Aikido im Konfliktmanagement nach Schettgen


Trabajo Escrito, 2003

19 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


INHALT

1. Einleitung

2. Theoretisches Fundament

3. Konflikte in Organisationen

4. Konfliktmanagement in der Personalentwicklung
4.1 Kampfkunst im Konfliktmanagement

5. Aikido
5.1 Dojo, Gemeinschaft, Regeln und Etikette

6. Aikido als Bildungsprogramm

7. Ausblick

Literatur

1. Einleitung

Wie können Konflikte innerhalb von Organisationen gelöst werden? Die Literatur zu diesem Thema ist kaum noch zu überschauen. Bei den meisten Ansätzen wird jedoch zu Recht die fehlende Langfristorientierung bemängelt. Viel zu oft werden lediglich Symptome bekämpft, ohne nach den Ursachen der Konflikte zu fragen. Gerade hier aber sollte erfolgreiches Konfliktmanagement ansetzen, um nachhaltige Verhaltensänderungen zu erzielen. Einen unorthodoxen Lösungsvorschlag in diese Richtung unterbreitet der Augsburger Psychologe Peter Schettgen, den ich vor einiger Zeit auf einer Tagung kennenlernte. Schettgen entwickelte in den vergangenen Jahren ein Modell des Konfliktmanagements in Organisationen, das sich stark an den Prinzipien der japanischen Kampfkunst Aikido orientiert. Da ich selbst mich seit mittlerweile fast zwei Jahren intensiv im Aikido übe, war ich von dem Konzept sofort fasziniert. Im Folgenden sollen einige der Thesen Schettgens vorgestellt und näher betrachtet werden. Dies wird vor allem im ersten Teil der Arbeit geschehen. Der zweite Teil versucht, die theoretischen Überlegungen zum Konfliktmanagement anhand von Beispielen aus meiner eigenen Aikidopraxis zu überprüfen.

2. Theoretisches Fundament

Das erste Kapitel beginnt mit einem Zitat HERAKLITs „Der Streit ist der Vater aller Dinge“ und bestätigt in den ersten Sätzen dieses Zitat mit der an SIMMEL angelehnten Sichtweise auf Kampf, Aggression und Gewalt als eine „anthropologische Konstante“ (S. 1) in der Geschichte. Nun soll dem Phänomen „Kampf“ sozialwissenschaftlich auf den Grund gegangen werden. SCHETTGENs „vorläufige, eher laienpsychologisch fundierte“ (S. 3) Definition des Topos’ „Kampf“ soll als eine „versuchsweise Annäherung an den begrifflichen Bedeutungshorizont“ der „Auseinandersetzung des Menschen mit seiner inneren, äußeren und sozialen Natur“ (S. 2) verstanden werden. Es wird deutlich gemacht, daß der Begriff von Kampf ein weitaus größeres Spektrum hat als nur die Aktion des körperlichen Kampfes. Wichtig hierbei ist die Erkenntnis, daß ein direkter Zusammenhang von Oppositionen besteht, der für die Klärung einer Konfliktsituation von Bedeutung ist: „Druck erzeugt Gegendruck, Gegendruck erweist sich als Auslöser, Ursache und Grund von Druck.“ (S. 2).

Seinem Erkenntnisinteresse folgend legt SCHETTGEN den Schwerpunkt der Analyse auf eine „ organisationale Sichtweise von Kampf“ (S. 3), im Gegensatz zu anderen Perspektiven wie z.B. der historischen, militärwissenschaftlichen, technischen, etc. Die in diesem Kontext auftretenden Erscheinungsformen von „Kampf“ sind vielfältig und werden anhand einiger Beispiele verdeutlicht. SCHETTGEN stellt im Anschluß fest, daß „angesichts der hier an Beispielen skizzierten Problemlage(n) [...] große Forschungslücken und erhebliche Theoriedefizite [bestehen], so daß solche Phänomene bisher noch nicht befriedigend beschrieben oder erklärt werden können“ (S. 5). Die angewandte Sozialwissenschaft handelt sich hier von SCHETTGEN eine Rüge ein, da sie anscheinend nicht in der Lage ist, Lösungsvorschläge anzubieten und „kaum zu einer besseren gedanklichen Durchdringung oder praktischen Beherrschung der genannten Probleme“(S.5) beiträgt. Statt dessen würden „ in der Regel aus atheoretischen Einteilungs- und Ordnungsversuchen recht kurzsichtige Handlungsempfehlungen abgeleitet“ (S. 5). Wichtig und bisher von der psychologischen Aggressionsforschung übersehen oder vernachlässigt, erscheint ihm in diesem Zusammenhang auch besonders die Ebene der organisatorisch-strukturellen Einflüsse auf das Kampfphänomen. Dessen Ursachen werden „im allgemeinen in Personen und höchstenfalls in Interaktionen gesucht“ (S. 5).

Auf der Suche nach übergreifenden und bewährten[1] Konzeptionen, die zudem noch Zusammenhänge und Verbindungen zwischen Kampf und Organisation sichtbar machen sollen, konturiert SCHETTGEN sein Wunschprofil eines solchen Organisationsmodells anhand eines fünf Punkte umfassendes „Minimalprogramms“ (S. 8). Er sucht ein Organisationsmodell, das:

„(1) die Kampfthematik „anschlußfähig“ macht, d.h. den Zusammenhang zwischen organisationalen Strukturen und der durch sie in regelmäßiger weise produzierten Konstellationen des Kampfes explizit aufgreift und theoretisch expliziert;
(2) die Behandlung der Kampfthematik nicht allein auf das Geschehen in oder zwischen Unternehmungen als effizienz- und rentabilitätsorientierten Einzelwirtschaften einengt, sondern diese als Spezialfall aus einem umfassenderen Organisationsverständnis ableitet, das prinzipiell eine Differenzierung unterschiedlicher Organisationsarten (wie z.B. Versicherungen, Krankenhäuser, Parteien, Kirchen, Universitäten, Sozialeinrichtungen, Militär) zuläßt;
(3) Organisation nicht als dingliche Entität oder ontologische Reifikation, sondern als soziales Konstrukt im implizierten Doppelsinn von mentaler Realität auffaßt.[...]
(4) das menschliche Subjekt zugleich zum Gegenstand („Opfer“) und Ausgangspunkt („Täter“) organisierter Prozesse macht. [...]
(5) Organisieren als kollektive Aktivität des Ein- und Ausgrenzens von bestimmten Handlungstypen bzw. von Folgen und Bedingungen des Handelns begreift. [...]“ (S. 7-8).

Ein Pool von Theorien[2] wird auf seine Tauglichkeit hin geprüft, und am Ende fällt die Wahl auf die „politische Ökonomie der Organisation“ von TÜRK 1995 (vgl. S. 12). Im weiteren Verlauf des ersten Kapitels wird diese Theorie näher betrachtet, dem Begriff des Kampfs innerhalb ihrer Struktur nachgespürt und die unterschiedlichen Bedeutungsebenen von Kampf für das organisierte Handeln verdeutlicht.

Abgeschlossen wird dieser Teil des Buches von einem Exkurs zur Verwendung des Kampfbegriffs bei Max WEBER. Hier wird deutlich, daß gesellschaftliches Leben eng mit Kampf verbunden ist, aber nicht ausschließlich ein Kampf sein muß. Leben ist „das, was wir kraft unserer Wahrnehmung und unserer bewußten Gestaltung aus ihm machen.“ (S. 64). Das bedeutet nicht, daß wir das Leben komplett nach unseren Vorstellungen modellieren können, aber doch zumindest, das wir ein gewisses Maß an Einfluß haben.

3. Konflikte in Organisationen

Bei der Betrachtung von Organisationen als Austragungsorte mikropolitischer Kämpfe macht SCHETTGEN aus polit-ökonomischer Perspektive drei qualitativ unterschiedliche Kampfarenen aus:

„(1) Kampf der menschlichen Spezies mit der äußeren Natur [...]
(2) Kampf verschiedener Organisationen gegeneinander [...]
(3) Kampf in Organisationen [...]“ (S. 66)

SCHETTGEN greift sich, wie der Titel seines Buches bereits ankündigt, den dritten Punkt[3] zur genaueren Untersuchung heraus und unterscheidet drei neue Ebenen.

Die Makroebene, auf der Kampf durch rechtliche Restriktionen und die Überwachung der allgemein gültigen „(Wirtschafts-)Ordnung“ (S. 67) durch staatliche Institutionen geregelt wird. Die Mesoebene, auf der sich die Interessen der Kapitaleigner und Belegschaft gegenüberstehen. Deren Konflikte werden durch Instanzen wie Arbeitgeberverbände oder Gewerkschaften behandelt und lassen sich eine Nähe zu der dritten Ebene, der Mikroebene, nicht absprechen. Die Mikroebene ist der Arbeitsprozeß an sich. Durch die komplexe Struktur vieler einzelner unberechenbarer Ereignisse und deren wechselseitiger Einflussnahmen entzieht er sich der völligen Kontrolle durch eine Person oder Institution.

Der Konflikt ist also unvermeidbar, und irgendwie ist jeder Mensch durch seine persönlichen Erfahrungen in seinen spezifischen sozialen Konstellationen darauf auf die ein oder andere Art und Weise vorbereitet worden. An dieser Stelle streift SCHETTGEN verschiedene sozialisierende Kontexte wie z.B. Familie (S. 84) und Schule (S. 92). Erwähnenswert scheint mir hier die Tatsache, daß es nach einer Darstellung der Erziehungsstile von HUGO-BECKER & BECKER (zit. in SCHETTGEN 2000 S. 88) viele Möglichkeiten der entmutigenden Erziehung gibt, aber nur eine ermutigende, die auf Kooperativität setzt.

4. Konfliktmanagement in der Personalentwicklung

Konfliktmanagement liegt in den Händen der Führungskräfte und wird als eine Schlüsselqualifikation für kompetentes Handeln in Führungspositionen angesehen. Diese und andere Fähigkeiten[4] werden von Führungspositionen besonders im Bereich der Personalentwicklung erwartet. Aufgrund der verschiedenartigen Sozialisationen kann aber nicht davon ausgegangen werden, daß jeder Mensch diese Fähigkeiten in vollem Ausmaß inne hat. Zur Beschreibung der verschiedenen Umgangsarten mit Konfliktsituationen greift Schettgen auf BERKEL (1995; vgl. SCHETTGEN 2000; S. 110-111) zurück, der fünf mögliche verschiedene Konfliktstile ausmacht:

1.) Durchsetzen, Erzwingen, 2.) Flucht, Vermeidung, Rückzug, 3.) Nachgeben, sich unterwerfen, 4.) Kompromiß und 5.) gemeinsames Lösen des Problems. BERKEL weist darauf hin, daß keiner der dargestellten Stile als der einzig optimale gelten kann und jeder Mensch eine für ihn charakteristische Abfolge von Konfliktstilen entwickelt (Vgl. SCHETTGEN 2000; S. 110). In einer Studie von REGNET (1996; zit. in SCHETTGEN 2000; S. 111-113) wird deutlich, daß sich die geplanten und die tatsächlich praktizierten Konfliktstile stark voneinander unterscheiden. In den meisten Fällen wird eine gemeinsame Problemlösung angestrebt, in der Praxis dann aber oft auf eine Machtstrategie zurückgegriffen (Vgl. S. 112)

SCHETTGEN sieht das Konfliktmanagement einer „ doppelten Fiktion“ (S. 99) unterliegen, die sich in zwei Mythen um dieses ranken. Einmal der „Machermythos“ (S. 99), der eine, wie oben erkannt, nicht mögliche Omnipotenz des Managements heraufbeschwört, zum zweiten der „Neutralitätsmythos“ (S. 100), der aus dem Management eine „interessen- oder leidenschaftslose Instanz“ (S. 99) macht, welche nicht selbst in den Konflikt verwickelt ist. Dies kann aber insofern nicht der Fall sein, als sich das Management einem internen Konflikt gegenübergestellt sieht. Dieser besteht darin, daß es eine Aufgabe des Managements ist, vermittelnd zwischen Kapital und Arbeit zu stehen. Es muß also zwei ungleiche wenn nicht gar gegensätzliche Interessen zugleich vertreten. Die Erhaltung der erfolgreichen Produktion ihres Betriebs (Kapitalinteresse) wird durch die ArbeiterInnen gewährleistet, solange diese „mitspielen“ (S. 100). Diese wiederum haben ein großes Interesse daran, ihre Stellen zu erhalten und unter möglichst guten Bedingungen eine Mindestmenge an Lohn erarbeiten zu können (Arbeitsinteresse). Sollten diese Interessen gefährdet werden, läuft gerade das mittlere Management Gefahr einen seiner Interessensträger und damit auch seine Daseinslegitimation zu verlieren.

Was beinhaltet aber nun diese allseits geforderte Eigenschaft der Konfliktfähigkeit? SCHETTGEN stellt „ohne Anspruch auf Vollständigkeit eine Auswahl verschiedener [klassischer] Aspekte von Konfliktfähigkeit“ (S. 108) vor. Die verschiedenen Aspekte folgen keiner hierarchischen Gliederung. Sie sind als gleichwertig zu betrachten und unterliegen in der Praxis der Problematik des „richtigen Maßes“. In der von SCHETTGEN gewählten Graphik sind sie einer Blütenform um den Begriff des Konfliktmanagements angeordnet (Abb. 2.5; S. 109):

Sensibilität, Akzeptanz, Offenheit, Vertrauen, Empathie, Intuition, Durchsetzungsvermögen, Wahrnehmungsfähigkeit des Augenblicks und Belastbarkeit.

Die Frage, wie man diese Fähigkeiten in einem Menschen wecken und fördern kann, führt SCHETTGEN über die Brücke des Kulturvergleichs zum Aikido.

4.1 Kampfkunst im Konfliktmanagement

Wirft man einen genaueren, auch historisch forschenden Blick auf die Konfliktlösungsstrategien unseres westlichen Kulturraumes, werden nach SCHETTGEN kulturelle Muster sichtbar, deren Akteure er durch Konfrontation mit alternativen Lösungswegen zu einer Selbstreflexion anhält. Er fordert als zentrale Aufgabe des Konfliktmanagements „die alltäglichen Kämpfe in Organisationen so zu behandeln, daß ihre dysfunktionalen Effekte auf den Arbeitsprozeß beschränkt oder vermieden werden; zudem käme es darauf an, die jeweiligen Anliegen und Motive der Kampfparteien einschließlich der darin enthaltenen „Energien“ in konstruktiver Weise für den Arbeitsprozeß zu nutzen. Konfliktmanagement wäre in diesem Sinne nicht mehr eine individuelle Aufgabe, die primär der Führungskräften überantwortet würde, sondern elementarer Bestandteil einer das gesamte Personal betreffenden Organisationskultur. Genauer gesagt einer ‚Streitkultur’“ (S. 134).

Aufgrund einer anscheinend weit verbreiteten Kurzfristorientierung in der Managementkultur geht meist mit dem Kampf auch das Phänomen des Kampfes als Selbstzweck einher. Es sollte aber lieber ein besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, sich an der Organisation und deren Sinn zu orientieren. Nicht der Kampf ist wichtig, sondern die Organisation. Angesichts dieses Anspruchs wird versucht, im Vergleich mit anderen (Streit)Kulturen (vgl. S. 134) eventuelle Lücken oder Fehler zu entdecken und möglicherweise hilfreiche Ergänzungen zu finden. Natürlich lassen sich Handlungsweisen fremder Kulturen nicht einfach auf die eigene übertragen. Man kann sich jedoch zur Erweiterung der heimischen Kultur anregen lassen.

Richtet man den Blick auf die Kampfkünste in Japan, fällt besonders auf, daß diese sich selbst nicht nur als erlernbare Fähigkeiten oder anzueignende Bildung sehen, sondern als „Weg“ definieren. Dies wird besonders deutlich in den Namen der jeweiligen Kampfkunst. Das letzte der Schriftzeichen ist meist ein „Do“, was (u.a.) „Weg“ bedeutet.[5] Im Japanischen werden die Kampfkünste daher unter dem Begriff des „Budo“ zusammengefaßt. „Do ist ein Weg, in dessen Zentrum eine Übung ... steht, deren Ziel jedoch nicht das Erlernen irgendeiner Fertigkeit, sondern das Erweitern des im Menschen liegenden Potentials ist“ (LIND 1992, S. 15; zit. in MÜLLER 2002; S. 91). Da die Bezeichnung des Do für viele andere Künste verwendet wird, ist es wichtig eine klare Linie zwischen Kampfkunst und anderen Bereichen zu ziehen. So weist SCHETTGEN ausdrücklich darauf hin, daß Budo im ursprünglichen Sinn kein Tanz, kein Sport und keine Selbstbehauptung (S. 138) ist.

Bei der Ausübung einer solchen Kunst steht das Üben selbst im Vordergrund und wird zum obersten Ideal erhoben, mit dem Ziel einer inneren Wandlung des Übenden (Vgl. MÜLLER 2002; S. 90). Dahinter stehen ein paar Jahrhunderte Kultur, Philosophie, Religion und Weltanschauung, die Kisshomaru UYESHIBA, der Sohn des Aikido-Begründers Morihei UYESHIBA, wie folgt ausdrückt: „Wahres Budo erfordert, dass die innere Energie des Universums in Ordnung gebracht, der Weltfrieden erhalten und alles in der Natur seinem eigenen Wesen gemäß sowohl geformt als auch bewahrt wird.“ (UYESHIBA 1993; zit. in MÜLLER 2002; S. 91-92).

Es sei an dieser Stelle darauf verwiesen, daß die Entwicklung des Budo eng mit der in Japan sehr populären Zen-Lehre verbunden war, welche auch heute noch eine wichtige Rolle in den Kampfkünsten spielt.[6] Damit ist also eine Schnittstelle zwischen körperlicher Aktivität, Philosophie und Bildung gefunden. Dies erinnert teilweise an die Bemühungen der Anhänger des humanistischen Bildungsgedankens in Deutschland zu Anfang des 20. Jahrhunderts (vgl. MÜLLER 2002).

Heute findet man eine Parallele zum Do in der Idee des „lebenslangen Lernens“ wieder. Diese besagt im Wesentlichen, daß ein Mensch mit dem Meisterbrief oder dem Diplom in der Tasche nicht „fertig“ gelernt hat und sich dann nur noch dem „stumpfen“ Nachgehen der einmal erlernten Tätigkeit widmet. Vielmehr ist es notwendig, sich weiterhin zu bilden und seine Fähigkeiten immer wieder aufs neue herauszufordern und zu erweitern. Beim Budo tritt im Gegensatz zur europäischen Bildung ein starker Bezug zum Körperlichen hervor. Die Übungen stehen nicht nur allein als Bewegung im Raum, sie sind gleichzeitig Metapher für andere mögliche Situationen und schulen so den Übenden sowohl körperlich als auch geistig. Vor diesem Hintergrund erscheint SCHETTGENs Vorschlag „Aikido als Bildungsprogramm“ (S. 156 ff.) nicht abwegig.

5. Aikido

Das Wort Aikido besteht aus drei Kanjis (japanische Schriftzeichen oder Ideogramme), die im Einzelnen Ai, Ki und Do heißen. Die Deutung dieser Schriftzeichen wird in den literarischen Beiträgen zum Aikido oft leicht unterschiedlich ausgelegt und interpretiert, läßt sich im allgemeinen aber auf ein paar Begriffe als gemeinsame Nenner bringen. Ai bedeutet soviel wie Harmonie, Koordination oder Synchronisation. Ki ist wird als Zeichen für Lebensenergie, Vitalität oder auch geistige Kraft, aber auch für anderes benutzt. Do steht wie bereits erwähnt für Weg, Übung oder Prinzip der Lebensführung. Frei abgeleitet entsteht daraus der Sinnbegriff von „Weg der Harmonisierung der Lebensenergie“ (Vgl. S. 157-158). Die Entwicklung dieses „Weges“ geht zurück auf den Japaner Morihei UYESHIBA (1883-1969). UYESHIBA vereinte verschiedene japanische Kampfsysteme (mit und ohne Waffen[7] ) und religiös-philosophische Ansätze einer Form des Shintoismus[8]. Im Gegensatz zu anderen Kampfkünsten ist das Ziel des Aikido ist nicht der Sieg über den Angreifer und dessen Unterwerfung, sondern eine Harmonisierung mit der im Angriff freigesetzten Energie. Um keinen Gegendruck zu erzeugen, stellt man dem Angriff nichts entgegen, sondern läßt ihn ins Leere laufen. Dabei geht man mit der Bewegung(senergie) mit und führt diese in einen harmonischen Auslauf, der den Angreifer, ohne ihm Schaden zuzufügen, durch seine eigene Energie zu Boden gehen läßt. Man ist also bemüht, trotz einer denkbar ungünstigen Ausgangsposition, eine für beide Parteien sichere Situation zu schaffen (vgl. Abb. 3.1 und Text S. 159). O’Sensei (Großmeister) Morihei UESHIBA[9] selbst drückte es so aus: „Aikido ist Ausdruck der Liebe.“ (zit. in John STEVENS 2002; S. 149). Es sei erwähnt, daß sich im Laufe der Zeit verschiedene Stile des Aikido entwickelt haben, die stark von den Vorstellungen und Ansichten ihrer Vertreter beeinflußt sind. Daher ist auch die Diskussion in der „Aikido-Szene“ durchaus sehr differenziert und von unterschiedlichen Standpunkten geprägt. Bei der Wahl eines geeigneten „Sensei“ (MeisterIn) empfiehlt sich also eine gründliche Suche nach einer Persönlichkeit, die einem selbst angenehm erscheint. UESHIBA soll seine Schüler sogar ermutigt haben, von so vielen LehrerInnen wie möglich zu lernen (STEVENS 1992; in SCHETTGEN 2000 S.164).

5.1 Dojo,Gemeinschaft, Regeln und Etikette

Der Übungsort stellt in[10] den Kampfkünsten nicht einfach nur eine Halle oder Ähnliches dar, in der man sich körperlich ertüchtigt. Das Dojo ist ein Ort, an dem man sich bewußt einer Veränderung aussetzt. Diese (Selbst-) Bewußtwerdung ist ein zentraler Punkt in den Kampfkünsten und wird besonders deutlich in der Etikette, den Regeln des Dojos. Natürlich werden die durch die Etikette festgelegten Verhaltensweisen in Japan nicht immer als so sonderbar und ungewöhnlich erscheinen wie hier, da sie größtenteils der altertümlichen japanischen Kultur entstammen. Trotzdem kann man auch dort Erstaunen angesichts der Regeln und deren Wirkung auf die SchülerInnen einer Kampfkunst beobachten[11]. Die Etikette ist nicht in allen Dojos gleich, erfüllt aber im Allgemeinen die gleichen Funktionen. Wichtige Bestandteile der Etikette sind z.B. (vgl. S. 281-282):

- Erweisung gegenseitigen Respekts durch Verbeugen bei Betreten des Raumes/der Matte, zu Beginn/Abschluß einer Übungseinheit, zu Beginn/Ende einer Übungsphase gegenüber den ÜbungspartnerInnen, beim Erhalten einer Lektion, zur Aufnahme einer Übungswaffe,
- Tragen eines traditionellen weißen Kampfanzuges (Beschaffenheit wie im etwas populäreren Judo),
- höhere Grade tragen einen schwarzen Hosenrock („Hakama“),
- Betreten der Matte nur ohne Schuhe,
- ordentliches Aufstellen der Schuhe,
- kein Schmuck oder Schminke, saubere Hände und Füße, geschnittene Fuß- und Fingernägel,
- beim Üben soweit als möglich Ruhe bewahren,
- seine Übungspartner nicht willentlich verletzen,
- zu jeder Übungsphase einen neuen Partner wählen,
- nach festgelegter Anzahl der Wiederholungen einer Technik die Rollen wechseln,
- bei Hebeltechniken durch Abklopfen mit der freien Hand die Schmerzgrenze aufzeigen und als Ausführender diese respektieren,
- bei Erschöpfung am Mattenrand warten und sich erholen,
- nach dem Üben die Matten reinigen und evtl. stapeln.

Zu Beginn einer Übungsphase wird vom Sensei und einem Schüler eine Technik gezeigt und erklärt. Danach sucht man sich einen Übungspartner und übt die gezeigte Technik. Dabei ist es besonders auf einer vollen Matte wichtig, den Raum und das Geschehen um sich herum wahrzunehmen, damit bei z.B. einem kraftvoll ausgeführten Wurf niemand verletzt wird. Immer wieder ist man besonders bei Lehrgängen, wo teilweise jedes Übungspaar nur 4 m2 oder weniger zur Verfügung hat, darüber erstaunt, daß trotz kraftvoll und dynamisch ausgeführter Techniken niemand zu Schaden kommt. Dies ist die Auswirkung eines intensiven Wahrnehmungstrainings, dem in vielen Aikidostilen gesondert nachgegangen wird (vgl. z.B. MARUYAMA &TOHEI 1984, TREVISAN 1991). Ebenso umsichtig wird auch in der Beziehung zwischen zwei Übenden miteinander umgegangen. Man greift einen Anfänger nicht mit voller Kampfgeschwindigkeit an, sondern paßt den Angriff dem Können des Gegenübers soweit an, daß dieser nicht unter- oder überfordert ist. Kommt der Angriff jedoch ohne „echten“ Impuls, versagt man dem anderen die Möglichkeit der Wahrnehmung eines ernsten Angriffs. Daher sollte immer mit ernster Absicht aber angepaßter Geschwindigkeit angegriffen werden, um dem Gegenüber die Chance zur Überprüfung des eigenen Könnens zu ermöglichen. Halten sich beide Übenden an diese Regeln ist ein sehr dynamischer und energischer Austausch möglich. Somit können sich alle Lernenden gegenseitig als Lehr-/Lernmodel zur Verfügung stehen. Die Fortgeschrittenen den Anfänger z.B. im Verstehen der Technik. Die Anfänger den Fortgeschrittenen z.B. in Geduld und Sanftmut beim Erläutern der Techniken.

Es geht jedoch nicht darum, jemand anderen zu verbessern oder zu kritisieren, sondern vielmehr darum, „die eigene Einstellung zu modifizieren“ (S. 166). SCHETTGEN benennt hierbei drei Faktoren (vgl S. 166), die das Potential von Aikido als Konfliktregulator verdeutlichen. Der erste ist die eben beschriebene „ Selbstverantwortlichkeit“ auch im Sinne einer Erfahrung und Überprüfung der eigenen Aggression. Der zweite ist die „ Reaktion auf Konfrontation“. Auch das Erfahren und Überprüfen der eigenen (Körper)Reaktionen auf verschiedene Arten von Angriffen gehört hierzu. Und drittens die „Katharsis durch ritualisierte Aktion“. Anzumerken sei hier noch, daß durch die Einrichtung eines Dojos und dessen Regeln eine Fehler verzeihendere Kultur entsteht, als man dies meistens in unserer sehr fehlerunfreundlichen, leistungsorientierten Gesellschaft gewöhnt ist. Innerhalb der geschützten Grenzen des Dojos besteht ein Raum zum „Üben für den Ernstfall Leben“. Die oben beschriebenen Verhaltensformen können als offene oder mancherorts stille „Übereinkunft“ angesehen werden, die es den Übenden ermöglicht, in einem sicheren Rahmen an sich selbst und ihrem Umgang mit ihrer Umwelt zu arbeiten.

In meiner eigenen Praxis konnte ich oft die Wirkung dieser „Übereinkunft“ und auch deren Überschreitungen erleben. Greife ich einen Anfänger zu heftig und evtl. sogar unkontrolliert an, verfällt dieser womöglich in alte Verhaltensmuster (oft in Form von Körperversteifung) und es kann zu beiderseitigen Verletzungen kommen. Ein zu heftiger Angriff auf einen Fortgeschrittenen konfrontiert mich dagegen mit der vollen Intensität meines Angriffs, die durch die Aikido-Technik auf mich zurück geworfen wird. Zu Anfang war ich natürlich nicht in der Lage, mich entsprechend zu bewegen und zu schützen. Daher mußte ich auch lernen, meinen Angriff nicht nur auf den Fähigkeitsgrad meiner Übungspartner, sondern auf meinen eigenen abzustimmen. Durch diesen auch als Kommunikation ansehbaren und oft energischen Austausch lernt man mit der eigenen Aggression hauszuhalten (vgl S. 166).

Um die Wirkung von Aikido auf Situationen und Personen ganz zu verstehen, ist es unerläßlich, es unter fachkundiger Aufsicht selbst zu praktizieren. Daher entwerfen „Beschreibungen“ meist ein Idealbild von dem was beim Üben im Dojo vor sich geht. Die Praxis ist immer von dem komplexen Gefüge der ständig wechselnden Bedingungen der Verfassung der einzelnen Personen und deren Übungssituation abhängig. Die im Folgenden aufgezeigten Punkte sind daher mögliche Lernziele, deren Erreichen stark vom Übenden selbst, dem Sensei, dem Dojo und den dort Übenden abhängig sind. Auch die Zeitspanne der Erkenntnis und deren Umsetzung in alltägliche Handlungsmuster ist keine allgemeingültig festlegbare Einheit.

6. Aikido als Bildungsprogramm

SCHETTGEN stellt aus dem Verständnis von „’Do’ als einem verallgemeinerten Prinzip der Lebensführung“ (S. 159) ein modulartiges „Bildungsprogramm des Aikido“ (S. 159) vor. Hier eine an SCHETTGEN angelehnte Kurzfassung (vgl. S. 160-163):

1) Unabhängigkeit („Vermehre die Anzahl deiner Optionen!“): Man läßt sich nicht in Kampfhandlungen verwickeln, geht aus der Angriffslinie und nimmt eine sichere Position (z.B. seitlich zum Angreifer) zum Geschehen ein, ohne sich davon auszuschließen (z.B. Flucht). Der Angriff wird nicht erwidert, sondern eine Ebene der Beziehungsaufnahme geschaffen.
2) Gewaltlosigkeit („Handle so, daß du auf Gewalt verzichtest, sie aber nicht vernichtest!“): Die neue günstige Stellung wird nicht ausgenutzt, um den Angreifer außer Gefecht zu setzen, obwohl man offensichtlich Gelegenheit dazu hat. Durch diesen bewußten und demonstrierten Gewaltverzicht macht man auf die Möglichkeit alternativer Handlungsweisen aufmerksam.
3) Synergie („Nutze die Energie eines oder mehrerer Angreifer!“): Die nun ins Leere laufende Angriffsenergie wird aufgenommen, indem man sich an die Bewegung angepaßt. Da der Angriff sein Ziel und damit auch seine Richtung „verloren“ hat, kann man ihn nun unter Beachtung der Harmonie der Bewegung in eine andere Richtung lenken und so einen Schaden aller Beteiligten vermeiden. SCHETTGEN weist hier auf die Möglichkeit der Übertragung dieses Konzepts auf verbale Konfliktsituationen hin (S. 160-161).
4) Aufwertung des Körpers („Nimm deinen Körper wahr!“): „Das Interesse am Körper erschöpft sich nicht in der technischen Dimension seines effektiven Einsatzes, sondern ist auf die basale Annahme zurück zu führen, daß alle Selbsterkenntnis vom Körper ausgeht [[12] ][]. Aikido will den Übenden die vergessenen bzw. vernachlässigten Möglichkeiten des eigenen Körpers zeigen, deren Entwicklung nicht losgelöst zu denken ist von einer Freisetzung der geistig- seelischen Kräfte“ (S. 161). Ein wichtiger Bestandteil von Aikidopraxis besteht aus Atem- und Körpersensibilisierungsübungen.
5) Ressourcenschonung („Haushalte mit deinen Kräften!“): Um angesichts einer Konfliktsituation angemessen handeln zu können, werden im Aikido nur die nötigsten von der Situation erforderten Bewegungen ausgeführt. Daher wird beim Üben auf die geistige und körperliche Zentrierung geachtet. Das Zentrum ist mit dem physischen Schwerpunkt des Körpers[13] identisch und wird zugleich als Zentrum des Ki angesehen. Alle Bewegungen drehen sich um dieses Zentrum wie bei einem Kreisel. Wer in diesem Zentrum ruht ist als stabilster Punkt eins mit der Bewegung.
6) Konsensorientierung („Handle im Einverständnis mit anderen!“): „Aikido praktiziert eine Haltung der unbedingten Wertschätzung und Achtung anderen Menschen gegenüber. Es sucht die Aufrechterhaltung einer harmonischen Distanz [[14] ], um aus diesem als natürlich empfundenem Abstand heraus partnerschaftliche Beziehungen zu pflegen, die auf dem Prinzip des Konsens’ in friedlicher Koexistenz beruhen.[...] Aikido will sich nicht mit Anderen auseinandersetzen, um die eigene Absicht durchzusetzen, sondern es will Andere so steuern oder lenken, daß eine Ineinandersetzung ins Einvernehmen gelingt. Aggression wird als natürliche Grundlage des Herantretens an andere verstanden, denen man die an sie gerichteten Wünsche zwar mitteilen, aber nicht sie zur Erfüllung der Wünsche zwingen darf; in diesem Sinne ist Aikido ‚herrschaftsfreie Kommunikation’ (HABERMAS)“ (S. 162).
7) Ganzheitlichkeit („Integriere deine Ressourcen!“): Aikido versteht sich nicht nur als eine Kampfkunst im Sinne von Selbstverteidigung. Es wird auch in den meisten Dojos dazu angehalten die lebensphilosophischen Aspekte auch außerhalb der Matte zu leben. Die Übungen tragen außerdem zu einer gesünderen Körperhaltung bei. Folgt man dem Gedanken, daß sich Körper und Geist wechselseitig beeinflussen, trägt dies damit auch zu einem „gesünderen“ Geisteshaltung bei. Der Mensch wird als ganzheitliches Wesen gefördert. Und nicht in Einzelteile wie Körper, Seele und Geist zerlegt.[15]
8) Präsenz („Beobachte, ohne zu bewerten!“)[16]: Da durch das Training Wahrnehmung mehr und mehr durch den Körper geschieht, wird der Geist entlastet. Er kann sich nun der „Lebendigkeit des Augenblicks öffnen“ (S. 162).
Damit wird ein unvoreingenommenes und situationsangemessenes Handeln im ‚Hier und Jetzt’ möglich. Der Geist erreicht durch langes Üben eine Haltung der Leere, die bereit ist alles so anzunehmen, wie es ist.
9) Selbstentwicklung („Handle maßvoll!“): „Selbsterforschung, Selbstentdeckung, Selbsterkenntnis, Selbstvertrauen, Selbstbesinnung und Selbstbeherrschung sind die Leitbegriffe von Aikido als einer persönlichkeitsbildenden Disziplin. Erklärtes Ziel ist es, die Maßlosigkeit zu überwinden, die den Menschen in Selbstbefangenheit hält und ihn von sich und seiner sozialen Umwelt trennt. Es gilt, all dasjenige in sich zu bekämpfen, was das innere und äußere Gleichgewicht stört.“ (S. 162-163). Diese Störfaktoren sind u.A.: Machtwille, Egoismus, Kampflust, Aggressivität, Übermut/Ungestüm, Hochmut/falscher Stolz, Ungeduld, Frustration, Wut, Mißgunst, Voreingenommenheit, Arroganz und Eifersucht. Man kann diese zwar mit auf die Matte bringen, da ihnen aber dort keine Bestätigung oder Verstärkung geboten wird, verfallen sie mangels Nährbodens oder richten sich schlimmstenfalls gegen die Person, die sie mitgebracht hat. Diese Erfahrung setzt meist einen Prozeß der Selbstreflexion in Gang, der es dem Menschen ermöglicht, zu einem maßvolleren und damit beständigeren Verhältnis und Austausch mit sich selbst und den ihn umgebenden Dinge zu gelangen.

Vertiefend zu diesem Thema stellt SCHETTGEN einige Autoren und deren Praxisansätze zur Einbeziehung der Aikidoprinzipien in Konkflikthandhabungsstrategien vor (S. 167-198). Die wohl bekanntesten sind DOBSON & MILLER 1993 mit ihrem Konzept der Attaktik, das bereits seinen Einzug in die Organisationspsychologie der FU-Berlin gefunden hat.[17] Ebenso interessant sind drei empirisch belegte Transfermuster (S. 199-214), die einen positiv stimmenden Einblick in die Praxis der Arbeit mit Aikido-Prinzipien geben. Eines davon entstand aus einem Projekt SCHETTGENs im Zusammenhang mit Führungskräfte-Entwicklungstrainings (S. 207-214).

Wirft man nun den Blick noch einmal auf die zu Anfang geforderten Komponenten von Konfliktfähigkeit, so wird deutlich, daß Aikido alle diese Komponenten unterstützt. Ein Zusatz sei hier noch gegeben zur Komponente Belastbarkeit: diese wird ebenso auf der psychischen wie auf der physischen Ebene im Aikido gefordert und verbessert. Als gutes Beispiel hierfür dient das „Randori“. Die verteidigende Person ist drei oder mehr Angreifern ausgesetzt. Diese können allesamt gleichzeitig und mit einem Griff beider Hände nach den Schultern des Verteidigers angreifen. Dieser muß sich durch geschicktes Werfen der Angreifer und Ausnutzung des vorhandenen Raums Platz schaffen. Ein gutes Randori erkennt man z.B. daran, daß die Angreifenden vom Verteidiger so „plaziert“ werden, daß sich dieser immer auf einer Kreisbahn um die Angreifer befindet und diese nur noch nacheinander angreifen können. Man kann die Wurftechnik noch so gut beherrschen, hält man der psychischen Belastung der vielen Angreifer nicht stand und verfällt in Hektik, ist das Randori für den Verteidiger eine weitere Lektion in „wie es nicht sein sollte“. Für die Angreifer ist das Randori ebenfalls keine einfache Angelegenheit, da ein guter Verteidiger viel von seinen Angreifern fordert. Hundertprozentiger Angriff, sich schützen, fallen aufstehen und sofort wieder zum Angriff bereit sein, erfordern eine sehr gute Kondition und Körperbeherrschung. Auch im übertragenen Sinn kann man den Ablauf von Angriff, Fall, Aufstehen und erneutem Angriff als Metapher für alltägliche Situationen im privaten wie im beruflichen Bereich mit ihren Vorhaben, Fehlschlägen und erneutem Angehen von Vorhaben sehen.

7. Ausblick

Angesichts des Beschriebenen bin ich der Auffassung, daß Aikido als eine Form des „Lernens durch den Körper“ (vgl. S. 296) eine wichtige Komponente im Bildungsbereich ist, deren Potential noch nicht entsprechend ausgeschöpft wird. Andere körper-, sinneswahrnehmungs- und erfahrungsorientierte Ansätze wie z.B. die Erlebnispädagogik[18] sind bereits in der Praxis üblich, wissenschaftlich jedoch stehen diese meist auf wackeligen Beinen. Hier besteht in wissenschaftlichen Kreisen weitgehend noch großer Bedarf an Offenheit gegenüber diesen Themen. Ebenso mangelt es vielerorts an der Bereitschaft, sich der weiteren Erforschung dieses Feldes zu widmen oder unvoreingenommen an die Forschungsergebnisse heranzutreten.

Ein kleines Beispiel zur Erwartung und Geduld gegenüber alternativen Methoden: In meiner Praxis als Outdoor- und Erlebnispädagoge konnte ich folgendes Phänomen des öfteren beobachten: Eine Gruppe von Managern bucht einen „Schnuppertag“ mit erlebnispädagogischem Ansatz. Alle Teilnehmer sind begeistert, fragen nach der Nachhaltigkeit der Aktion und den Transferchancen in den Arbeitsalltag und verbuchen das Erlebte unter der Rubrik „netter Spaß ohne Gehalt“. Dabei wird verkannt, daß eine einmalige „Kennenlern-Aktion“ nicht die Arbeit eines vollständigen Trainings mit Nachbetreuung leisten kann. Der Erfolg solcher Programme ist kein nach kurzer Zeitspanne plötzlich eintretender. Wie beim Gedanken des Do ist es ein Weg, der von einem komplexen Gebilde von Komponenten abhängig und nicht innerhalb eines festzulegenden Zeitraums zurückzulegen ist.

Ermutigend ist in diesem Fall zu bemerken, daß seit 1993 an der Universität Augsburg jährlich eine Tagung zum Thema „Erleben und Lernen“ stattfindet. Diese schlägt eine Brücke über den oftmals so groß erscheinenden Graben zwischen Theorie und Praxis in den Erziehungswissenschaften und ihren Anwendungsbereichen. Ebenso hat es sich die Vereinigung Aiki-Extensions Inc.[19] Zur Aufgabe gemacht, „Aikido auf seine Tauglichkeit in verschiedenen beruflichen Einsatzfeldern zu überprüfen“ (SCHETTGEN 2002; S. 5). Peter SCHETTGEN ist seit 1998 Mitglied dieser Vereinigung, der auch andere wissenschaftlich tätige Mitglieder angehören.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf zwei Dozenten der FU-Berlin und eine Gruppe an der Universität Augsburg Aufmerksam machen, die sich mit „ungewöhnlichen“ Bereichen des Lernens beschäftigen. Zum einen Birgit Althans, deren Seminar im SS ’03 den Titel „Lernen mit dem Körper“[20] trägt und sich unter anderem mit der Feldenkraismethode[21] beschäftigt (von einigen Teilnehmern des Seminars habe ich erfahren, daß Frau Althans auch Aikidoelemente in ihr Seminar einfließen läßt). Zum anderen Prof. Dr. Walter Dürr, der sich in Zusammenarbeit mit Friedbert Crusius und seiner Assistentin Petra Aisenbrey mit der Theorie der Selbstorganisation (Synergetik) beschäftigt.[22] Die Gruppe NAKIF[23] in Augsburg beschäftigt sich ebenfalls mit einem noch weitgehend wenig erforschten Bereich selbstgesteuerten Lernens. Schließlich sei hier noch auf ein Buch aufmerksam gemacht, das ich für einen guten Einstieg in die Körperarbeit halte: BRYNER & MARKOVA 1997, „Die lernende Intelligenz. Denken mit dem Körper“.

Ich hoffe durch diesen Text einen kleinen Beitrag zur Zusammenkunft und Verständigung unterschiedlicher sich mit ganzheitlichen Bildungsmethoden beschäftigender Bereiche zu schaffen.

Literatur

BRYNER, Andy & MARKOVA, Dawna, Die lernende Intelligenz: Denken mit dem Körper. Paderborn: Junfermann 1998 (zuerst 1997).

HECKMAIER, Bernd & MICHL, Werner, Erleben und Lernen: Einstieg in die Erlebnispädagogik. Neuwied, Kriftel, Berlin: Hermann Luchtehans 1993

LOKOWANDT, Ernst, Shinto: Eine Einführung. München: Iudicum 2001.

MARUYAMA, Koretoshi & TOHEI, Koichi, Aikido mit Ki. Leimen: Werner Kristkeitz Verlag 1987.

MÜLLER, Ulrich, „Selbstbildung als Weg“, in: SCHETTGEN, Peter (Hg.), Heilen statt Hauen! Aikido-Erweiterungen in Therapie und beruflicher Bildungsarbeit. Augsburg: ZIEL GmbH 2002, S. 85-100.

OSTENRIEDER, Mark & WEIß, Michael, Erleben Lernen Kooperieren: Innovation durch erfolgreiches Miteinander. München: Fachhochschulschriften Prof. Dr. Jürgen Sandman

RUGLIONI, Giuseppe, Einheit von Geist und Körper und Ki Aikido. Stuttgart: Verlag Sven Millei 2000.

SCHETTGEN, Peter, Der alltägliche Kampf in Organisationen. Psychologische Hintergründe und Alternativen am Beispiel der japanischen Kampfkunst „Aikido“. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag GmbH 2000.

SCHETTGEN, Peter, Heilen statt Hauen! Ein Symposion über Aikidi-Erweiterungen „jenseits der Matte“, in: SCHETTGEN, Peter (Hg.), Heilen statt Hauen! Aikido-Erweiterungen in Therapie und beruflicher Bildungsarbeit. Augsburg: ZIEL GmbH 2002, S. 5-7.

STEVENS, John, Unendlicher Friede. Die Biografie des Aikidô-Gründers Morihei Ueshiba. Leimen: Werner Kristkeitz Verlag 2002 (zuerst 1992).

[...]


[1] Es ist nicht SCHETTGENs Absicht eine neue, absolute Theorie zu entwickeln, sondern im Sammelbecken wissenschaftlicher Literatur auf bereits vorhandene angemessene Gedankengänge und Theoriegerüste Konzeptionen zu stoßen und auf diese zurück zu greifen (Vgl. S. 8).

[2] Es werden folgende Autoren in Zusammenhang mit den jeweiligen Ansätzen und Konzeptionen genannt (Vgl. S. 8-11): rational-ökonomisch inspirierte Modelle (REFA, WEBER, CYERT&MARCH, MARCH&OLSON, HILLMANN, ELSTER, RICHTER), sytemtheoretische Konzeptionen (BERTALANFFY, MATURANA, PARSONS, DUNLOP, LUHMANN, BAECKER), organisationskulturelle Ansätze (MAYO, ROETHLISBERGER, DICKSON, MEAD, BLUMER), handlungstheoretische Ansätze (ORTHMANN, BURAWOY, STRAUSS), institutionalistische Ansätze (GIDDENS, WALGENBACH, OLIVER), marxistische Ansätze (HYMANN, TÜRK).

[3] „Kampf in Organisationen, d.h. der KapitaleignerInnen bzw. herrschenden Koalitionäre gegen die Lohnabhängigen, die ihre Arbeitskraft für einen bestimmten Preis zur Verfügung stellen, sich aber nie vollständig beherrschen lassen, weil sie nicht in das Eigentum der Organisation übergehen.“ (S. 66).

[4] Flexibilität; Sensibilität; interdisziplinäres, ganzheitliches Denken und Handeln; Selbstbewußtsein; Verantwortungsbewußtsein; Offenheit, Einfühlungsvermögen; Fähigkeit zur Selbstreflexion; Umgang mit Streß; Kooperationsfähigkeit; etc. (vgl. Tabelle 2.2; S.105).

[5] Aikido, Karatedo, Judo, Tae-Kwon-Do, Budo, etc.

[6] SCHETTGEN gibt auf den Seiten 135 bis 156 einen kurzen, verständlichen Einblick in die „Grundlagen fernöstlicher Kampfkunst“ (S. 137).

[7] Im Aikido wird heute noch der Umgang mit Stock (Jo) und Schwert (Bokken, aus Holz) gelehrt, u.A. um die Prinzipien des Aikido zu verdeutlichen.

[8] Vgl. Ernst LOKOWANDT 2001 „SHINTO Eine Einführung“. Zu UYESHIBAS Biographie und Mitgliedschaft in der shintoistischen Omoto-Kyo-Bewegung vgl. John STEVENS 1987 „Abundant Peace. The Biographie of Morihei Ueshiba, Founder of Aikido“.

[9] Da bei der Übersetzung der Ideogramme Uneinigkeit über die korrekte Zeichensetzung herrscht, kommt es unterschiedlichen Schreibweisen des Namens. Ich richte mich hier nach der Schreibweise des jeweilig zitierten Textes.

[10] Übungsstätte japanischer Kampfkünste. Im Aikidodojo ist der Boden zur Polsterung mit ca.3-4 cm dicken Schaumstoffmatten (früher und in einigen traditionellen Dojos auch heute noch mit Reisstrohmatten) ausgelegt.

[11] Vgl. eine Anekdote in MARUYAMA & TOHEI 1984 (S. 204), in der sich die Eltern eines Aikido-Schülers darüber wundern, daß die Kinder im Dojo und dann auch ohne Aufforderung zu Hause die Schuhe ordnen. Das ordentlich Aufstellen der Schuhe war eine wichtige Handlung im alten Japan, da ein Samurai (japan. Krieger) immer zum Kampf bereit sein musste und es als eine Schande galt, verwirrt und ohne Schuhe loszustürzen (vgl. MARUYAMA & TOHEI 1984; S. 203).

[12] Vgl. SCHETTGENs Ausführungen in Kap. 4 und BRYNER & MARKOVA 1997.

[13] Etwa eine Handbreite unter dem Bauchnabel. Vgl. „3.4.2.4.3. Zentrum“ (S. 150), MARUYAMA & TOHEI.1984 und RUGLIONI 1997.

[14] Ma ai =Abstand vom Partner (vgl. TREVISAN 1991)

In meiner eigenen Praxis erfahre ich die „richtige“ Distanz zu einem frontal angreifenden Übungspartner oft als den Bereich, den meine Arme beschreiben, wenn ich auf Schulterhöhe einen Kreis mit den Armen mache.

[15] SCHETTGEN merkt dazu folgendes an: „Mit dem gesteigerten Leistungsvermögen, das aus der inneren Sammlung resultiert, beginnt die psychosomatische Wissenschaft des Abendlandes sich erst allmählich zu beschäftigen (vgl. CSIKSZENTMIHALYI 1992). Allein die Tatsache, daß wir auf Begriffe wie ‚psycho-physisch’ oder ‚psycho-somatisch’ angewiesen sind, beweist, wie wenig wir uns nach wie vor den Menschen als eine lebendige Einheit vorstellen können.“ (S. 162).

[16] Dazu Morihei UESHIBAs leicht spirituelle Aussage: „Betrachte die Welt weder mit Angst oder Abscheu. Stelle Dich mutig allem, was die Götter anbieten.“ (zit. in STEVENS S. 105)

[17] Im WS 01/02 belegte ich ein Seminar der FU-Berlin im Bereich Organisationspsychologie, in dem dieses Konzept behandelt wurde.

[18] Vgl. HECKMAIR & MICHL, OSTENRIEDER & WEIß

[19] www.aiki-extensions.org

[20] Fachbereich 12, Erziehungswissenschaft und Psychologie, Kommentiertes Vorlesungsverzeichnis Sommersemester 2003, S. 45)

[21] Moshe FELDENKRAIS, „Bewußtheit durch Bewegung“; Frankfurt: Suhrkamp, 1978

[22] E-mail Prof. Dr. Dürr: duerrw@zedat.fu-berlin.de

[23] Neue Anforderungen an Kompetenzen erfahrungsgeleiteten Arbeitens und selbstgesteuerten Lernens bei industriellen Fachkräften; www.nakif.de

Final del extracto de 19 páginas

Detalles

Título
Aikido im Konfliktmanagement nach Schettgen
Universidad
Free University of Berlin
Curso
Netzwerke und Kulturen des Lernens, lernende Organisationen und Kulturen der Kompetenz
Calificación
1,0
Autor
Año
2003
Páginas
19
No. de catálogo
V109602
ISBN (Ebook)
9783640077816
Tamaño de fichero
385 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Aikido, Konfliktmanagement, Schettgen, Netzwerke, Kulturen, Lernens, Organisationen, Kulturen, Kompetenz
Citar trabajo
Finn Hummel (Autor), 2003, Aikido im Konfliktmanagement nach Schettgen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109602

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