragenden Vorläufers Emile Durkheim, nur schwer vorstellbar, weshalb eine angemessene Analyse der Theorie eine Berücksichtigung der Arbeiten Durkheims erfordert.

Seine ersten maßgeblichen Ausführungen zur Anomie publizierte Durkheim 1893 in „De la division du travail social“, wo er den Prozess der Arbeitsteilung und den damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen beleuchtet.

Durkheim analysiert scharfsinnig, dass mit dem Einsetzen einer ausgeprägten Arbeitsteiligkeit, jener Mechanismus, der in vorindustriellen Kollektiven ein Gefühl der Zusammengehörigkeit produziert, nämlich das ähnliche Leben der Individuen aufgrund der zunehmenden Differenzierung der Gesellschaft immer mehr an Bedeutung verliert.

Da den arbeitsteiligen Gesellschaften das Fundament dieser von Durkheim mit dem Begriff „Mechanische Solidarität“ bezeichneten Zusammengehörigkeit entzogen ist, müsste sie in differenzierteren Kollektiven durch eine sogenannte „Organische Solidarität“ ersetzt werden, die ihre Basis auf der Einsicht des Individuums gründet, dass jeder von jedem abhängig ist. Doch das Wissen des Individuums um die Interdependenzen reiche für sich allein genommen nicht aus, auch „ ... Regulierungen der Arbeitswelt durch Staat und Gesellschaft“ (Ortmann 2000: 89) seien notwendig, um die „Organische Solidarität“ zu etablieren.

Andernfalls, so Durkheim, entwickle sich im Kollektiv ein Zustand der Anomie.

Ausgangspunkt dieser Analyse ist Durkheims Diagnose, wonach der Mensch von Natur aus unersättlich sei, denn „ da nichts die Wünsche einschränkt, überschreiten sie immer und uferlos die Mittel, über die sie verfügen, nichts könnte sie beschwichtigen.“ (Durkheim 1966: 395) Pessimistisch ausgelegt, ist der Mensch also von Geburt an zum Unglück verurteilt.

Demzufolge erscheint Glück nur dann möglich, wenn es gelingt, Bedürfnisse und Mittel zur Bedürfnisbefriedigung in ein ausgewogenes Gleichgewicht zu bringen.

Die „Leidenschaften“, so Durkheim, müssten eingedämmt werden, denn „ nur dann werden sie mit den Möglichkeiten in Einklang gebracht werden und folglich befriedigt werden können.“ (Durkheim 1988: 399) Allein sei dies dem Individuum aber nicht möglich, denn „ ... nur die Gesellschaft, unmittelbar und insgesamt oder auch mittelbar durch eines ihrer Organe, vermag diese mäßigende Rolle zu spielen.“ (Durkheim 1966: 397)

Anomie ist für Durkheim also „ ... die Folge einer plötzlich eintretenden, schwerwiegenden und die gesamte Gesellschaft betreffenden Gleichgewichtsstörung aus Bedürfnissen und den zu ihrer Befriedigung zur Verfügung stehenden Mitteln ...“ . (Ortmann 2000: 99) Vor allem in Zeiten einer Wirtschaftkrise bzw. eines großen Wirtschaftsaufschwungs komme es zum Verlust des gesellschaftlichen Gleichgewichts: Im Falle der Krise, so Durkheim, verharren die Bedürfnisse des Individuums, auf jenem Anspruchsniveau, als die Gesellschaft noch im Gleichgewicht war, so dass sie die, während der Krise begrenzten Mittel und die Möglichkeiten übersteigen. Bei einem Boom hingegen böten sich plötzlich ungeahnte, völlig neue Möglichkeiten und das Individuum wisse nicht mehr „ ..., was möglich ist und was nicht, was gerecht ist und was ungerecht, welche Ansprüche und Hoffnungen legitim sind und welche maßlos ...“(Durkheim 1966: 401). Als Bestätigung seiner Überlegungen dienen Durkheim statistische Erhebungen zum Selbstmord, den er als wichtigen Indikator für Anomie erachtet. So ist sowohl bei Wirtschaftskrisen, als auch bei Wirtschaftsbooms ein signifikantes Ansteigen der Suizidfälle zu verzeichnen.

Trotz des begrenzten Rahmens der Arbeit soll noch kurz auf andere Verdienste Durkheims zur Entwicklung von kriminologischen Theorien eingegangen werden.

So ist er der erste Autor, welcher das abweichende Verhalten aus einer für seine Zeit vollkommen neuen Perspektive analysiert. Er sieht im Verbrechen nicht mehr ausschließlich den pathologischen Charakter, vielmehr hält er Kriminalität für ein weitgehend normales Phänomen. Seine Erklärung ist, dass es nie eine Gesellschaft gab, „ ... in der keine Kriminalität existierte.“(Durkheim 1974: 3)

Nicht das Verbrechen an sich, „ ... sondern extreme Schwankungen seiner Häufigkeit (...) indizieren kranke Gesellschaften.“(Lamnek 1996: 113) Kriminalität ist für Durkheim ein sozialer Tatbestand, der als solcher nur durch soziale Tatsachen erklärbar sei. Beim Verbrechen handele es sich um eine notwendige Entscheidung, die „ ... mit den Grundbedingungen eines jeden sozialen Lebens verbunden und damit zugleich nützlich ...“ (Durkheim 1974: 6) sei. „Denn die Bedingungen, an die es geknüpft ist, sind ihrerseits für eine normale Entwicklung des Rechtes und der Moral unentbehrlich.“ (a.a.O.: 6)

3. Die Anomietheorie von Robert K. Merton

„Warum schwankt die Häufigkeit abweichenden Verhaltens in verschiedenen Sozialstrukturen und warum haben die Abweichungen unterschiedliche Formen und Muster in verschiedenen Sozialstrukturen ?“ (Merton 1974: 285)

Zur Beantwortung dieser Ausgangsfragestellung entscheidet sich Merton dafür, zwei analytisch streng zu unterscheidende Kategorien einzuführen:

Die Kulturelle Struktur und die Soziale Struktur.

3.1. Die Kulturelle Struktur

Nach Merton zeichnet sich die kulturelle Struktur durch zwei, scharf zu trennende Elemente aus: Die Kulturellen Ziele und die institutionalisierten Normen

3.1.1 Kulturelle Ziele

Erstes Element der kulturellen Struktur sind die „ ... kulturell definierten Ziele, Zwecke und Interessen, die allen Mitgliedern der Gesellschaft, oder solchen in bestimmten Positionen, als legitim vor Augen stehen ... “(Merton 1995: 128), „ ... Ziele also, die Menschen als Ergebnis sozialer Bedingungen haben und verfolgen.“(Ortmann 2000: 77)

Merton ortet also, im Gegensatz zu Durkheim oder Hirschi, dem bedeutendsten Vertreter der Kontrolltheorie, in der sozialen Umgebung und im kulturellen Wertesystem der Gesellschaft, nicht in der Natur des Menschen, die Quelle für Wünsche, Ziele oder Ansprüche.

Auf die amerikanische Kultur bezogen, stellt Merton die Diagnose, dass über alle Gesellschaftsschichten hinweg, das „Erfolgsmotiv“, vor allem in Hinblick auf finanziellen Erfolg und Reichtum, tiefgreifend als Zielvorstellung verankert sei.

Wichtigste Bereiche, in denen zu einer Internalisierung der Ziele beigetragen werde, sind nach Merton die Familie, die Schule, der Arbeitsplatz und der Bereich der Massenmedien.

3.1.2 Institutionalisierte Normen

Der Komplex der institutionalisierten Normen, so Merton, „ ... definiert, reguliert und kontrolliert die zulässigen Formen des Strebens nach diesen Zielen.“ (Merton 1995: 128) So ist in jeder Gesellschaft „die Wahl der Mittel zur Erreichung der kulturellen Ziele durch institutionalisierte Normen eingeschränkt“ (a.a.O.: 129).

Ein institutionalisiertes Mittel zum Erreichen von finanziellen Erfolges wäre z.B. schwere Arbeit; der gewinnbringende Verkauf von Heroin hingegen ein illegitimes Mittel.

3.1.3 Die Beziehung Kulturelle Ziele ó Institutionalisierte Normen

Die beiden Elemente der kulturellen Struktur stehen in einer engen Beziehung. Je nach Intensität der Betonung der Zielvorstellung bzw. der institutionelle Normen unterscheidet Merton verschiedene Gesellschaftstypen.

Als anomisch bezeichnet er jene Gesellschaften, welche sich durch massives Propagieren der kulturellen Zielvorstellung bei gleichzeitiger Geringschätzung der institutionellen Normen auszeichnen. In einem derartigen Umfeld neigen die Individuen dazu, die effizienteste Lösung zur Zielerreichung, sei sie kulturell legitimiert oder nicht, zu wählen, was zu einer Destabilisierung des Wertesystems, und damit der Gesellschaft an sich führe.

3.2. Die Soziale Struktur

Wie beschrieben, leitet sich der Begriff der Anomie „ ... demnach ausschließlich aus der „kulturellen Struktur“ ab ... “(Ortmann 2000: 85) und nicht, wie oft falsch interpretiert, aus der Sozialstruktur: Anomie kann schichtunabhängig entstehen.

Die Kategorie der sozialen Struktur beschränkt vielmehr, abhängig von der individuellen Schichtzugehörigkeit, die Zugangschancen zu den institutionalisierten Mitteln der Zielerreichung, wirkt also als „ ... eine Art Filter für die kulturellen Werte und macht es Menschen mit einem bestimmten Status in der Gesellschaft leicht, in Übereinstimmung mit ihnen zu handeln, anderen dagegen schwer oder unmöglich.“(Merton 1995: 156)

Da über alle Einkommensgrenzen hinweg die gleichen kulturellen Zielvorstellungen verankert seien, wirkt, so Merton, vor allem auf die unteren Gesellschaftsschichten, ein starker Druck, das internalisierte Ziel notfalls auch auf illegitimem Wege, durch abweichendes Verhalten zu erreichen. Die offiziellen Statistiken zur Kriminalitätsbelastung, welche der Unterschicht ein weitaus stärkeres Delinquenzverhalten bescheinigen, scheinen seine Annahme zu bestätigen. Dazu schreibt Merton:

„... Unsere egalitäre Ideologie leugnet implizit die Existenz von Individuen und sozialen Gruppen, die bei der Jagd nach dem wirtschaftlichen Erfolg nicht konkurrenzfähig sind. Stattdessen gelten angeblich für alle die gleichen Erfolgssymbole, gehen angeblich die Erfolgsziele über die Klassenschranken hinweg, sind sie angeblich nicht an Klassengrenzen gebunden, und ist doch die soziale Organisation so, dass es klassenspezifisch unterschiedliche Chancen des Zugangs zu diesen Zielen gibt. In dieser Konstellation leistet eine amerikanische Kardinaltugend, das „Erfolgsstreben“, einer amerikanischen Todsünde Vorschub, dem „abweichenden Verhalten“. (Merton 1995: 141f.)

[...]

Fin de l'extrait de 28 pages

Résumé des informations

Titre
Die Anomietheorie. Eine kritische Analyse
Université
University of Freiburg  (Institut für Soziologie)
Cours
Theorien abweichenden Verhaltens
Note
1,7
Auteur
Année
2002
Pages
28
N° de catalogue
V10936
ISBN (ebook)
9783638172288
Taille d'un fichier
630 KB
Langue
allemand
Mots clés
Robert K. Merton, Anomietheorie, Kriminalitätstheorie
Citation du texte
Magister Artium Roland Sonntag (Auteur), 2002, Die Anomietheorie. Eine kritische Analyse, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/10936

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