Religion und Politik - der Glaube als Notwendigkeit des Politischen


Dossier / Travail de Séminaire, 2005

17 Pages, Note: 1,0


Extrait


Gliederung:

1. Einleitung

2. Religion und Politik – der Glaube als Notwendigkeit des Politischen
2.1. Politik und die Quellen ihrer Ideen
2.1.1. Politik als Wertabwägungsprozess
2.1.2. Religion als Quelle politischer Ideen
2.1.3. Andere Quellen politischer Ideen
2.2. Die Illusion des Säkularen
2.2.1. Unmöglichkeit der Unterscheidung von religiösen und säkularen Ideen
2.2.2. Verschleierung des Glaubenskerns säkularer Ideen
2.2.3. Die Gefahr des Wissens und der Vernunft
2.3. Glaube als konstituierendes Element politischer Systeme
2.3.1. Mythos als Sinnstifter politischer Gemeinschaften
2.3.2. Mythos autoritärer Regime
2.3.3. Mythos demokratischer Systeme
2.3.4. Gefährdung der Demokratie
2.4. Religionen im politischen System
2.5. Krieg der Werte
2.6. Verlust und Übertragung des politischen Mythos
2.7. Religion und Politik im Vergleich

3. Der Gott der Politik

1 Einleitung

Das beginnende 21. Jahrhundert hat die Bedeutung der Religion für die Politik, insbesondere für die internationale Politik, auf dramatische Weise ins Blickfeld gerückt. Islamische Fanatiker haben den „Ungläubigen“, der westlichen Welt und deren Ideen, wie der Idee des säkularen Staates, in schockierender Brutalität den Krieg erklärt. Auf der anderen Seite dieses Konflikts steht George W. Bush als oberster Heeresführer von Freiheit und Demokratie, ein selbsternannter wiedergeborener Christ, der auf die religiöse Fundierung seiner Motivationen und Handlungen großen Wert legt und seine missionarische Grundhaltung keineswegs unter den Scheffel diplomatischer Zurückhaltung stellt.

Samuel Huntingtons These vom „Kampf der Kulturen“ macht die Runde. Zwischen den großen Weltkulturen, die sich vor allem durch ihren religiösen Hintergrund definieren, und nicht mehr zwischen den Fronten politischer Ideologien, werden laut Huntington die Weltkonflikte der Zukunft ausgetragen. Insbesondere den Islam macht er als die größte Bedrohung der westlichen Welt aus. Wurden Huntingtons Thesen nicht spätestens am 11. September 2001 auf die grauenhafteste Weise bestätigt?

Der seit scheinbar unendlichen Zeiten aussichtslos verfahrene Nahostkonflikt mit seiner enormen weltpolitischen Tragweite ist mit seinem beständigen Schwanken zwischen vorsichtig aufkeimender Hoffnung und blutiger Resignation schon zu einem Kontinuum in unserem politischen Bewusstsein geworden. Doch nicht nur in den großen Weltkonflikten verstärkt sich die Dimension des Religiösen, auch in Europa ist im Hinblick auf noch bevorstehende EU-Erweiterungen eine Debatte um die europäische Identität ausgebrochen. Ist nicht vielleicht gerade das Christentum die entscheidende Basis für den Zusammenhalt der EU, dieser in der Welt so einmaligen Union ehemals auf das Blutigste sich bekämpfender Staaten? Keine abstrakte Frage: durch den Beitrittswunsch der Türkei ist sie von allerhöchster politischer und gesellschaftlicher Brisanz.

Vor etwa zwei Jahrzehnten spielten die Kirchen eine entscheidende Rolle beim Zusammenbruch der osteuropäischen Diktaturen. In Lateinamerika sind die Kirchen, allen voran die katholische, an tief greifenden sozialen und gesellschaftlichen Reformbewegungen beteiligt. Globalisierungskritiker gehen Hand in Hand mit Kirchenaktivisten auf die Straße. Weltweit ist Religion als wesentlicher Bestandteil von Politik sichtbar geworden. Doch gerade das größtenteils säkulare Europa tut sich schwer mit diesem Phänomen. Ungute Erinnerungen an schon fast vergessen geglaubte (Dreißigjähriger Krieg) und noch kaum überwundene (Bosnien, Kosovo, Mazedonien) Konflikte, in denen unterschiedliche Glaubensbekenntnisse zumindest eine katalysierende, wenn nicht sogar eine auslösende Rolle spielten, lösen Besorgnis und Angst aus.

Doch gerade die ambivalente Rolle von Religion fordert eine verstärkte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Religion und Politik. Ist der säkulare Staat das in den Feuilletons großer Zeitungen so oft beschworene Allheilmittel für die Glaubenskriege der Gegenwart und Zukunft? Oder entzieht er der Politik ihre solide, weil überzeitlich-transzendente Verankerung, macht sie so zu einem haltlosen Opfer zeitgeistischer Beliebigkeit?

Im Folgenden wird ein Erklärungsmodell für das Verhältnis von Religion und Politik vorgestellt, das gegen die Vorstellung gerichtet ist, Politik könne als eine von Religion und Glaube unabhängige Sphäre betrachtet werden. Die Relevanz der Frage, inwieweit metaphysische Glaubensüberzeugungen in der Politik eine Rolle spielen, oder eine Rolle spielen dürfen, wird angezweifelt. Stattdessen wird die Frage, welche metaphysischen Glaubensüberzeugungen in der Politik eine Rolle spielen, in den Vordergrund gestellt.

2 Religion und Politik

2.1 Politik und die Quellen ihrer Ideen

2.1.1 Politik als Wertabwägungsprozess

Religion kann politisch sein. Umgekehrt kann Politik religiös sein. So hat die Kirche seit jeher in der Weltgeschichte politisch agiert, Herrscher haben sich zu Göttern ernannt, Könige wurden zum Verteidiger der Christenheit, zum Kaiser, gekrönt, im Namen Allahs soll die Weltordnung zerstört werden. Es ist nicht selbstverständlich Religion und Politik als zwei getrennte, unterscheidbare Bereiche zu begreifen. Was ist Politik? Wenn ein Mullahregime ein Gesetz beschließt und dies selbst als die Umsetzung Gottes Willens begreift, ist das nun Politik oder Religion? Ohne eine begriffliche Trennung kann über das Verhältnis von Religion und Politik schlecht diskutiert werden.

So findet Politik nur in einer Gesellschaft statt. Ein Einsiedler auf einer einsamen Insel kann nicht politisch, sehr wohl aber religiös handeln. Politik entsteht dort, wo mehrere Menschen interagieren und gemeinsame Interessen verwirklichen wollen, weil sie dazu allein nicht, oder nur ineffektiv, in der Lage sind (z.B. ein Mammut jagen). Dazu werden Gewohnheiten, Regeln oder Gesetze - also Normen – herausgebildet, die diese gemeinsame Interessensverwirklichung ermöglichen. Politisch wird die Mammutjagd aber nicht durch die bloße Erstellung von Jagdregeln. Politik entsteht erst dann, wenn über diese Normen Uneinigkeit herrscht, wenn also eine Fraktion das Mammut mit Lanzen angreifen, die andere eine Falle bauen will, und die dritte die Mammutjagd insgesamt in Frage stellt und die weniger gefährliche Büffeljagd vorziehen würde. Politik ist definiert als der Prozess, der in einer solchen Situation zu einer Entscheidung führt. Es ist gleichgültig, ob dies nun ein demokratischer oder autokratischer Prozess ist. In jedem Fall müssen verschiedene Güter - in unserem Fall die möglichen Risiken für Leib und Leben und die mögliche Ausbeute – miteinander abgewogen und eine für alle verbindliche Entscheidung getroffen werden. Politik ist also ein Wertabwägungsprozess innerhalb einer Gesellschaft, der zur Erstellung einer für alle verbindlichen Norm führt. Die Politik entscheidet also, dass das Mammut letztlich beispielsweise durch Fallenstellen gejagt wird, auch gegen den Widerstand Andersdenkender. Diese streng funktionalistische Definition von Politik soll im Folgenden verwandt werden.

Diese Politikdefinition ist natürlich sehr weit gefasst und lässt sich auf einen Verein genauso anwenden wie auf eine Kirche, ein Unternehmen oder einen Staat. Tatsächlich werden in der Sprachpraxis Begriffe wie „Vereinspolitik“, „Kirchenpolitik“, „Unternehmenspolitik“ zur Bezeichnung solcher Vorgänge in nichtstaatlichen Bereichen auch benutzt.

Ein für die Politik sehr wichtiger Prozess wird jedoch mit Absicht nicht von diesem Politikbegriff abgedeckt: So ist die Herausbildung politischer Ideen - modern gesagt politischer Visionen - nicht eigentlich politisch, sondern erst der Prozess, in dem versucht wird, diese Ideen gegen konkurrierende durchzusetzen. Idee oder Vision sei hierbei als eine Wertrelation verstanden, die sich von anderen Ideen, bzw. Visionen unterscheidet und keinen verbindlichen Status besitzt.

2.1.2 Religion als Quelle politischer Ideen

Ideen müssen also erst in die politische Arena eingebracht werden, das heißt jemand muss das Ziel verfolgen sie in eine gesellschaftlich verbindliche Norm umzusetzen, damit sie zu einer ´politischen´ Idee werden. Wo diese Ideen herkommen ist für meinen Politikbegriff irrelevant. Religionen können beispielsweise eine Quelle für politische Ideen sein: Sie können normative Handlungsanweisungen oder Wertzuweisungen für Gesellschaften entwickeln, die schließlich auf der politischen Bühne aufgegriffen werden. Ein typisches Beispiel dafür ist die Idee, dass der Schutz des ungeborenen Lebens ein höherer Wert sei als die Selbstbestimmung der Frau. Das Christentum mag zwar nicht die einzige Quelle für diese Idee sein, aber es ist eine der wichtigsten. Auf der politischen Bühne konkurriert diese Idee mit der konträren Idee, nämlich dass das Selbstbestimmungsrecht der Frau vorginge, sowie mit dazwischen liegenden Ideen, die eine Mittelposition zwischen den beiden extremen Polen einnehmen.

2.1.3 Andere Quellen politischer Ideen

Neben den Religionen existieren natürlich noch zahlreiche weitere Quellen politischer Ideen, wie die großen Ideologien Liberalismus, Sozialismus und andere. Auch Teilsysteme wie marktwirtschaftliche Theorien oder ökologische Ideologien haben zahlreiche wirkmächtige politische Ideen hervorgebracht. Besonders in korrupten, autoritären Systemen dürfen auch schlichte private Interessen nicht vergessen werden. Die banale Idee der persönlichen Bereicherung des Diktators oder dessen Clans führt in zahlreichen Staaten zu erstaunlich weitreichenden politischen Konsequenzen.

Religion ist also im Hinblick auf ihre politische Relevanz eine von vielen möglichen Quellen politischer Ideen, die auf der politischen Bühne in Konkurrenz zu konträren Ideen – gleich welcher Provenienz - die Umsetzung zu einer allgemein verbindlichen Norm suchen. Im Fokus der Aufmerksamkeit steht nun die Frage, ob die Religion als Quelle politischer Ideen eine andere Qualität besitzt als andere, sog. ´säkulare´ Quellen, und ob die Religion in der Politik deshalb eine unter- oder gar übergeordnete Rolle spielen muss.

2.2 Die Illusion des Säkularen

2.2.1 Problem der Unterscheidung von religiösen und ´säkularen´ Ideen

Bei näherer Betrachtung ist es gar nicht so einfach eine religiöse Idee, oder ein daraus abgeleitetes religiöses Argument innerhalb eines politischen Entscheidungsprozesses von einem säkularen zu unterscheiden. Beruht nicht jedes Argument letztlich auf unbeweisbaren Glaubensvorstellungen, oder Postulaten um mit Kant zu sprechen? „Die Unterscheidung zwischen säkularen und religiösen Gründen ist reine Konvention und epistemologisch nicht zu identifizieren“, denn „sozial- und naturwissenschaftliche Argumente sowie die ihnen zu Grunde liegenden Theorien sind zum Teil nicht nur höchst unzugänglich und esoterisch, sie ruhen […] in der Regel auch auf bestreitbaren Axiomen oder ´Glaubenssätzen´“[1].

So beruht beispielsweise der Humanismus, der sicherlich zahlreiche politische Ideen hervorgebracht hat und auf den in politischen Debatten gerne argumentativ Bezug genommen wird, auf einem bestimmten Menschenbild und leitet daraus Normen ab, wie der Mensch sich zu verhalten habe, im alltäglichen Sprachgebrauch mit „menschlich“ kategorisiert. Rein sprachlich ist es schon ein Paradoxon, wenn Menschen sich unmenschlich verhalten; es zeigt umso deutlicher die Diskrepanz zwischen dem, was der Mensch ist, und dem, was nach dem Humanismus geglaubt wird, dass der Mensch sein müsse, denn dass gerade ein Glaube, nämlich der an diese ´menschliche´ Natur des Menschen den Humanismus konstituiert, ist schwer widerlegbar.

Ähnlich verhält es sich mit der Idee der Toleranz. Natürlich kann das Toleranzprinzip damit begründet werden, dass es zum Beispiel Konflikte verhindert und den Frieden fördert, aber auch diese Begründung beruht doch auf dem bloßen Glauben, dass Konfliktverhinderung und Friedensförderung höhere Werte sind als die Uniformität von Ansichten. In ähnlicher Weise könnte man in allen angeblich ´säkularen´ Ideen und Argumenten ihren Glaubenskern herausarbeiten.

Die Unterscheidung von religiösen und säkularen Ideen, Argumenten, Werten, etc. wird zusätzlich noch durch die Tatsache erschwert, ja geradezu unmöglich gemacht, dass angeblich ´säkulare´ Ideen und Werte gleichermaßen im religiösen Kontext stehen können. Kirchen setzen sich für Menschenrechte ein, humanistische Ideen lassen sich problemlos aus der Bibel ableiten, ebenso Toleranz, Respekt vor dem Anderen, usw. Was historisch betrachtet in Konkurrenz zur Institution Kirche (die oft genug fälschlicherweise mit Religion gleichgesetzt wurde und wird) seine Wirkungskraft entfaltet haben mag und deshalb bis heute gemeinhin unter dem Schlagwort ´säkular´ firmiert, ist heute zum Teil essenzieller Bestandteil religiöser Glaubenssysteme.

Wenn aber säkulare Ideen bei näherer Betrachtung von religiösen nicht unterschieden werden können, ist auch die Frage hinfällig, ob religiöse Ideen eine andere Qualität besitzen. Damit ist auch die ganze Debatte, inwieweit religiöse Ideen/ Argumente in der Politik zulässig sind, hinfällig. Für die europäisch-amerikanischen Beziehungen ist dies beispielsweise durchaus bedeutsam, da den Europäern (wenn man einem großen Teil politischer Publizisten glauben mag) die Argumentationspraxis der politischen Führung der Vereinigten Staaten höchst verdächtig erscheint, weil sie eben religiös eingefärbt ist. Auch einen irakischen Politiker darf man nicht deshalb verdammen, nur weil er sich ausschließlich religiös begründeter Argumente bedient. Viel wichtiger ist es in einem größeren Kontext die Qualität politischer Ideen und Argumente zu prüfen, gleichgültig, ob sie nun unter der Bezeichnung religiös oder ´säkular´ firmieren.

2.2.2 Verschleierung des Glaubenskerns säkularer Ideen

„Religiöse Überzeugungen sind in den Kontext religiöser Gemeinschaften und Traditionen eingebettet, die zumeist eigene Kriterien zur Überprüfung auf Kohärenz und Evidenz herausgebildet haben. […] Professionelle theologische Reflexion operiert mit den gleichen Mitteln der Logik wie das ´säkulare´ Denken“. Der Glaube ist deshalb ebenso Produkt der Vernunft wie andere Überzeugungen[2].

Umgekehrt gilt: Auch nichtreligiöse vernünftige Überzeugungen sind Produkte des Glaubens. Anscheinend ist jedoch der Glaubenskern mancher ´säkularer´ Überzeugungen aus dem Bewusstsein verschwunden. Ideen wie Toleranz, Frieden, Menschlichkeit, Demokratie, Freiheit und andere. sind in einem Maße inkulturiert, dass sie gleichsam als Naturgesetz erscheinen, zusammengefasst unter dem Überbegriff „Menschenrechte“. Dabei ist der Glaube an die Menschenrechte selbst eine Art Religion. Es kann keinen objektiven Grund für den Glauben an sie geben - nichtsdestotrotz erstrahlen die Menschenrechte in einem gleißenden Licht säkularer Vernünftigkeit. Die chinesische Führung beispielsweise ist aber keineswegs vernunftresistent, weil sie die volle Umsetzung der Menschenrechte verweigert. Sie vertritt lediglich andere Wertvorstellungen, die unserer Vorstellung von Menschenrechten zum Teil widersprechen. Argumentativ ist dem schwer beizukommen, gerade weil die Menschenrechte wie jedes Glaubensbekenntnis argumentativ nicht begründet, zumindest nicht ´letztbegründet´ werden können.

Immer wieder haben vermeintlich säkulare Weltanschauungen versucht die Religion als rückständig, fortschrittsfeindlich, irrational, etc. zu diskreditieren. Besonders augenscheinlich versuchte dies der Kommunismus. Was sich jedoch als wissenschaftliche Erkenntnis tarnte, war in Wirklichkeit eine Ersatzreligion, mit einem Gott (Partei oder einzelne Führer wie Stalin, Mao oder Kim Il Sung), einer oder mehreren Bibeln (sprichwörtlich: Mao-Bibel), Dogmen mit orthodoxem Wahrheitsanspruch, einem Heilsziel (Verwirklichung des Kommunismus) und einem Heilsweg (Diktatur des Proletariats). Gott wurde vertrieben und im Namen der Vernunft durch einen Götzen ersetzt.

Solche angeblich säkularen weltanschaulichen Systeme tragen die Bezeichnung „Ersatzreligionen“. In ihnen wird etwas Bedingtes – also etwas, das in Wirklichkeit nur ein Glied in einer viel längeren Kette von Sinnzusammenhängen ist - Absolut gesetzt[3], ´vergöttlicht´. Für die Nationalsozialisten war es die Rasse, für die Nationalisten das Volk, für manche mag es das Aussehen sein, für andere der Sport, die Wissenschaft, das Geld, der Fortschritt, die Macht, die Droge, usw. Nur bei manchen dieser Ersatzreligionen ist ihre Religiosität verborgen. So neigt ein Drogensüchtiger dazu die Droge zu mystifizieren, nicht sie zu rationalisieren. Jedoch wird ein Fortschrittsgläubiger seinen Glauben eher rationalisieren und alle anderen Glaubenssysteme als esoterischen Selbstbetrug abtun. Welche Form der Ersatzreligiosität nun die gefährlichere ist, sei dahingestellt, doch denke ich, dass durch die Verschleierung des Glaubenskerns ´säkularer´ Ideen die Gefahr besteht, dass wahrhafte Religion, die ehrlicherweise ihren irrationalen Kern nicht verleugnet, zu Unrecht in unserer so vernunftgläubigen Gesellschaft diskreditiert wird.

2.2.3 Die Gefahr des Wissens und der Vernunft

Die Verlockung Glaubenssysteme als nichtreligiös auszugeben ist groß, da Glaube in seiner Beliebigkeit gefangen zu sein scheint. Man kann alles glauben. Wenn jedoch bloßer Glaube zum ´Wissen´ wird, wird er radikal. Er wird zur ´wissen´-schaftlichen Sekte und damit doktrinär und intolerant. Der ´Wissende´ wähnt sich dem Unwissenden überlegen. Der Gläubige hingegen steht mit dem Andersgläubigen ´nur´ auf derselben Stufe. Glaube impliziert immer ein „es-könnte-auch-anders-sein“. Glaube bedeutet auch Freiheit: Gerade weil Glaube nicht beweisbar ist, steht mir frei zu glauben, was ich möchte. Wissen hingegen ist Zwang, denn wer glaubt zu wissen (ein Widerspruch in sich) fühlt sich zumeist aus altruistischen Motiven berufen, den anderen sein ´Wissen´ aufzuzwingen. Oder er verharrt in der Arroganz des überlegenen Wissens, was ihn für seine Mitmenschen vielleicht weniger gefährlich, jedoch keineswegs angenehmer macht.

Die „Vernünftigkeit“ hingegen ist gewissermaßen der kleine Bruder des Wissens. Während Wissen absolut ist (man kann nicht „relativ“ wissen; entweder man weiß, oder man weiß nicht), ist die Vernunft jedoch relativ: etwas kann relativ vernünftig sein. Doch schließt der Begriff eine Wertigkeit mit ein: eine bestimmte Idee kann mehr oder weniger vernünftig sein, und natürlich ist die vernünftigere der anderen überlegen. Wer Politik statt auf religiösen lieber auf ´vernünftigen´ Ideen aufbauen möchte, wertet die Religion ab, meist ohne sich im Klaren zu sein, worin die Vernünftigkeit seiner eigenen Ideen besteht, oder die Tatsache übersehend, dass auch Religionen durchaus mit den gleichen Mitteln der Logik auf ihre Kohärenz und Evidenz überprüft sein können, also dem entsprechen können, was gemeinhin als vernünftig bezeichnet wird. Dies heißt natürlich nicht, dass Religionen nicht auch sehr unvernünftig sein können. Es heißt aber, dass die Religion als legitime Quelle politischer Ideen nicht durch die Tatsache ihres offensichtlich irrationalen Kerns diskreditiert, auch nicht pauschal als unvernünftig abgetan werden kann.

2.3 Glaube als konstituierendes Element politischer Systeme

2.3.1 Mythos als Sinnstifter politischer Gemeinschaften

Wieso spielt Religion überhaupt eine politische Rolle? Nach dem Brockhaus ist Religion formal ein „(Glaubens-)System, das […] die >letzten< (Sinn-)Fragen menschlicher Gemeinschaft und Individuen […] zu beantworten versucht.“[4] Aber kann die Bedeutung der Religion nicht allein auf das Individuum beschränkt werden? Scheinbar würden alle religiösen Konflikte mit der gelungenen Privatisierung der Religion abgeschafft. Ein frommer Einsiedler braucht schließlich keine Gemeinschaft um religiös zu sein, ein Christ nicht zwingend eine Kirche um Erlösung zu finden. Ein Einzelner kann die Antwort auf seine Sinnfragen auch ganz privat finden. Doch diese Rechnung funktioniert nicht: Zwar braucht Religion nicht zwingend eine Gemeinschaft, jedoch braucht die Gemeinschaft Religion, oder, um ein vielleicht treffenderes Wort zu benutzen, einen Mythos – verstanden als in der Gesellschaft wirkende metaphysische Idee.

Da der Mensch grundsätzlich nicht gezwungen ist in Gemeinschaft zu leben, muss es einen Grund geben für die Organisation von Gemeinschaften. Etwas, das ihm das Leben in Gemeinschaft und die gemeinschaftliche Verwirklichung von Ideen sinnvoll erscheinen lässt. Dieser Sinn einer Gemeinschaft ist ihr Mythos. Er kann wie bei der Gemeinschaft jagender Urmenschen auf purem Überlebensdrang gründen, aus dem einfachen Wunsch, das Leben ein bisschen länger und sicherer zu machen. Er kann auch in einer komplexen religiösen Heilsvorstellung eines auserwählten Volkes wie beim jüdischen Volk bestehen – aber auch aus einer kruden Rassenlehre wie im Dritten Reich. Die Frage ist nicht, ob eine Gemeinschaft einen Mythos besitzt, sondern welchen.

Religionen bieten oft solche Mythen für Gemeinschaften, ja sogar für die Menschheit als Ganzes an (z.B. die Verwirklichung des Reichs Gottes auf Erden). Erst durch einen Mythos bekommt das Leben des Einzelnen sowohl individuell, als auch in Bezug auf die anderen Mitglieder seiner Gemeinschaft einen Sinn. Das menschliche Leben als solches ist ein einziger Mythos, weil nur der (rational nicht begründbare) Glaube an das Leben uns überhaupt leben lässt. Der Mensch, der den Glauben an den Wert des Lebens verliert, stirbt. Sei es durch Selbstmord oder durch schlichte Selbstaufgabe. So findet ein Drogensüchtiger nur dann einen Ausstieg, wenn er einen Glauben, einen Lebenssinn entdeckt, der stärker ist als seine Sucht, die - zwar in sehr unterschiedlicher Form – meist nichts als ein Selbstmord auf Raten ist[5]. Selbst die moderne Wissenschaft und Psychotherapie kann nur den Ausstieg erleichtern, nicht ihn herbeiführen. Der Grund dafür ist: die Wissenschaft bietet weder Sinn noch Glauben. Genauso wie der Einzelne durch den fehlenden Glauben an das Leben zerfällt, zerfällt eine Gemeinschaft, die den Glauben an ihren Sinn, bzw. ihren Mythos verliert.

2.3.2 Mythos autoritärer Regime

Die meisten autoritären Regime versuchen ihr System früher oder später mit einem pseudoreligiösen Mythos zu umgeben, der das System legitimiert und stützt: Könige und Kaiser umgaben sich mit der heiligen Aura des Gottesgnadentums, Saddam Hussein setzte sich opportunistisch und leicht durchschaubar als Führer der arabischen Welt in Szene und versuchte so panarabischen Visionen und Mythen zu entsprechen. Militärdiktaturen wie in Brasilien setzten auf Legitimierung durch Fortschrittsmythen: Nur das Militär könne den Fortschritt garantieren. Die Mythen, mit der sich kommunistische Parteien umgaben und immer noch umgeben sind bekannt. So setzt die chinesische Führung auf einen Mix aus der mittlerweile wenig inspirierenden kommunistischen Heilsideologie (nur die Partei kann den Kommunismus verwirklichen), nationalistischen (die Partei als alleiniger Garant für die Einheit Chinas) und fortschrittsideologischen (die Partei als alleiniger Garant des Fortschritts) Mythen. Damit steht sie in der langen Tradition chinesischer Kaiser, die ihre Herrschaft ebenfalls mit einem höchst komplexen Geflecht religiöser Rituale und Symbole umgaben, die nichts anderes bezeugen sollten, als dass der Kaiser der wahre und rechtmäßige Inhaber des Himmelsmandats sei.

Selbst wenn ein Regime jede legitimierende Kraft verloren hat, so kann es sich doch durch pure Gewalt und totale Überwachung halten. Allerdings muss auch in diesem Falle irgendjemand an dieses Regime glauben, zumindest diejenigen, die die Fäden in der Hand halten. Vielleicht ist es der Glaube an ´heilsbringende´ Privilegien der Herrscherschicht, die bloße Furcht vor dem Umsturz, oder die nackte, perverse Vergötzung der Macht, wie sie George Orwell in seinem berühmten Science-Fiction-Roman „1984“ so eindrucksvoll dargestellt hat. Selbst die Angst vor einer sowjetischen Invasion, die in vielen Staaten Osteuropas eine wichtige Rolle zur Legitimierung der dortigen sozialistischen Regime gespielt hat, beruht auf nichts anderem als auf einer metaphysischen Idee, nämlich einer, die dem Wert des Lebens eine hohe Rolle zukommen lässt.

2.3.3 Mythos demokratischer Systeme

Die Demokratie ist nur ein Mittel, eine Gesellschaftsordnung, und kein Wert an sich. So waren die brutalsten karibischen Seeräuber des 17. Jahrhunderts mitunter demokratisch organisiert (was durchaus zu einer gewissen romantischen Verklärung der Piraterie beigetragen haben mag). Demokratie dient vielmehr bestimmten Werten, sucht sie zu verwirklichen, so die Idee der Freiheit, der Gleichheit, der Selbstbestimmung, usw. Der Wert der Demokratie besteht lediglich aus der (empirisch beobachtbaren) Eignung als Werkzeug zur Verwirklichung bestimmter Werte.

Für autoritär geführte Gesellschaften bedeutet es immer eine Krise, wenn ihre Mitglieder den Glauben an die Legitimation des Regimes verlieren. Bei weiter schreitendem Legitimitätsverlust ist der Zerfall des Regimes kaum aufzuhalten. Zwar kann das Regime sich umwandeln und versuchen eine neue, besser akzeptierte Legitimationsgrundlage zu finden (Chinas Führung versucht sich bislang noch recht erfolgreich darin), doch die Gefahr, sprichwörtlich den Boden unter den Füßen, also den Glauben ihrer Subjekte an den Sinn der Herrschaft zu verlieren, schwebt immer wie ein Damoklesschwert über jeder autoritären Macht.

Wie bequem hat es da doch scheinbar ein demokratisches System: In ihm dürfen alle Bürger ihre Werte zur Grundlage der Regierung machen, entweder indem sie selbst in die Politik gehen, oder die Parteien und Politiker wählen, die ihre Werte vertreten. Zwar gibt es auch in Demokratien Krisen. Sie können schließlich auch gestürzt werden. Aber gerade weil die Demokratie nur ein Mittel ist und ihr die sich von Regierung zu Regierung immer wieder ändernden Wertvorstellungen gleichgültig sind, scheint sie vor dem völligen Entzug ihrer Legitimationsgrundlage vergleichsweise gut gefeit: Die Macht wird in einer Demokratie (zumindest im Idealfall) immer von denjenigen ausgeübt, die auch die größte Unterstützung genießen.

Wo bleibt da der Mythos? Im Grunde ist die Demokratie nur eine Antwort auf die Einsicht in die Tatsache, dass der Glaube an Ideen, der ja hinter jeder politischen Bewegung steht, sehr wechselhaft ist, und dass gewisse grundlegende Werte (oder Mythen), wie Freiheit, Gleichheit, gesellschaftlicher Friede, etc. besser verwirklicht werden können, wenn die Regierung vom Volk gewählt wird, und somit das Volk darüber entscheidet, welche Werte allgemein verbindlich werden.

Der Grund, warum ein demokratisches System akzeptiert wird, ist gleichzeitig der Mythos der Demokratie. Er beruht auf dem Glauben an bestimmte grundlegende Werte, für die andere Werte in die Beliebigkeit des demokratischen Entscheidungsprozesses entlassen werden. Im Grunde unterscheiden sich Demokratien in dieser Hinsicht also nicht von autoritären Regimen: Auch in ihnen werden bestimmte Werte für besonders wichtig angesehen, und deshalb durch ein bestimmtes politisches System geschützt. Nur gehört die Freiheit dort nun mal nicht, oder nur sehr eingeschränkt, zu diesen geschützten Werten.

2.3.4 Gefährdung der Demokratie

Nur auf den ersten Blick besitzt die Demokratie also eine solidere Legitimationsbasis als ein autoritäres System. Tatsächlich ruht sie aber auf zwei Postulaten:

1. Die Annahme, dass bestimmte Grundwerte wie Menschenrechte, Frieden, Gerechtigkeit (s. Art. 1 GG) wichtiger sind als andere, und deshalb durch eine bestimmte politische Ordnung (konkret: Verfassung) geschützt werden müssen. Andere Werte können zwar politisch umgesetzt werden, dürfen aber nicht die Geltung dieser Grundwerte beeinträchtigen. Rechtlich findet dieser Gedanke der Werthierarchie im Schutz der Artikel 1 und 20 durch die „Ewigkeitsklausel“ des Artikels 79/3 des deutschen Grundgesetzes ihren deutlichen Ausdruck.

2. Die Annahme, dass die Demokratie das beste Mittel zum Schutze dieser Werte ist. So ist verfassungsrechtlich auch die Verfasstheit der Bundesrepublik als demokratischer Staat (Art. 20 GG) nicht abänderbar.

Das entscheidende Postulat, hinter dem sich der Mythos der Demokratie verbirgt, ist offensichtlich das erste, da das zweite lediglich die Tatsache widerspiegelt, dass Demokratie nur ein Mittel ist und kein Selbstzweck. Was nicht heißt, dass die Demokratie nicht auch selbst absolut gesetzt werden kann - genau wie Geld oder Macht absolut gesetzt werden können, die schließlich ebenfalls nur Mittel sind. Die Demokratie zu verabsolutieren ist im Grunde nicht minder falsch: Demokratisch organisierte Seeräuber wären dann nachahmenswerte Vorbilder, wahrhafte Heilige.

Die Demokratie ist dann gefährdet, wenn diese Wertehierarchie in Frage gestellt wird. Das kann schnell geschehen, wenn der Glaube daran schwindet. Wenn ein ganzes Volk, oder führende Eliten glauben, dass beispielsweise die biologische Evolution im darwinistischen Sinne den höchsten Wert darstellt, dann werden die Menschenrechte eben eingeschränkt, und beispielsweise das Recht auf Leben für die vermeintlich Schwächeren aufgehoben. Es gibt keinen vernünftigen Grund gegen Euthanasie oder gegen die Todesstrafe oder gegen Rassismus, sondern nur den Glauben an das Primat bestimmter Werte, der solche Praktiken eben ausschließt. Vernünftigkeit besteht nur in dem Maße, wie solche Werte in einem vernünftigen Zusammenhang zu anderen Werten stehen. Sie ist keine Kategorie, die bestimmte Wertvorstellungen per se und auf Dauer für sich gepachtet haben.

Es ist also nur der Glaube, der die Demokratie erhält, und nur der Glaube, der sie zerstören kann. Hierin unterscheidet sie sich von keinem autoritären oder totalitären System.

2.4 Religionen im politischen System

Seit der Epoche der Aufklärung wird Religion vor allem als Angelegenheit der Privatsphäre betrachtet[6], obwohl – wie soeben erläutert - Glaube doch gerade eine Gesellschaft konstituiert. Deshalb muss der Glaube an die ein politisches System konstituierenden Werte freilich selbst als Religion bezeichnet werden. Rousseau prägte hierfür die Bezeichnung „Zivilreligion“[7], die von ihrer Natur her überhaupt nicht privat sein kann, sondern gerade eine öffentliche Religion darstellt. Doch auch dann stellt sich die Frage, wie sich die ´herkömmlichen´ Religionen, also Christentum, Islam, etc. zu einem politischen System verhalten. Die Frage ist nicht schwer zu beantworten:

1. Die Beziehung kann konfliktfrei sein. Das ist dann der Fall, wenn die Grundwerte der Religion nicht mit den Grundwerten des politischen Systems kollidieren, sondern zu einem großen Teil sogar übereinstimmen. In diesem Fall stützen gemeinhin Religionen das politische System, was im Großen und Ganzen dem heutigen Verhältnis des Christentums zum System der Bundesrepublik entspricht. Natürlich kommt es vor, dass die Kirchen als institutionelle Vertretung der Religionen in Deutschland in bestimmten Fällen wie z.B. der Abtreibungsproblematik mit den Werten des politischen Systems die Klinge kreuzen, aber es handelt sich hierbei offensichtlich nicht um essenzielle Grundwerte. Denn die Kirchen stellen wegen diesen Streitfragen nicht das System grundsätzlich in Frage. Zudem handelt es sich zumeist um Fragen, in denen die Kirchen auch intern mit konkurrierenden Meinungen zu kämpfen haben.

2. Das Verhältnis von Religion und Politik kann im Fall von Wertekollisionen konfliktbeladen sein und damit das politische System gefährden. So unterscheiden sich die Werte radikaler Islamisten, die mit Gewalt die islamische Revolution in Deutschland unterstützen, von denen, die unserem politischen System zugrunde liegen: Sie sind bereit zugunsten ihrer religiösen Überzeugungen Werte unterzuordnen, die für unser System grundlegend sind, z.B. die Menschenrechte, den Frieden, und andere.

Für die Lösung eines solchen Konflikts bleiben nur drei Möglichkeiten: Entweder die Anhänger der betreffenden Religion beschränken ihren Glauben auf Elemente ihrer Religion, die in ihrer Ausübung nicht mit den Grundwerten des politischen Systems in Konflikt geraten, oder es gelingt ihnen das politische System zu ändern oder es aufzulösen. Dasselbe gilt natürlich auch für andere Ideologien und Ersatzreligionen, deren Werte nicht mit den Grundwerten eines politischen Systems kompatibel sind.

2.5 Krieg der Werte

Die Werte eines politischen Systems werden also herausgefordert durch inkompatible Werte von Religionen, oder Ersatzreligionen. Der Islam ist dabei in jüngster Zeit zunehmend in den Brennpunkt gerückt: Erst seit einigen Jahrzehnten ist er zu einer gesellschaftlich relevanten Größe geworden. Er ist in gewissen radikalen Strömungen (man denke nur an Kaplan und seinen Kalifatsstaat) gewiss eine systembedrohende Kraft. Auch der Rechtsradikalismus wirft immer wieder dunkle Schatten auf Deutschland. Ich glaube zwar nicht, dass das politische System Deutschlands und sein Wertefundament derzeit ernsthaft bedroht sind, aber wer kennt schon die Herausforderungen der Zukunft? Bereits die Folterdebatte um den Entführer Magnus Gäfgen verunsicherte die Öffentlichkeit (es ging um die Frage, ob in extremen Fällen Folter, oder die Androhung von Folter möglicherweise gerechtfertigt werden könnte). Auch in wichtigen außenpolitischen Fragen, z.B. im Irakkrieg oder in der Frage der Menschenrechte in China oder Russland, fällt es uns schwer Position zu beziehen - auch weil die Werte, auf denen unsere Gesellschaft beruht, keineswegs allgemein bewusst sind. Die mit großem Eifer ihre Werte missionierenden Amerikaner sind uns suspekt, aber bessere Antworten auf die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts fallen uns auch nicht ein. Auf der einen Seite Bomben für die Freiheit, auf der anderen Selbstmordattentate für den islamischen Gottesstaat. Die Radikalität, mit der um Werte gekämpft wird, erschreckt uns. Wir sehen uns auf der Seite der Vernunft in einer radikalisierten Welt, doch leider hilft die Vernunft nicht weiter (s.o.), wenn es um Werte geht. Entweder man glaubt an einen Wert, oder nicht. Solange der Friede anderen Werten, die miteinander in Konflikt stehen, untergeordnet wird, ist kein dauerhafter Friede möglich.

2.6 Verlust und Übertragung des politischen Mythos

Die Schwäche Deutschlands ist eine Schwäche seines Mythos. Der deutsche Staat – genauso wie die Europäische Gemeinschaft – besteht nicht, weil er „vernünftig“ ist, sondern weil jemand an den Sinn, an die Werte dieser Gemeinschaft glaubt. Dieser Mythos kann an Kraft verlieren, wenn keine Quellen vorhanden sind, die ihn nähren. Nach dem Krieg war es der Schock des Krieges und der Nazi-Verbrechen, das Vorbild Amerikas und die neue Bedrohung durch die Sowjetunion, die die politische Gemeinschaft stärkten. Später kam das Wirtschaftswunder, die Idee des allgemeinen Wohlstands hinzu. Mittlerweile sind diese Quellen entweder völlig versiegt (Bedrohung durch Sowjetunion), oder werden immer schwächer (Schock der Nazidiktatur, wirtschaftliche Wohlfahrt, Vorbild Amerikas). Ein Teil des Mythos wurde auf die Europäische Union übertragen. Trotz einer gewissen Tendenz zum Technokratentum finden sich deshalb gerade hier die visionären Entwürfe, die mythisch anmutenden Metaphern, wie „Insel des Wohlstands“, „Bastion der sozialen Rechte“ – und dies noch mehr im Ausland, in den verarmten Entwicklungsländern, in denen dieser Mythos seine anziehende Kraft entfaltet. Die endlosen Migrantenströme nach bezeugen diesen europäischen Mythos: In den Augen vieler ist Europa ein verheißenes Land.

Deutschland ist kein Modell mehr, es verliert langsam seinen Mythos und damit auch seine Existenzberechtigung als souveräner Staat. Der lebendige Mythos Europas hingegen ist das friedliche Zusammenleben ehemals verfeindeter Völker, der Aufbau gemeinsamer Institutionen als Gegenmodell eines zerstörerischen Nationalismus. Ein starkes Fundament. Aber auch stark genug in einer Zeit, in der das friedliche Zusammenleben der europäischen Völker größtenteils gesichert scheint und der Nationalismus längst nicht mehr eine solch bedrohliche Gestalt annimmt? Schon gibt es Versuche, der Europäischen Gemeinschaft den Mythos einer neuen Weltmacht hinzuzufügen. Kein ungefährliches Unterfangen: Macht ist immer nur ein Mittel. Für welches Ziel also soll Europa Weltmacht werden? Oder gerät Europa in die zerstörerische Sackgasse einer ´Macht um der Macht´ willen?

2.7 Religion und Politik im Vergleich

Im Gegensatz zu den politischen Zivilreligionen, also den Glaubensfundamenten, die jedem politischen System zugrunde liegen, sind die ´normalen´ Religionen viel umfassendere sinnstiftende Systeme. Dass sie einen starken Mythos besitzen beweist die Langlebigkeit der Religionen, z.B. des Christentums, oder noch mehr des Judentums, das sogar die Jahrtausende der Diaspora überdauerte. Das Aufkommen politischer Mythen, die sich bewusst von den traditionellen Religionen absetzen wollten, setzte das Christentum unter Druck, es musste sich verteidigen, seine Glaubenssätze überprüfen und Fehler korrigieren. Konkurrenz belebt das Geschäft, auch das religiöse, das in gewisser Weise auch Marktgesetzen von Angebot und Nachfrage folgt[8]. Die Geschichte hat das Christentum gereinigt und abgehärtet. Während die Ideologien, Revolutionen, Staaten, Könige und Regierung kommen und gehen breitet sich das Christentum weiterhin bis in die entlegensten Gebiete dieser Welt aus.

Die Schwäche der Zivilreligionen ist ihre schwache Glaubensbasis. Wer kann schon sagen, was die ´unantastbare Menschenwürde´ (Art. 1 GG) eigentlich ist, obwohl wir doch so stark daran glauben, dass wir sie an die Spitze unserer Verfassung setzen? Auch ein politischer Mythos wie das friedliche Zusammenleben ehemals verfeindeter Staaten ist doch nichts, ist doch bestenfalls nur eine winzige unbedeutende Zwischenstufe im Vergleich zum Mythos des ewigen Heils des Christentums.

Der säkulare Staat versucht sich von den Glaubenssätzen einer bestimmten Religion zu lösen. Er bringt unterschiedliche Glaubensvorstellungen, Ideologien, Religionen in ein Wertsystem und schafft dabei eine neue Religion, beschränkt in ihrer Dauerhaftigkeit und visionären Kraft, aber mit dem Anspruch umfassender Gültigkeit im Bereich der gesellschaftlichen Organisation. Das säkulare politische System ist die gelebte Ökumene unterschiedlichster Religionen und Ideologien. Es ist der Versuch eine gemeinsame Wertebasis für das gesellschaftliche Zusammenleben zu finden, unabhängig von einzelnen Religionen oder Ideologien. Sein Weg ist die Freistellung von Werten, die nicht unmittelbar das Zusammenleben betreffen, zugunsten von übergeordneten Gemeinschaftswerten. In einer Welt, die sich noch auf der Suche nach diesen universalen Werten befindet, kann dieses Unterfangen nur einen provisorischen Charakter tragen.

Diese Gemeinschaftswerte müssen in einer globalisierten Welt, in der zumindest potenziell alle Religionen, Ideologien und Wertvorstellungen Teil eines einzigen politischen Systems sein können – ganz abgesehen davon, dass die Welt selbst ein großes politisches System darstellt – zunehmend universellen Charakter besitzen, sonst sind sie niemals sicher. Diese Suche nach dem universalen Mythos des Zusammenlebens ist die eigentliche Herausforderung der Politik des 21. Jahrhundert. Ich hoffe sehr, dass es nicht der ewige Krieg, oder das sinnlose und zerstörerische Streben nach Macht[9] sein wird.

3 Der Gott der Politik

Im Christentum steht das Gebot der Nächstenliebe an oberster Stelle[10] in Bezug auf das Verhältnis zu unseren Mitmenschen, da sich daraus alle wichtigen, das Zusammenleben betreffenden christlichen Gebote ableiten lassen. Die Liebe ist ein starker, inspirierender Mythos. Es sei hier nicht meine Aufgabe die Frage zu beantworten, ob sich die zentralen Werte unserer Verfassung sich nicht auch unter diesen zentralen Wert des Christentums subsumieren lassen. Die Frage jedoch, ob die Politik Gott braucht oder nicht, existiert für mich jedenfalls nicht. Die entscheidende Frage vielmehr ist: Auf welchen Mythos bauen wir unser politisches System auf? Oder, noch einfacher gefragt: Wer ist unser Gott?

Literaturangaben

- _: Die Bibel. Einheitsübersetzung. Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart, 1999

- Berger, Peter L.: Auf den Spuren der Engel. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau, 1991

- Bielefeldt, Heiner/ Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Politische Religion. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1998

-araus:

- Bielefeldt, Heitmeyer: Einleitung: Politisierte Religion in der Moderne

- Cigdem, Ahmet: Religiöser Fundamentalismus als Entprivatisierung der Religion

- Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Mannheim, 1988

- Forndran, Erhard (Hrsg.): Religion und Politik in einer säkularisierten Welt. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 1991 daraus:

- Forndran, Erhard: Religion und Politik – eine einführende Problemanzeige

- Rendtorff, Trutz: Die Autorität der Freiheit – Religion in der liberalen Demokratie

- Huntington, Samuel: Kampf der Kulturen. Goldmann Verlag, München, 2002

- Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Meiner Verlag, Hamburg,1998

- Lübbe, Hermann: Religion nach der Aufklärung. Verlag Styria, Graz, 1986

- Minkenberg, Michael/ Willems, Ulrich: Neuere Entwicklungen im Verhältnis von Politik und Religion im Spiegel politikwissenschaftlicher Debatten. In: Politik und Zeitgeschichte, B 42-43/2002

- Morgenthau, Hans: Macht und Frieden. Bertelsmann, Gütersloh, 1963

- Orwell, George: 1984. Ullstein Verlag, Frankfurt a. M., 1993

- Rousseau, Jean-Jacques: Der Gesellschaftsvertrag. Reclam, Stuttgart, 1991

- Schmidbauer, Wolfgang/ vom Scheidt, Jürgen: Handbuch der Rauschdrogen. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M., 1998

- Waltz; Kenneth N.: Theory of International Politics. Addison-Wesley, New York, 1979 (Addison-Wesley Series in Political Science)

- Willems, Ulrich: Religion als Privatsache? In: Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 33/ 2002

- Willems, Ulrich/ Minkenberg, Michael: Politik und Religion im Übergang. In: Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 33/ 2002

Erklärung

Hiermit erkläre ich, die vorliegende Arbeit selbständig verfasst und keine anderen als die kenntlich gemachten Hilfsmittel benutzt zu haben. Ferner versichere ich, dass die Arbeit noch nicht an anderer Stelle eingereicht wurde.

…. ….

Ort, Datum Unterschrift

[...]


[1] Willems, Ulrich: Religion als Privatsache?

[2] Willems, Ulrich: Religion als Privatsache?

[3] vgl. Forndran, Erhard

[4] s. Brockhaus-Enzyklopädie

[5] vgl. z.B. Schmidbauer, Wolfgang, S. 503. In meiner einjährigen Zivildienstzeit in einem Drogenprojekt in Brasilien und durch die vielen persönlichen Kontakte mit Suchtkranken, fand ich diesen Zusammenhang zwischen Glaube und Sucht sehr eindrucksvoll durch viele Einzelfallbeispiele bestätigt. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema hielte ich für sehr fruchttragend.

[6] vlg. Rendtorff, Trutz

[7] vgl. Rousseau, Jean-Jacques: Der Gesellschaftsvertrag

[8] vgl. Minkenberg, Michael/ Willems, Ulrich: Neuere Entwicklungen im Verhältnis von Politik und Religion im Spiegel politikwissenschaftlicher Debatten, S.8

[9] vgl. realistische Theorien der internationalen Politik, v.a. Morgenthau, Hans („Internationale Politik ist, wie alle Politik, ein Kampf um die Macht“), aber in erweiterter Form auch neorealistische wie Waltz, Kenneth N. („I assume that states seek to ensure their survival“)

[10] vgl. Die Bibel, Mk 12, 28-34

Fin de l'extrait de 17 pages

Résumé des informations

Titre
Religion und Politik - der Glaube als Notwendigkeit des Politischen
Université
LMU Munich
Cours
Hauptseminar "Religion und Gesellschaft"
Note
1,0
Auteur
Année
2005
Pages
17
N° de catalogue
V109482
ISBN (ebook)
9783640076635
Taille d'un fichier
393 KB
Langue
allemand
Mots clés
Religion, Politik, Glaube, Notwendigkeit, Politischen, Hauptseminar, Religion, Gesellschaft
Citation du texte
Peter Meisel (Auteur), 2005, Religion und Politik - der Glaube als Notwendigkeit des Politischen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109482

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