Gewalt in sozialen Systemen


Elaboration, 2005

9 Pages


Excerpt


Die folgenden sechs Thesen zur "Gewalt in sozialen Systemen" sind eine Weiterentwicklung bzw.

Nutzbarmachung der Inhalte der Dissertation des Autors "Theorien der Gewalt in Schulen" eine Zusammenfassung der Dissertation ist kostenlos unter www.hausarbeiten.de/download/23025.pdf erhältlich.

Die Thesen wurden als Arbeitspapier im Auftrag der Technik Akademie Vienna Region verfaßt.

Autor:

Dr. Martin Hilpert

> Ge w a l t in so z i a l e n Sy s t e m e n <

Abstract:

Soziale Systeme bilden sich durch die zwischenmenschliche Interaktion aus auf- grund von Erwartungen sich selbst verstärkender und schließlich verstetigter Vor- stellungen über die Wirklichkeit - z. B. eine Mutter-Kind Beziehung. Analog der zwischenmenschlich sich etablierenden sozialen Systeme entstehen auch komplexere des Gemeinschaftlichen, Politischen, Juristischen und Ökonomi- schen - stets muß potentielle Erwartung interaktionell verhandelt, entschieden und als wahr behauptet werden, damit selbstverstärkend eine bestimmte Wirklich- keitsannahme interaktionell und schließlich auch institutionell wahr gemacht wer- den kann und dadurch tatsächlich Realität wird. Diese fortlaufend stattfindende Hervorbringung und Anpassung von sozialen Systemen ist ein Marktgeschehen, ein Identitätsmarkt, der der Optimierung der jeweils aktuellen Umsetzung des menschlichen Potentiellen dient, d. h. der eine verbesserte Verbindung von Wirk- lichkeitswahrnehmung bzw. Daseinsbewältigung mit Wertvorstellungen zum Ziel hat. Gewalt ist jede Einflußnahme, die eine dem Menschen gemäße Identitätsfin- dung manipuliert bzw. verhindert.

Die jeweils bereits entstandenen sozialen Systeme sind Vorbedingung für weitere Entwicklungen, so daß soziale Systeme sogenannte "strukturelle Gewalt" (Begriff von Johan Galtung 1930-) begründen und Identitätsmärkte in doppelter Weise Ge- waltmärkte sind, weil sie durch die fortlaufende Anpassung Gewalt intern mininie- ren, genau darin besteht ihre Aufgabe, und zugleich selbst strukturelle Vorgaben darstellen, mittels derer die Interaktion gesteuert werden kann. Daraus ergibt sich, daß Führung (Leadership) entscheidend ist, weil durch sie Wirklichkeitsvorstellun- gen fokussiert und soziale Systeme verändert werden, um einerseits eine jeweils verbesserte Aktivierung des Potentiellen zu erreichen bzw. um durch eine neue Verbindung von Daseinsbewältigung mit Symbolischem, d. h. durch Innovation, ein menschenwürdiges Leben zu sichern, und andererseits mit der durch Lea- dership erreichbaren aktiven Gestaltung sozialer Systeme strategische Vorausset- zungen geschaffen werden können, die die Entstehung entmenschlichender sozia- ler Systeme bzw. die Entstehung von Gewalt mindern oder unterbinden. Führung entsteht immer innerhalb sozialer Systeme und basiert auf Integrität und Wertvorstellungen, sie kann aber auch paradox und damit negativ und gewalthal- tig sein - eine positive, leistungsfähige Leadership, die für ein menschenwürdiges Leben und das materielle Überleben essentiell ist, setzt ein tiefen Wissen um das Menschliche und die damit verbunden Werte voraus. Für eine nicht-paradoxe ei- gentliche Leadership ist auch die Kenntnis der "Selbstkonzeptionen des Menschen" (Ideengeschichte) erforderlich, weil nur so die natürliche Fixierung auf das momen- tan Aktuelle überwunden werden kann, um immer wieder neu angemessen kon- ventionelle mit neuen Ideen und Strategien zu verbinden und Chancen zu nutzen - dies gilt selbstverständlich auch für soziale Systeme und Leadership, die in Betrie- ben bzw. im Wirtschaftsleben entstehen.

Zu den Begriffen:

In den folgenden Ausführungen werden alle verstetigten zwischenmenschlichen

Interaktionen als soziale Systeme aufgefaßt, neben dem politischen System und der Wirtschafts- und Rechtsordnung zählen beispielsweise auch der ritualisierte Umgang innerhalb einer Firma zwischen Kollegen und zu Vorgesetzten, private Freundschaften und die Familie dazu.

Gewalt ist jede Form von Übergriff oder Mißbrauch, der individuell als verletzend empfunden wird und nicht geklärt werden kann, bzw. jede Manipulation, die die zwischenmenschlich und gesellschaftlich fortwährend angestrebte Optimierung der sozialen Systeme behindert oder unterbindet.

1. - Bedingungen sozialer Systeme -

Soziale Systeme können sich nur gemäß der Entstehungsbedingungen für menschliches Bewußtsein entwickeln, weil sie nur vom Menschen hervorgebracht und erlebt werden können.

Empirischer Befund:

- Menschliches Bewußtsein ist Wahrnehmung des Selbst in einer Welt.
- Welt und damit das Selbst werden individuell als Bedeutung erfahren, in der stets Wirklichkeitswahrnehmung bzw. Daseinsbewältigung mit Symbolischem bzw. Vorstellungen des Menschseins und eines "Insgesamt" (der Welt oder des Lebens) verbunden werden.
- Zwischenmenschliche Kommunikation thematisiert Wirklichkeitswahrnehmung, Daseinsbewältigung und das jeweilige Selbstverständnis (das Symbolische).
- Menschliche Interaktion verändert die Daseinsbewältigung, die Wirklichkeitsvorstellungen und damit die symbolischen Bedeutungen (das Selbstverständnis und die Wertvorstellungen).

Schlußfolgerung:

Soziale Systeme sind das Resultat eines Marktgeschehens, innerhalb dessen Strate- gien der Daseinsbewältigung und des Selbstverständnisses verhandelt und opti- miert werden - sie beinhalten strukturelle Gegebenheiten, sogenannte strukturelle Gewalt, innerhalb derer das Individuum sein Potentielles umzusetzen hat. Soziale Systeme werden akzeptiert, solange sie Daseinsbewältigung (z. B. Leben- sunterhalt) gewährleisten, sie werden für gerechtfertigt und wahrhaftig angesehen, wenn sie Daseinsbewältigung und symbolische Vorstellungen in einer in sich schlüssigen Weise verbinden, und sie werden verehrt und geliebt, wenn sie die Ent- faltung des individuellen Potentiellen erleichtern, d. h. eine intensivere Selbst- und Weltwahrnehmung erlauben und dabei die Wirklichkeitswahrnehmung bzw. Da- seinsbewältigung verbessern.

2. - Entstehung von Gewalt -

Gewalt kann konkret nur bezogen auf ein bestimmtes soziales System definiert werden, weil sich ein Übergriff oder Mißbrauch nur aus dem Selbstverständnis und der jeweiligen Daseinsbewältigung begründen läßt.

Empirischer Befund:

- Nicht ein bestimmtes äußeres Geschehen, sondern lediglich die symbolische Bedeutung einer Handlung wird als Gewalt verstanden - z. B. kann eine Tötung in den westlichen Kulturen Totschlag, Mord oder Notwehr bedeuten; ein ärztlicher operativer Eingriff wird zur justiziablen Körperverletzung, wenn er nicht fachgerecht durchgeführt wurde, dagegen gilt ein Todesfall im Krankenhaus als normal, wenn der Arzt nach dem Stand der Wissenschaft behandelte.
- Die mit dem jeweiligen sozialen System gegebene strukturelle Gewalt wird nur dann als Gewalt erfahren, wenn sie dem individuellen Wollen entgegensteht, als unvereinbar mit dem Potentiellen des Menschen erfahren wird, und oder die Da- seinsbewältigung nicht gewährleisten kann bzw. die Wirklichkeit dem beanspruch- ten Selbst- und Weltverständnis widerspricht - strukturelle Gewalt wird als Gewalt empfunden, wenn sie zur die Symbolmärkte besetzenden Ideologie wird, die die fortlaufende Aktualisierung der Daseinsbewältigung und des Selbstverständnisses verhindert.

Schlußfolgerung:

Gewalt ist ein das stets auf Daseinsbewältigung, Zwischenmenschlichkeit und

Sinngebung angewiesene menschliche Leben schädigendes Verhalten - Gewalt ist der Mißbrauch der sozialen Abhängigkeit des Menschen.

Soziale Systeme sind gewalthaltig, wenn sie gegen den Menschen gerichtet sind und dadurch ihrer Entstehungsursache bzw. ihrem Sinn, die förderliche Aktualisie- rung der Daseinsbewältigung und des Selbstverständnisses, widersprechen. Gewalt ist die Unterbrechung jenes Marktgeschehens, das Identität angepaßt und verbessert individuell und in sozialen Systemen immer wieder möglich machen muß.

3. - Überwindung von Gewalt -

Gewalt kann innerhalb einer Identität als Verhalten gegen das Selbst- und Weltverständnis bzw. gegen die daraus abzuleitenden Wertvorstellungen eindeutig bestimmt und kritisiert werden - problematisch ist dagegen die Begründung und Überwindung kulturdifferenter Gewalt, die aufgrund der unterschiedlichen Identitätsentwicklung unvermeidbar entsteht.

Empirischer Befund:

- Innerhalb funktionierender sozialer Systeme wird gemäß der Intention ihrer Ent- stehung die Daseinsbewältigung gewährleistet, und es werden Wertvorstellungen entwickelt, die individuelles Potentielles aktivieren, individuelle Entfaltung und Er- füllung begünstigen, und der Lebenssituation gemäß sind - z. B. eine ideale Familie oder ein familiärer Handwerksbetrieb, in denen unterschiedliche Potentiale zur Spezialisierung und zu den Veränderungen angepaßten Innovationen im Interesse aller führen und durch die Lebensbewältigung bzw. den Erfolg auch die zwischenmenschliche Bindung und das Selbstverständnis, die Identität, wachsen.
- Unterschiedliche soziale Systeme bilden unterschiedliche Daseinsbewältigungs- strategien und unterschiedliche Wertvorstellungen bzw. Identitäten aus - z. B. ver- schiedene religiöse, nationale oder herkunftsmilieubezogene Grundhaltungen.

Schlußfolgerung:

Während innerhalb eines funktionierenden sozialen Systems Gewalt als Verstoß ge- gen die Wertvorstellungen deutlich benannt und aufgelöst werden kann, ist die kulturdifferente Gewalt, die als Folge unterschiedlicher Identität und Wertvorstel- lungen unvermeidbar ist, von den betroffenen identitätsdifferenten Gruppen nicht in gleicher Weise erkennbar - dementsprechend perpetuieren sich kulturdifferente Konflikte, weil die Überwindung dieser Gewaltform nicht direkt möglich ist. Identitätsdifferente Konflikte können nur gemäß der Entstehungsbedingungen des Bewußtseins, der Identität und der sozialen Systeme durch eine Identitätserweite- rung überwunden werden, d. h. durch die Hervorbringung einer neuen Gemein- schaft bzw. eines neuen sozialen Systems, in dem bisher unterschiedliche ggf. ge- walthaltige Identitäten partiell gemeinsame Weiterentwicklungen erfahren und da- bei aufgrund einer neuen gemeinsamen Daseinsbewältigung Wertvorstellungen entwickelt bzw. übernommen werden, die den bisherigen Gegensatz aufheben.

4. - Führung ist Verhalten analog zur Bewußtseinsstruktur -

Die Herausforderungen der Gegenwart, insbesondere die sich rasch ändernden Märkte, können nur analog der für soziale Systeme gültigen Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen gemeistert werden, weil beliebig oder gar gegen die Voraussetzungen des menschlichen Bewußtsein weder die Aktivierung des individuellen Potentiellen noch wirtschaftlicher Erfolg möglich sind.

Empirischer Befund:

- Idealtypisch rein materialistische soziale Systeme, die ihre Interaktionen aus-
schließlich durch finanzielle Anreize regeln, kommunizieren Warenfetische, die als Als-ob der sozialen Interaktion und Beziehung gelten sollen - solche Systeme sind nicht nur entmenschlicht, weil sie für das vom Menschen Gewollte lediglich fremdbestimmten Ersatz anbieten, sondern sie erreichen auch ihr erklärtes Ziel nicht, weil sie nicht den allgemeinen Wohlstand fördern, sondern zunehmend Individuen von der wirtschaftlichen Marktteilnahme ausschließen.
- Romantische soziale Systeme, die idealistisch bloße Vorstellungen behaupten und keine Daseinsbewältigung erreichen, erfüllen die Intention eines sozialen Systems ebenfalls nicht - sie können nicht stabil sein, weil nur die authentische Aktivierung von Potentiellem, d. h. die Verbindung von Wirklichkeitsvorstellung und Daseins- bewältigung mit symbolischen Werten und Identität, dem von Menschen Gewoll- ten entspricht.

Schlußfolgerungen:

Soziale Systeme sind instabil, sie verfehlen ihre Intention materialistisch oder idea listisch, werden paradox und lösen sich schließlich auf, wenn sie nicht durch übergeordnete Strukturen Hilfe erfahren bzw. eigenständig Leadership hervorbringen. Selbstüberlassen unterliegen Individuen zufälligen Identitätsangeboten und soziale Gemeinschaften bleiben hinter ihren Möglichkeiten zurück. Mit Leadership, mit der Vermittlung des "nächsten Schrittes", wird dagegen innerhalb der sich unwillkürlich bildenden sozialen Systeme eine aktualisierte Verbindung zwischen Daseinsbewältigung und Wertvorstellungen konkret angeboten.

Bezogen auf den Bereich der beruflichen Bildung und des Wirtschaftslebens bedeu- tet dies, daß für die aktive Zukunftsgestaltung spezifische Gemeinschaften gebildet werden müssen, soziale Systeme, die Daseinsbewältigung erreichen und dabei Wertvorstellungen entwickeln und oder vermittelt bekommen, die das Bisherige berücksichtigen und die zugleich aktuellen Anforderungen genügen und den un- terschiedlichen Herkunftsmilieus eine gemeinsame Identitätserweiterung erlauben.

Die individuelle Wahrnehmung der Welt entsteht als Projektion des Potentiellen, sie wird als Vorstellung der Welt und des Selbst erfahren und interaktionell auf Symbolmärkten präzisiert, verhandelt und bezüglich ihrer Wirklichkeitswahrneh- mung und Nähe zum menschlichen Potentiellen optimiert. Analog dieser Struktur verbindet Leadership verschiedene Offerten der Wirklichkeitsvorstellung und des Selbstverständnisses und behauptet eine Innovation in Form eines integrierenden

Gesamtverständnisses und einer dadurch erreichbaren Daseinsbewältigung, die erfolgreich sein wird, wenn sie das Bisherige aufgreift, dadurch verständlich ist und individuell akzeptiert bzw. übernommen werden kann, und wenn sie der Realität ausreichend entspricht.

Leadership ist Marktführerschaft innerhalb der jeweiligen Symbolmärkte - sie ist immer essentiell, weil von ihr die Effizienz des Momentanen und die Entwicklung des Kommenden abhängen. Führung ist wirksam, wenn sie analog der Bewußts- einsstruktur bzw. des Menschlichen aufgebaut ist - der Erfolg der Führung hängt vom durch sie aktivierten und kumulierten Potentiellen ab, d. h. einerseits vom Umfang der durch sie erreichten Wirklichkeitswahrnehmung und Daseinsbewälti- gung und andererseits von der Integrationskraft und der Intensität des dadurch in den jeweiligen Gemeinschaften bzw. sozialen Systemen erreichten Menschenbildes.

5. - Intelligenz und Innovationsfähigkeit sind an das Menschliche gekoppelt -

Zukunftsentscheidend ist eine fortlaufende Verknüpfung bisheriger (konventioneller) und neuer (postkonventioneller) Daseinsbewältigungsstrategien mit konventionellen und postkonventionellen Wertvorstellungen - das jeweils relevante Erken- nen und die Verbindung dieser "vier Bereiche" kann nur gelingen, wenn das menschliche Potentielle aktiviert wird, d. h. eine Interaktionsweise bzw. ein soziales System vorliegt, das Vertrauen rechtfertigt und deshalb das vom Menschen Ge- wollte bewußt macht und entfaltet.

Empirischer Befund:

- Ohne Aktualisierung der Daseinsbewältigung und des Selbstverständnisses hat kein soziales System Bestand, weil ohne die Wahrnehmung der Veränderung langfristig weder wirtschaftliches Überleben noch ein als authentisch erfahrener Lebensvollzug erreichbar sind.
- Soziale Systeme verlieren ihre Leistungsfähigkeit jedoch auch dann, wenn sie ver-
meintliche Veränderungen direkt übernehmen und nicht ihr jeweiliges mentales und materielles Potentielles realisieren.
- Soziale Systeme sind jedoch vital, wenn sie analog der Bewußtseinsentstehungsbedingungen aufgebaut sind, d. h. die individuelle Wahrnehmung durch ein authentisches Zu-sich-selbst-Verhalten (Selbstvertrauen) erreicht wird und interaktionell adäquate, effiziente und innovative Daseinsbewältigungsstrategien ermittelt werden können, weil dadurch Gewalt überwunden, Vertrauen begründet, das Potentielle aktivierbar und demzufolge Gemeinschaft vorhanden ist.

Schlußfolgerungen:

Menschen nehmen Welt als Bedeutung wahr, als symbolische Werte, die gemein- schaftlich zu komplexen Wirklichkeitsannahmen ausgebaut werden und innerhalb derer soziale Systeme entstehen, die zwischenmenschlich oder institutionell ausge- formt sein können. Dieses "äußere" gesellschaftliche Geschehen entspricht den "in- neren" Bedingungen für die Entstehung des Bewußtseins, weil Bewußtseinsinhalte Projektionen des individuellen Potentiellen sind, mittels derer Wirklichkeit vorge- stellt und innerhalb derer Beziehungen angestrebt werden, um Daseinsbewältigung und ein menschgemäßes (menschenwürdiges) Leben zu erreichen - Leben ist per se ein "Marktgeschehen", weil Menschen als Menschen leben wollen müssen und sie deshalb Optionen der Realitätswahrnehmung und des Sinnhaften verhandeln und verbinden, um Identität zu entwickeln, um ihr Potentielles in der Welt zu verge- genwärtigen, um nicht bloß zu existieren, sondern zu sein.

Bewußtseinskonstitutiv entstehen soziale Systeme, die Resultat und zugleich Teil eines Identitätsmarktes sind, der letztlich die Minimierung der Gewalt zum Ziele hat. Menschen thematisieren ihre Identität und müssen die gewalthaltigen Wider- sprüche zwischen Vision und Praxis, die Paradoxien innerhalb ihres jeweiligen Welt- und Selbstverständnisses ermitteln und vermindern, und sie müssen Strategi- en erschließen, die eine Handhabung und schließlich eine Überwindung der kultur- differenten Gewalt erlauben - während die nach und nach erkannten Widersprüche innerhalb eines sozialen Systems als Gegensatz zur Intention des jeweiligen sozia- len Systems verständlich sind1, ist die Überwindung der kulturdifferenten Gewalt schwieriger, weil sie nicht direkt, sondern nur mit einer gemeinsamen Weiterent- wicklung des Welt- und Selbstverständnisses benannt und überwunden werden kann.

Führung ist eine charismatisch begründete und oder institutionell abgesicherte In- teraktionsform, die wirksam ist, weil sie den hier erläuterten Strukturen des Menschlichen genau entspricht - wirksame Führung benennt momentane Paradoxi- en des sozialen Systems (der Wirklichkeitswahrnehmung bzw. der Daseinsbewälti- gung oder des Selbstverständnisses) und löst sie auf, und sie erreicht dabei Identi- tätsoptionen, die auch kulturdifferente Gewalt mindern. Sie ist innerhalb der stets stattfindenden Identitäts- und Gewaltmärkte attraktiv, weil sie Aktualisierungen der symbolischen Bezüge (Selbstverständnis) und der Wirklichkeitswahrnehmung (Daseinsbewältigung) behauptet, die als vereinbarte Wirklichkeitsannahme eine Gemeinschaft begründen können, wenn sie mit dem menschlichen Potentiellen kor- respondieren, und die sich selbst verstärkend auf sozialen Systeme Einfluß nehmen und gesellschaftlich relevant werden, wenn die damit verbundenen Vorstellungen mit der Realität ausreichend übereinstimmen.

Dementsprechend ist eine leistungsfähige Firma eine Gemeinschaft, in der die Wirklichkeitswahrnehmung auf die Aufgabenstellung und Herausforderungen des Betriebes fokussiert ist und die einem soziales System entspricht, in dem durch die Überwindung von Gewalt soziale Kooperation erreicht wurde, durch die Vertrauen begründet ist und durch die Führung (Leadership) effizient wird, d. h. in der das Potentielle individuell bewußt und eine Kumulation des relevanten Wissens und dadurch ein funktionierendes Wissensmanagement möglich wird.

6. - Gestaltung sozialer Systeme erfordert Kenntnis des Menschen -

Menschliches Leben muß Regeln folgen, die zumindest bedingt verstanden werden können und genutzt werden müssen, weil das zeitlich fortlaufend in "Fließgleichgewichten" sich einstellende individuelle Bewußtsein und die interaktionell erreichte Wirklichkeitsvorstellung und Daseinsbewältigung nicht regellos stattfinden kann und ein besseres Verständnis der "Wirkzusammenhänge des Menschlichen" eine bewußtere Gestaltung sozialer Systeme erlaubt.

Empirischer Befund:

- Die zwischen Menschen stattfindende Interaktion ist nicht beliebig, sondern bewirkt stets eine aktualisierte Identitätsausbildung und eine damit verbundene Wirklichkeitsvorstellung und Daseinsbewältigung.
- Menschen neigen dazu, die interaktionell jeweils dominanten Identitätskonzeptio- nen für einmalig und wahrhaftig zu halten, obwohl sie sich ständig ändern, wieder- holen und nicht emphatisch wahr sind, sondern nur interaktionell war gemacht wurden.
- Die Entwicklung eines Individuums und sozialer Systeme wird nicht durch die

Ausgangsbedingungen determiniert, sondern stets vom "Dazu-Verhalten", von der Umgangsweise mit den Gegebenheiten entschieden.

Schlußfolgerung:

Leben ist Aktualisierung des Potentiellen, d. h. die immer wieder neue Vermittlung konventioneller und postkonventioneller Symbole und Daseinsbewältigungsstrate- gien, um Identität individuell und innerhalb sozialer Systeme zu erreichen und da-2 Dies bedeutet, daß Leben Innovation und Lebensvollzug Markt ist und beides sich nach "Gesetzen" ereignet, die nicht direkt erkennbar sind, weil es für Menschen keine "Außenperspektive" gibt und sie in den sie bestimmenden Zusammenhängen verfangen bleiben, die jedoch aus der bereits stattgefundenen Ideengeschichte ermittelt werden können, weil das in der Veränderung Konstante das Regelhafte sein muß, das es zu ermitteln gilt.

Die Kenntnis der historischen "Selbstkonzeptionen des Menschen" (Ideengeschich- te) vertieft das Wissen um die aktuell gültigen Werte und trainiert jene Distanz ge- genüber dem jeweils Konventionellen, die für eine dem Menschen gemäße Anpas- sung und Aktivierung des Potentiellen unbedingt notwendig ist. Führung, die akti- ve Einflußnahme, die das bloß passive Erdulden ersetzen soll, erfordert "Wissen über den Menschen", und ist innerhalb sozialer Systeme für die Identitätsentwick- lung und die Daseinsbewältigung gleichermaßen unabdingbar. Leadership wird die Zukunft der sozialen Systeme und damit nicht nur die indivi- duellen Möglichkeiten, sondern die Chancen ganzer Nationen und Völker entschei- den.

© Dr. Martin Hilpert, 2005

Hervorbringung eines sozialen Systems

in einem Betrieb

Dieselbe Struktur gilt für die Entstehung des sozialen Systems einer Familie, einer Gemeinschaft oder Gesellschaft.

Firmenkultur und soziale Kooperation:

Auch die Wirklichkeitsannahme in Betrieben bleibt fiktiv, weil soziale Systeme aus der Bewußtseinsstruktur entstehen und deshalb nur analog dieser "funktionieren". Dies bedeutet, daß Betriebe potentiell chancenreich sind, wenn ihre Interaktionsbedingungen Identitätsmärkte begünstigen, d. h. eine Vertrauen rechtfertigende Gemeinschaft (soziale Kooperation) vorhanden ist, durch die Potentielles aktiviert und relevantes Wissen kumuliert und transferiert wird, um mit einer jeweils angepaßten Leadership V orstellungen zu präferieren, die intern als wahr behauptet werden und die durch den Erfolg (am Markt) als real bestätigt werden sollen.

Interaktioneller Identitätsmarkt:

Wirklichkeitsvorschläge (Angebote) werden akzeptiert, wenn sie dem menschlichen Potentiellen entsprechen, und sie werden für wahr gehalten, wenn sie Dasein bewältigen, d. h. Bezug zur Realität haben.

Individuelle Wahrnehmung:

Nicht die Sinnesorgane, sondern das Gehirn bringt die Wahrnehmung hervor, d. h. die Projektion des Potentiellen erzeugt individuell eine vorgestellte Welt, die für real gehalten wird, solange die mit der jeweiligen V orstellung erreichte Wahrnehmung der

V orstellung zugeordnet werden kann.

[...]


1Z. B. verstand sich eine bürgerliche Familie im späten 19. Jh. als Liebesgemeinschaft, woraus sich ergibt, daß Feindseligkeiten innerhalb einer Familie ihrem Selbstverständnis widersprechen - im Falle familiärer Feindseligkeiten würde die mit Verweis auf familiäre Verpflichtungen, Gefühle - und Verantwortung erzwungene familiäre Nähe genützt, um eine erst durch die Nähe mögliche Geringschätzung und Schädigung einzelner Familienmitglieder, d. h. eine Distanzierung, durch- zuführen. Das soziale System der Familie würde in diesem Fall paradox und gewalthaltig, weil sie eine Gemeinschaft von Gemeinschaftsfeindlichen würde.

Paradox, d. h. moralisch unzulässig und gewalthaltig, ist jede Form der "ungeselligen Gesellig- keit" (Begriff von Immanuel Kant 1724-1804). Dies gilt selbstverständlich auch für Betriebe und für alle anderen sozialen Systeme, innerhalb derer die Beteiligten aufeinander angewiesen sind und eine Schicksalsgemeinschaft darstellen - dementsprechend ist der Erfolg einer Firma davon abhängig, inwieweit die im Aufbau des sozialen Systems einer Firma enthaltene Intention reali- siert wurde, d. h. inwieweit die Aktivierung des individuellen Potentiellen stattfindet und die Teilhabe der Belegschaft an den aktuellen Herausforderungen der Firma Aktualisierungen der Daseinsbewältigung und Gemeinschaftsbildung hervorbringen und Vertrauen, Sozialpartner- schaft, vorhanden ist.

2 Beispielsweise war auch die Katholische Soziallehre ein die katholische Konvention überschrei- tender Ansatz, der im 19. Jh. erforderlich wurde, um in der Veränderung das essentiell Konstan- te, z. B. die Würde des Menschen, durch eine neue Sichtweise und Methodik konkret einzufor- dern.

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Details

Title
Gewalt in sozialen Systemen
Author
Year
2005
Pages
9
Catalog Number
V109616
ISBN (eBook)
9783640077953
File size
424 KB
Language
German
Notes
Dieses kostenlose Download zum Thema "Gewalt in sozialen Systemen" ist als thematische Ergänzung zur Dissertation "Theorien der Gewalt in Schulen" gedacht, die als Zusammenfassung unter ww.hausarbeiten.de/download/23025.pdf ebenfalls kostenlos erhältlich ist.
Keywords
Gewalt, Systemen
Quote paper
Martin Hilpert, Dr. (Author), 2005, Gewalt in sozialen Systemen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109616

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