Christoph Schlingensiefs Deutschlandtrilogie - Geschichts- und Gesellschaftsdiagnose im Film


Epreuve d'examen, 2005

125 Pages, Note: 1


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Einflüsse
2.1 Dadaismus
2.2 Neoavantgarde .

3 Zwei Vorbemerkungen

3.1 Das Problem mit der Kohärenz

3.2 Trash. Kein Abfall für alle

4 100 Jahre Adolf Hitler. Abnutzung eines Mythos’
4.1 Komik und Katastrophe. Lachen über Hitler
4.2 Die Absage an Sinnzuweisung und Geschichtsanalyse
4.3 100 Jahre Adolf Hitler und der expressionistischer Film
4.3.1 Eisners „Die dämonische Leinwand“
4.3.1 Kracauers „Von Caligari zu Hitler“
4.4 Angriff auf den Neuen Deutschen Film
4.5 Die Geburt der Bundesrepublik

5 Das deutsche Kettensägenmassaker. „Willkommen in der Freiheit“
5.1 Sequenzliste
5.2 Staatstheater am Brandenburger Tor
5.3 Die Wiedervereinigung als Horrorfilm?
5.4 Die Wiederherstellung des sinnlichen Krieges
5.5 Die Katastrophe und ihre Chance

6 Terror 2000. „Wo kommt er nur her, all dieser Hass?“
6.1 Die Situation zu Beginn der 90er Jahre
6.2 Exkurs: Das Gladbecker Geiseldrama
6.3 Geiselnehmer, homosexuelle Nazis und Sprachrohre Gottes Fragwürdige Medienstars
6.4 Die Hysterie ist tot, es lebe die Hysterie
6.5 Der Einfluss der Medien auf die Ereignisse in Rassau
6.6 Wibke als Trauma deutscher Geschichte

7 Schlussbetrachtungen

Literatur- und Filmverzeichnis

1 Einleitung

„Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füßen“[1], so der erste Grundsatz der Ästhetik Nietzsches; der erste Grundsatz der Schlingensief’schen Ästhetik hingegen lautet: „75 Minuten mit der Faust auf die Leinwand.“[2] Unterschiedlicher könnten die Positionen wohl kaum sein, und obgleich Nietzsche in seiner Philosophie die Umwertung aller Werte anstrebte und als einer der ersten radikalen Konstruktivisten gelten kann, wenn er grundsätzliche Zweifel an der Existenz von Gegensatzpaaren anmeldet,[3] bleibt er in seiner Kunstauffassung einer bis heute gängigen Dichotomisierung verhaftet, in der das Leise gegen das Laute ausgespielt wird, das Erhabene gegen das Profane, das Individuelle gegen das Massenhafte usw.

Es wäre müßig, noch einmal aufzuzeigen, wie stark die Gegensätze von hoher und niederer Kunst konstruiert sind und wie leicht sie zusammenbrechen, wenn man ihre Prämissen zerstört.[4] Ebenso müßig, zu zeigen, dass weder Wert noch Sinn einem Text oder Film anhaften, sondern erst durch die Rezeption und damit durch die produktive Arbeit des Lesers respektive Zuschauers zugeschrieben werden. In ihrer Konsequenz hat diese Entwicklung eine Öffnung der Germanistik in Richtung Kulturwissenschaft ermöglicht, die es erlaubt, neben Goethe auch über Madonna zu schreiben, über Groschenromane oder Videoclips.[5]

Wie gesagt, die Positionen sind bekannt und sollen hier nicht explizit rekonstruiert werden. Wenn an dieser Stelle dennoch darauf verwiesen wird, dann deshalb, weil die Hartnäckigkeit, mit der Christoph Schlingensief im akademischen Bereich mit Missachtung versehen wird, in erheblichem Widerspruch zu seiner Popularität und der Vielschichtigkeit seiner Arbeiten steht. Als Theatermacher, Filmregisseur und Aktionskünstler eröffnen Schlingensiefs Arbeiten ein sich permanent erweiterndes Feld, das vor Anspielungen auf sämtliche Bereiche der Kultur, von Big Brother bis zu Shakespeare, nur so strotzt und aufgrund der beständigen Beobachtung der eigenen Zeit eine immense Aktualität besitzt.[6] Zugegeben: „Schlingensief-Philologie“, das klingt nach Oxymoron. Dennoch scheint das Schweigen, mit dem seine Arbeiten immer noch belegt werden, ein Versäumnis zu sein, das früher oder später unweigerlich beseitigt werden wird, dann aber auch als Symptom dafür gelesen werden kann, dass die Germanistik, wie schon im Falle Fassbinders, der aktuellen Entwicklung gerne hinterherläuft.[7] Die Feststellung, die Sabine Pott für die Fassbinder-Rezeption in Deutschland konstatiert, könnte daher auch für Schlingensief Gültigkeit besitzen: „In Deutschland selbst scheint es Schwierigkeiten mit dem Werk und besonders mit der Person Fassbinder zu geben. Beides wird oft gleichgesetzt. Dieser Blick verbaut dann die Beschäftigung mit den Aussagen in Fassbinders Werk.“[8]

Auch mit der Person Schlingensief scheint es in Deutschland immer wieder Probleme zu geben, und wer danach sucht, findet mühelos viele gute Gründe, Schlingensief nicht zu mögen. Die Filme wirken oft pubertär und abstoßend, wenn in ihnen geschrieen, gekotzt, uriniert, onaniert, vergewaltigt und zerstört wird.[9] Dazu die Bilder von Schlingensief selbst, der - Jahrzehnte nachdem Foucault und nach ihm etwa Bourdieu den engagierten Intellektuellen auf jene Betätigungsfelder reduziert haben, in denen er wirklich kompetent ist – allen Ernstes bei Michel Friedmann auftritt und bereitwillig Auskunft über die politische Situation in Deutschland erteilt und persönliche Bewertungen der Spitzenkandidaten aller Parteien abgibt, was um so irritierender wirkt, wenn er sich andernorts wieder als Halbintellektuellen bezeichnet. Zudem ist Schlingensief jemand, der sich nicht festlegen lassen will und stets dort auftauchen kann, wo man ihm an wenigsten erwartet: Von MTV und Viva zu Bayreuth (und in Bayreuth dann sogar noch ins zweite Jahr), wo er von Boulez, den das bürgerliche Lager längst für sich proklamiert hatte, aufs Höchste gelobt wird. Und dann wieder Schlingensief, der keine Kritik verträgt und jedes Interview ins Absurde gleiten lässt, sobald ein Journalist die falschen Fragen stellt. Umso ärgerlicher dann wiederum die Rückendeckung, die er ausgerechnet von Alexander Kluge und großen Teilen der ehemaligen Fassbinder-Familie erhält.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Arbeiten Schlingensiefs wird somit wohl aus drei Gründen verhindert. Erstens fehlt es an der eigentlich längst als Grundsatz geltenden Trennung von Werk und Autor[10], so dass ein mögliches Unbehagen an der Person Schlingensief zur Ablehnung von dessen Arbeiten führt. Zweitens verweigern sich Schlingensiefs Arbeiten den gängigen Merkmalen anerkannter Kunst, indem sie das Fragmentarische gegen das Kohärente setzen, das Zufällige gegen das Kontrollierte, die Kommunikationsunfähigkeit der Protagonisten gegen die übliche Art der Reflexion von Situationen oder Problemen durch Sprache[11] usw. Mit dieser Widersetzung gegen die etablierte Kunst wird Schlingensief auch der Einzug in bestimmte Bereiche des Systems Kunst verwehrt, das nicht ohne weiteres bereit ist, seine Identität in Frage stellen zu lassen. Drittens ist es immer wieder Schlingensief selbst, der die Auseinandersetzung der Germanistik mit seinen Arbeiten erschwert, indem er etwa betont, dass seine Filme völlig banal seien – „Es darf bloß nicht kompliziert werden“[12] – und sich nicht zu einer einheitlichen, kohärenten Aussage fügen lassen. Dass sich Schlingensief rückblickend selbst eingesteht, dass ihm „nicht ein Film wirklich gelungen ist“[13], mag der wissenschaftlichen Auseinandersetzung auch nicht gerade Flügel verliehen haben. Daraus resultiert sein gelegentlicher Verweis, er warte nicht darauf, dass endlich jemand die Metaebene (oder gar die Meta-Metaebene) auf seine Filme packe.

Die hier vorliegende Arbeit, die erstmals um eine wissenschaftliche Annäherung an Schlingensiefs Deutschlandtrilogie (entstanden zwischen 1989 und 1992) bemüht ist, bewegt sich im Spannungsfeld dieser drei Probleme. Die Trennung von Werk und Autor erfolgt, indem ich bei der Filmanalyse grundsätzlich semiotisch vorgehe, somit also der Film in seiner Materialität die Autorität darstellt, wenn auch von Schlingensief selbst produzierte Sekundärliteratur, wie Interviews oder Zeitungsartikel, willkommene Hilfen sind. Diese Vorgehensweise dürfte es verhindern, den Filmen eine Metaebene überzustülpen, die ihnen nicht passen würde. Aus dieser Vorsicht spricht nicht die Warnung des Regisseurs, sondern die adäquate Betrachtung der Filme, die sich selbst mit aller Kraft gegen diese Metaebene und gegen jede Konstruktion einer scheinbaren Kohärenz sperren. Dies zu ignorieren würde bedeuten, die Filme zu missverstehen. Zu zeigen sein wird vielmehr, dass die Germanistik durchaus mit Divergenzen klarkommen kann (letztlich auch schon immer klarkommen musste), den Filmen Schlingensiefs also keineswegs hilflos gegenüber steht.

Da es bislang an einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten mangelt, soll zunächst eine Einordnung der Arbeiten Schlingensiefs erfolgen, bevor ich mich mit den Filmen der Deutschlandtrilogie auseinandersetze. Diese Vorarbeit wird die Analyse der Filme begünstigen, da hierdurch Traditionslinien sichtbar werden, die das Zustandekommen von Filmen Schlingensief’scher Art erklären. Damit verbunden ist weder die Vorstellung, alle Einflüsse aufdecken zu können, noch am Ende eine bequeme Schublade gezimmert zu haben, in der man Schlingensief auf Nimmerwiedersehen verschwinden lassen kann. Die Einordnung erfolgt vor allem in die Tradition der historischen Avantgardebewegung und Neoavantgarde. Die Tatsache, dass eine als historisch klassifizierte Avantgardebewegung mit der Koppelung „Tradition“ mindestens ebenso kurios wirkt wie die Vorstellung von einer „Schlingensief-Philologie“, ist dem Autor dieser Zeilen durchaus bewusst. Die scheinbare Unangemessenheit resultiert daraus, dass der Avantgarde-Begriff mit der willentlichen Provokation des Kunstbetriebs verknüpft ist und Provokationen ihre Kraft verlieren, wenn sie sich allzu oft wiederholen, wenn also aus der Einmaligkeit die Wiederholung der immergleichen Provokation wird.[14] Ich gehe jedoch davon aus, dass es Schlingensief nicht in erster Linie um Provokation geht. Gerade von einer Deutschlandtrilogie würde man erwarten, dass sie allenfalls zu einem provoziert: zu der Auseinandersetzung mit eben jenen Problemen, die der Regisseur für Deutschland konstatiert. Eine Provokation um ihrer selbst Willen oder aber um den Kunstbetrieb in Frage zu stellen, wäre hier völlig unangemessen.

Sofern die Germanistik also für Selbstironie schon bereit ist, können hier Kot und Urin mühelos als Kommunikationsformen nach dem Modell von Roman Jakobsons verstanden werden: Der Kot als Code. In diesem Sinne, und in Anlehnung an die einleitenden Worte aus Terror 2000: Meine Damen und Herren, liebe Jungen und Mädchen, genießen Sie mit mir in den folgenden Stunden eine Welt voller Liebe, Angst, Sexualität und Tod. Genießen Sie mit mir die Welt, in der wir leben. Gute Unterhaltung.

2 Einflüsse

Statt im Folgenden etwa zunächst den Dadaismus in all seinen Facetten vorzustellen, um dann anschließend zu zeigen, welche Elemente Schlingensief daraus übernommen hat, möchte ich den umgekehrten Weg gehen und Dadaismus und Neoavantgarde nur insofern vorstellen, als sie für die Beurteilung von Schlingensiefs Arbeiten Bedeutung gewinnen. Die direkte Koppelung mit Beispielen aus den Arbeiten Schlingensiefs soll diese Einflüsse direkt ersichtlich machen.

2.1 Dadaismus

1999, ein Jahr nach der Bundestagswahl an der sich Schlingensief mit seiner selbstgegründeten Partei CHANCE 2000 beteiligt hatte, erscheint die Materialsammlung „Dokumentation CHANCE 2000“[15]. Einen Teil des Vorwortes spricht Schlingensief in einen IBM-Sprachcomputer und lässt das Ergebnis abdrucken, ohne die vom Computer in den Text getragene Differenz zwischen verstandenen und tatsächlich gesprochenen Wörtern zu beheben. Der erste Satz etwa liest sich nun folgendermaßen: „Ich schreibe dieses Vor-Nachwort auf CHANCE2000 mit Hilfe eine liebe Lisa Liebe Leserinnen, an dieser Stelle ist mehr gekannt ein kleines Vorwort zu diesem unglaublich schönen Buch her zu schreiben.“[16]

Er wendet dieses Verfahren an, „[u]m CHANCE2000 den richtigen Rahmen zu geben“[17]:

Ich glaube nämlich, daß diese Methode dem Gedanken von CHANCE2000 am nächsten kommt und endlich beweist, daß es in Zukunft nicht mehr um legitime oder illegitime Philosophie geht, sondern um das einsame Suchen nach einem für Netzwerke allgemeingültigen Währungssystem. Der Vorwurf CHANCE2000 sei dadaistisch, bzw. der Spaßkultur verbunden, wird durch diesen Vorgang entkräftet.

Dass gerade die Verwendung eines nicht perfekt funktionierenden Sprachcomputers den Dadaismusverdacht entkräften soll, ist kaum nachzuvollziehen, hätten die Dadaisten zu ihrer Zeit doch mit Sicherheit gerne über ein solches Mittel verfügt. Mühelos lässt sich vorstellen, wie Raoul Hausmann und der Ober-DADA Johannes Baader dem Sprachcomputer Klassiker vorlesen, um später das Ergebnis zu präsentieren, es vielleicht sogar unter eigenem Namen auszugeben. Die Möglichkeit, vorgefundenes Material auf diese Weise zu zertrümmern, die Syntax dabei zu destruieren und dem Zufall in die Kunst Einzug zu gewähren, entspricht exakt einigen der zentralen Grundgedanken des Dadaismus.[18]

Noch erstaunlicher an der Aussage Schlingensiefs ist jedoch die scheinbare Gleichsetzung von Dadaismus und Spaßkultur. Eine größere auf gesellschaftliche Veränderung abzielende Programmatik gab es vor dem Dadaismus in Deutschland allenfalls in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als Aufklärer sowie Stürmer und Dränger sich als Volkserzieher betrachteten. Die Dadaisten ihrerseits versuchten, die Trennung zwischen Leben und Kunst zu überwinden und beides wieder in eine Einheit zu bringen.[19]

Genau diese Ausdifferenzierung in Teilsysteme, die moderne Gesellschaften kennzeichnet, versucht auch Schlingensief immer wieder zu überwinden. So wehrt er sich gegen den Vorwurf, CHANCE 2000 sei eigentlich eine Kunstaktion, ebenso wie er bemüht ist, die Partei nicht nur in dem Teilsystem der Politik verankert zu sehen. Ihm geht es gerade um die Überwindung dieser Teilsysteme, die untereinander kaum mehr Verbindungen aufweisen. In einem SPIEGEL-Interview antwortet er auf die Frage, ob CHANCE 2000 Kunst oder blanke Politik sei: „Solche Überlegungen darf ich gar nicht im Kopf haben.“ Und an anderer Stelle: „Jeder kann mitmachen, wir wollen nicht als Kunstpartei wahrgenommen werden, wo sich das System 1 dann wieder rausreden kann, das sei doch alles nur Theater.“[20]

Mit diesem Zitat wird die nicht ganz zulässige Gleichsetzung von Dadaismus und Spaßkultur zumindest verständlich. Da der Dadaismus mit seinem Vorhaben, Kunst wieder in den direkten Lebenszusammenhang zu integrieren, scheiterte, blieb er als historisches Phänomen Gegenstand des Teilsystems Kunst, indem die Provokationen gegen das System durch die Erweiterung des Kunstbegriffs selbst zur Kunst erklärt wurden. Die Überführung der Kunst in die Lebenspraxis war damit gescheitert und blieb folgenlos. Somit muss sich Schlingensief zurecht dagegen wehren, seine Partei in die Nähe des Dadaismus rücken zu lassen. Ernst genommen werden kann er nur, wenn er sich dieser Einordnung in ein Teilsystem konsequent widersetzt.

Auch in anderen Zusammenhängen ist er bemüht, Abstand zum Dadaismus zu gewinnen. Tatsächlich aber sind Schlingensiefs Arbeiten gar nicht ohne die historischen Avantgarden, allen voran dem Dadaismus, aber z.T. auch Surrealismus und Futurismus, zu denken, denn die Avantgarde, so Peter Bürger,

wendet sich gegen beides – gegen den Distributionsapparat, dem das Kunstwerk unterworfen ist, und gegen den mit dem Begriff der Autonomie beschriebenen Status der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft. [...] Der avantgardistische Protest, dessen Ziel es ist, Kunst in Lebenspraxis zurückzuführen, enthüllt den Zusammenhang von Autonomie und Folgenlosigkeit.[21]

Genau hier setzt Schlingensief immer wieder an. Bei der Gründung einer Bahnhofsmission in Hamburg im Jahre 1997 beginnt die siebentägige Aktion mit einer vierstündigen Gala im Schauspielhaus, von wo Schlingensief mit den Zuschauern anschließend in die stillgelegte ehemalige Polizeiwache in St. Georg, Hamburgs Problemstadtteil, dessen Bild von Prostitution, Drogen und Obdachlosigkeit geprägt ist, hinüber zieht, wo die Bahnhofsmission, die bis heute existiert, entstehen soll.[22] Überdeutlich demonstriert Schlingensief hier, dass der geschützte, staatlich subventionierte Rahmen der Kunstinstitution verlassen wird:

Ich will eine künstlerische Form finden, die sich fließend aus meinem Leben entwickelt. Ich will raus aus dem Theatersaal. [...] Ich überlege, mit der Bühne ganz aufzuhören. Ich mache oft Zentralabsagen in Erschöpfungszuständen, aber die sind nicht unbedingt falsch. Eine Idee ist, ein Wohnwagentheater in sechs Staaten der Erde zu realisieren. Man lebt da in einem aktiven Realkunstwerk.[23]

Zu der Entstehung der Bahnhofsmission gehörten auch die sogenannten Außeneinsätze durch Hamburgs Fußgängerzone, zum Rathaus, in die Peepshow und zu Scientology, angeführt von Schlingensief und Schauspieler Bernhard Schütz, beide in Polizeiuniform, dahinter weitere Mitglieder der Schlingensief-Crew verkleidet als Polizisten, Sanitäter oder als Mitglieder der Heilsarmee. Für die überraschten Passanten war dieser als Kunstaktion genehmigte Umzug durch die Stadt nicht als inszenierte Kunstaktion zu erkennen und verwischte damit als unsichtbares Theater die Grenzen zwischen Kunst und Leben. Mit einem Megaphon ausgestattet richtete der uniformierte Schlingensief das Wort an die Passanten:

„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger. Die Polizei in Hamburg ist nicht mehr in der Lage, Sie zu beschützen. Jeder von Ihnen ist ein potentieller Erschossener oder Ermordeter. Wenn Sie nicht endlich aufstehen und den Junkies helfen, dann wird es Ihnen das Leben kosten. Sie sind in absoluter Lebensgefahr. Wir von der Hamburger Polizei können für nichts mehr garantieren. Es kann hier jeden Moment hochgehen.“[24]

Den „echten“ Polizisten, die immer wieder auf den Plan treten, antwortet er auf die Frage, ob er tatsächlich Polizist sei entweder mit „ja“ oder mit der Gegenfrage „Sind Sie echt?“ Auf die Folgenlosigkeit der autonomen Kunst wirkt Schlingensief somit durch den Bezug zur Lebenspraxis entgegen. Die Passanten können die Aktion kaum adäquat beurteilen, während für die Obdachlosen, Junkies und Prostituierten, die an der Entstehung der Bahnhofsmission mitarbeiten, der Kunstcharakter völlig hinter der Chance auf soziale und politische Verbesserung ihrer Situation verschwindet.

Ein großer Teil der Wirkung, die Schlingensief mit seinen Aktionen erzielt, geht gerade von dieser Nichteindeutigkeit aus, ob es sich dabei um Kunst oder politische Aktionen handelt. Als er bei den Wiener Festwochen im Jahre 2000, als Reaktion auf den Einzug der unter Jörg Haider nach rechts gedrifteten FPÖ ins österreichische Parlament, neben der Wiener Staatsoper einen Container im Big-Brother-Stil aufstellen lässt, in dem Ausländer auf engstem Raum zusammenleben und via Internet oder direkt vor Ort „rausgewählt“ werden können, was im Klartext Abschiebung bedeutet, verzichtet er darauf, am Container einen Hinweis auf den Kunstcharakter dieser Inszenierung anzubringen. Bis zuletzt bleibt offen, ob es sich bei den Containerbewohnern um echte Asylbewerber oder um Schauspieler handelt. Das Missverstehen der Aktion ist somit in die Inszenierung eingeplant, die Besucher der Wiener Festwochen sind nicht nur Publikum, sondern zugleich Mitwirkende, sie müssen sich zu dem Container mit dem „AUSLÄNDER-RAUS“-Schild irgendwie verhalten. Als von den Veranstaltern der Festwochen Flugzettel mit dem Hinweis „Hier findet eine Vorstellung der Wiener Festwochen statt“ verteilt werden sollten, wurden sie von Schlingensief eingesammelt und zerrissen, und auf die vorsichtige Bitte von Abgesandten des Stadtrats um das Anbringen eines Hinweises auf den Kunstcharakter der Aktion, griff Schlingensief gleich zum Megaphon und verkündete der umstehenden Menge lautstark: „Skandal! Die Koalition behauptet, das soll Kunst sein!“[25]

Mit der Zusammenführung von Kunst und Leben geht die Kritik an den Distributionsapparaten der Kunst einher, etwa am Theater, das sich von der Lebenswirklichkeit, nur wenige Meter vom Hamburger Straßenstrich entfernt, zurückzieht. Ebenso sind Schlingensiefs Arbeiten für das Fernsehen, seine Talkshow TALK 2000, die Castingshow FREAKSTARS oder die für M-TV produzierte U 3000, immer gegen das Fernsehen, gegen etablierte Fernsehformate gerichtet. TALK 2000 eröffnete er mit folgenden Sätzen:

Guten Abend, meine Damen und Herren. Ich möchte Sie ganz herzlich begrüßen zur ersten von acht Talkshows, die ich jetzt hier mache unter dem Motto: Jeder kann in Deutschland Talkmaster werden. Ich will beweisen, daß das möglich ist. Jeder hat das Recht dazu, denn ich glaube: Jeder Mensch ist im Moment besser als alle Talkmaster, die wir in Deutschland im Fernsehen sehen.[26]

TALK 2000 ist dabei keineswegs der Versuch, eine bessere Talkshow zu machen, sondern vielmehr der Versuch, die Talkshows, wie sie im deutschen Fernsehen bis heute bestehen, zu zertrümmern. Helmut Schödel schreibt hierzu: „Talk 2000 – das war nicht die Vision von einer Talkshow der Zukunft, sondern von deren Ende. Weil etwas aufhören muß, damit etwas anfangen kann.“[27]

Auch in Bezug auf Schlingensiefs Filme darf nicht der Fehler gemacht werden, sie als Schlingensiefs Vorstellung vom erneuerten Neuen Deutschen Film zu sehen. Seine Filme sind eine Kritik am festgefahrenen Neuen Deutschen Film und zugleich der Versuch, diesen zu zerstören. In diesem Sinne stehen sie in der Tradition der Anti-Kunst. Dieser von den Dadaisten stammende Begriff[28] besagt nicht, dass Anti-Kunst keine Kunst mehr sei; vielmehr geht es um eine „Gegnerschaft zu Vorhandenem“[29]. Was daraus neu entstehen soll, bleibt indes noch unklar, [d]enn Anti-Kunst will nicht die Kunst als solche zerstören. Sie will sie in andere Zusammenhänge stellen. Die schöpferische Tätigkeit soll nicht auf die Repräsentation und Konsolidierung des Bestehenden hinauslaufen (eine Aufgabe, die Kunst seit Jahrtausenden übernommen hatte), sondern eher auf das Gegenteil, auf die Anzweiflung des Bestehenden. Sie will die Sinne wachhalten gegenüber jener Gefährdung, die sich immer wieder gerade aus den Kulturvölkern heraus ergeben hatte, einer ahumanen Gesinnung, die sich mit Vorliebe hinter blühenden Wissenschaften und Künsten verbarg.[30]

Dieses Zitat ließe sich programmatisch über die Filme der Deutschlandtrilogie setzen und entkräftet zudem den Vorwurf der bloßen Provokation. Wenn die deutsch-deutsche Wiedervereinigung unter der Regie Schlingensiefs zum Kettensägenmassaker verkommt (Das deutsche Kettensägenmassaker ist der zweite Teil der Deutschlandtrilogie) oder er in Terror 2000 (dem letzten Teil der Trilogie) das Deutschland des Jahres 1992 als von Neonazis bevölkert sieht, dann gerade nicht, um zu provozieren, sondern als das Resultat wachgehaltener Sinne, die auf Gefahren hinweisen. Provoziert fühlen sich Teile des Publikums vielleicht eher deshalb, weil sie meinen, Schlingensief sei ein Pessimist und Schwarzzeichner. Inwiefern dieser Vorwurf berechtigt ist, wird sich bei der Analyse der Filme noch zeigen.

Als Anti-Kunst ist die Deutschlandtrilogie somit eher ein Beitrag zur Zerstörung des Neuen Deutschen Films, nicht unbedingt Schlingensiefs Vision vom zukünftigen Film. So erklärt sich auch der Anspruch, mit dem er 1997 Die 120 Tage von Bottrop drehte. Die Hommage an Fassbinder (auch wenn der Titel zunächst auf Sade und Pasolini hindeutet) wird als der letzte Neue Deutsche Film deklariert, um in einer riesigen Abschiedsfeier an den Übervater des Neuen Deutschen Films ein bestimmtes Kapitel deutscher Filmgeschichte zu beenden, auf das ein neues folgen kann. Die 120 Tage von Bottrop ist ebenso eine Hommage an Fassbinder wie ein gewaltiger Befreiungsschlag, der symbolische Vatermord, der für die Eigenständigkeit der Kinder so wichtig ist.

Neben der Zerstörung des geschlossenen Kunstwerks und der Kritik am Kunstbetrieb hat Schlingensief mit den Dadaisten deshalb auch gemeinsam, dass er Gefahr läuft, das Interesse des Publikums zu verlieren, wenn aus der Zerstörung auf Dauer nichts Neues hervorgeht. Gerade aus diesem Grund hatte sich Anfang der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts die Gruppe um Breton von dem Vorzeigedadaisten Tristan Tzara abgewandt, um konstruktiv mit den Trümmern der Kunst umzugehen, zumal der etablierte Kunstbetrieb trotz Dadaismus weiterhin munter gedieh und statt zu kollabieren die Infragestellungen, etwa durch Duchamp, aufnahm, indem er den Kunstbegriff erweiterte und das Ready-made museumsfertig machte.[31]

Was Schlingensiefs Zerstörung des Neuen Deutschen Films anbelangt, wirkt es fast wie Ironie, dass 15 Jahre nach seinem ersten Teil der Deutschlandtrilogie, 100 Jahre Adolf Hitler, der die völlige Abkehr vom Realismus darstellt, dieselbe Thematik in Der Untergang in bester realistischer Manier vorgeführt wird, unter Zuhilfenahme von Historikern ebenso wie Maskenbildnern, die Bruno Ganz für ein Millionenpublikum zum Leibhaftigen werden ließen.[32]

2.2 Neoavantgarde

Anfang der sechziger Jahre beginnt eine neue Phase der Auseinandersetzung mit dem Dadaismus, der zu dieser Zeit schon fast wieder in Vergessenheit geraten war. War der Dadaismus unter dem Eindruck des Rückfalls der Menschheit in die Barbarei entstanden, erfährt er seine Neuauflage und Erweiterung nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der sich konsolidierenden bipolaren Welt, die unter zwei Supermächten aufgeteilt wird. Die Neoavantgarde versucht wiederum, auf die Hilflosigkeit der bürgerlichen Kunst angesichts dessen, was in Indochina, Korea oder Vietnam geschieht, hinzuweisen.[33]

Ähnlich wie die historische Avantgardebewegung, setzt sich auch die Neoavantgarde aus unterschiedlichen Gruppen und Einzelkünstlern zusammen und zieht sich ebenso durch alle Bereiche der Kunst, wie es Bestrebungen gibt, die verschiedenen Künste zusammen zu bringen. Als gemeinsamer Nenner aller Bereiche der Neoavantgarde kann die Tendenz zur Performance gesehen werden. Die Bezeichnung Performance kam in den 70er Jahren auf und umfasst als allgemeinerer Begriff ebenso Happening, Fluxus wie andere Aktionsformen, wie etwa body art. Die Künste der Performance Art bezeichnen im kunsthistorischen Diskurs künstlerische Aktionsformen, die im Unterschied zu Theateraufführungen keine schriftlich fixierten Dialoge aufweisen. An die Stelle von dialogorientierter Aktion und Bühnenregie des Schauspiels treten Alltagshandlungen mit, zwischen oder vor dem Publikum. Das Publikum ist je nach „Happening“ Zuschauer oder Teil einer Aktion. Realisiert werden die Aktionen sowohl in alltäglicher Umgebung in Außen- oder Innenräumen als auch in Kunst- und Aufführungskontexten wie Ateliers, Lofts, Hörsälen und Bühnen.[34]

Die Performance Art weist eine deutliche Nähe zur historischen Avantgardebewegung auf, insofern sie auf die Aktivierung des Zuschauers setzt. Der Futurist Filippo Tommaso Marinetti etwa hatte gefordert, „die Überraschung und die Notwendigkeit zu handeln unter die Zuschauer des Parketts, der Loge und der Galerie zu tragen.“[35] Seine Vorschläge hierfür waren u.a. Leim auf die Sitze zu schmieren, damit die Besucher festkleben, denselben Sitzplatz gleich an zehn Personen zu verkaufen oder Juckpulver auf die Sitze zu streuen.[36] Somit wurde bei Marinetti der Zuschauer in aller Deutlichkeit als Akteur konzipiert.

Der eigentliche Beginn der Performance Art wird bereits auf das Jahr 1952 datiert, das Jahr, in dem John Cage gemeinsam mit Künstlern verschiedener Kunstformen das sogenannte „untitled event“ am Black Mountain College aufführte. Malerei, Bildprojektion, Tanz, Dichtung und Musik trafen hier aufeinander, ohne dass daraus eine homogene oder kohärente Gesamtaussage entstehen konnte. Der Speiseraum des College, in dem die Aktion stattfand, bedeutete keinen bestimmten anderen Raum, wie es im traditionellen Theater üblich ist, wenn die Bühne etwa zu Willy Lomanns Wohnzimmer wird. Auch die Akteure agierten nicht, um mit ihrem Körper bestimmte fiktive Figuren zu bedeuten, wenn sie durch die Gänge tanzten, das Grammophon bedienten oder Wasser von einem Eimer in einen anderen gossen. Damit stand beim „untitled event“ der Vollzug der Handlungen im Vordergrund, nicht die Relation zu irgendwelchen fiktiven Figuren, Geschichten oder Welten.[37] Die Struktur dieser Aktion war bewusst offen gehalten worden; welche Handlungen gleichzeitig oder nacheinander vollzogen wurden, konnte nur grob festgelegt werden. Damit ändert sich das Verhältnis von Akteur und Zuschauer grundlegend: „Zuschauen wird [...] durch die räumliche Anordnung im ‚untitled event’ als eine kreative Handlung ermöglicht und qualifiziert: Jeder Zuschauer erschafft sich seine eigene Aufführung.“[38]

Zudem kommt dem Zuschauer auch eine aktive Rolle bei der Mitgestaltung der Aktion zu, insofern, als sich bei Einlass auf allen Stühlen weiße Tassen befanden. Der Zuschauer ist somit zu irgendeiner Handlung gezwungen. Er kann die Tasse unter den Stuhl stellen, sie in die Hand nehmen, als Aschenbecher benutzen etc. Zu einem späteren Zeitpunkt wird Kaffee in die Tassen gefüllt, selbst in die, in denen sich nun Asche und Zigarettenstummel befinden. Wiederum kann sich der Zuschauer nicht nicht verhalten. Er ist somit nicht nur Zuschauer, sondern selbst Teil der Aktion.[39]

Zugleich ändert sich mit „untitled event“ die Beteiligung verschiedener Kunstformen innerhalb einer Aufführung. Die Aktion ist eine völlige Absage an die Wagner’sche Forderung eines Gesamtkunstwerks, insofern sich die Verwendung der jeweiligen Künste weder durch den Bezug zu einer Geschichte noch durch die Psychologie von dargestellten Personen motiviert bzw. legitimiert. Sie stehen unvermittelt, teilweise zufällig nebeneinander und müssen durch die kreative Sinnzuweisung des Zuschauers in Verbindung zueinander gebracht werden. Vom Gesamtkunstwerk sind auch Schlingensiefs Filme weit entfernt, wie er selbst eingesteht. Er könne von keinem seiner Filme sagen, „er bildet eine Einheit von Sprache, Musik, Form, Geschichte und Emotion. Das große Gesamtkunstwerk gibt es bei mir nicht, es ist in meinen Augen gar nicht mehr möglich. Ich brauche das Unfertige.“[40]

„Untitled event“ gilt aus Ausgangspunkt für jene Performance-Aktionen, die als Happening und Fluxus bekannt werden sollten. Als das erste Happening gilt Allan Kaprows „18 Happenings in 6 Parts“ von 1959, eine fragmentarische und unzusammenhängende Aktion vieler Künstler, unter Beteiligung des Publikums.[41] Während der Koreanische Zwölftonmusiker June Paik, der ständig zwischen Europa und Amerika pendelte, als Vermittlerfigur für die Happeninggruppen beider Kontinente fungierte, war es vor allem Wolf Vostell, der dem europäischen Happening seine Prägung gab, indem er es aus dem Atelier befreite und auf die Straße holte, etwa in seinem bekanntesten Happening „In Ulm und um Ulm und um Ulm herum“, bei dem die Zuschauer in Bussen von Ort zu Ort gebracht und zuletzt in einem Steinbruch sich selbst überlassen wurden.[42]

Happening-Elemente tauchen bei Schlingensief immer wieder auf, so etwa das gemeinsame Baden möglichst vieler Arbeitsloser am 2. August 1998 im Wolfgangsee, wo Helmut Kohl häufig Urlaub machte. Demzufolge kann die Aktion auch nicht, wie in der Presse anschließend nahezu einstimmig beschlossen, als gescheitert betrachten werden, weil sich zum angegebenen Termin weder der damalige Bundeskanzler noch Arbeitslose am See einfanden. Die Berichterstattung in den Medien war so umfangreich, dass die beim Happening angestrebte Reaktion des Publikums damit erfolgt war, auch wenn es sich hier um ein durch mediale Vermittlung erreichtes Publikum handelte. Das Interesse an der Aktion schon im Vorfeld genügte, um die Aktion zum Erfolg zu machen. Dass die Arbeitslosen nicht zum Wolfgangsee kamen war ebenso vorhersehbar wie letztlich nur mittelmäßig bedeutend.

Parallel zum Happening entstand Fluxus, das in erheblicher Nähe zum Happening steht und nur ungenügend davon abgegrenzt werden kann.[43] Wichtige Vertreter wie George Maciunas, Dick Higgins, George Brecht und Robert Filliou lösten beim Publikum zum Teil heftigste Reaktionen aus, zumal die Fluxus-Aktionen oftmals in einem konventionellen Rahmen wie einem Konzertsaal veranstaltet wurden, um dann gerade das Konventionelle dieses Rahmens zu durchbrechen, indem etwa das Piano auf der Bühne zersägt wurde.[44]

Besondere Bedeutung für Schlingensief bekamen die sogenannten Wiener Aktionisten, die sich in ihren Aktionen vor allem von religiösen wie von sexuellen Tabus befreiten. Ausgangspunkt für Otto Mühl, Hermann Nitsch und Günter Brus war die Erweiterung des Action paintings von Jackson Pollock. Seit 1962 entstanden in ihren Aktionen, in denen das Publikum nicht aktiviert wurde, die sogenannten Schüttbilder „in ekstatischen Selbsterfahrungsübungen und Befreiungsakten, bei denen sie häufig Blut, Kot, Harn, Tierinnereien als ’Malmaterial’, sicher aber ebenfalls zur Steigerung der Erregung einsetzten.“[45]

Das Auftauchen von Blut und Innereien, Urin und Kot in Schlingensiefs Filmen kann nur ungenügend auf den Einfluss des Splatterfilms zurückgeführt werden, obwohl Schlingensief selbst gerne auf diese Linie verweist.[46] Tatsächlich jedoch ist eine Szene wie die in 100 Jahre Adolf Hitler, wo der Führer sein Gesäß in braune Flüssigkeit taucht und anschließend einen Abdruck an der Wand hinterlässt, ohne die Vorarbeit der Wiener Aktionisten kaum denkbar. In diesem stark verdichteten Bild kommt vieles zusammen: Hitler, der sich selbst gerne als Künstler bezeichnete, nun aber einer Kunstform frönt, die wohl nicht einmal mehr als entartet durchgegangen wäre sowie die Verbindung von Kot und dem Braun der Nationalsozialisten.

Andererseits fehlt es bei Schlingensief an der Intensität, die die Wiener Aktionisten noch zu erreichen verstanden, da deren „Malmaterial“ eben authentisch war und sie gerade kein Kunstblut oder Ähnliches für ihre Aktionen mischten. Es ist daher davon auszugehen, dass Schlingensiefs Verwendung von (künstlich erzeugtem) Blut, Urin, Kot, aber auch die damit verbundene explodierende Gewalt in einigen seiner Filme, in erster Linie weder auf Provokation des Kunstbetriebs aus ist, wie im Falle der Dadaisten, noch auf gesteigerte Körpererfahrung bzw. das Erleben von Extremsituationen, wie bei den Wiener Aktionisten, sondern als langue, bzw. in ihrer konkreten Realisierung auf der Leinwand als parole verstanden werden muss. Damit verabschiedet sich Schlingensief von einem Sprachvertrauen wie es etwa Habermas noch immer besitzt. Schlingensief führt Personen vor, die zu keiner angemessenen verbalen Reflexion ihrer Situation mehr fähig sind. Entscheidungsfindungen durch Dialog und Kompromiss sind schlichtweg unmöglich. In Situationen versetzt, in denen sie überfordert sind - etwa dem medial vermittelten Glauben an eine Asylantenflut, wie es Thema in Terror 2000 ist – reagieren sie übertrieben, hysterisch, münden ihre Ängste in der Selbstjustiz, in der Jagd auf Ausländer etwa. Wenn Kommissar Körn daher - in seinen Ermittlungen gegen eben diese Neonazis ins Stocken geraten - auf die auf seinem Schreibtisch gesammelten Embleme der Neonazis uriniert, kommuniziert dieses Bild in sehr direkter Weise die Situation Körns, der sich nicht mehr zu helfen weiß und seine Verachtung ebenso wie seine Hilflosigkeit gegen die Neonazis nicht mehr anders zum Ausdruck bringen kann. Folgerichtig reagiert Körns Ehefrau, als sie ihn dabei überrascht, auch nicht mit Unverständnis, wie man es vielleicht erwarten würde. Da die Figuren in Schlingensiefs Filmen über dieselbe langue verfügen, geht Margret Körn darauf, dass ihr Mann gerade auf seinen Schreibtisch uriniert, gar nicht ein.

Eine weitere wichtige Gemeinsamkeit mit den Wiener Aktionisten ist deren Bezug zum Ritual (besonders auffällig bei Nitsch). Zum einen spielt dabei der performative Aspekt des Rituals eine Rolle, der insofern der Aktionskunst nahe steht, als bei beiden der Schwerpunkt auf dem Prozess, nicht auf dem Ergebnis liegt, zum anderen Rituale immer auch Verwandlung bedeuten, Übergange von einem gegebenen Zustand in einen anderen. Verwandlungen aber spielen nicht nur im Theater der Avantgarde eine wesentliche Rolle, auch im Theater der westlichen Kultur [ist] seit den sechziger Jahren Verwandlung erneut zur zentralen Kategorie seiner Rezeptionsästhetik geworden [...]. In der Performance-Kunst – und in experimentellen Theateraufführungen – wurde eine Ästhetik des Performativen entwickelt, für die der Vorgang der Verwandlung grundlegend ist.[47]

Auch für Schlingensief ist das Ritual zu einem zentralen Moment seiner Arbeiten geworden. In der MTV-Sendung U 3000 wurde mit Versatzstücken u.a. aus Reinigungs-, Opferungs- und Kreuzigungsritualen gespielt.[48] Von seinen Filmen sagt Schlingensief: „Seit meinem ersten Langfilm Tunguska – Die Kisten sind da, habe ich immer nur von Ritualen erzählt.“[49] So zeigt 100 Jahre Adolf Hitler die Geburt der Bundesrepublik aus der Hochzeit zwischen Eva Braun und Magda Goebbels, eine Verwandlung des Dritten Reichs in die BRD, zugleich eine Absage an die Legende von der Stunde Null. Ebenso kann Das deutsche Kettensägenmassaker auf etwas subtilerer Ebene als Opferritual gesehen werden, wenn man parallel dazu René Girards Aussagen zu seiner Anthropologie des Opfers liest. Demnach schützt das Opfer „die ganze Gesellschaft vor ihrer eigenen Gewalt“: „Die Opferung zieht die überall vorhandenen Ansätze zu Zwistigkeiten auf das Opfer und zerstreut sie zugleich, indem sie sie zeitweise beschwichtigt.“[50] Gerade in Krisenzeiten, so führt Girard aus, vervielfältige sich das Gewaltpotential und müsse irgendwann durch die Bestimmung eines Opfers abgebaut werden. Der soziale Frieden wird durch den Glauben an die Schuldigkeit des Opfers wieder hergestellt. Diese Lesart, Das deutsche Kettensägenmassaker als Opferritual zu verstehen, wird untermauert etwa durch die Art, wie die Metzgerfamilie ihre Opfer tötet: Ihnen wird eine Clownsmaske über den Kopf gezogen, der den Opfern ein strahlendes Grinsen auflegt. Daraufhin wird mit Eisenstangen so lange auf den Kopf geschlagen, bis davon nicht mehr viel übrig ist, dann folgt die Zerstückelung des Körpers mit Hilfe der Kettensäge. Dass das Opfer die Gesellschaft vor der eigenen Gewalt schützt, wie Girard schreibt, wird im Film immer wieder deutlich, wenn die Gewalt auch zwischen den Mitgliedern der Metzgerfamilie ausbricht. Auf ganz ähnliche Weise funktioniert auch Terror 2000, wo sich die Gewalt diesmal gegen Ausländer richtet, immer wieder aber auch innerhalb der Gruppe der Neonazis entsteht.

Zwischen Ritual, Happening und Fluxus bewegt sich auch der für Schlingensief so bedeutsame Künstler und Pädagoge Joseph Beuys, ohne dass er sich einer künstlerischen Gruppe wirklich zugeordnet hätte. Beuys nahm an einigen Fluxus-Aktionen teil, führte selbst Aktionen durch, denen der Charakter von Happening und Fluxus anhaftete und wurde immer wieder als Schamane bezeichnet, dessen Beziehung zum Ritual, etwa dem Opfer- oder Heilungsritual, unübersehbar ist.[51]

Alle diese Einflüsse sind Versatzstücke für Schlingensief, er bezieht sich sporadisch darauf, übernimmt einzelne Elemente und errichtet seinen eigenen Steinbruch daraus, ohne dass dadurch ein homogenes Ganzes im Sinne eines organischen Werkes entstehen würde. So bezieht er sich, ohne diesen Ansatz auszubauen, in seiner Einleitungsrede zur ersten Sendung von TALK 2000 auf Beuys: „[I]ch will einfach, daß es wieder familiär wird, daß es wieder privat wird, beuysmäßig: Mein Fett, mein Filz, mein Hase.“[52] Der Hase, bekannt u.a. aus Beuys Aktion „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ von 1965[53], taucht bei Schlingensief in seinen Bayreuther Parsifal-Inszenierungen wieder auf, wo er den Heiligen Gral durch einen verwesenden Hasen ersetzt. In bester Parallele zu Beuys befand sich Schlingensief freilich 1998, als er in Hinblick auf die anstehende Bundestagswahl eine eigene Partei, CHANCE 2000, gründete.[54] Beuys hatte zusammen mit einigen seiner Studenten 1967 aus großen öffentlichen Gesprächsrunden heraus die Deutsche Studentenpartei gegründet, die er als „Erziehungspartei“, gleichzeitig aber auch als Partei gegen Parteien verstand.[55]

Durch die hier erfolgte Einordnung von Schlingensiefs Arbeiten in die Tradition von Avantgarden und Neoavantgarden ist freilich noch nichts über seine filmischen Einflüsse ausgesagt. Dennoch hat sich gezeigt, wie einerseits viele Elemente seiner Filme auf Errungenschaften der Avantgardebewegungen zurückgehen, andererseits alle seine Arbeiten gewisse Parallelen aufweisen. Die Aktivierung des Zuschauers, wie sie etwa in der Errichtung der Bahnhofsmission oder bei der Container-Aktion bei den Wiener Festwochen überdeutlich angelegt ist, ließe sich sogar noch auf seine Filme übertragen, die aufgrund der fehlenden Kohärenz in wesentlich höherem Maße zur gedanklichen Vervollständigung durch den Zuschauer herausfordern als es für das Mainstream-Kino üblich ist.

In Bezug auf seine filmschaffenden Vorbilder, fallen bei Schlingensief besonders häufig die Namen Fassbinder und Visconti. Mit Fassbinder verbindet ihn neben der Theaterarbeit und dem Hang zur Schauspielerei auch eine Reihe gemeinsamer Darsteller wie Irm Hermann, Margit Carstensen oder Volker Spengler. Doch diese Verbindungen sind zunächst eher formal. Tatsächlich werden die Parallelen zwischen diesen beiden Regisseuren häufig an der Unbequemlichkeit der Person, an dem Provokationspotential der Themen oder an dem schnellen Reagieren auf aktuelle Situationen festgemacht.[56] Ähnlich verhält es sich mit Visconti, den eher seine Außenseiterrolle mit Schlingensief verbindet als Ähnlichkeiten auf filmischer Ebene.

In Bezug auf Fassbinder wäre zumindest ein Vergleich von Schlingensiefs Filmen mit Fassbinders Satansbraten aufschlussreich. Dieser Film kann tatsächlich als direkter Vorläufer der Filme Schlingensiefs betrachtet werden, auch wenn dieser die bereits überspitzte Form bei Fassbinder noch einmal verschärft. Ein direkter Vergleich kann in dieser Arbeit nicht geleistet werden. Auffällig ist jedoch, dass Volker Spengler in allen Filmen, in denen er bei Schlingensief mitspielt, auf seine Rolle des debilen Bruders in Satansbraten, der Fliegen sammelt, spuckt und immer wieder „Ficken“ ruft, verweist. In 100 Jahre Adolf Hitler läuft er als Martin Fegelein durch den Führerbunker, spuckt Bohrmann und Goebbels an und sagt „Ficken“. In Das deutsche Kettensägenmassaker liegt seine Rolle als verrückter Sohn der inzestuösen Metzgerfamilie ohnehin nahe an der Rolle aus Satansbraten, während in Die 120 Tage von Bottrop wiederum das „Fliegen! Ficken!“ zitiert wird.

Zudem drängt sich die Parallele zu Fassbinder auch durch dessen eigene Deutschlandtrilogie auf, bestehend aus Die Ehe der Maria Braun (1978), Lola (1981) und Die Sehnsucht der Veronika Voss (1982). Der bedeutendste Unterschied zwischen den beiden Deutschlandtrilogien besteht wohl darin, dass Schlingensief thematisch stärker an der eigenen Gegenwart orientiert ist und damit nicht über den Abstand verfügt, den Fassbinder hatte, als er aus den späten 70er bzw. frühen 80er Jahren heraus auf die junge Bundesrepublik zurückschaute.

Gerade das macht den Reiz der drei Filme Schlingensiefs aus, dass er auf seine eigene Zeit blickt und noch nicht über die wesentlich einfachere Möglichkeit der rückblickenden Beurteilung einer bestimmten Ära der BRD verfügt. Der Schwierigkeit, die eigene Zeit zu bewerten und die Gefahr, in dieser Reflexion der Gegenwart den Überblick zu verlieren, steht freilich die große Chance gegenüber, mit seinen Filmen die Gegenwart zu beeinflussen, ganz gleich, wie gering diese Chance auch sein mag, angesichts der bereits erwähnten Ausdifferenzierung der Gesellschaft und der daraus resultierenden l’art pour l’art. Dass Schlingensief an dieser Chance dennoch festhält, ermöglicht es, seine Filme gleichberechtigt neben solche Aktionsformen zu stellen, bei denen das Publikum direkt aktiviert wurde, wie etwa der Containeraktion oder der Gründung einer Bahnhofsmission. Letztlich zielt jede Arbeit Schlingensiefs in irgendeiner Weise auf Veränderung ab, sei sie sozialer, politischer oder mentaler Art.

3 Zwei Vorbemerkungen

3.1 Das Problem mit der Kohärenz

Schlingensiefs Filme geben dem Zuschauer zahlreich Rätsel auf: Warum überlebt gerade Eva Braun den Führerbunker, statt dass sie, wie man es aus den Geschichtsbüchern kennt, zusammen mit Hitler Selbstmord begeht? Und was hat das alles mit Wenders und Franz Josef Strauß zu tun? Warum terrorisieren eben jene Bankräuber, die für das Geiseldrama von Gladbeck verantwortlich sind, sieben Jahre später Asylbewerber?

Üblicherweise fordert diese Art von Unstimmigkeiten in Filmen, auf dem Theater oder in der Literatur das Interpretationsbedürfnis heraus. Anspruchsvoller Kunst wird unterstellt, dass sie eine gewisse Kohärenz aufweist und sich die verschiedenen Elemente so zu einem großen Ganzen, zu einem Sinngebilde zusammensetzen. Bei Schlingensief entfällt diese Unterstellung selbst auf Seiten derer, die ihn feiern und mit Superlativen überhäufen. Gerade sie betonen die Störung und das Chaos, die Schlingensiefs Arbeiten in den Kulturbetrieb hineintragen. Nach Julia Lochte und Wilfried Schulz ist Schlingensief jemand, der Sand ins „Getriebe des künstlerischen, politischen oder ganz banalen Alltags“ schüttet, er verkörpert „die Sehnsucht nach Störfaktoren, Lücke, Chaos, Irritation“, er ist derjenige der „jedes System ad absurdum“[57] führt. Noch deutlicher sagt es Georg Seeßlen. Ihm zufolge will Schlingensief „nie auf etwas Großes und Beschließendes hinaus, sondern bildet viel eher einen konstanten Fluß der Eindrücke und Phantasien mit den Mitteln ab, die er zur Verfügung hat.“[58] Und einige Seiten später: „Es ist also eine Ästhetik der Zerstörung, aber nicht die Zerstörung des >Modernismus<, die das Alte auslöschen will, um das Neue zu etablieren, sondern eine Zerstörung, die sich bereits selber zum Inhalt hat.“[59]

SPIEGEL-Redakteur Claudius Seidl hierzu:

Der Mann ist ein Triebtäter, kein Theoretiker; er denkt in Bildern, nicht in Wörtern – und wer nach Symbolen und Metaphern sucht, wird sich an diesem Film (gemeint ist Das deutsche Kettensägenmassaker – B.M.) verschlucken. Denn Schlingensief frißt die deutschen Bilder und Geschichten einfach in sich hinein, und folglich ist „Das deutsche Kettensägenmassaker“ weniger das Ergebnis eines Reflexions-, eher eines Verdauungsprozesses.[60]

Diese Aussagen schreiben sich allesamt in einen alten Diskurs ein und münden konsequent in der Auffassung von der „Unübersetzbarkeit der Schlingensief’schen Arrangements in die klassische Form eines Textes. Wie übersetze ich ein ästhetisches Ereignis, das weder linear noch kausal abläuft, in einen verabredungsmäßig linearen und kausalen journalistischen Text?“[61] Der Diskurs ist alt und erfährt auch hier keine wirkliche Verjüngungskur. Und wo sind eigentlich die ernstgemeinten aber gescheiterten Versuche, Schlingensiefs Arbeiten in einen solchen verabredungsmäßig linearen Text zu übersetzen?

Sind die Rätsel, die Schlingensiefs Arbeit aufgeben, tatsächlich unlösbar? Macht sich die Sphinx möglicherweise einen Spaß daraus, Fragen zu stellen, auf die es keine Antworten gibt? Der Autor dieser Zeilen neigt dazu, diese Option eher auszuschließen und wagt in einer anmaßenden bis lächerlichen Analogie zu Ödipus, in die er sich gerade hineingeschrieben hat, die Fragen, die Christoph Schlingensiefs Deutschlandtrilogie aufgibt, zumindest teilweise zu beantworten, in der Hoffnung, dass ihm jede weitere Analogie zu Ödipus erspart bleiben wird.

Am Ende der Analysen soll dabei keineswegs die von Schlingensief so verachtete Metaebene stehen. Wo die Filme auf Kohärenz und Sinnstiftung verzichten, sollen diese Stellen als solche bestehen bleiben, in ihrer Verweigerung von Sinn müssen sie jedoch immer noch als aussagekräftig betrachtet werden.

2 Trash. Kein Abfall für alle

Schlingensiefs Arbeiten teilen das Publikum oftmals derart stark, dass sich die Abweichler ganz ungewohnt in der Mitte zwischen Idiosynkraten und Jüngern befinden. Zu seinen schreibenden Anhängern gehören vor allem Freunde Schlingensiefs, etwa Schauspieler und Dramaturgen, aber auch einige Journalisten. Wenn seine Freunde über ihn schreiben, erkennt man Schlingensief manchmal kaum wieder, da finden sich Lobpreisungen wie man sie bislang nur aus Bittschriften an den König kannte. Zum Glück hat Schlingensief aber auch viele Feinde. Wenn seine Gegner im Feuilleton das Wort ergreifen, erkennt man Schlingensief ganz gut wieder. Splatter, Ekel, Blut, Kot, Urin, Klischees, Geschmacklosigkeiten sind Schlüsselwörter, um die sich die Rezensionen drehen. Zu diesen ablehnenden Haltungen ist zu sagen: Sie stimmen. Und als Zusatz: Na und?

Es soll hier nicht darum gehen, die konträren Positionen von totaler Ablehnung und völliger Affirmation weiter zu untermauern, sich auf eine der beiden Seiten zu schlagen und Gründe für oder gegen Schlingensiefs Filme zu finden. Für beide Seiten gibt es zu viele Argumente, als dass Habermas’ Postulat vom zwanglosen Zwang des besseren Arguments hier jemals greifen könnte, um Konsens zu stiften. Statt dessen gilt die Bedeutung, die in der Filmwissenschaft schon seit langem dem Zuschauer beigemessen wird, bei Schlingensief in besonderem Maße.

Für die bei Schlingensief notwendige Rezeptionshaltung möchte ich die Kategorie des Trash heranziehen, wie sie Knut Hickethier in seinem Aufsatz „Trashfernsehen und gesellschaftliche Modernisierung“ konzipiert hat.[62] Trash, so eine erste Eingrenzung, ist keine Gattung, kein Genre und keine spezifische Form der Film- oder Fernsehunterhaltung, sondern eine Bewertungskategorie.[63] Somit ist Trash aus dem Bereich der Ontologie verwiesen und in die subjektive Sphäre der Rezeption verlagert; entscheidend ist „der Zusammenhang von Medienangebot und gesellschaftlichem Gebrauch“[64]:

Trash hat immer auch etwas mit Gewöhnung zu tun.

„Trash“ stellt keine substantielle Eigenschaft von Produkten dar, sondern ist eine Haltung zu den vermittelnden Inhalten, Motiven, Sujets, kennzeichnet eine Haltung zum Medium und vor allem eine Haltung zum Publikum. [...]

In dem hier vertretenen Verständnis meint Trashfernsehen eine Form von Fernsehen, die für einzelne Publikumsschichten nicht akzeptabel ist und trotzdem gesehen wird.[65]

Der semantisch zunächst noch negativ besetzte Begriff Trash wird mittlerweile „von den jugendlichen Nischenkulturen positiv verwendet“[66]. Zwischen Trash und der deutschen Übersetzung als „Müll“ liegt somit ein erheblicher Wertunterschied, der passend in der Aussage Schlingensiefs zum Ausdruck kommt, die „Scheiße“ in seinen Filmen sei ihm heilig.[67] Indem er seine Filme als Trash konzipiert – in seinem Film United Trash von 1996 wird diese Kategorie sogar im Titel geführt – setzt er, wie für Trash üblich, bewusst „auf Abgrenzung und Ausgrenzung, setzt auf die Differenz, und dies vor allem auf eine spielerische und letztlich unernste Weise.“[68]

In historischer Perspektive ist das Aufkommen von Trash das Ergebnis einer Veränderung in der Gesellschaft, die mit einer Veränderung in der Mediensituation einhergeht. Der Zerfall einer mehr oder weniger homogenen Gesellschaft, die an einer gemeinsamen Öffentlichkeit teilnahm, selektiert das Publikum und führt zu einer „Pluralität unterschiedlicher medialer Öffentlichkeiten“[69], zu der nun auch der Bereich des Trash als „Abgrenzung zu den vorhandenen Standards der Mainstream-Kultur“[70] gehört.

In dieser Situation entscheidet sich Schlingensief bewusst gegen die größeren Teilöffentlichkeiten, die neuere Filmemacher wie Sönke Wortmann, Leander Haußmann oder Wolfgang Becker durchaus erreichen. Die Abgrenzung zur Mainstream-Kultur könnte kaum größer sein, immerhin bedient sich Schlingensief u.a. immer wieder des Splatter-Genres. Auf der Bild- und Tonebene bleiben Schlingensiefs Filme somit immer auch Zumutungen für den Zuschauer, auf subjektiver Ebene hingegen hat der Zuschauer die Möglichkeit, den Film „zu retten“, eben durch eine entsprechende Rezeptionshaltung, die durch alle Erschwernisse hindurch sagt: Na und?

4 100 Jahre Adolf Hitler Abnutzung eines Mythos’

Am 28. November 1988, von 9 Uhr morgens bis spät in die Nacht hinein gegen 3 Uhr, dreht Schlingensief in einem stillgelegten Bunker in Mühlheim mit neun Schauspielern den ersten Teil der Deutschlandtrilogie[71], 100 Jahre Adolf Hitler. Die letzte Stunde im Führerbunker. Aus der Not, dass er lediglich über einen Gesamtetat von 14.000 DM verfügt, macht Schlingensief eine Tugend, indem er den Film in jeglicher Hinsicht auf ein Minimum reduziert. So wird, neben der extrem kurzen Drehzeit, lediglich eine Handkamera verwendet und zur Beleuchtung ein Handscheinwerfer. Den Schnitt übernimmt Schlingensief hinterher selbst, verwendet jedoch – ähnlich wie Fassbinder es bei Katzelmacher tat – ein (durchschaubares) Pseudonym und gibt sich als Thekla von Mühlheim aus. Auf Maske oder Requisiten, die dem historischen Aspekt des Films gerecht werden könnten, wird ebenfalls verzichtet. Udo Kier kommt der Figur, die er darstellt, äußerlich noch am nächsten, mit dunkelgefärbten Haaren, Seitenscheitel und Hitlerbärtchen. Bei den übrigen Schauspielern gibt es kaum mehr äußere Anzeichen dafür, wer dargestellt wird. Nur durch die Verwendung von Namen wird etwa Alfred Edel als Göring erkennbar oder Volker Spengler als Fegelein.

Die reduzierte Arbeitsweise banalisiert den Film jedoch in keiner Weise, sondern verstärkt vielmehr die klaustrophobische und apokalyptische Stimmung der letzten Stunde des Dritten Reichs. Der sich ausbreitende Wahnsinn einer gescheiterten Idee wird sowohl filmtechnisch als auch inhaltlich entfaltet, ohne dass sich Schlingensief und seine Truppe um die genaue Rekonstruktion historischer Ereignisse kümmern. Dass sich Göring gar nicht im Führerbunker aufhielt und Fegelein am 29. April 1945 bereits erschossen wurde, interessiert hier nicht. Die Absage an den Realismus ist somit absolut. So kann es als Seitenhieb auf die Detailversessenheit der Historiker angesehen werden, wenn trotz aller Abkehr von den historischen Fakten am Ende des Vorspanns der Untertitel des Films wörtlich genommen wird und die Zeilen „30. April 1945 / 17:00 Uhr / Führerbunker“ eingeblendet werden, womit die dokumentarische Exaktheit ins Absurde gesteigert wird.

Gleichzeitig klammert sich der Film nicht allein an die Jahreszahl 1945, sondern verweist, wie zu zeigen sein wird, u.a. durch das Schwarzweiß des Films, die besondere Verwendung des Lichts oder die klaustrophobische Stimmung, zurück auf die Zeit des deutschen Stummfilms, insbesondere den expressionistischen Film. Andererseits enthält er Bezüge bis in die Gegenwart hinein, etwa wenn Wenders im Fernseher des Führerbunkers zu sehen ist.

4.1 Hitler und das Lachen

Darf man über Hitler lachen? Die Frage ist um so merkwürdiger, als gerade das Lachen kaum kontrolliert, höchstens verborgen bzw. unterdrückt werden kann. Nicht umsonst bezeichnet Alexander Kluge das Zwerchfell als „den Sitz der Aufklärung und der Überraschung, ein nicht beherrschbares, von keiner Herrschaft beeinflußbares Lachzentrum.“[72] Trotzdem gibt es im Zusammenhang mit der komischen Darstellung des Nationalsozialismus immer wieder Debatten darüber, ob und worüber man lachen darf. Den letzten großen Diskussionsschub hierzu lieferte 1997 Roberto Benignis Film La vita è bella, der die Komik in direkten Zusammenhang mit dem Holocaust stellte. Nachdem die Frage, ob man über Hitler lachen dürfe, zu dieser Zeit allenfalls noch am Rande geführt wurde, stellte sich nun die Frage, ob man über den Holocaust lachen dürfe. Der Film wurde von der Kritik zum großen Teil begeistert aufgenommen, oft jedoch in Verbindung mit der bangen Frage, ob Clownerie im Todeslager erlaubt sei, und das, obgleich La vita è bella keineswegs die erste Holocaust-Kömodie ist und vor Verweisen auf seine Vorgänger nur so strotzt.[73] Tatsächlich aber gibt es in La vita è bella, ebenso wenig wie in den Filmen, in deren Tradition er steht, ein Lachen über den Holocaust, einzig das Lachen im Holocaust, ein Lachen als Überlebensstrategie: „Das Lachen als Strategie des Überlebens hat dem Komischen auch in der Darstellung des Holocaust ein Recht eingeräumt, weil es auf der Seite des Lebens ein Zeichen des Hoffnung gegen den Tod gewesen ist.“[74]

Obwohl in den nächsten beiden Jahren nach Benignis großem Erfolg Train de vie (1998), der erstmalig den Porrajamos, die Vernichtung der Sinti und Roma thematisierte, und Peter Kassovitzs Neuverfilmung Jakob the Liar (1999) folgten, blieb die komische Darstellung Hitlers und des Holocaust eine Randerscheinung in der Filmindustrie. Ein gewisses Unbehagen an der Verbindung von Lachen und Grauen hat zu dieser Marginalisierung sicher beigetragen. Bezeichnend hierfür ist schon die erste, längst zum Klassiker gewordene Hitler-Paraodie The Great Dictator, die Chaplin 1940, also bevor das volle Ausmaß der Massenvernichtung ins öffentliche Bewusstsein drang, drehte. Seine rückblickende Einschätzung des Films ist bekannt: „Hätte ich damals von dem tatsächlichen Horror der deutschen Konzentrationslager gewusst, hätte ich mich nicht über den mörderischen Wahnsinn der Nazis lustig machen können.“[75]

Der gesamte Bereich der Komik wird in Anbetracht des Holocaust oft als unangemessen betrachtet, und das, obwohl uns die

historische Wahrheit [...] nur reflexiv zugänglich [ist], unter Mit-Beachtung der Erzählsituation und ihrer Genreregeln. Die „unernsten“ Formen von Satire, Groteske, Absurdität und sogar Clownerie und Komik – sie können solcher Reflexivität einen Raum öffnen.[76]

Doch die bis heute nicht abgeklungenen Debatten zu diesem Thema kreisen nicht nur um die Frage, ob man überhaupt über Hitler und den Holocaust lachen dürfe, sondern sie selektieren Publikum und Filmemachende sogar:

Wer kann, wer „darf“ unter welchen Umständen was sagen? Haben die Überlebenden eine stärkere (oder sogar die einzige) Autorität? Haben Juden (und nicht notwendigerweise Überlebende oder Kinder von Überlebenden) mehr Autorität als andere ethnische Gruppen? Und schließlich: Sind Deutsche dazu berechtigt?[77]

Gerade diese letzte Frage gewinnt im Zusammenhang mit Schlingensiefs 100 Jahre Adolf Hitler an Bedeutung, denn der Film strebt nicht zuletzt auch eine andere Art der Auseinandersetzung mit dem Thema Nationalsozialismus an. Bereits der Titel ist aufschlussreich und erlaubt einen Vergleich mit La vita è bella. Benignis Film enthält im Titel eine subtile Anspielung auf den großen Klassiker des italienischen Neorealismus, Roberto Rosselinis Roma città aperta, wo es an zentraler Stelle heißt: „Das Leben ist hässlich.“ So wirft Benigni schon im Titel seines Films die Frage nach der realistischen Darstellung des Holocaust auf. Der Film selbst ist freilich eine Absage an alle Versuche, historische Authentizität durch die filmische Darstellung von Vergangenem anzustreben. Es geht Benigni vielmehr um „die Frage nach unseren eigenen Bildern, Erwartungen und Wünschen, nach den medialen Repräsentationen selbst, die unsere Wahrnehmung schon formen, bevor wir es merken“[78], nach dem, was wir von einem Film mit dem Thema Holocaust erwarten bzw. im Hinblick auf La vita è bella eben nicht erwarten oder als unangemessen erachten.

Den beständigen Wunsch, die Vernichtungslager „korrekt“ darstellen zu wollen, hat Imre Kertész als „Holocaust-Konformismus“ bezeichnet und entschieden zurückgewiesen: „Das Tor des Lagers im Film (La vita è bella, B.M.) ähnelt der Haupteinfahrt des realen Lagers Birkenau ungefähr so, wie das Kriegsschiff in Fellinis Schiff der Träume dem realen Flaggschiff eines österreichisch-ungarischen Admirals gleicht. Hier geht es um etwas ganz anderes.“[79]

Auch Schlingensief geht es um etwas ganz anderes. Der Titel 100 Jahre Adolf Hitler wirft mit seinem intertextuellen Verweis eine ähnliche Frage auf wie Benigni mit dem Titel seines Films. Der Titel ist ein ironisches Spiel mit der in Deutschland stark ausgeprägten Kultur der Jubiläumsfeiern deutscher Dichter und Schriftsteller, Maler, Komponisten usw. bis hin zu bedeutenden Staatsmännern wie Friedrich II. oder Bismarck. In diese permanent anhaltende Erinnerungskultur, die medial so stark vermittelt wird, dass man sich ihr nicht entziehen kann, fügt Schlingensief 1989 den Mann ein, dessen hundertsten Geburtstag man bezeichnenderweise lieber ignoriert hätte. Indem Schlingensief im Titel die irritierende Verbindung zwischen nationaler Erinnerungskultur und kollektiver Abgrenzungsbestrebung knüpft, macht er auf die bis heute fehllaufende Entwicklung in der Verarbeitung der deutschen Vergangenheit aufmerksam. Der Titel wirkt grotesk, weil er - gemäß der Definition des Grotesken - „in irritierender Manier Heterogenitäten kombiniert und zwischen Komik und Grauen oszillierende Effekte gestaltet.“[80] Dass der Titel grotesk wirkt, ist im Grunde schon Beweis genug für die Fehlentwicklung in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, denn grundsätzlich würde nichts dagegen sprechen, den hundertsten Geburtstag Hitlers zu nutzen, um der angemessenen Auseinandersetzung mit dem düstersten Kapitel deutscher Geschichte neue Impulse zu geben, schon allein, um dieses Datum nicht den rechten Kreisen als Monopol zu überlassen, während man sich selbst in Schweigen hüllt. Denn es darf dabei nicht übersehen werden, dass Jubiläen immer auch eine performative Kraft besitzen, insofern die Berichterstattung über die Ereignisse oder Personen in der Öffentlichkeit stark wahrgenommen werden und meinungsbildend wirken.[81]

Bei Hitler hat man den hundertsten Geburtstag weitgehend ungenutzt verstreichen lassen, ohne den Mythos, wie Schlingensief sagt, „abzunutzen“. 100 Jahre Adolf Hitler ist der Versuch, genau dies zu tun, um einen anderen Umgang mit dem Nationalsozialismus vorzuführen:

Den Hitler hat man leider seit ’45 nicht abgenutzt. Man hat ihn nicht zum Gebrauch hingeworfen, hat gesagt, lest die Scheiße, nutzt es ab, benutzt es und dann wird es sich schon zerschleudern und zerfleddern, und keiner wird mehr Interesse haben, diese kaputte Jacke anzuziehen. Das passiert nicht, weil natürlich immer diese Hochadelskultur einsetzt und sagt: Nein, um Gottes Willen. Käseglocke drüber, Tempelanlage bauen! Wahnsinn! Vorsicht! Achtung! Kein falsches Wort jetzt! usw.[82]

Damit wird deutlich, was 100 Jahre Adolf Hitler anstrebt: Hier wird Hitler zum Gebrauch hingeworfen, der Mythos zerschleudert und zerfleddert und übrig bleibt ein Führer, der der Lächerlichkeit preisgegeben wird, der, statt Größe zu zeigen, nur noch auftritt, um seinen Alkoholvorrat aufzufüllen und sich anschließend von Schwester Morell – Hitlers Leibarzt ist hier eine Frau – seine nächste Morphiumspritze setzen zu lassen und dann unter Einfluss des Narkotikums doch noch eine (etwas getrübte) Einschätzung der Situation abgibt: „Ich bin doch der Größte. Nicht nur Führer und Held. Ich bin ich, gerade, fest und schlicht.“

Es sind Szenen wie diese, die 100 Jahre Adolf Hitler zur Komödie machen, zur Groteske oder, wie Wilhelm Roth in seiner Rezension für epd-Film schreibt, zum „Kasperletheater. [...] Das ist kein Film der Legendenbildung für Rechtsradikale.“[83]

Was das Lachen über Hitler anbelangt, so steht Schlingensiefs Film in einer langen Tradition, die mit Chaplins The Great Dictator und Lubitschs To Be Or Not To Be beginnt. Eine auffällige programmatische Nähe weist Schlingensief jedoch vor allem zu Bertolt Brechts Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui auf. Beide, Schlingensief wie Brecht, verweigern sich den üblichen Hitlerdarstellungsweisen, als Monster des Jahrhunderts oder als Banalität des Bösen. Vom dritten Weg, Hitler menschlich zu zeigen, so wie in Der Untergang geschehen, sind sie wohl am weitesten entfernt. Brecht und Schlingensief geben Hitler der Lächerlichkeit preis. Brecht gibt für diese Wahl Gründe an, die sich von den oben dargestellten Schlingensiefs nicht sonderlich unterscheiden:

Die großen politischen Verbrecher müssen durchaus preisgegeben werden, und vorzüglich der Lächerlichkeit. Denn sie sind vor allem keine großen politischen Verbrecher, sondern die Verüber großer politischer Verbrechen, was etwas ganz anderes ist. [...]

Dazu kommt, daß das Verbrechen selbst häufig Bewunderung auslöst. [...] Die Blutflecken stehen diesen Eroberern gut zu Gesicht, wie Schönheitsflecken.

[...] Und im allgemeinen gilt wohl der Satz, daß die Tragödie die Leiden der Menschen häufiger auf die leichte Achsel nimmt als die Komödie.[84]

Zudem will auch Brecht, genau wie Schlingensief, „keinen allgemeinen, gründlichen Aufriß der historischen Lage [...] geben.“[85] Während Brecht jedoch, der den Arturo Ui als Parabelstück bezeichnet[86], Hitlers Aufstieg in den 30er Jahren mit der Biographie des berühmten Chicagoer Gangsters Al Capone verbindet und dadurch den Zusammenhang von Kapitalismus und Nationalsozialismus verdeutlicht[87], findet die Aktualisierung in Schlingensiefs Film, wie noch zu zeigen sein wird, durch eine Bezugnahme auf die Entwicklung des Neuen Deutschen Films statt.

4.2 Die Absage an Sinnzuweisung und Geschichtsanalyse

Der Film beginnt mit circa 15 Sekunden Schwarzbild; auf der Tonebene sind ferne Bombeneinschläge zu hören. Dann sehen wir Udo Kier als Adolf Hitler am Schreibtisch sitzen. Udo Kier sieht, abgesehen vom Schnauzbart und den dunkel gefärbten Haaren, eher aus wie Udo Kier und nicht wie Adolf Hitler. Auch auf der Klappe, die nicht weggeschnitten wurde, ist deutlich der Name des Schauspielers zu lesen. Ebenso dicht wie sich die Handkamera vor ihm bewegt, ist hinter ihm eine Deutschlandkarte aufgehängt. Er hält eine Videokassette in der Hand mit der Aufschrift AGFA. Kier/Hitler blickt direkt in die Kamera und leitet den Film mit den Worten „Schnaps, Wim, Trotta, Nico etc.“ ein. Anschließend schaut er in das Textheft, steht dann ziemlich umständlich auf, da er zwischen Schreibtisch und Karte kaum Platz dafür hat, dreht sich zur Karte um und streicht liebevoll darüber mit den Worten „Ganz Deutschland ist meine Heimat“, die aus dem Off von Schlingensief selbst wiederholt werden.

Dieser Anfang gibt bereits einige Rätsel auf. Die Reihung Schnaps, Wim, Trotta, Nico etc. erinnert an Knobelaufgaben: „Setzen Sie folgende Reihe fort“ oder „Welcher Begriff passt nicht dazu?“ Der Unterschied zwischen diesen Aufgaben, wie sie üblicherweise gestellt werden und der Schlingensief’schen Form, ist, Schlingensiefs Aufgabe hat keine Lösung. Selbst wenn man die Wörter als lose Assoziationen betrachtet, ist es kaum möglich, sie miteinander in Verbindung zu bringen. Wim könnte auf Wenders verweisen, der in eben dieser Szene noch im Fernseher des Führerbunkers zu sehen sein wird. Dementsprechend stünde Trotta für Margarethe von Trotta. Die Reihe der Filmemacher des Neuen Deutschen Films ist damit jedoch beendet, Nico passt nicht mehr dazu, ebenso wenig Schnaps. Bei „Nico“ wird zumindest noch die Assoziation an die ehemalige Sängerin von Velvet Underground geweckt, die deutscher Herkunft war und als Mitglied der Factory einen Hinweis auf Andy Warhol bedeuten könnte, in dessen Film Chelsea Girls sie mitgewirkt hat. Aber auch in diese Richtung lässt sich keine Kohärenz bilden, zumal immer noch die Frage im Raum steht, was es mit der Videokassette im Führerbunker auf sich hat.

Schlingensiefs Trick besteht darin, den Zuschauer zur Deutung herauszufordern, ihn anzustacheln, die einzelnen Versatzstücke zu ordnen und auf diese Weise wieder Sinn zu stiften. Dieser Versuch muss jedoch scheitern, es lässt sich keine Kohärenz herstellen; der Zuschauer ist an dieser Stelle bereits mitten drin im Wahnsinn der Endphase des nationalsozialistischen Regimes. Damit ist schon zu Beginn des Films klar: In Schlingensiefs Geschichtsstunde gibt es keinen Sinn mehr, keine Geschichtsinterpretation, keine Erklärung, wie es so weit kommen konnte, weder historisch, noch psychologisch, philosophisch, soziologisch oder metaphysisch. 100 Jahre Adolf Hitler zelebriert vielmehr die völlige Abwesenheit von Sinn. Die letzte Stunde des Dritten Reiches lässt sich nicht mehr rational erfassen, es tobt die Absurdität angesichts des Bankrotts der Idee vom Tausendjährigen Reich, die bereits nach zwölf Jahren scheitert.

4.3 100 Jahre Adolf Hitler und der expressionistische Film

Durch die rasante Entstehung des Films in nur wenigen Stunden wird der Livecharakter bewahrt[88], der bereits in der Textgrundlage angelegt ist: 100 Jahre Adolf Hitler basiert, ausweislich der Credits im Vorspann des Films, auf Schlingensiefs gleichnamigen Theaterstück.

Der Film ist dabei keinesfalls das Ergebnis eines völlig kalkulierten Produktionsprozesses. Ganz im Gegenteil: Das Entgleiten der Kontrolle und der Einfluss des Zufälligen gehören zur Arbeitsweise hinzu, jedoch nicht um ihrer selbst Willen. Form und Inhalt sind in diesem Film unmittelbar aufeinander bezogen, und so wie die nationalsozialistische Führungsriege am erheblich vorgezogenen Ende des Tausendjährigen Reichs feststellen muss, dass sie nicht mehr Herr der Lage ist, ist auch die Mannschaft um Schlingensief bereit, den Arbeitsprozess teilweise entgleiten zu lassen.

Zum einen geschieht dies durch die zunehmende Belastung der Schauspieler, die sich einen Tag lang abgeschirmt in einem kaum beleuchteten Bunker aufhalten und, Szene für Szene abdrehend, permanent in ihrer Rolle verharren müssen. Zum anderen wurde nur mit einer Handkamera und einem Handscheinwerfer gedreht. Damit sind alle Bilder mehr oder weniger unruhig, verwackelt, während die Szene nie wirklich ausgeleuchtet ist, immer nur Details vom Licht hervorgehoben werden können. Der Spot wechselt von Schauspieler zu Schauspieler, Kamera und Licht versuchen sich in Koordination zu einander zu bewegen, was kaum möglich ist. Von filmischen Konventionen bleibt hier nicht mehr viel übrig. Schnitte innerhalb einer Szene bleiben eher die Ausnahme, da unter dem gegebenen Zeitdruck und den beschränkten Mitteln (lediglich eine Kamera, was Schuss-Gegenschuss-Aufnahmen erheblich erschwert) der Schnitt durch die bewegliche Handkamera ersetzt wurde, die immer wieder neue Perspektiven und Positionen einnimmt. Auf subjektive Kameraführung verzichtet Schlingensief völlig, da sich ohnehin keine der Personen zur Identifikation anbieten würde. Dennoch ist der Zuschauer durch die Handkamera immer mitten drin in dem zusammengeschrumpften Rest deutscher Großmachtbestrebungen, in dem nun der Wahnsinn tobt, befindet sich in einer ungewohnten und unangenehmen Nähe zu den Darstellern.

Die dadurch entstehenden Aufnahmen verstärken die klaustrophobische Stimmung, die bereits durch den Bunker angelegt ist, um ein Vielfaches. Der Zuschauer verliert immer wieder die Orientierung, weil die Beschaffenheit des Raums nur erahnt werden kann, die Lage der einzelnen Räume und Flure zueinander ohnehin undurchschaubar bleibt.

Formal hat Schlingensief mit diesem Stilprinzip die Entsprechung zum Inhalt des Films gefunden, zum Wahnsinn der nationalsozialistischen Zerstörungspolitik, angeführt von einer kleinen Gruppe um Hitler, die in der Stunde der Desillusionierung, eingekreist von den alliierten Armeen, die nur durch die gedämpften Geräusche der Bombeneinschläge präsent sind, das Scheitern ihrer Pläne anerkennen muss. Schlingensief führt in 100 Jahre Adolf Hitler vor, wie das Scheitern, wie die letzte Stunde aussieht, wenn man sagt, man möchte etwas ganz Großes erreichen, im Positiven wie im Negativen. Man möchte einfach ein ganzes Universum bauen und dann sitzt man nachher ziemlich zerschmettert und depressiv herum und muss mit ansehen, dass nichts dergleichen passieren wird, dass es nur anderen Menschen extrem viel Freiheit gekostet hat. Dieser Moment ist Die letzte Stunde im Führerbunker.[89]

Von einer Einheit der Handlung, wie sie Aristoteles forderte, ist Schlingensief weit mehr als zweieinhalb Jahrtausende weit entfernt.[90] Gezeigt wird vielmehr eine Aneinanderreihung von Einzelszenen, die sich um den sich ausbreitenden Wahnsinn einer gescheiterten Illusion gruppieren, wobei es zum Ende dann doch eine Art Abschluss gibt, wenn die letzten Überlebenden den Bunker verlassen: Eva Braun und Hermann Fegelein.

Nicht erst hier wird deutlich, dass es Schlingensief um alles andere als um eine realistische Rekonstruktion der Ereignisse geht. Entgegen der Darstellung von Schlingensief befand sich Goebbels in den letzten Tagen des Dritten Reichs gar nicht im Führerbunker, und Eva Braun beging zusammen mit ihrem frisch Vermählten Selbstmord. Nichts davon bei Schlingensief. Hitlers Tod ist kein Freitod mehr; er wird von Eva Braun ermordet, die dem nach Morphium verlangenden Parkinsonkranken Zyankali verabreicht, mit den Worten: „Lass sie dir schmecken, die Nüsse der Deutschen.“

Mit dieser extremen Abwendung vom filmischen Realismus bildet Schlingensiefs Hitlerfilm das Gegenstück zu dem ca. 15 Jahre später entstandenen Film Der Untergang. Beide Filme hatten den Anspruch, etwas „Wahres“ darzustellen, allerdings liegen die Darstellungsweisen völlig konträr zueinander. Während der Produzent von Der Untergang, Bernd Eichinger, schon im Vorfeld für Unruhe sorgte, als er verlautbarte, „Ich will nicht aufklären, sondern berühren“[91], und er sein Geschichtsverständnis mit den Worten „Ich glaube, dass Geschichte von Personen gemacht wird“[92] bekundete, ging es Schlingensief darum, „in der übertriebenen Situation mehr Wahrheit zu finden als in diesem Zwang, es realistisch machen zu müssen. Und die Überhöhung, die da stattgefunden hat, ist letzten Endes viel realer als das Reale, was man versucht zu rekonstruieren.“[93]

Am Beispiel einer zu Hitler diametral entgegengesetzten Person erklärt Schlingensief, worauf es ihm ankommt:

Für mich ist es ehrlich gesagt nicht interessant, irgend einen heruntergeranzten Jesus Christus auf einem Pergamentpapierchen zu finden neben einer Qumranrolle, und dann sagt man: „Das ist der Jesus? Aha. Ist aber sehr realistisch gemalt.“ – „Ja, so sah er wirklich aus.“, sondern für mich ist es eigentlich viel faszinierender zu sehen, wie der Typ mit fünfzehn Lanzen durchstochen und gebrochenem Bein – und hier kommt noch die Galle raus und was weiß ich was – am Kreuz hängt. Da ist viel mehr an Leben drin für mich und viel mehr Wahrheit und Sympathie [...] als in so einem Bild, wo ich sage: „Ja, ist aber sehr realistisch gemalt. Schade, ich habe mir den Jesus immer viel interessanter vorgestellt.“[94]

Diese Art des Filmemachens, die mittel der übertriebenen Darstellung versucht. Zusammenhänge zu vermitteln, erlaubt es, 100 Jahre Adolf Hitler in der Tradition des expressionistischen Films bzw. des deutschen Stummfilms der Weimarer Zeit zu verorten.[95] Damit kehrt Schlingensief zu einer Art des Filmemachens zurück, die wesentliche Impulse vom Theater aufnahm.

Im Folgenden möchte ich zwei der einflussreichsten Schriften zum deutschen Stummfilm der Weimarer Republik heranziehen, um die Nähe von 100 Jahre Adolf Hitler zu dieser frühen Filmepoche aufzuzeigen. Es handelt sich dabei um Lotte H. Eisners „Die dämonische Leinwand“, in Deutschland erstmals 1955 erschienen und Siegfried Kracauers „Von Caligari zu Hitler“ von 1947.

Beide Schriften sind trotz ihrer enormen Leistungen immer wieder auch Gegenstand der Kritik geworden. So nährt der Untertitel der französischen Originalausgabe von Eisners „Die dämonische Leinwand“, „Influence de Max Reinhardt et de l’expressionnisme“, „die unzutreffende Bewertung, den Expressionismus als universelle ästhetische Kraft des deutschen Stummfilms zu begreifen, was in der Umkehrung dazu verleitete, alle deutschen Stummfilme als expressionistische Produktionen anzusehen.“[96] Auch Kracauer vereinheitlicht zu sehr, wenn er in seiner grundsätzlich „ungemein innovativen Filmgeschichte [...] dem expressionistischen Filmstil überwiegend die Funktion eines Warnschilds mit der Bedeutung ’Achtung! Seelische Ereignisse’“[97] beimisst.

Wenn diese beiden Schriften hier dennoch herangezogen werden, so darum, weil sie den größten Einfluss auf unser heutiges Verständnis vom expressionistischen Film hatten und das Bild vom deutschen Stummfilm, seiner Entstehung und Bedeutung maßgeblich prägten und eben auch z.T. leicht verfälschten.

4.3.1 Eisners „Die dämonische Leinwand“

Um die besondere Prägung des expressionistischen Stummfilms zu erklären, geht Lotte H. Eisner zunächst auf den literarischen Expressionismus zurück und arbeitet dessen Abgrenzung vom Impressionismus und Naturalismus mit Hilfe von Zitaten des Expressionisten Kasimir Edschmid heraus:

Der Expressionismus, so erklärt Kasimir Edschmid, wendet sich gegen „die atomistische Verstückelung des Impressionismus“, der die schillernden Nuancen der Natur widerspiegelt; er attackiert gleichfalls die Abziehbilder des kleinbürgerlichen Naturalismus und dessen Sucht, die Natur und das Alltagsleben sorgsamst abzufotografieren. [...] Der expressionistische Künstler sieht nicht, er schaut. „Nun gibt es nicht mehr die Ketten der Tatsachen, Fabriken, Häuser, Krankheiten, Huren, Geschrei, Hunger. Nun gibt es nur die Vision davon! Die Tatsachen haben Bedeutung nur soweit, als durch sie hindurchgreifend die Hand des Künstlers nach dem greift, was hinter ihnen steckt.“[98]

Man könnte die Liste heute auf Schlingensief übertragen weiterführen: Nun gibt es nicht mehr den heruntergeranzten Jesus Christus auf einem Pergamentpapierchen und nicht mehr den Führer, wie er die letzte Stunde des Zweiten Weltkriegs im Führerbunker zubrachte, jetzt gibt es nur noch Schlingensiefs Vision davon. Das ist eben jene übersteigerte Form und Überhöhung, die er in Bezug auf 100 Jahre Adolf Hitler meinte.

Neben der realistischen Abbildung von Wirklichkeit wird zugleich die Psychologie, „die gefügige Dienstmagd des Naturalismus, [...] völlig abgelehnt.“ Und tatsächlich ist auch Schlingensiefs filmischen Arbeiten nicht mit psychologischen oder psychoanalytischen Erklärungsmodellen beizukommen. Er versucht somit weder die Ereignisse in den letzten Stunden des Dritten Reichs oder im zweiten Film der Deutschlandtrilogie, die Ereignisse der deutsch-deutschen Wiedervereinigung äußerlich realistisch darzustellen, noch strebt er eine symbolisch vermittelte psychologische Abbildung einer Innenwelt an.

Vielleicht am deutlichsten verweist 100 Jahre Adolf Hitler auf den expressionistischen Film in Hinblick auf die Verwendung des Lichts. Bis auf die Schlussszene ist der gesamte Film gekennzeichnet durch einen scharfen hell-dunkel Kontrast. Zwischentöne, Schattierungen gibt es nicht, kann es nicht geben, da der abgeschirmte Bunker kein Tageslicht ins Innere dringen lässt, und Schlingensief zur Beleuchtung, abgesehen von einigen wenigen Notbeleuchtungen, die im Bunker angebracht sind, lediglich einen Handscheinwerfer einsetzt, der punktuell Akzente setzt, der Film dadurch bisweilen überbelichtet ist, niemals aber die gesamte Szene auszuleuchten vermag.

Die besondere Verwendung des Lichts im expressionistischen Film ist wiederum eine Entlehnung aus dem expressionistischen Theater. Üblicherweise wird die Geburtsstunde des Helldunkel im Theater mit der Inszenierung von Reinhard Sorges „Bettler“ von 1917 zurückgeführt[99], und ist verbunden mit dem Namen Max Reinhardt. Das fortan stilprägende Element des Expressionismus war letztlich die Konsequenz aus Material- und Geldmangel der letzten Kriegsjahre: Das fehlende Dekor wurde durch einen revolutionären Einsatz der neuen Lichttechnik kompensiert. Dies wiederum „bedeutete die visuelle Übertragung des expressionistischen Axioms, das vorschrieb, im Chaos des Universums nur ein Ding zu fixieren und es seinen vermittelnden Beziehungen zu anderen Objekten zu entreißen.“[100]

Der Lichteinsatz bei Schlingensief ist indes nicht mehr der kalkulierte Einsatz wie man ihn nicht nur im expressionistischen Theater, sondern auch in zahlreichen deutschen Stummfilmen, etwa in Murnaus Faust oder in Pabsts Die Büchse der Pandora, findet, zwei Filme, die den Höhepunkt der Verwendung des Helldunkel darstellen, obwohl sie nur noch Elemente des expressionistischen Films aufnehmen, nicht aber mehr selbst als expressionistische Filme bezeichnet werden können. Das Licht in 100 Jahre Adolf Hitler, so sehr es auch an den Deutschen Stummfilm erinnert, entspricht in seiner unkontrollierten Verwendung der außer Kontrolle geratenen Situation, in der sich Hitler mit seinen engsten Vertrauten befindet. Der entfesselten Kamera, so könnte man formulieren, stellt Schlingensief somit das „entfesselte Licht“ gegenüber. Damit macht er Murnaus Faust den Rang um den „Höhepunkt des Helldunkel“, so noch Eisner, streitig.

Die Vorliebe für starke Lichtkontraste, für das Helldunkel, ist jedoch keine Erfindung der Expressionisten, sondern trifft vielmehr die Stimmung der Zeit gegen Ende des Ersten Weltkriegs. Mustergültig kann hierzu Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“[101] gelesen werden, dessen erster Band Ende 1918 erschien. Spenglers Schrift, die bezeichnenderweise trotz heftiger Kritik zu einem Bestseller wurde, ist der Versuch, „Geschichte vorauszubestimmen.“[102] Der Titel dieser Schrift ist zugleich der von Spengler prophezeite Verlauf der okzidentalen Entwicklung. Die Untergangsstimmung, wie sie sich bei Spengler, aber auch den Expressionisten findet, liegt dabei vollkommen im Diskurs der Zeit, sie ist keine exzentrische Ansicht Einzelner. Dieser Stimmung entspringt die besondere Vorliebe für das Helldunkel. Spengler preist in seiner Schrift das Nebelhafte und das geheimnisvolle Helldunkel und besitzt daher eine besondere Vorliebe für die Farbe braun:

„Wie späterhin Hitler, hat Spengler deshalb eine Vorliebe für die braune Farbe - >das Atelierbraun Rembrandts<. [...] Wie alle Deutschen, so behauptet Langbehn, sucht Rembrandt das Melancholische, die dunkle Seite des Daseins, die Dämmerstunde, in der das Dunkle noch dunkler erscheint und das Helle noch heller. Das Helldunkel ist für ihn die typische deutsche Farbe, weil der Deutsche zugleich hart und zart sei!“[103]

Die Untergangsstimmung, die sich gegen Ende des Ersten Weltkriegs in Deutschland ausbreitet und die zugleich mit dem Helldunkel ihre visuelle Umsetzung findet, überträgt Schlingensief in seinem ersten Teil der Deutschlandtrilogie auf das Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Untergangsstimmung ist hier konkret, nahezu greifbar, denn das Ende des Dritten Reiches steht unwiderruflich bevor. Was von der gewaltsamen Expansionspolitik Hitlers übrig geblieben ist, scheint nur noch der auf klaustrophobische Ausmaße eingekreiste Raum des Führerbunkers zu sein, den die alliierten Truppen umgeben.

Die Verbindung von Expressionismus und Nationalsozialismus ist somit keineswegs aus der Luft gegriffen und findet ihre besondere Rechtfertigung durch die zweite frühe und bedeutende Publikation zum deutschen Stummfilm, die eben diese Verbindung bereits im Titel führt: „Von Caligari zu Hitler“ von Siegfried Kracauer.

4.3.2 Kracauers „Von Caligari zu Hitler“

Die große Leistung Kracauer von Kracauers Schrift „Von Caligari zu Hitler“ besteht in dem neuartigen Unternehmen, „mittels einer Analyse der deutschen Filme tiefenpsychologische Dispositionen, wie sie in Deutschland von 1918 bis 1933 herrschten, aufzudecken [...]: Dispositionen, die den Lauf der Ereignisse zu jener Zeit beeinflußten und mit denen in der Zeit nach Hitler zu rechnen sein wird.“[104] Eine solche Analyse sei durchaus berechtigt, denn, so Kracauer, „[d]ie Filme einer Nation reflektieren ihre Mentalität unvermittelter als andere künstlerische Medien“[105].

„Das Cabinett des Dr. Caligari“ bildet schon deshalb einen wichtigen Bezugspunkt, weil mit ihm die Geburtsstunde des expressionistischen Films angesetzt wird. Hierbei ist bezeichnend, dass die Drehbuchautoren Janowitz und Carl Mayer in der Figur des Caligari die Allmacht der deutschen Regierung anprangern wollten, die in jener Zeit die allgemeine Wehrpflicht einführte und sich zu Kriegserklärungen hinreißen ließ:

Im Charakter Caligaris sind diese Tendenzen zu Ende geführt; er versinnbildlicht unbegrenzte Autoritätssucht, die die Macht als solche vergöttert und in ihrem Herrschtrieb alle menschlichen Rechte und Werte unbarmherzig mit Füßen tritt. Cesare, ein bloßes Instrument, ist nicht so sehr der schuldige Mörder als Caligaris unschuldiges Opfer. So jedenfalls faßten die beiden Autoren selbst ihn auf. Dem pazifistisch gesinnten Janowitz zufolgte hatten sie Cesare in der undeutlichen Absicht geschaffen, den Mann aus dem Volke darzustellen, der unter Druck der allgemeinen Wehrpflicht gedrillt wird, zu töten und selbst getötet zu werden.[106]

Dass diese Intention in der Umsetzung verstümmelt wurde, lag an den Änderungen, die von Fritz Lang vorgeschlagen und von Robert Wiene übernommen wurden. Während den Drehbuchautoren ein Film über tatsächliche Gräueltaten vorschwebte, wie sie Janowitz als Offizier im Krieg erfahren hatte, verlagern sich Machtmissbrauch und Gewaltakte unter Wienes Regie in den Fantasiebereich eines geistesgestörten Insassen einer Nervenheilanstalt. Damit verkehrte sich die Intention des Drehbuchs in ihr glattes Gegenteil: „Während die Originalhandlung den der Autoritätssucht innewohnenden Wahnsinn aufdeckte, verherrlichte Wienes Caligari die Autorität als solche und bezichtigte ihren Widersacher des Wahnsinns.“[107]

Ob in seiner ursprünglichen Intention oder in seiner Verkehrung betrachtet, Caligari bleibt für Kracauer Symptom seiner Zeit. Im Sinne der zwei Seiten einer Medaille entspricht der Kritik an der Staatsautorität der Drehbuchautoren in der filmischen Umsetzung die affirmative Haltung zum autoritären Charakter, der nach heutiger Einschätzung maßgeblich zum Ersten Weltkrieg und zu dem, was rückblickend als der „Geist von 1914“ bezeichnet wurde, beigetragen hat. In diesem Sinne versteht Kracauer Caligari als eine Vorahnung Hitlers: „Caligari ist insofern eine sehr spezifische Vorahnung, als er Hypnose anwendet, um sich sein Werkzeug zu Willen zu machen, ein Verfahren, das sowohl seinem Inhalt wie seinem Zweck nach auf jene Manipulation der Seelen vordeutet, die Hitler als erster im Riesenmaßstab praktizieren sollte.“[108]

Schlingensief macht mit dem Titel „Von Caligrai zu Hitler“ ernst. Konsequent katapultiert er die nationalsozialistische Führungsriege in das Helldunkel des Expressionismus, überführt die klaustrophobische Stimmung der Caligariwelt in die Enge eines Bunkers und überträgt die Untergangsstimmung gegen Ende des Ersten Weltkriegs auf die letzten Tage des Dritten Reichs. Als „Aufmarsch der Tyrannen“ könnte man diesen Film bezeichnen, in Anlehnung an ein weiteres Kapitel aus Kracauers Schrift, in dem er auf die tyrannischen Figuren in der Nachfolge des Caligari hinweist: Nosferatu, der tyrannische Statthalter aus Arthur von Gerlachs Vanina, Dr. Mabuse sowie die Tyrannen aus dem Wachsfigurenkabinett. Bei Schlingensief haben sie andere Namen: Hitler, Fegelein, Göring, Goebbels usw.

Wenn Alfred Edel als Göring daher sagt: „Ich will jetzt Reichskanzler werden“, befindet er sich in dieser Aussage in einer deutlichen Parallelität zu der Figur des Irrenarztes und seinem berühmten „Ich muss Caligari werden“.[109]

Dabei geht es Schlingensief jedoch nicht nur darum, einen Film über das Ende des Nationalsozialismus zu drehen. Der Film muss zudem verstanden werden als Kommentar auf und Kritik an dem Neuen Deutschen Film, der einst mit dem Vorsatz antrat, „Filme zu Deutschland zu machen, innovativ zu sein, aber dann wurde er sehr wehleidig.“[110] So gesehen ist Dietrich Kuhlbrodt, der den Goebbels spielt, zuzustimmen, wenn er schreibt: „Schlingensief repariert mit seinen Filmen und insbesondere mit 100 JAHRE ADOLF HITLER den Bruch der deutschen Filmgeschichte“[111], indem er den Neuen Deutschen Film, in dessen Tradition er sich durchaus sieht, mit den bedeutenden Arbeiten vor der Zeit des Nationalsozialismus verbindet.

4.4 Angriff auf den Neuen Deutschen Film

In dem Interviewfilm Christoph Schlingensief und seine Filme weist der Regisseur darauf hin, dass in 100 Jahre Adolf Hitler viel Theaterarbeit eingeflossen sei. Dazu gehört, wie bereits erwähnt, die Bewahrung des Livecharakters durch das Drehen des gesamten Films an einem einzigen Tag. Auch die Schauspieler stammen überwiegend aus dem Theaterbereich und verweigern sich bewusst der Anpassung an das Medium Film, das die Distanz zwischen Schauspieler und Publikum auf visueller Ebene enorm reduziert und übertriebene Gesten, wie sie auf der Bühne notwendig sind, damit auch die Zuschauer in der letzten Reihe sie wahrnehmen können, nicht nur überflüssig macht, sondern als unglaubwürdig erscheinen lässt. Mit dem für Filmschauspieler längst selbstverständlich gewordenen Grundsatz des Unterspielens brechen Schlingensiefs Schauspieler konsequent. Damit wird die Absage an Realismus und Naturalismus erneut unterstrichen, denn gerade hier gilt die reduzierte Darstellungsweise des Unterspielens als Ideal.[112] Gleichviel ist das Unterspielen keineswegs ein in Stein gehauener Grundsatz, sondern abhängig von Epoche und Genre:

So entwickelte beispielsweise der expressionistische Film eine von der allgemeinen Tendenz zum naturalistischen Darstellen abweichende Spielweise, in der die innere Gespanntheit der Figuren durch rhythmisierte Bewegungen ausgedrückt wird.[113]

So ist auch die Körperintensität der Schauspieler ein Verweis auf die Tradition des expressionistischen Films, der seinerseits wiederum wesentliche Impulse vom Theater aufnahm. Gleichzeitig führt der Bruch mit der vertrauten Darstellungsweise dazu, dass der Zuschauer permanent auf den artifiziellen Charakter des Films gestoßen wird. Dazu gehört des Weiteren, dass die Klappen zu Beginn der Szenen in vielen Fällen nicht herausgeschnitten wurden, bisweilen auch Rufe von Schlingensief zu hören sind, etwa „Ruhe da draußen“ oder „Action“. Nicht zufällig oder versehentlich ist an den Bunkerwänden bisweilen auch der Schatten des Mikrophons zu sehen, Handkamera und Mikrophon somit dem konventionellen Verständnis nach völlig amateurhaft eingesetzt. Ferner: Die Szene, in der Fegelein für seinen „Verrat“[114] von Göring, Goebbels und Bormann zusammengeschlagen wird, wiederholt sich, indem das zweite Take, das von dieser Szene angefertigt wurde, unmittelbar an das erste geschnitten wurde.

Diese Art des Filmemachens, die mit aller Deutlichkeit zeigt, was üblicherweise vergessen werden soll - die Anwesenheit einer Kamera, eines Mikrophons und dahinter die Anwesenheit des Regisseurs, der Verweis auf die Klappe, mit der der Schauspieler beginnt seine Rolle zu spielen - , hat die Funktion, den Zuschauer immer wieder darauf hinzuweisen, was der Film tatsächlich ist: etwas Gemachtes. In einem Gespräch mit Alexander Kluge überlegt Schlingensief, ob die Momente vor und nach der Klappe nicht vielleicht sogar den bessere Teil des Films bilden:

Ich habe mich immer gefragt, wie kriege ich den Zustand vor der Klappe eigentlich zu fassen? Wieso ist das vor der Klappe und das nach der Klappe eigentlich der viel bessere Film? Darum ertrage ich auch deutsche Filme nicht mehr im Kino, ich höre immer jemanden schreien: Ruhe, Kinder, wir wollen fertig werden, oder: Achtung, action, das war ganz toll, Ulrike, ein toller Kuß, mach’ das noch mal, ich höre das immer, ich höre das die ganze Zeit. Und warum zeigen sie das dann nicht gleich? Warum müssen sie noch so tun, als wäre das jetzt eine Handlung, die erzählbar ist? Sie können doch gleich das Vorher und Nachher zeigen ...[115]

Für Schlingensief sind das keine bloßen Gedankenexperimente. Er hat genau diesen Zustand vor und nach der Klappe in den Film einbezogen, so dass bisweilen sogar zu erkennen ist, das wievielte Take beim Schneiden verwendet wurde.

Wenn nun auch noch Wenders über den Bildschirm des Fernsehers im Führerbunker flackert wird deutlich, dass 100 Jahre Adolf Hitler auch ein Film über das Filmemachen und insbesondere über den deutschen Film ist, von seinen expressionistischen Anfängen bis hin zum Neuen Deutschen Film, den Schlingensief in seiner Wehleidigkeit kritisiert. Mustergültig für diese Wehleidigkeit gilt ihm Wim Wenders, der in den 70er Jahren als der wichtigste Vertreter des „Münchener Sensualismus“ galt. Wenders führt in seinen Filmen das „Dilemma der modernen Männlichkeit“[116] vor, indem er einige Themen immer wieder neu variiert: die Entfremdung von der Gesellschaft, die Suche nach Identität und neuen Erfahrungen, die Unmöglichkeit echter Liebe und die Allmacht der Unterhaltungskultur. In der filmischen Verarbeitung dieser Themen findet sich bei Wenders immer wieder ein Leiden an der modernen Gesellschaft. Damit ist er von dem ewig unzufriedenen Christoph Schlingensief zunächst gar nicht allzu weit entfernt, allerdings setzt dieser gegen die Langsamkeit und Bitterkeit eines Wenders die Beschleunigung und ein erhebliches Maß an Wut: „[I]ch glaube, daß meine einzige Berechtigung im Moment in der Drastik liegt: 75 Minuten mit der Faust auf die Leinwand.“[117]

Schlingensiefs minimalistische Form der Kritik an Wenders und gleichzeitig dessen Verspottung beschränkt sich im Hitler-Film auf einen einzelnen Satz, den Wenders in Cannes geäußert hat: „Wir können die Bilder der Welt verbessern, und damit können wir die Welt verbessern.“ Ohne jeden weiteren Kontext wirkt der tautologische Satz reichlich naiv. Bereits in der zweiten Minute des Films sehen wir auf dem Bildschirm des durch Montage in den Führerbunker gesetzten Fernsehers diesen kurzen Ausschnitt aus Wenders Rede anlässlich der Entgegennahme des Preises für die beste Regie. Die Zeit ist damit aus den Fugen. Hitler und Wenders? Die Verbindung, die der Film herzustellen versucht, liegt in dem gemeinsamen Wunsch der beiden ansonsten höchst unterschiedlichen Personen, die Welt verbessern zu wollen. Die Analogie entspringt Schlingensiefs idiosynkratischer Reaktion auf Heilsversprechen in der Größenordnung, wie auch Wenders sie macht, wenn er glaubt, mit Filmen, bzw. mit Bildern gleich die gesamte Welt verbessern zu können, während Schlingensief, dessen Aktionen wie die Gründung der Hamburger Bahnhofsmission oder die Container-Aktion bei den Wiener Festwochen ebenfalls auf Veränderung bzw. Verbesserung eines status quo abzielen, nur zu gut weiß, welche Kraftanstrengungen es erfordert, um auch nur kleinste soziale oder politische Veränderungen zu erreichen. Diese Veränderungen im Kleinen machen Schlingensief zu einem politisch und sozial engagierten Künstler, der durchaus Erfolge vorzuweisen hat. Ein Ausspruch wie der von Wenders, der glaubt, allein mit seinen Filmen die ganze Welt verbessern zu können, muss für jemanden wie Schlingensief wie Hohn klingen.

Schlingensiefs Antwort im Film kommt prompt. Wird in 100 Jahre Adolf Hitler das Scheitern der Großmachtsbestrebungen der Nationalsozialisten vorgeführt, fließt mit dem Verweis auf den Weltverbesserungsanspruch von Wenders zugleich die Prognose dessen Scheiterns mit ein. Für einen derart auf politisch-soziale Veränderung hin denkenden und arbeitenden Künstler wie Schlingensief ist es mit Filmen allein nicht getan, schon gar nicht, wenn sie immer wieder in der Resignation verharren.

Aber durch die Montage Wenders/Hitler kritisiert er den Filmemacher nicht nur, er kommentiert dessen Aussage mit filmischen Mitteln sehr geschickt und humorvoll. Dem Satz „Wir können die Bilder der Welt verbessern, und damit können wir die Welt verbessern“ folgen einmontiert zwei Filmklappen, ein kleiner Junge, der eines der Goebbelskinder spielt und, eine Laterne haltend, „Sankt Martin“ in die Kamera singt, wird unterbrochen von zwei Zwischenrufen aus dem Off, „Aus“ und „Ruhe“. Diese nur wenige Sekunden dauernde Montage muss als Kommentar zu Wenders Fernsehauftritt verstanden werden. Die Filmklappen sind wörtlich zu nehmen als „Klappe!“, entsprechend den Kommentaren aus dem Off, „Aus!“ und „Ruhe!“. Wenders naiver Vorstellung von den Möglichkeiten, die Welt zu verbessern, entspricht das Lied vom Heiligen Martin, der Kindern in Deutschland bis heute alljährlich als mustergültiges Beispiel des Weltverbesserers vorgeführt wird, lediglich weil er einem Bettler die Hälfte seines Mantels geschenkt hat.

100 Jahre Adolf Hitler ist somit zugleich ein Appell an die deutschen Filmemacher, den Neuen Deutschen Film aus seiner Misere zu befreien und die Möglichkeiten des Filmemachens neu zu überdenken. Ob die Filme der Deutschlandtrilogie dabei zugleich als Vorbild für eine neue Art des Filmemachens gelten können, ist fraglich. Vergleichbar den Dadaisten geht es Schlingensief mit seinen Filmen viel mehr um eine Kritik am Kulturbetrieb, an einer bestimmten Art, Filme zu machen.

4.5 Die Geburt der Bundesrepublik

Den wohl drastischsten und groteskesten Abgesang auf den Mythos von der Stunde Null hat Heiner Müller mit seiner berühmten Szene DIE HEILIGE FAMILIE in dem Stück „Germania Tod in Berlin“[118] abgeliefert. An Stelle des in der Adenauerzeit so viel und gerne beschworenen Bruchs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit bescheinigt er ein verwandtschaftliches Verhältnis ersten Grades, wenn er die BRD als (Contergan-)Wolf im Schafspelz darstellt, zur Welt gebracht durch Josef Goebbels als Mutter (mit Klumpfuß und riesigen Brüsten, wie es in den Regiehinweisen heißt) und Adolf Hitler als Vater. Als Hebamme dient ihnen Germania, die als Dank für ihre Hilfe anschließend vor eine Kanone gebunden wird. Um das Bild der Heiligen Familie komplett zu machen, lässt Heiner Müller die alliierten Siegermächte als die heiligen drei Könige auftreten, die nach der Geburt in der Position der heiligen drei Affen, die mit ihren Händen Augen, Ohren oder Mund verschließen, ihr „Halleluja! Hosianna!“ für das Kind rufen.[119]

Schlingensief greift diese Szene auf, wenn er Hitler sagen lässt: „Aber das ist doch nur die Heilige Familie, die uns alle überleben wird“, variiert sie aber insofern, als er an Stelle von Hitler und Josef Goebbels deren Frauen die Elternschaft zukommen lässt. Während bei Heiner Müller Goebbels die Rolle der Frau zukommt und ihn daher mit den riesigen Brüsten ein weibliches Attribut zukommen lässt, erhält Eva Braun bei Schlingensief ein männliches Attribut: Nachdem Hitler von Eva Braun ermordet wurde, macht sie sich selbst zum neuen Reichskanzler, indem sie sich das Insigne Hitlers, seinen Schnurbart, aneignet. In dem Irrwitz der Situation im Führerbunker und in aller Konsequenz mit der die nationalsozialistische Ideologie stets vereinfachte, um in irgend einer Weise ein halbwegs kohärentes Weltbild zu schaffen, lässt sich Göring, der zunächst Verrat wittert, durch Bormann von der Rechtmäßigkeit dieses Führerwechsels überzeugen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Als es schließlich zur Trauung zwischen Eva Braun und der hochschwangeren Magda Goebbels durch den als Pfarrer verkleideten Göring kommt[120], geht aus dieser Verbindung ein Kind hervor, keineswegs eine derart entstellte Missgeburt wie bei Müller, sondern eine kleine Kinderpuppe. (Auf ein echtes Baby ist vermutlich aus produktionstechnischen Gründen verzichtet worden.) Magda Goebbels stirbt bei der Geburt, die Ehe ist jedoch bereits vollzogen worden. Als Vaterersatz (oder Mutterersatz?) nimmt sich Martin Fegelein zusammen mit Eva Braun des Kindes an. Damit wird die Geburt der Bundesrepublik nicht so schwarz-weiß dargestellt, wie es bei Heiner Müller der Fall ist, denn wer ist nun eigentlich Vater des Kindes? Sind es die leiblichen Eltern Josef und Magda Goebbels, zwei absolut überzeugte Nazis oder Eva Braun und Martin Fegelein, die bei Schlingensief auf Distanz zum Führer gehen?

Letztgenannte verlassen am Ende des Films gemeinsam den Führerbunker und setzen das Kind in einer Wanne auf dem nahegelegenen Fluss aus. Dazu Eva Braun: „Mein kleiner Moses. Ein Symbol. Für alle Kritiker in der Welt, die es noch nicht verstanden haben: ein Symbol.“ Damit wird die junge, noch unselbständige Bundesrepublik auf die Fahrt geschickt.

Parallel hierzu kann die Szene gesehen werden, in der Magda Goebbels ihre eigenen Kinder tötet. Auffällig hierbei ist Schlingensiefs Verzicht darauf, die Szene ins Groteske zu ziehen. Margit Carstensen als Frau Goebbels bricht hier mit der im Rest des Films stringent vorgeführten überzeichneten Darstellungs- und Sprechweise, die aus dem Theaterbereich stammt, und weist dieser Szene durch eine realistischere, für Filme eher typische Darstellungsweise ein besonderes Gewicht zu. Magda Goebbels Rede in der Situation, da sie ihre Kinder vergiftet, ist ein Verweis auf den Schluss des Films, auf das eine ihrer Kinder, das den Führerbunker überleben wird. Sie gibt die Gründe dafür an, warum ihre Kinder sterben sollen; das Ende des Dritten Reiches unmittelbar vor Augen, tötet sie diese, weil sie deren Reaktion voraussieht. Dabei fungieren die Goebbelskinder als Repräsentanten der durch ihre Vergangenheit belasteten Bürger der künftigen BRD. Magda Goebbels prophezeit die Situation der Adenauer-Ära:

Aus Dankbarkeit, dass ihr euch ruhig und selbstbezichtigend verhalten werdet, werden sie euch schätzen, aber dann werden sie euch kritisieren und einfach nur abtun und später lächerlich machen. [...] Ihr werdet euch zurückziehen und eure Vergangenheit vergessen oder in einer ganz penetranten Art verleugnen.

Damit ist die Situation der kommenden Adenauer-Ära in komprimierter Form im Kern getroffen. Zugespitzt wird diese Kontinuität von Nationalsozialismus in die BRD hinein in der Person des CSU-Politikers Franz Josef Strauß, der die deutsche Bevölkerung immer wieder spaltete und der für viele in seinen Methoden und seiner Wortwahl das Fortbestehen nationalsozialistischer Elemente in die Bundesrepublik hinein verkörperte.[121] Bei Schlingensief taucht er zum Ende des Films im Fernseher des Führerbunkers auf, wo er in angeblich politisch wertneutraler Form den Nationalcharakter der Deutschen zu bestimmen versucht:

Die Deutschen haben immer ihre großartigsten Fähigkeiten bewiesen in Zeiten der Not, des Hungers und des Krieges. Die Leistung der Deutschen, wenn man es einmal politisch wertneutral darstellt, in beiden Weltkriegen und nach beiden Weltkriegen war ungeheuer, unvorstellbar. Hut ab vor dieser Leistung.

An sich sind die Deutschen ein romantisches Volk, aber fangen dann an zu grübeln. Andere sind ein logisches Volk, sind aber im Bereich der Praxis lebensnah. Die Deutschen müssen endlich lernen, dass in diesem Leben nicht alles wie eine mathematische Gleichung aufgeht: zwei mal zwei ist vier. Sie sollen weniger romantisch sein, weniger schwärmerisch sein und sie sollen vor allem weniger ideologieträchtig sein.

Den Kommentar zu den Äußerungen von Strauß bildet die Musik, die unter diesen Fernsehausschnitt gelegt wurde, ein Ragtime, der 100 Jahre Adolf Hitler bereits einleitete und als Gestus im Brecht’schen Sinne verstanden werden kann. Die Musik markiert dabei den Abstand zu den Worten von Strauß. Während dieser dem Zuschauer erklärt, was seiner Meinung nach typisch deutsch sei, wird durch den humoristischen Unterton, den die Musik erzeugt, die Frage umgekehrt: Ist es vielleicht typisch deutsch, immer wieder Leuten zu vertrauen, die vorgeben, große Erklärungsmodelle und Lösungsvorschläge in der Tasche zu haben, oder aber typisch deutsch, zu glauben, man sei selbst im Besitz dieser Patentlösungen und könne nun etwa, wie im Falle Wenders’, mit Bildern die Welt verbessern?

5 Das deutsche Kettensägenmassaker„Willkommen in der Freiheit“

Zu den tiefsitzendsten Traumas der deutschen Geschichte gehört die völlige territoriale Zersplitterung nach dem Dreißigjährigen Krieg, von der Norbert Elias behauptete, sie habe „permanente Spuren im Habitus der Deutschen“[122] hinterlassen. Diese Zersplitterung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, wie es genannt wurde, um zumindest auf semantischer Ebene eine Einheit zu konstruieren, die politisch nicht gegeben war, ließ das Gebilde aus Klein- und Kleinststaaten auch als „Monstrum“ – so der Staatsrechtler Samuel Pufendorf - berühmt werden.

Dieser Metapher aus dem Hause Frankenstein setzt Schlingensief dem wiedervereinigten Deutschland ein anderes Bild aus dem Bereich des Horrorgenres entgegen: das Kettensägenmassaker. Damit vollzieht er die Doppelbewegung von Zusammenfügen und Zerteilen (und im Feuilleton würde man diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen, um von Dekonstruktion zu sprechen): In dem wiedervereinigten Deutschland ist die Tendenz zur gewaltsamen Zerstückelung bereits angelegt, genauer, der Wiedervereinigungsprozess bedeutete die Zerstückelung der ehemaligen DDR bzw. deren Bürger auf politischer, sozialer und identitärer Ebene, ganz nach dem Motto des Films: „Sie kamen als Freunde und wurden zu Wurst.“

Das Drehbuch zu dem Film schrieb Schlingensief, wie so häufig, in nur wenigen Tagen, beginnend unmittelbar nach dem 3. Oktober. Somit ist Das deutsche Kettensägenmassaker ein unmittelbarer Kommentar zur deutsch-deutschen Wiedervereinigung, und Schlingensief „der einzige, der direkt auf das Ereignis reagiert und es direkt als eine Riesenschweinerei charakterisiert.“[123] Was über sein Vorbild Rainer Werner Fassbinder gesagt wurde, gilt damit auch für Schlingensief: „Schnelles Reagieren war ihm wichtiger als sorgfältige Vorbereitung.“[124] Damit gehören wieder einmal Ungenauigkeiten auf verschiedenen Ebenen der filmischen Produktion dazu, ebenso wie die Veränderung des Drehbuchs durch spontane Einfälle und Improvisationen der Schauspieler:

Ein am Text Klebenbleiben fände ich furchtbar, das ist ja auch das, was Film kaputtmacht, vor allem den Neuen Deutschen Film. Der immer zielgerichtet und gebunden ist. Es geht um den Arbeitslosen B. und seine 4mal in der Woche geschlagene Frau, plus den Türken von nebenan. Jetzt baue ich das Drehbuch den Auflagen gerecht. Darf der Türke hören, dass der Deutsche seine Frau schlägt? Ja, er muss es sogar hören, weil er nachher hingeht und die Frau lieben lernt, die arme geschlagene deutsche Frau.[125]

Dass die Schlingensief’sche Art des Filmemachens auch zu Lasten der Kohärenz der dargestellten Geschichte geht, nehmen Schlingensief und sein Team nicht nur in Kauf, es gehört vielmehr dazu.

Im Gegensatz noch zu 100 Jahre Adolf Hitler wurde das DKM in den Feuilletons heftig diskutiert und fand z.T. große Zustimmung. Bei den Hofer Filmtagen bekommt Schlingensief schließlich den Preis für den besten Film zur deutschen Wiedervereinigung. Seit diesem Film hält das Medieninteresse an dem Phänomen Schlingensief an, seine Arbeiten können seither nicht mehr ignoriert werden.

5.1 Sequenzliste

Über Schlingensiefs Filme und Theaterarbeiten wird häufig behauptet, sie würden keine erzählbare Handlung aufweisen.[126] Für einige seiner Arbeiten ist diese Aussage auch durchaus zutreffend, etwa beim Hitler-Film, der nur noch Bruchstücke einer Handlung aufweist, die sich jedoch nicht mehr zu einem geschlossenen, linearen Handlungsstrang zusammensetzen lassen. Von den meisten seiner Filme lässt sich jedoch durchaus von einer Handlung sprechen, wenn auch nicht mehr im konventionellen Sinne. Dass sich die Behauptung von der nicht vorhandenen Handlung dennoch so hartnäckig hält, muss als Symptom verstanden werden. Angefangen beim deutschen Kettensägenmassaker, über Terror 2000 bis zu dem bislang extremsten Beispiel, United Trash, bröckelt bei Schlingensiefs Filmen die Handlung mehr und mehr auseinander, wird zersplittert in z.T. winzige Sequenzen, die bisweilen unlogisch auf einander folgen und dem Zuschauer beim ersten Betrachten der Filme kaum die Chance bieten, deren Aufbau zu erkennen. Die bereits erwähnte Arbeitsweise, die für Veränderungen und Improvisationen offen ist, trägt ihren Teil zur Unübersichtlichkeit und Verwirrung bei. Um einen besseren Überblick über die Handlung des deutschen Kettensägenmassakers zu ermöglichen, der sich andernfalls bei Schlingensiefs Filmen erst nach mehrfachem Betrachten einstellt, soll daher zunächst eine Sequenzliste folgen.

Vorspann 1, Wiedervereinigungsfeier, Brandenburger Tor: Dokumentarische Aufnahmen von der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990, teilweise überblendet durch Aufnahmen einer läutenden Glocke. Das Ende der Rede des Bundespräsidenten Weizsäcker, mit dem anschließenden beiseite gesprochenen Satz „Jetzt muss die Nationalhymne kommen“, lässt den theatralen Aspekt dieser Feier evident werden.

Vorspann 2/Titel: Montage aus Texteinblendungen („Es geschah am 3. Oktober... / Seit Öffnung der Grenzen am 9. November 1989 haben Hunderttausende von DDR-Bürgern ihre alte Heimat verlassen. Viele von ihnen leben heute unerkannt unter uns. / 4% kamen niemals an.“; Titel, Credits) sowie vorweggenommene, für den Zuschauer noch nicht verständliche Einstellungen aus späteren Teilen des Films.

1. Sequenz, Wohnung in Leipzig, 3.10.1990: Clara tötet ihren Ehemann, der zuvor stolz und dabei zugleich sexuell erregt von seiner neuen Anstellung durch einen westdeutschen Unternehmer berichtet.

2. Sequenz, ehemalige Grenze: Auf dem Weg in den Westen zu ihrem Geliebten stößt Clara im Trabi an der ehemaligen Grenze zwischen DDR und BRD auf Grenzsoldaten, denen Mauerfall und Wiedervereinigung offenbar entgangen sind. Als sie davon erfahren entpuppen sie sich als Wendehälse. Eine Grenzsoldatin ruft der weiterfahrenden Clara hinterher: „Glauben Sie mir, ich bin der Letzte, der für die Grenze ist.“

3. Sequenz, Café Porsche: Kaum in Westdeutschland angelangt, hält Clara am Café Porsche an, von wo aus sie ihren Geliebten, Artur, anruft. Während sie telefoniert taucht am Fenster kurz eine Gestalt mit einer grotesken Clownsmaske über dem Kopf auf und wird von Korti, dem Besitzer des Café Porsche, vertrieben. Wie sich später zeigt, handelt es sich bei dieser Gestalt um den debilen Hank.

4. Sequenz, Artur und Clara treffen sich/Artur wird von Hank angegriffen: Auf einem stillgelegten Fabrikgelände findet das langersehnte Wiedersehen zwischen Clara und Artur, den Clara in seinem Verhalten kaum wiedererkennt, statt. Artur hat, um Zeit zu sparen, gleich ein paar Matratzen mitgebracht, auf die er die Geliebte zerrt und zu vergewaltigen droht. Verhindert wird dies nur durch das Auftreten Hanks, der Artur mit einem Stein schwer verletzt. Clara bittet ein im Auto vorbeifahrendes Paar vergeblich um Hilfe, kann Hank jedoch schließlich aus eigener Kraft in die Flucht schlagen.

5. Sequenz, Motel „Deutsches Haus“, Clara bittet um Hilfe: Am Motel „Deutsches Haus“ trifft Clara auf Brigitte, in der sie die Frau aus dem Auto, die sie vergeblich um Hilfe gebeten hatte, wiedererkennt. Auch jetzt ist diese nicht bereit zu helfen oder Clara telefonieren zu lassen, besteht statt dessen darauf, Clara müsse sich zunächst eintragen. Brigittes Schwester, die lesbische Margit, kommt hinzu und nimmt sich ihrer an, allerdings nur, um sie für ihre sexuellen Neigungen zu missbrauchen.

6. Sequenz, Privatzimmer und Metzgerei, Diskussion darüber, was mit Artur und Clara geschehen soll: Alfred, der Kopf der Metzgerfamilie, zu der ebenso Brigitte wie Margit gehören, führt, in Anlehnung an Hitchcocks Psycho, mit verstellter Stimme ein Gespräch mit seinem toten Vater, der von ihm verlangt, Clara zu schlachten. Er wird gestört von Brigitte und deren Mann Dietrich, vor denen Alfred den Vater verborgen hält, so dass sie immer noch glauben, er sei am leben. Zusammen gehen die drei in die Metzgerei, wo sie die Leichen Ostdeutscher zu Wurst verarbeiten. Margit ruft an und bittet um Unterstützung, um Artur zu holen. Brigitte lehnt zunächst ab, woraufhin Alfred wieder zum Vater geht und sich selbst mit verstellter Stimme den Befehl gibt, Margit zu helfen.

7. Sequenz: Margit verabreicht Clara einen Trunk, der diese sexuell gefügig macht, wird bei den Fesselspielen jedoch von Alfred, Dietrich und Brigitte gestört, die sie mit dem Auto abholen.

8. Sequenz, Claras Traum: Unter dem Einfluss des Trankes hat Clara einen Traum, in dem sie von einem Nazi, Margit, Brigitte und einer Person mit der Clownsmaske bedrängt wird, deren Äußerungen um die Mauer und die Wiedervereinigung kreisen. Die kurze Sequenz endet mit der Einspielung eines Satzes von Egon Krenz, dem letzten Generalsekretär der DDR: „Die Tugend an sich ist die, dass man in dieser Welt von heute alles, aber auch alles lassen muss, was Destabilisierung bringt.“

9. Sequenz, Artur ist verschwunden: Angekommen auf dem Industriegelände, finden Alfred, Dietrich, Margit und Brigitte lediglich Innereien vor. Was mit Artur passiert ist, bleibt zunächst unklar.

10. Sequenz, Jagd auf ein ostdeutsches Paar: Während der Rückfahrt begegnet der Metzgerfamilie ein Paar aus der Ex-DDR, im Trabi unterwegs zu Verwandten aus dem Westen. Sie drängen das Auto von der Straße und töten den Mann. Die Frau kann fliehen, wird von Dietrich mit der Kettensäge verfolgt.

11. Sequenz, Clara entkommt: Clara befreit sich aus Margits Wohnung und schlägt, scheinbar immer noch unter dem Einfluss des Rauschmittels, auf ihren Trabanten ein. Hank kommt hinzu. Die beiden stehen sich jedoch nicht mehr als Feinde gegenüber. Wie Kinder beginnen sie miteinander zu spielen.

12. Sequenz, Dietrich tötet die Ostdeutsche: Dietrich kann die ostdeutsche Frau schließlich einholen und tötet sie mit der Kettensäge. Auch ihr Mann wird zerlegt.

13. Sequenz, Clara und Hank: Zwischen Hank und Clara wird eine Liebesbeziehung angedeutet, die jedoch abrupt in ihr Gegenteil umschlägt, als aus der Umarmung Hanks ein Würgegriff wird. Clara wehrt sich und reißt Hank seine Hoden ab.

14. Sequenz, Artur und Johnny im Café Porsche: Entgegen den Zuschauererwartungen lebt Artur noch und gelangt zum Café Porsche, wo er vom Besitzer mit der Kettensäge gejagt und scheinbar nun endgültig getötet wird. Doch der Totgeglaubte aufersteht ein zweites mal und flieht mit dem Pick-up seines Peinigers, der durch den Besuch von Johnny abgelenkt wurde. Johnny zündet sich selbst seine Haare an, schneidet sich die Hand ab und schmiert mit dem blutigen Stumpf ein Peace-Zeichen an die Wand.

15. Sequenz, Clara tötet Margit: Während Brigitte, Alfred und Dietrich sich nach ihrer Rückkehr der Verwurstung ihrer Opfer zuwenden, widmet sich Margit sogleich wieder ihrer vermeintlichen Gespielin Clara, die aber unter der nachlassenden Wirkung der Droge nun zurückschlägt und Margit umbringt, deren Leiche von Alfred, Brigitte, Dietrich und Hank schließlich mit der Kettensäge zerlegt wird.

16. Sequenz, Artur überfährt Brigitte: Der schwer verletzte aber immer noch höchst agile Artur trifft während seiner Fahrt im Pick-up auf Alfred, Brigitte und Dietrich, die ihn wegen des Wagens für Korti, den Besitzer des Café Porsche, halten. Brigitte läuft dem Wagen entgegen und wird überfahren; die Beine werden dabei vom Rest des Körpers getrennt. Eingeblendeter Zwischentitel: DIE ABRECHNUNG. Korti stößt nun tatsächlich zu der Gruppe hinzu, führt mit Brigitte sogar noch ein kurzes Gespräch, bevor sie, nach Aussage Dietrichs, stirbt.

17. Sequenz, Gespräch über Familiengeheimnisse, Ermordung Dietrichs: Da er fälschlicherweise annimmt, Dietrich hätte Brigitte überfahren, plaudert Korti Familiengeheimnisse aus. Demnach hat Dietrich 1962, bevor die Mauer dies verhindern konnte, versucht, den debilen Hank in die BRD zu schaffen, um ihn loszuwerden. Denn Hank ist als Sohn das inzestuöse Produkt von Brigitte und ihrem Bruder Dietrich, während der verrückte Johnny der Sohn von Alfred und dessen eigener Tochter Margit sein soll. (Erst an dieser Stelle werden die verwandtschaftlichen Verhältnisse der Metzgerfamilie für den Zuschauer ersichtlich.) Immer noch in dem Glauben, Dietrich sei Schuld an Margits Tod (die übrigens so tot dann doch wiederum nicht ist, da sie in dem Streitgespräch noch immer Kommentare abzugeben im Stande ist), zersägt Korti Dietrichs Kopf mit der Kettensäge.

18. Sequenz, Jagd auf Clara, : Während Alfred seinen toten Vater aufsucht und ihn zur Flucht auffordert, da die Ossis kommen, flieht Clara vor dem innereienverlierenden Artur. Sie treffen auf Hank, der zunächst mit der Kettensäge auf Artur losgeht, anschließend Clara verfolgt. Die Jagd nimmt ihr vorläufiges Ende, als sie auf Alfred und den toten Vater, von dem nicht mehr als ein Skelett übrig ist, stoßen. Hank, der Alfreds Vater ebenfalls noch für lebendig hielt, ist entsetzt und verspricht einen Schauprozess anzuzetteln – J’accuse. Dann jagt er wieder hinter Clara her, die sich auf den vorbeifahrenden Pick-up rettet. Im Auto sitzt jedoch Alfred, am Steuer daneben der nicht totzukriegende Artur. Mit Clara als Beute auf der Ladefläche fährt der Wagen an Johnny vorbei, der „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei“ singt, sowie an der zerteilten und „Die Gedanken sind frei“ singenden Brigitte.

5.2 Das Staatstheater am Brandenburger Tor

Vergleichbar der Gemeinschaftsproduktion Deutschland im Herbst, zu der sich 1978 mehrere deutsche Regisseure zusammenfanden, um möglichst schnell auf die angeheizte Stimmung nach der Schleyerermordung reagieren zu können, beginnt der Film dokumentarisch. War es beim ersten die Beerdigung Hans-Martin Schleyers, die mitgefilmt, gleichzeitig aber auch optisch kommentiert wurde, dadurch dass die Kamera vom Festzug etwa auf die ESSO-Werke schwenkte oder die Allgegenwart der Staatsmacht gezeigt wurde und so bestimmte Assoziationen hervorgerufen werden sollten, beginnt Das deutsche Kettensägenmassaker mit Bildern der Wiedervereinigungsfeier vom 3. Oktober 1990 am Brandenburger Tor, die von Schlingensief durch Überblendung mit Bildern einer läutenden Glocke ihren Kommentar finden: In der Feier zur Wiedervereinigung ertönt die Totenglocke für die Bürger der ehemaligen DDR. Der eigentliche Clou dieser Eingangssequenz von über zweieinhalb Minuten liegt jedoch darin, dass Schlingensief von der Feier gerade jenen Ausschnitt zeigt, in dem Bundespräsident Richard von Weizsäcker am Ende seiner Rede, durch das Mikrophon unbeabsichtigterweise deutlich hörbar, sagt: „Jetzt muss die Nationalhymne kommen.“ Dieser Satz im Anschluss der überaus pathetischen Rede Weizsäckers, lässt evident werden, dass es sich hier vor allem um eines handelt: um eine Inszenierung, die reibungslos Ablaufen muss; die Feier ist ein riesiges Theaterstück, bei dem sich die politische Elite Deutschlands als Laiendarsteller entpuppt. Denn die ergreifenden Worte der Rede des Repräsentanten des wiedervereinigten Deutschlands wollen so gar nicht zu der vorrangigen Besorgnis um die lückenlose Abfolge der Feier passen. Es deutet vielmehr alles darauf hin: Show must go on. Auch darin liegen deutliche Parallelen zu Deutschland im Herbst, wo die Beerdigung von Hans-Martin Schleyer als ein „bis ins Detail inszenierte[r] Staatsakt“[127] gezeigt wird.

Der winzige Inszenierungsfehler des Bundespräsidenten bei der Wiedervereinigungsfeier lieferte Schlingensief nach eigener Aussage die Idee zum zweiten Teil seiner Deutschlandtrilogie: „Das ganze Geheuchle dieser Heuchelmaschine. Da, in dem Moment, dachte ich, das deutsche Kettensägenmassaker, das müsste jetzt kommen.“[128] Und dann kommt es auch. Unter Einsatz recht düsterer Musik wird der Zuschauer durch Texteinblendungen informiert:

Seit Öffnung der Grenzen am 9. November 1989 haben Hunderttausende von DDR-Bürgern ihre alte Heimat verlassen. Viele von ihnen leben heute unerkannt unter uns.

4 Prozent kamen niemals an.

Was mit diesen 4 Prozent geschah, zeigt der Film in den nächsten 60 Minuten.

5.3 Die Wiedervereinigung als Horrorfilm?

Dass Schlingensief in Interviews gerne auch mal Herschell Gordon Lewis zu einem seiner Vorbilder erklärt[129], hat zum Teil sicherlich mitunter strategische Gründe. Aus seiner Ablehnung den betont anspruchsvollen Filmen gegenüber, sympathisiert er mit jenen Genres, die von bürgerlich-konservativer Seite entweder erst gar nicht wahrgenommen oder grundsätzlich abgelehnt und abgewertet werden. Dazu zählt neben der Pornographie vor allem der Horrorfilm und innerhalb des Horrorfilms insbesondere das Subgenre Splatter[130]: „Der Splatterfilm dürfte das mit Abstand am übel beleumundetste Genre der gesamten Filmgeschichte sein, Hardcore eingeschlossen.“[131]

Der Beginn des Splattersfilms wird gerade an dem Namen Herschell Gordon Lewis festgemacht. Einst Englischprofessor, dann Pornofilmer, drehte er 1963 Blood Feast, der heute als erster Splatterfilm überhaupt gilt. Splatter zeichnet sich durch die möglichst nah und detailliert dargestellte Zerstörung des Körpers aus. Wo zuvor nur angedeutet wurde, um den Schrecken im Kopf des Zuschauers entstehen zu lassen, oder aber der Körper unversehrt blieb, richtet Splatter den Blick auf die Zerstörung. Für die Bewertung von Splatter gilt bis heute, dass die detaillierte Darstellung von Gewalt aus der Handlung heraus motiviert sein muss und nicht um ihrer selbst Willen gezeigt wird, wie es für Exploitation-movies kennzeichnend ist. Was Herschell Gordon Lewis anbelangt, so wird bei ihm bis heute eher vergeblich nach Gründen gesucht, die seine Gewalteskapaden legitimieren könnten.

Wenn Schlingensief dennoch auf ihn verweist, zeigt das einerseits seine Affirmation zu Genres der Subkultur, andererseits seinen Wunsch, sich von dem Kanon anerkannter Filme und Filmemacher zu befreien und entsprechend der Art seiner Filme auf andere Traditionslinien zu verweisen. Schlingensief sagt jedoch von sich selbst: „Ich bin kein Trash- und Splatterfan oder – regisseur. Es kommt mir da eher auf die sportliche Veranstaltung an.“[132]

Der Film, der dem DKM als Vorbild diente, ist das vielgescholtene The Texas Chainsaw Massacre des ehemaligen Dokumentarfilmers Tobe Hooper. The Texas Chainsaw Massacre, von der Fangemeinde gerne als TCM abgekürzt, gilt bis heute als Musterbeispiel des blutrünstigen Splatterfilms und wird von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften immer wieder gerne zitiert. Auch SPIEGEL-Journalist Claudius Seidl, der die Rezension zu Schlingensiefs DKM schreibt, weiß über das Vorbild aus den Staaten zu berichten: „Der schlimmste unter den amerikanischen Schockern heißt The Texas Chainsaw Massacre[133].

Der gängigen Meinung zum Trotz ist das TCM, wenn man einmal bereit ist, es tatsächlich anzusehen und nicht meint, bereits mit dem Titel alles zu wissen, erstaunlich blutleer und in seiner Gestaltung durchaus originell. Erzählt wird die Geschichte der jungen Sally Hardesty, die zusammen mit ihrem an den Rollstuhl gefesselten Bruder Franklin und drei Freunden im Kleinbus in einen abgelegenen Teil von Texas fährt, wo es auf einem Friedhof zu Grabschändungen gekommen ist. Sie wollen prüfen, ob auch die eigenen Familiengräber davon betroffen sind. Unterwegs nehmen sie einen Anhalter mit, den sie jedoch schnellstmöglich wieder aus dem Bus werfen, als er mit einem Messer zu hantieren beginnt, sich selbst die Hand aufschneidet und schließlich Franklin verletzt. Über Nacht machen die Jugendlichen Station in einem alten, verlassenen Familienanwesen der Hardestys. Nicht weit davon entfernt liegt ein altes Farmhaus, in dem nicht nur der Anhalter lebt, sondern neben dem mumienhaften Großvater auch noch der geistig zurückgebliebene Maniac Leatherface, dem die Jugendlichen nach und nach zum Opfer fallen. Letzte Überlebende ist schließlich Sally, die vor dem kettensägenschwingenden Leatherface in eine Tankstelle flüchten kann. Der Tankwart gehört jedoch selbst zu der degenerierten Familie und überwältigt Sally, die nun in dem Farmhaus von der arbeitslosen Metzgerfamilie gefoltert wird und vom Grandpa der Familie mit dem Hammer getötet werden soll. Der hat dazu jedoch nicht mehr die Kraft, lässt den Hammer statt dessen mehrfach fallen, so dass Sally die dabei entstehende Unruhe zur Flucht nutzen kann und der Verfolgung durch Leatherface dank einem vorbeifahrenden Auto entkommt.

Tobe Hooper und sein Co-Autor Kim Henkel bauen die Geschichte um einen True-Crime-Stoff auf, der bereits Hitchcock als Vorlage zu Psycho diente. Der nekrophile Farmer Ed Gein erlangte 1957 traurige Berühmtheit, als die Polizei eine ausgeweidete Frauenleiche bei ihm fand sowie eine ganze Reihe menschlicher Körperteile, die ihm als Innendekoration, Kleidung oder Masken dienten. Hooper und Henkel verlegten die Geschichte nach Texas, dem konservativsten Bundesstaat der USA. Die den Fortschritt symbolisierenden Jugendlichen wirken auf die Farmerfamilie, die durch technische Innovationen arbeitslos geworden ist, als Bedrohung und Zeichen des gesellschaftlichen Niedergangs: „Wo vollautomatische Luftdruckgewehre eine ganze Generation ehemaliger Tierschlächter auf die Straße setzen, bleibt den nunmehr Arbeitslosen als Rache nur noch die Anwendung ihres Berufs auf die Schuldigen an ihrer Misere.“[134]

The Texas Chainsaw Massacre dient Schlingensief nur als grobe Vorlage für seinen eigenen Film. Der debile Hank weist einige Gemeinsamkeiten mit Leatherface auf, Korti, der Besitzer des Café Porsche, kann als Entsprechung zu dem Tankwart gesehen werden, ebenso wie sich zwischen Sally und Clara einige Parallelen nachweisen lassen. Von der Handlung bleibt nur das Grundgerüst übrig, eine Metzgerfamilie, die Menschen abschlachtet und zu Wurst verarbeitet. Tatsächlich muss Schlingensief bei einem Interview zugeben, dass er The Texas Chainsaw Massacre nur sporadisch kenne.[135] Er kokettiert sicherlich auch mit dem üblen Ruf, den dieser Film genießt, übernimmt aber in der Hauptsache vom Original vor allem das Bild des Kettensägenmassakers (das, wie bereits bemerkt, bei Hooper eher im Titel geführt als im Film detailliert ausgebreitet wird) sowie die apokalyptische Atmosphäre des Films. Denn auch wenn es Sally gelingt, der Schlachterfamilie zu entkommen: „Die Situation ist hoffnungslos, das letzte Bild zeigt Leatherface, wie er den Sonnenuntergang der Menschheit mit hocherhobener Kettensäge begrüßt.“[136] Die Bedrohung wird am Schluss des Films nicht beseitigt, man kann ihr nur noch vorübergehend entkommen. Schlingensief macht dies in seiner Adaption noch deutlicher. Auch hier entkommt die weibliche Protagonistin zunächst scheinbar der Kettensäge durch ein vorbeifahrendes Auto. In dem Auto sitzen jedoch Alfred, der Kopf der Metzgerfamilie, und ihr ehemaliger, nicht tot zu kriegender Liebhaber Artur. Für Clara gibt es somit kein Entkommen, sie ist wieder in den Fängen der Schlächter. Johnny schreit ihnen hinterher, „Alles hat ein Ende nur die Wurst hat keins“, womit klar wird, dass die „Verwurstung“ der Ostdeutschen auch in Zukunft weitergehen wird.

Mit diesem Schluss bewegt sich Schlingensief durchaus in der gängigen Machart des Horrorfilms der letzten Jahrzehnte:

Während in den Horrorfilmen vor 1960 die Bedrohung am häufigsten von der Wissenschaft ausging, zum Beispiel in den Frankenstein-Filmen, so dominiert seit PSYCHO (1960) und PEEPING TOM (1960) der Psychopath. Ein noch wesentlicherer Wandel hat sich in der Erzählstruktur ergeben. Die Zerstörung der Bedrohung und die Herstellung von Stabilität ist nicht mehr die Regel. Die geschlossene Welt des „secure horror“ hat sich in die offene des „paranoid horror“ verwandelt.[137]

Dennoch wäre es falsch, Das deutsche Kettensägenmassaker als Horrorfilm zu klassifizieren, da die damit verbundene Erwartungshaltung nur enttäuscht werden kann. Zu durchsichtig und übertrieben sind jene Elemente, die den Horror- bzw. Splatterfilm auszeichnen, eingesetzt. Es handelt sich vielmehr um eine Farce auf die Wiedervereinigung, die sich der Form des Horrorfilms bedient, ohne diese ernsthaft einzuhalten. Folgerichtig bezeichnet Schlingensief das DKM in Hinblick auf die Szenen, in denen Alfred mit verstellter Stimme mit seinem toten Vater spricht, als „Psycho für Arme“[138]. Und auch die Sequenz 1, in der Clara ihren Ehemann absticht, enthält ironische Anspielungen auf Psycho. Clara wird zunächst nur von hinten gezeigt. Die Musik hierbei, die eher einer Geräuschkulisse gleicht, lässt sie als Bedrohung erscheinen, und die Perücke, die sie trägt, erinnert an eben jene Perücke, die Norman Bates trägt, wenn er als seine eigene Mutter verkleidet zum Mörder wird. Auch das Messer, mit dem Clara ihren Mann ersticht, spielt auf Psycho an. Ebenso ist die subjektive Kamera, die ihre Position einnimmt, wenn sie ihren Mann immer wieder beobachtet, typisch für Horrorfilme. Die Bedrohung selbst wird nicht gezeigt, um die Fantasie des Zuschauers anzuregen, aber man sieht durch die Augen der bedrohlichen Person auf das Opfer. Nachdem die Erwartungen durch diese Anspielungen hochgeschraubt wurden, werden sie ebenso schnell wieder zerstört. Psycho, dieser Klassiker des Horrorfilms, wird lediglich zitiert, um anschließend die Erwartungen des Zuschauers von Anfang an zu durchbrechen und zu zeigen, dass es dem Regisseur nicht darum geht, einen Horrorfilm zu drehen. Was kommt, ist eben „Psycho für Arme“, was spätestens dann klar wird, wenn der berühmte Mord unter der Dusche nicht stattfinden kann, weil die Verhältnisse in Ostdeutschland so ärmlich sind, dass die Badewanne zur Toilette zweckentfremdet wurde. Das bewahrt Claras Ehemann zwar nicht davor, doch noch erstochen zu werden, doch als man anschließend erstmals Claras Gesicht sieht und sie die Perücke absetzt, passt ihre Erscheinung überhaupt nicht zu einem Psychopathen nach Art eines Norman Bates. Sie übergibt sich sogar angesichts der blutigen Tat, die sie gerade verübt hat.

Indem sich Schlingensief immer wieder beim Horrorgenre bedient, es gleichzeitig aber auch karikiert, kann er auch die Toten nach belieben wieder auferstehen lassen. Für Kultfiguren des Horrorfilms, wie Michael Myers aus Halloween, Jason Voorhees aus Freitag der 13. oder Freddy Krueger aus der Nightmare on Elm-Street -Reihe, gilt, dass eine Fortsetzung grundsätzlich immer möglich ist, ganz gleich wie unwahrscheinlich dies auch sein mag, angesichts der Art und Weise, wie die Horrorgestalt am Ende des letzten Films ins Jenseits befördert wurde. In Artur kann durchaus eine Parodie auf solche Endlos-Auferstehungen in beliebten Horrorfilmreihen gesehen werden, denn er wird insgesamt dreimal derart brutal zugerichtet, dass er vom Zuschauer für tot gehalten wird, dann aber plötzlich wieder quicklebendig aufersteht und trotz des Verlustes einiger innerer Organe weiter durch den Film geistert. Ähnlich verhält es sich mit Brigitte, die zweigeteilt auf der Straße liegend und von Korti für tot erklärt, dann doch noch an dem anschließenden Familiengespräch teilhat und zum Schluss des Films noch einmal „Die Gedanken sind frei“ singt, während der Pick-up mit Clara auf der Ladefläche an ihr vorbeifährt.

Somit erweist sich Schlingensief als Regisseur, der mit den Regeln des Horrorgenres durchaus vertraut ist, andererseits jedoch nicht bereit ist, sie einzuhalten, sondern sie vielmehr parodistisch einsetzt:

Was das Grauen angeht - ich finde das lustig. Mir ist der Horroraspekt gar nicht wichtig. Die Musik, die wir jetzt benutzen, macht den Film zwar etwas bedrohlicher. Aber wenn dann verfolgt und gesägt wird, kippt es ins Rockige, fast wie in Easy Rider.[139]

5.4 Die Wiederherstellung des sinnlichen Krieges

Erstaunlich am DKM ist, dass die überspitzte Darstellung, die Überzeichnung der negativen Seiten des Wiedervereinigungsprozesses, die Schwarzmalerei des ewig unzufriedenen Schlingensief letztlich gar keine Übertreibungen sind. Zumindest nicht, wenn man als Zweitlektüre Arbeiten der führender Sozialwissenschaftler auf dem Gebiet der deutsch-deutschen Wiedervereinigung heranzieht. Schon die erste umfassende und grundlegende Auseinandersetzung mit der Vereinigungspolitik trägt den charakteristischen Titel „Kolonialisierung der DDR“[140]. Das Fragezeichen, das zunächst noch hinter dem Titel stehen sollte, musste während der Entstehung der Publikation weichen, als sich im Entstehungsprozess der Analysen der Titel „von einer wissenschaftlichen Provokation zu einer empirisch belegten Gewißheit gewandelt“[141] hat. Das Vorwort des Sammelbandes beginnt mit folgenden Sätzen:

Das Buch und die ihm zugrundeliegenden Forschungen sind ein Projekt wider die Fatalität des Einigungsprozesses. Wir bestreiten, daß dessen in hohem Maße katastrophaler Verlauf als schicksalhaft hingenommen werden muß, wie die konservative Legendenbildung uns seit fünf Jahren unaufhörlich zu suggerieren versucht – von Schäuble (prototypisch in seinem Selbstrechtfertigungsbuch „Der Vertrag“, 1991) bis de Maizière: „Mehr war nicht erreichbar.“[142]

Beachtlich ist, neben dem totalen Versagen, das den beteiligten Politikern und Wirtschaftsleuten attestiert wird, die bildhafte Sprache, in der über die Wiedervereinigung geschrieben wird. Sie ist durchdrungen von den Isotopien Gewalt und Krieg. Neben dem dominierenden Begriff der Kolonialisierung, der die Beiträge des Buches durch die Unterscheidung von „Kolonialisierung der Wirtschaft“ und „Kolonialisierung der Menschen“ gliedert, ist auf der ersten Seite des bereits zitierten Vorworts u.a. die Rede vom „katastrophalen Verlauf“, der „suizidartigen Angliederung“, dem „Vereinnahmungsprozeß“, der „untergegangenen Gesellschaft“, der „Bedrohung der Vereinigung“, der „Inkorporation der DDR“, der „Unterwerfung der Gesellschaft“, sowie dem „Heer der konservativen Akteure“.

Die eindeutige Absicht hinter der Durchsetzung des Textes mit Metaphern dieser Art, ist der Versuch, hinter dem Schleier dessen, was euphemistisch als Wiedervereinigung bezeichnet wird, die gewaltsame Dimension der Ereignisse freizulegen:

Löst man den Begriff aus seiner Fixierung auf die weltweite europäische Expansion vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, kann der Prozeß der Vereinnahmung der ehemaligen DDR treffend als Kolonialisierung auf den Begriff gebracht werden; als politische, ökonomische und kulturelle Dominanz eines gesellschaftlichen Systems über ein anderes.[143]

Alternativen, wie etwa das Fortbestehen der DDR,[144] wurden ebenso ausgeräumt, wie eine Überarbeitung der (westdeutschen) Verfassung, die von ihren Vätern ausdrücklich als „Grundgesetz“ bezeichnet wurde, um damit die provisorische Funktion deutlich werden zu lassen, bis zur Wiedervereinigung eine Verfassung entstehen sollte, die, so der Art. 146, „vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Da diese Volksabstimmung trotz Wiedervereinigung nicht stattfand, weil die Verfassungsjuristen in Leipnizscher Manier glaubten, bereits mit der besten aller Verfassungen zu leben, versetzt Schlingensief das vergrößerte Deutschland folgerichtig in einen rechtlosen Zustand. Das völlige Fehlen einer Ordnungsmacht, die sich zur Hilfe rufen ließe, macht den Zustand der Anarchie deutlich.

In Umkehrung des berühmten Clausewitzschen Mottos lässt sich hier von der Wiedervereinigungspolitik als der Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sprechen. Auch Baudrillard mit seinem Postulat vom Verschwinden der Realität ließe sich heranziehen. Der kriegerische Aspekt der Wiedervereinigung ist auf der Ebene der unmittelbaren Wahrnehmung verschwunden zugunsten einer Hyperrealität, die zwar noch Zeichen produziert, die jedoch alle Hinweise auf die Gewalttätigkeit des Zusammenschlusses ausgelöscht haben. So präsentiert sich der Wiedervereinigungsprozess als ein Ereignis, das im Wesentlichen das Ergebnis von Verträgen und Verhandlungen hinter verschlossenen Türen gewesen ist und somit keine sinnlich wahrnehmbaren Bilder produzierte, wie es sie beim Mauerfall noch gab. Schlingensief versucht nun die Wiedervereinigung ihrer Abstraktion zu entreißen und ihr eine sinnlich wahrnehmbare Dimension zu verleihen: die Wiedervereinigung als Gewaltakt, als Kettensägenmassaker. Wenn daher im dritten Teil der Deutschlandtrilogie, Terror 2000, Margret Körn sagt, „Ich will Krieg“, ist dieser Wunsch zur offenen Kriegsführung vom Regisseur Schlingensief durchaus positiv gemeint. In einem Interview zum DKM sagt Schlingensief, es sei ihm wichtig, „dass der Krieg auch endlich wieder offen ausgetragen wird.“[145] Den glatten Bildern einander Hände schüttelnder Politiker begegnet Schlingensief daher mit Gewaltbildern, die all das zum Ausdruck bringen, was zwischen dem 9.11. 1989 und dem 3.10.1990 nicht sichtbar wurde.

Mit anderen Worten, wenn Schlingensief den Wiedervereinigungsprozess als Kettensägenmassaker darstellt, befindet er sich sowohl in der Drastik seiner Darstellung (der Zurschaustellung von Gewalt und Gemetzel an Ostdeutschen), als auch in seinem Gesamturteil zur Wiedervereinigung (die Verwurstung der DDR) in sicherer Nähe zu den auf diesem Gebiet arbeitenden Sozialwissenschaftlern.

Der Hauptunterschied: Schlingensiefs Arbeit erscheint vier Jahre früher, ist dafür jedoch weniger differenziert, verständlicherweise. Gerade das kritisiert TAZ-Redakteurin Ute Thon:

Schlingensief hat die provozierend-boshafte Idee, den schwelenden „Ostler“-Haß in seiner ganzen Primitivität ans Licht zu zerren, zugunsten sehr oberflächlicher Gags verschenkt. Genaues Hinsehen und -hören hätten ihn spitzfindigere ostdeutsche Charakteristika finden lassen als nur den wenig überzeugend sächselnden Vollbart-Trabi-Fahrer.[146]

Es wäre dagegenzuhalten, dass Schlingensief sehr gründlich hingesehen haben muss, andernfalls wäre sein derart harsch ausgefallenes Gesamturteil, dass sich im Nachhinein in der Gesamtbeurteilung so überraschend genau mit den Ergebnissen empirischer Untersuchungen deckt, nichts weiter als ein Zufallstreffer. Die Leistung des deutschen Kettensägenmassakers besteht vielmehr gerade darin, dass Schlingensief die Komplexität der Ereignisse mit all ihren Verschleierungstaktiken der beteiligten Politiker, Wirtschaftsleuten usw. auf einen Grundnenner reduziert und diesen übersetzt in ein einzelnes intensiv vorgeführtes Bild, das im Film über 60 Minuten hinweg ausgebreitet wird: die Wiedervereinigung als Abschlachtung und Verwurstung der DDR. Hierfür ist es ebenso unumgänglich wie vorteilhaft, die Ereignisse zu vereinfachen und Ost- und Westdeutsche klischeeartig darzustellen.

Das Ergebnis muss man keineswegs mögen, eines ist jedoch gewiss: Wer Das deutsche Kettensägenmassaker gesehen hat, wird Schlingensiefs Metapher zur Wiedervereinigung so schnell nicht mehr los werden, zu deutlich wird das Bild entfaltet, das sich dem Zuschauer bereits mit dem Titel aufdrängt. Damit ist dieser Film vermutlich einer der wirksamsten und nachhaltigsten filmischen Beiträge zur deutschen Geschichte überhaupt. Wenn Schäuble daher sagt, „Ich habe den Einigungsvertrag verhandelt. Ich frage mich auch: Hätte ich mehr dazu beitragen können, daß die epochale Bedeutung dieses Ereignisses den Deutschen spürbarer wird?“[147], kann er beruhigt werden mit dem Hinweis, Schlingensief habe dies für ihn erledigt.

5.5 Die Katastrophe und ihre Chance

Trotz Schlingensiefs vehementer Bekundung zur Einfachheit des Films, zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass der Regisseur auf etwas subtilerer Ebene ein sehr komplexes Bedeutungsgeflecht in den Film eingearbeitet hat. Es sind versprengte Hinweise intertextueller Art, die die Rezipientenposition immens stärken, insofern, als sich der Zuschauer nur durch enormes Vorwissen oder die Bereitschaft zu weiteren Lektüren diese zusätzliche Bedeutungsebene erschließen kann.

Ich möchte ausgehen von einem Satz, der in der Traumsequenz (Sequenz 8) geäußert wird: „Die eigene Brust: das ist, wie einst in der Thebais, das Zentrum der Wüsten- und Trümmerwelt. Hier ist die Höhle, zu der die Dämonen andrängen.“ Obwohl aus dem Film nicht hervorgeht, woher diese Sätze stammen, möchte man sie keineswegs Schlingensief selbst zuschreiben. Es handelt sich allem Anschein nach um ein Fremdzitat, das sich weder von selbst versteht, noch durch den Kontext der Szene unmittelbar sinnvoll erscheint. Es sind nebulöse Sätze, mystisch, bedeutungsschwer, aber aus sich heraus auch kaum verständlich. Sie fordern zur Eigenaktivität des Zuschauers heraus, um diese von Schlingensief gelegte Spur verstehen zu können.

Bei dem Zitat handelt es sich um Sätze aus dem letzten Absatz des Essays „Über die Linie“ von Ernst Jünger, geschrieben 1950, um die Umbruchssituation zu erklären, die nach 1945, nicht nur in Deutschland, eingetreten ist. Die Linie, auf die im Titel verwiesen wird, ist die Nulllinie zwischen den alten Werten vor 1945 und den neuen Werten, die noch im Entstehen sind. Durch die Entwertung früherer Werte (nicht nur denen des Nationalsozialismus’, sondern auch etwa der Aufklärung und des Humanismus’) ist ein Vakuum entstanden, eine Phase des Nihilismus angebrochen. Mit dem Verweis auf Nietzsche betrachtet Jünger den Nihilismus nicht als grundsätzlich negativ, sondern als ein Durchgangsstadium zu neuen, besseren Werten:

Der Nihilismus wird also nicht als Ende angesehen, sondern vielmehr als Phase eines ihn umfassenden geistigen Vorgangs, wie sie nicht nur die Kultur in ihrem geschichtlichen Verlauf, sondern auch der Einzelne in seiner persönlichen Existenz in sich zu überwinden und auszutragen oder vielleicht auch wie eine Narbe zu überwachsen vermag.[148]

Die Phase des Nihilismus ist somit ein gefährliches Übergangsstadium, das vor allem in Krisenzeiten entsteht und dazu verleiten kann, sich umso eindringlicher an alte Werte zu klammern, denn in der Krisenzeit selbst fehlt die Möglichkeit zur Reflexion: „Diesseits und jenseits der Katastrophen mag der Blick sich auf die Zukunft richten und mag die Wege übersinnen, die dorthin führen – in ihrem Wirbel aber reagiert die Gegenwart.“[149] Die Katastrophe, die stets „von pessimistischen, insbesondere von kulturpessimistischen Strömungen umringt“[150] ist, ist somit Chance und Gefahr zugleich.

Die Parallelen zu der Situation nach dem Zusammenbruch des Ostblocks sind unübersehbar. Aus der übersichtlichen Ordnung einer zweigeteilten Welt wird 1989/90 die von Habermas auf den Punkt gebrachte neue Unübersichtlichkeit, die den Kapitalismus zum Alleinherrscher erklärt, der ohne Alternative bzw. Feindbild jedoch erheblich an Konturen einbüßt. 1990 ist somit auch für Deutschland das Jahr, an dem wieder eine Linie überschritten werden muss, diesmal sowohl im zeitlichen als auch im geographischen Sinne, und die Werte neu justiert werden müssen. Die Gefahr besteht jedoch darin, an Stelle des Optimismus den Defätismus zu setzen. Wenn dies geschieht, so zeigt Schlingensief, wird die Wiedervereinigung zum Kettensägenmassaker. Ernst Jünger schreibt über ebenjene Gefahr folgendes:

Der Widerspruch zum Optimismus ist vielmehr der Defaitismus, der heute ungemein verbreitet ist. Man hat dem nichts mehr entgegenzusetzen, was man kommen sieht, weder an Werten noch an innerer Kraft. In dieser Stimmung findet die Panik keinen Widerstand; sie breitet sich wie ein Wirbel aus. Die Bosheit des Feindes, das Schreckliche der Mittel scheinen sich im gleichen Maß zu steigern, in dem im Menschen die Schwäche wächst. Zuletzt umgibt ihn der Terror wie ein Element.[151]

Der Essay endet mit einer pathetischen Aufforderung an jeden Einzelnen, für sich selbst, aus der eigenen Brust heraus, den Nihilismus zu überwinden, um auf diese Weise aus der Trümmerwelt der früheren Werteordnung zu höheren Werten zu gelangen:

Die eigene Brust: das ist, wie einst in der Thebais, das Zentrum der Wüsten- und Trümmerwelt. Hier ist die Höhle, zu der die Dämonen andrängen. Hier steht ein jeder, gleichviel von welchem Stand und Range, im unmittelbaren und souveränen Kampfe, und mit seinem Siege verändert sich die Welt. Ist er hier stärker, so wird das Nichts in sich zurückweichen. Es wird Schätze, die überflutet waren, auf der Strandlinie zurücklassen. Sie werden die Opfer aufwiegen.[152]

Das deutsche Kettensägenmassaker zeigt Deutschland in der Trümmerwelt des Nihilismus. Die Entsprechung hierzu ist der wiederholt vorkommende Satz „In einer Zeit, in der alles möglich ist (alles Wurscht ist), ist es egal, ob etwas gut oder schlecht ist“. In der Katastrophe haben die alten Werte keine Gültigkeit mehr. Damit verschwimmen auch die Kategorien gut und schlecht, zumal wenn der Kapitalismus alle ethischen Implikationen durch Kosten-Nutzen-Kalkül ersetzt. Es geht nicht mehr darum, was ethisch vertretbar ist, sondern was möglich ist und Gewinn verspricht, so wie etwa die Verwurstung der Ostdeutschen. In dieser Situation bekommt auch der Text des im Film immer wieder gegenwärtigen Liedes „Die Gedanken sind frei“ eine neue Bedeutung. Die Freiheit der Gedanken impliziert quasi die Dialektik der Aufklärung, denn alles was gedacht werden darf, wird auch umgesetzt. Die Überbetonung der instrumentellen Vernunft gipfelt in der puren Rationalität kapitalistischen Denkens und Handelns. Bei Adorno und Horkheimer heißt es dazu:

Mit der Ausbreitung der bürgerlichen Warenwirtschaft wird der dunkle Horizont des Mythos von der Sonne der kalkulierenden Vernunft aufgehellt, unter deren eisigen Strahlen die Saat der neuen Barabarei heranreift.[153]

Auf die Gleichzeitigkeit von Chance und Gefahr der Umbruchssituation verweist Schlingensief im deutschen Kettensägenmassaker immer wieder dadurch, dass er Bilder von Maos Kulturrevolution zeigt. Mao Zedong ging es um den Krieg gegen die „Vier Relikte“ (si lao): die alte Kultur, die alten Sitten, die alten Gewohnheiten und die alten Denkweisen, die durch die „Vier Neuen“ (si xin) ersetzt werden sollten. Die Parallelen zu dem Essay von Ernst Jünger sind trotz aller Unterschiedlichkeit der beiden Personen gegeben. Und auch wenn der Verlauf der Großen Proletarischen Kulturrevolution zwischen 1966-1976 in China kaum als Musterexemplar einer gelungenen Kulturrevolution gelten kann, ist die Idee einer Umwälzung im Überbaubereich und eines damit einsetzenden permanenten Erziehungsprozesses keineswegs für alle Zeiten diffamiert. Die Zeit um 1989/90, so suggeriert Schlingensief, hat die Chance bereit gehalten, alte Werte in Frage zu stellen und diese eventuell gegen bessere zu ersetzen. Gerade die Situation einer deutsch-deutschen Wiedervereinigung, bei der sich eine kapitalistische mit einer sozialistisch geprägten Gesellschaft verband, stellte den Traum einer positiven Diskussion über Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Wertesysteme bereit.

Da diese Diskussion ausblieb, sich viel Ostbürger vielmehr dem westlichen System in die Arme warfen – das Bild hierfür ist das überfüllte KdW -, enthält der Film auch durchaus kritische Töne den Bürgern der ehemaligen DDR gegenüber. So wird noch während der ersten Sequenz ein ostdeutsches Paar gezeigt, das im Trabanten das Erkennungslied der ehemaligen Agitproptruppe „Roter Wedding“ hört. Die Einstellung von nur wenigen Sekunden zeigt eine für Schlingensief typische Art der filmischen Verdichtung. Von dem Lied erklingen gerade die letzten Verse („Kämpft, Genossen, Sturmkolonnen/Rot-Front, Rot-Front“), von dem Paar mitgesungen, während die Frau dazu mit einer Coca-Cola-Dose in der Hand den Takt in die Luft schlägt. Von der einstiegen Rot-Front ist hier nichts mehr übrig geblieben, das Lied ist zum ausdruckslosen Schlager erstarrt. Die Bedeutung des Wortes Rotfront ist dabei bildlich in das rot der Coca-Cola-Dose übergegangen, ein typisches Beispiel für die Art, wie Schlingensief verschiedene Elemente filmisch zusammenfügt, um neue Bedeutungen und Bilder entstehen zu lassen.

Obwohl das DKM, wie alle Filme Schlingensiefs, auf visueller Ebene für manchen Zuschauer eine Zumutung bleiben mag, kann der damit einhergehende bzw. daraus abgeleitete Vorwurf der Banalität kaum aufrechterhalten bleiben. Im Übrigen gilt wohl, dass Schlingensiefs Filme vor allem funktionieren sollen, d.h., sie sollen im Kopf des Zuschauers Bilder hinterlassen, die eine neue Sicht auf eingefahrene Positionen werfen. In dieser Hinsicht funktioniert das deutsche Kettensägenmassaker zweifelsohne.

6 Terror 2000.„Wo kommt er nur her, all dieser Hass?“

Der dritte Teil der Deutschlandtrilogie sollte zunächst den Titel Der Untergang der Titanic - Die schönste Stunde der Menschheit tragen. [154] Unter diesem Titel wäre jedoch kaum der Film entstanden, der dann 1992 als Terror 2000 – Intensivstation Deutschland [155] in die Kinos kam und der neben den Schlingensief grundsätzlich begleitenden heftigen Kontroversen diesmal sogar so starke Reaktionen hervorrief, dass ein Säureanschlag auf den Film verübt wurde und er als sexistisch und faschistisch verschrien wurde.[156] Anders als Fassbinder, der den dritten Teil seiner Deutschlandtrilogie, Die Sehnsucht der Veronika Voss, als zweites drehte, woran deutlich wird, wie sehr dessen Deutschlandreihe von Anfang an durchkonzipiert war, entscheiden sich die Themen von Schlingensiefs Deutschlandtrilogie viel stärker aus den aktuellen Problemen heraus, die der Regisseur für Deutschland prognostiziert. So reagierte er bereits 1990 mit dem deutschen Kettensägenmassaker spontan auf die Wiedervereinigung, die sich bei den Dreharbeiten zu 100 Jahre Adolf Hitler noch keineswegs voraussehen ließ, schon gar nicht in dem spezifischen Verlauf, für den Schlingensief dann die Form des Horrorfilms für adäquat erachtete.

Terror 2000 erzählt die Geschichte des Kommissars Peter Körn (gespielt von Peter Kern) und dessen Gattin Margret (Margit Carstensen), die im Frühjahr 1992 in Rassau nach der verschwundenen polnischen Familie Pawlak und dem für diese Familie zuständigen Sozialarbeiter Peter Fricke, von dem ebenfalls jede Spur fehlt, suchen. In Rassau trifft Körn auf alte Bekannte, auf die ehemaligen Geiselnehmer von Gladbeck, die in Rassau nun eine halbwegs bürgerliche Existenz aufgebaut haben: Bössler und seine Freundin Martina besitzen einen Möbelmarkt, während Jablonski Pfarrer von Rassau ist. In ihrer Freizeit jagen sie jedoch Asylbewerber oder nehmen an rechtsradikalen Versammlungen teil. Allen hängt Gladbeck noch als Trauma an, insbesondere der Tod der Geisel Wibke (beim Gladbecker Geiseldrama handelte es sich hierbei um Silke Bischoff), die durch ihren Tod für alle zur sexuellen Obsession geworden ist.

Da die Ermittlungen nicht vorankommen, wird schließlich unter Einsatz eines großen Medienaufgebots die Wunderheilerin Pupilla hinzugezogen, die tatsächlich die verstümmelten Leichen der polnischen Familie finden kann. Zur Beerdigung erscheint der deutsche Innenminister, der jedoch vor der Situation in Rassau die Augen verschließt und nicht bereit ist, Körn weitere Unterstützung zukommen zu lassen. Als die Ausländer im Asylantenheim von Rassau merken, dass ihnen weder von Seiten der Polizei, noch von der Justiz oder der Politik wirklich Hilfe zuteil wird, gehen sie selbst zum Angriff über, zerstören das Asylantenheim und demonstrieren in den Straßen von Rassau, wo die Gruppe der Rechtsradikalen auf sie wartet und es zu blutigen Ausschreitungen kommt.

Durch die Medien wird die ausländerfeindliche Stimmung weiter angeheizt, während der erfolglose Kommissar Körn zusätzlich in die Kritik gerät. Er setzt schließlich Bösslers Freundin Martina unter Druck und entlockt ihr das Geständnis, dass Bössler und Jablonski für die Ermordung von Peter Fricke und der polnischen Familie verantwortlich sind und verrät ihm den Ort, wo die Leiche Peter Frickes versteckt wurde. Als Bössler und Jablonski davon erfahren, rächen sie sich grausam an Martina, die anschließend schwer verletzt im Krankenhaus liegt. Da die Hauptzeugin zu sterben droht und die Medien Körn nun verstärkt unter Druck setzen, sieht dieser sich zu einer Verzweiflungstat gezwungen. Er dringt in das Heim der ehemaligen Geiselnehmer ein und hält Jablonski die Pistole an die Schläfe.[157]

Diese knappe Zusammenfassung des Inhalts sollte nicht den Anschein erwecken, dass der Film tatsächlich einen derart stringenten Handlungsverlauf aufweist. Innerhalb der story gibt es zahlreiche kleine Brüche, Unstimmigkeiten und Elemente, die der Zuschauer nur mit Mühe sinnvoll zuordnen kann.

Während auf den ersten Blick das Thema von Terror 2000 die zunehmende fremdenfeindliche Stimmung zu Beginn der 90er Jahre in Deutschland ist, erweist sich, wie zu zeigen sein wird, bei genauerer Betrachtung, dass es Schlingensief hierbei vor allem auf die Bedeutung der Medien und deren Rolle in der Verschärfung einer xenophoben Stimmung ankommt. Eben hier steckt auch das Bindeglied, das es ermöglicht, das Gladbecker Geiseldrama und die Anschläge auf Asylantenheime Anfang der 90er Jahre zusammen zu denken. In beiden Fällen erwiesen sich die Medien als alles andere als das von Enzensberger beschriebene Nullmedium. Der bereits im Titel beschworene Terror geht somit nicht nur von der Gruppe der Neonazis gegen Asylbewerber aus, sondern ebenso von den Medien.

6.1 Die Situation zu Beginn der 90er Jahre

Terror 2000 unterscheidet sich von den beiden vorangegangenen Filmen insofern, als er sich an keinem geschichtsträchtigen Datum, wie zuvor 1945 und 1990 festmacht, sondern im April 1992 angesiedelt ist. Das Datum scheint zunächst eher unbedeutend, weckt keine besonderen geschichtlichen Assoziationen, bis schließlich das Stichwort „Rostock“ fällt, das, obwohl sich die Anschläge auf das Asylbewerberheim erst nach Fertigstellung des Films ereigneten, mittlerweile zum festen Bezugspunkt für den Film geworden ist. So findet sich etwa auf der Videokassette folgendes Zitat aus der TAZ: „Das Drehbuch entstand lange vor Rostock; Schlingensief war schon immer ein bißchen schneller.“[158] Die Terroranschläge auf das Asylbewerberheim in Rostock in der Nacht zum 23. August 1992, an denen ca. 150 Neonazis beteiligt waren, die wiederum angefeuert wurden von rund 1000 Schaulustigen, wurden somit zu einem wichtigen Bezugspunkt in der Berichterstattung und feuilletonistischen Auseinandersetzung mit dem letzten Teil der Deutschlandtrilogie. Rostock wird als Bestätigung des besonderen Gespürs Schlingensiefs für unterschwellige Strömungen angesehen.

Dabei ist Terror 2000 keineswegs das Ergebnis eines prophetischen Gemüts, ebenso wenig wie Rostock ein unvorhersehbares Ereignis war. Brandanschläge und Überfälle auf Asylbewerber häuften sich „unübersehbar seit Anfang bis Mitte der 80er Jahre, erreichten einen Höhepunkt 1992/1993“[159]. Damit soll Terror 2000 nicht abgewertet werden. Es geht vielmehr darum, zu zeigen, dass Schlingensief nicht ein singuläres Ereignis „vorausgesehen“ hat (andernfalls wäre Terror 2000 auch kaum berechtigt, als Teil einer Trilogie über Deutschland zu gelten), sondern der Film vielmehr eine bestimmte Phase der Bundesrepublik einfängt und verarbeitet, die sich durch eine besondere Aversion gegen Ausländer auszeichnete und mittlerweile vielleicht im öffentlichen Bewusstsein schon wieder zu verschwinden beginnt. Zudem täuscht der Bezugspunkt „Rostock“ darüber hinweg, dass Terror 2000 deutliche Anspielungen auf die im September 1991 stattgefundenen rechtsradikalen Anschläge in Hoyerswerda enthält.

Gerade für die Zeit, in der Schlingensief an Terror 2000 arbeitete, eignet sich die folgende Beispielreihe aus Artikeln der Bild-Zeitung, um zu zeigen, wie evident und angespannt die Ausländerproblematik 1991/92 zutage trat:

- „Asylanten ... warum wohnen sie in Villen und Hotels?“ (4.8.1991)

- „Asylanten. Wer sind die falschen, wer die echten? Wieviel kosten sie uns? Warum wohnen sie in Hotels? Muß die Bundeswehr die Grenzen schützen?“ (14.8.1991)

- „Jeder fünfte Asylant macht sich strafbar.“ (14.8.1991)

- „Stellen Sie sich diesen Fall vor: Ein Mann klingelt bei Ihnen, möchte herein kommen. Der Mann sagt, daß er mächtige Feinde habe, die ihm ans Leben wollen. Sie gewähren ihm Unterschlupf. Doch schnell stellen Sie fest: Der Mann wurde gar nicht verfolgt, er wollte nur in Ihrem Haus leben. Und: Er benimmt sich sehr, sehr schlecht. Schlägt Ihre Kinder. Stiehlt Ihr Geld. Putzt sich seine Schuhe an Ihren Gardinen. Sie würden ihn gerne los. Sie werden ihn aber nicht los. – Deutsche Asyl-Wirklichkeit 1991. Das Haus ist die Stadt Frankfurt, der Mann ein Jugoslawe, der in der Unterwelt nur ‚Cento’ genannt wird.“ (17.08.1991)

- Wer ist schlimmer: die Skinheads, die Brandsätze gegen Asylantenheime schleudern oder die Politiker, die schlau reden und tatenlos zusehen?“ (26.9.1991)

- „Was ist, wenn hunderttausend Flüchtlinge in den Osten kommen? Nehmen sie uns die Arbeitsplätze weg? Das kann passieren!“ (28.7.1992)

- „Hundertfünfzig Bulgaren über die Grenze.“ (4.8.1992)
- „Dieser Russe trinkt Blut.“ (5.8.1992)
- „Wir schlagen alle Asylanten tot!“ (Direkte Rede eines Empörten; zitiert am 24.8.1992)
- „Asylanten jetzt auf Schulhöfen. Jede Minute zwei dazu.“ (1.9.1992)
- Brandenburg: Schon doppelt so viele Asylanten.“ (3.9.1992)
- „Unfall mit Asylant – keiner zahlt.“ (3.9.1992)
- „Asylantenflut: Zahl der Illegalen fast verdoppelt.“ (3.9.1992)
- „Deutsche Putzfrau für Asylantenheim.“ (3.9.1992)
- „Asyl: Terror quer durch das Land.“ (7.9.1992)
- „Wohnraum beschlagnahmt: Familie muß Asylanten aufnehmen.“ (8.9.1992)
- „Die sieben Geheimnisse der Sinti und Roma.“ (17.9.1992)
- „Die Furcht vor Fremden.“ (19.9.1992)
- „Blüm bei den Türken: Erst Kaffee, dann Streit.“ (23.9.1992)
- „Neue Asylantenschwemme: Kommen 2 Millionen Russen?“ (1.10.1992)
- „Deutsches Mietrecht: Rentner muß raus – für Asylanten.“ (8.10.1992)
- „Asylanten beim Zahnarzt: Wir zahlen 900 Millionen.“ (14.11.1992)
- „Juden verlassen Deutschland.“ (26.11.1992)
- „Bewaffnen sich die Türken in Deutschland wirklich?“ (3.12.1992)[160]

Der BILD-Zeitung als die auflagenstärkste Zeitung in Deutschland kommt verständlicherweise als meinungsbildendes Printmedium eine besondere Bedeutung zu. Aber wie diskursanalytische Arbeiten ergeben haben, schürten auch andere Zeitungen und Zeitschriften, wie etwa DER SPIEGEL, in dieser Zeit die Angst vor dem „Ansturm der Armen“. „Ansturm der Armen“, das war der Titel der SPIEGEL-Ausgabe vom 9. September 1991, dazu auf Titelseite die heute noch bekannte Zeichnung eines völlig überfüllten Bootes, das von allen Seiten umdrängt wird:

Gerade an der Debatte über Flüchtlinge, die seit Jahren in den Medien geführt wird, läßt sich nachvollziehen, wie durch den Einsatz und den Gebrauch solcher Symboliken in der Bevölkerung ein Bedrohungsgefühl entstanden ist, das geradezu danach verlangt, die Gefahr endlich abzuwehren und nun endlich – auch gewaltsam – dagegen vorzugehen.[161]

Das Insistieren auf die Bedeutung der Medien in diesem Zusammenhang lässt sich damit begründen, dass ihnen als Vermittler zwischen Politik und Alltag „für die Strukturierung der Diskurse eine Schlüsselrolle“ zukommt, so dass Siegfried Jäger in seiner diskursanalytisch untermauerten Forschungsarbeit die Journalisten in einer Mitverantwortung für die Eskalation der Gewalt gegen Ausländer in den frühen 90er Jahren sieht, durch die Art wie die Berichterstattung erfolgte.

Damit ist auch der zentrale Aspekt benannt, der die Verbindung zu Terror 2000 herstellt, denn auch darin spielt die Berichterstattung der Medien eine entscheidende Rolle. Immer wieder werden die Ereignisse in Rassau von Reporterteams begleitet, kommentiert, z.T. auch erst verursacht. Zugleich ist es die den Medien zukommende Rolle in der Gesellschaft sowie deren Verantwortung bei der Berichterstattung, die die Verbindung, die Schlingensief zwischen dem Gladbecker Geiseldrama und den Gewalttaten gegen Ausländer Anfang der 90er Jahre knüpft, plausibel macht. Denn mit dem aufsehenerregenden Ereignis zwischen dem 16. und dem 18. August 1988, das als Gladbecker Geiseldrama bekannt wurde, entflammte eine heftige Debatte über die Verantwortung von Journalisten.

6.2 Exkurs: Das Gladbecker Geiseldrama

Am Morgen des 16. August 1988 überfallen der einunddreißigjährige Hans-Jürgen Rösner – bei Schlingensief wird aus ihm der Möbelmarktbesitzer und Freizeitsheriff Bössler (Alfred Edel) – und der ein Jahr ältere Dieter Degowski – in Terror 2000 Udo Kier als Jablonski, Raussaus Priester – die Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck. Über einen Radiosender, dem die beiden Gangster ein erstes Interview geben, machen sie ihre Forderung bekannt: 300.000 DM und ein Fluchtauto. Nach langen Verhandlungen bekommen sie am selben Abend, wonach sie verlangten und beginnen ihre Flucht mit zwei Geiseln. Noch in Gladbeck steigt Rösners Freundin Marion Löblich – im Film wird aus ihr Martina – hinzu. Während sich die Polizei bei der Verfolgung zunächst zurückhält, folgen Journalisten den Flüchtenden von nun an unaufhörlich.

Über die Autobahn geht die Flucht weiter nach Bremen, wo sie am Abend des nächsten Tages in dem Ortsteil Huckelriede einen mit 32 Fahrgästen besetzten Linienbus in ihre Gewalt bringen. Die Geiselnehmer geben Journalisten bereitwillig Interviews, lassen Aufnahmen im Inneren des Busses zu. Vor allem Rösner posiert immer wieder gerne vor der Kamera; dabei entstehen auch die Bilder, auf denen er sich selbst eine Pistole in den Mund hält, und die von Schlingensief in Terror 2000 immer wieder zitiert werden.

Marion Löblich nutzt das Mediengewimmel, das um den Bus herum entsteht, um auf einer Autobahnraststätte die Toilette aufzusuchen, wird dort jedoch, als sie auf zwei Polizisten stößt, die sie mit der Waffe bedroht, überwältigt. Weil sie nicht schnell genug wieder freigelassen wird, erschießt Degowski den fünfzehnjährigen Italiener Emanuele de Georgi. Durch Vermittlungsarbeit eines Journalisten wird Marion Löblich wieder in den Bus gelassen, der daraufhin weiterfährt. Einige Journalisten setzen sich den Flüchtenden direkt auf die Fersen, während andere Teams ihre Kameras auf den sterbenden Jungen richten und Aufnahmen machen, bis ihnen von anderen Journalisten Schläge angedroht werden. Ein Rettungswagen trifft nicht ein.

Bei der Verfolgung des Busses auf der Autobahn Richtung Holland verunglückt ein Polizeiwagen; der Fahrer stirbt dabei. Autos von Journalisten versucht die Polizei von der Straße abzudrängen.

Am Morgen des nächsten Tages, dem 18. August, überquert der Bus die deutsch-holländische Grenze. Von der niederländischen Polizei bekommen die Gangster einen geforderten Fluchtwagen gestellt, woraufhin alle bis auf zwei Geiseln freigelassen werden. Bei den beiden letzten Geiseln handelt es sich um die beiden Freundinnen Ines Voitle und Silke Bischoff. Aus Silke Bischoff, die das Geiseldrama nicht überleben wird, wird bei Schlingensief Wibke, wobei sich der Name Silke zu Wibke verhält wie Franz Kafka zu Gregor Samsa. Wibkes/Silkes blondes Haar wird im Film zum Fetisch, nicht zuletzt deshalb, weil die attraktive Achtzehnjährige beim Geiseldrama für die Fotografen immer wieder zum Blickfang wurde.

Die Flucht führt zurück nach Deutschland, in die Kölner Innenstadt, wo das Auto wiederum von Journalisten umlagert wird, die nicht nur die Polizeiarbeit stören bzw. verhindern, sondern die Kidnapper endgültig zu Medienstars puschen. Einer der Journalisten steigt in das Auto ein, als die Ortsunkundigen Köln wieder verlassen wollen. Auf der Autobahn, 54 Stunden nachdem das Geiseldrama begonnen hatte, stoppt ein Spezialkommando der Polizei das Fluchtauto durch Waffengewalt und ein Ramm-Manöver. Bei dem folgenden Schusswechsel erschießt Rösner Silke Bischoff, Ines Voitle wird durch einen Streifschuss verletzt.

Im Gerichtsverfahren werden Rösner und Degowski schließlich zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, Marion Löblich bekommt neun Jahre, die sie vollständig verbüßte.

6.3 Geiselnehmer, homosexuelle Nazis und Sprachrohe Gottes. Fragwürdige Medienstars

Während des Geiseldramas geriet die Arbeit der Polizei immer wieder in die Kritik. Bereits am 19.8.1988 erscheint in der TAZ ein Kommentar mit der Überschrift „Mitschuld. Polizei trieb Bankräuber auf Kamikaze-Tour“. Darin heißt es gleich zu Beginn:

Die plumpe Polizeiaktion auf der Autobahn nach Frankfurt ist nur das I-Tüpfelchen auf einer langen Reihe dilettantischer Fehler der Polizeistrategen. Daß die Geiselnehmer nach drei Tagen ohne Schlaf panisch reagieren würden, wenn sie in voller Fahrt auf der Autobahn gestoppt werden - das hat die Polizei in Köln gewußt und damit den Tod der Geiseln bewußt in Kauf genommen.[162]

Die Fehler, die der Polizei in den drei Tagen des Geiseldramas unterliefen, verdichtet Schlingensief auf die Person des Kommissars Körn, dem Fehler und Versäumnisse in Gladbeck vorgeworfen werden und dessen Ermittlungen im Fall um den verschwundenen Sozialarbeiter Peter Fricke sowie der polnischen Familie immer wieder in der Medienberichterstattung zum Ausgangspunkt der Kritik werden.

Eine wesentlich heftigere Debatte entbrannte nach dem Ende des Gladbecker Geiseldramas jedoch um die Rolle der Medien und ihrer Art der Berichterstattung. Geiselnehmer und Journalisten wussten gemeinsam, das Ereignis als Medienereignis zu inszenieren, bei dem einzelne Journalisten sogar unmittelbar in den Handlungsablauf involviert waren, so etwa der Redakteur des Kölner „Express“, der in das Auto der Kidnapper einstieg und ihnen den Fluchtweg aus der Kölner Innenstadt zeigte.

Die Affäre bewies, dass mittlerweile auch Kumpanei mit Kriminellen zum bizarren Repertoire journalistischer Recherche gehört – auf der Jagd nach der Story, um sich unter beinharten Konkurrenzbedingungen einen Platzvorteil vor den Berichterstatter-Kollegen zu sichern.[163]

Unmittelbar nach Ende des Geiseldramas setzte daher eine Diskussion über die Verantwortung der Medienmacher ein. Für den Bereich der Medienethik ist der Fall Gladbeck daher bis heute ein zentraler Bezugspunkt.

Die Frage nach der Medienethik wirft auch Terror 2000 auf, keineswegs jedoch, um darauf eine eindeutige Antwort zu geben, die ohnehin nur die subjektive Meinung des Regisseurs widerspiegeln könnte. Schlingensief macht in keinem seiner Filme solche normativen Vorgaben, nach denen sich die Zuschauer richten sollen, so wie es etwa bei Wenders immer wieder der Fall ist, wenn z.B. in Bis ans Ende der Welt das Buch als Heilmittel gegen die durch die Bilder der eigenen Träume (eben die Traumfabrik Hollywood) zu Fernsehjunkies gewordenen Menschen ernannt wird und damit eine Rückkehr zur Lesekultur propagiert wird. Vielmehr zeigt Schlingensief die Stellen auf, an denen seiner Meinung nach eine Fehlentwicklung stattfindet und wo neue Diskussionen entstehen sollten. Die Richtung dieser Diskussion gibt er jedoch nicht vor. Mit Michel Foucault ließe sich daher sagen, es gehe ihm nicht darum, zu sagen, X ist schlecht, sondern X ist gefährlich.[164] Für Terror 2000 gilt somit, dass eine bestimmte Art der Medienberichterstattung, wie Schlingensief sie im Fall des Gladbecker Geiseldramas für prototypisch erachtet, auch zu Beginn der 90er Jahre wiederum die Stimmung anheizt. In der Diskussion um Asylbewerber sind Journalisten zwar nicht mehr derart involviert wie beim Geiseldrama, nehmen jedoch durch ihre Art der Berichterstattung immer noch negativen Einfluss auf die Stimmung in der Bevölkerung.[165]

Dass in Terror 2000 die ehemaligen Geiselnehmer von Gladbeck zu Rechtsradikalen werden, während die tatsächlichen Geiselnehmer lebenslänglich im Gefängnis sitzen, ist somit als Form von Metonymie zu verstehen, denn die eigentlichen Verbindung zwischen der Geiselnahme von 1988 und den Anschlägen auf Asylbewerberheime 1991/92 liegt auf der Ebene der Medien, denen eine Mitverantwortung an den Ereignissen attestiert wird. Schlingensiefs Abschluss der Deutschlandtrilogie kann somit als Aufforderung zu einer neuen Debatte über die Verantwortung der Medien verstanden werden. Dass „Rostock“ unmittelbar auf den Dreh von Terror 2000 folgte ist deshalb der traurige Beweis dafür, dass gerade diese Diskussion, die Schlingensief mit seinem Film anstoßen wollte, viel früher hätte einsetzen müssen. Dazu folgender Ausschnitt aus einem Interview:

Schlingensief: Beim Filmfestival in Hof stapften dann die Alt-Achtundsechziger mit bitterböser Miene bei mir an und sagten: „Tja, das tut mir jetzt aber leid für dich. Da ist jetzt wohl das, was du in deiner Absurdität schildern wolltest, in Rostock Realität geworden." Das wäre nun wohl nichts mehr.

D: Was? Die bedauern dich für die "künstlerische Enttäuschung", kein Mehr an Realität produziert zu haben? Die Wucht des Filmes liegt doch auch darin, daß er sozusagen beweist, wie absehbar Rostock war.

Schlingensief: Deshalb bin ich von Rechts genauso wie von der taz beschimpft worden, weil eben alle darauf beharrten, Rostock wäre nicht absehbar gewesen. Deshalb sei der Film eine Unverschämtheit.[166]

Die Ansammlung zwielichtiger bis krimineller, dafür aber medienwirksamer Gestalten wird in Terror 2000 erweitert um den 1991 verstorbenen Michael Kühnen und die Zentralfigur der Neuoffenbarungsgruppe „Fiat Lux“, der Wunderheilerin Uriella (bei Schlingensief wird aus ihr Pupilla).

Der Rechtsradikale Michael Kühnen – im Film von Schlingensief selbst dargestellt – wurde in den 80er Jahren zum führenden Kopf der deutschen Neonazibewegung. Terror 2000 spielt immer wieder auf dessen Homosexualität an, die vielleicht die interessanteste Seite an Kühnen darstellt, insofern als er in seiner Broschüre „Nationalsozialismus und Homosexualität“ versucht, mit Hilfe pseudobiologistischer Theorien die Homosexualität mit dem Nationalsozialismus in Einklang zu bringen, und damit wiederum an rassentheoretische Fragestellungen anknüpft. Kühnen ist für die Thematik von Terror 2000 jedoch nicht aufgrund seiner Homosexualität interessant, sondern als ein weiteres Beispiel für einen medienwirksamen Strategen, dem es gelingt, die Medien zu nutzen, um seine menschenverachtende Politik der Öffentlichkeit bekannt zu machen.

Ähnlich verhält es sich mit der Wunderheilerin Uriella, die sich selbst immer wieder als „Volltrance-Medium-Sprachrohr Gottes“ bezeichnete. Dass sie - die sich selbst als Inkarnation Nofretetes und Maria Magdalenas sieht, nach eigenen Angaben Leukämie, Tuberkulose, Multiple Sklerose und selbst Aids heilen kann und ihre nie eingetretenen Prophezeiungen vom Weltuntergang mit der Rettung der Auserwählten durch Außerirdische verbindet - immer wieder Gläubige finden konnte, die sie an sich band, wäre ohne die Unterstützung der an Kuriositäten und Sensationen stets interessierten Medienmacher kaum denkbar. Entsprechend wird Pupilla/Uriella[167] durch eine Fernsehsendung mit dem Titel „Menschen, Tiere, Sensationen“ eingeführt, die an nachmittägliche Talkshows erinnert. Die Anspielungen auf Uriella sind trotz der Namensänderung unübersehbar. Unter „Fiat Lux“-Rufen, so der Name der Glaubensgemeinschaft um Uriella, rührt Pupilla mit der Hand im Wasser einer Badewanne. So absurd diese Szene wirkt, sie ist mehr als eine Anspielung, sie zeigt genau das Ritual mit dem Uriella tatsächlich vorgibt, Heilwasser herstellen zu können. Dazu rührt sie das Wasser in einer Badewanne 21 Minuten mit der Hand links herum und lädt es auf diese Weise, wie sie sagt, „mit dem göttlichen Athrumstrahl“ auf.

Beide, sowohl Kühnen als auch Uriella/Pupilla, interessieren Schlingensief nicht aufgrund ihrer Themen; eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Homosexualität und Nationalsozialismus findet ebenso wenig statt wie mit der Glaubensgemeinschaft „Fiat Lux“. Beide sind lediglich Stellvertreter für auswechselbare Beispiele medienwirksamer Selbstdarsteller, deren indiskutable Theorien und Ansichten, ganz gleich ob absurd oder menschenverachtend, aufgrund des Medieninteresses Wirkung erzielen. Insofern sind sie als Personen austauschbar, zufällige Beispiele für die Mediensituation zu Beginn der 90er Jahre. Auch hieran lässt sich wieder ablesen, wie spontan Schlingensief auf aktuelle Situationen und Ereignisse zu reagieren versteht.

6.4 Die Hysterie ist tot, es lebe die Hysterie

1997, Jahrzehnte nachdem die Hysterie für tot erklärt wurde, meldet die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Elaine Showalter genau hieran Zweifel an. Durch die Netzwerke der modernen Medien verbreite sich die Hysterie in einem bislang nie da gewesenen Ausmaß, vervielfältige sich von einer abstrusen Einzelansicht zu einem Massenphänomen, das neue Ängste schüre. In ihrem Buch „Hystorien – Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien“ schreibt Showalter:

Hysterie ist in den neunziger Jahren unseres Jahrhunderts nicht nur äußerst lebendig, sie ist auch viel ansteckender als früher. [...] Hysterie-Epidemien werden durch Geschichten verbreitet, die wiederum durch die Ratgeberliteratur, Artikel in Zeitungen und Zeitschriften, Fernsehserien und Talkshows, Spielfilme, das Internet, ja sogar durch die Literaturwissenschaft in Umlauf gebracht werden. Die kulturellen Narrationen von Hysterie, die ich „Hystorien“ nenne, vervielfältigen sich im Zeitalter der modernen Massenmedien, der Telekommunikation und des E-Mail schnell und unkontrollierbar.[168]

Auf diese Weise fallen Geschichten, Verschwörungstheorien, bizarre Einzelmeinungen durch ihre mediale Vermittlung bei einem Massenpublikum auf fruchtbaren Boden und bewirken neue Hysterien von epidemischen Ausmaßen. Speziell für die amerikanische Gesellschaft bezieht sich Showalter u.a. auf die Hystorien vom Chronischen Müdigkeitssyndrom, dem Golfkriegssyndrom, Entführung durch Außerirdische und Satanischen Ritualmissbrauch. Dabei will sie mit ihrem Buch „[n]icht gegen die Symptome der Hysterie, sondern gegen die Art, wie sie gesellschaftlich eingesetzt und angeeignet werden“[169], vorgehen, denn die Symptome seien durchaus real, lediglich die Ursachen, auf die sie zurückgeführt werden, scheinen höchst fragwürdig. Das epidemische Ausmaß entstehe hierbei jedoch erst durch die Vermittlungsrolle der Medien, die Sendezeit und Mikrophon hergeben, wo immer sich eine Story anbiete, die Quote verspreche. Viele der Patienten „haben aus den Medien von den Krankheiten erfahren, entwickeln unbewußt Symptome und ziehen erneut die Aufmerksamkeit der Medien auf sich – ein endloser Kreislauf.“[170]

So wurden beispielsweise

Ende der achtziger Jahre [...] die USA von grässlichen Geschichten über satanische Praktiken erschüttert. Von einer sensationsgierigen Fernsehberichterstattung und christlichen „Experten“ in Sachen Satanismus angetrieben, rollte die Hysterie von Kleinstadt zu Kleinstadt und hinterließ im Gefolge verängstigte Kinder und aufgerüttelte Eltern.[171]

Gerade die Zeit des fin de siècle schien besonders anfällig für Verschwörungstheorien, Endzeitszenarien und Bedrohungen der gesellschaftlichen Ordnung aller Art. Die „magische“ Jahreszahl 2000, die bevorsteht und Ängste schürt, ist für Schlingensiefs Arbeit schon lange ein wesentlicher Bezugspunkt seiner Arbeiten, so nicht nur bei Terror 2000, sondern auch bei seiner Talkshow Talk 2000 oder seiner Partei Chance 2000.[172] An dem Möbelmarkt, den der ehemalige Gladbecker Geiselnehmer Bössler nun besitzt – „Ich habe einen Möbelmarkt, meine Existenz ist gesichert“ – hängt bezeichnenderweise ein Plakat mit der Aufschrift „Rassau 2000“.

Die Hystorien, so zeigt Terror 2000, (wenn dies nicht sogar als Grundtenor für alle drei Filme der Deutschlandtrilogie gelten kann) grassieren auch in Deutschland. Die Bedrohung kommt nicht aus dem All, sondern in Form von Flüchtlingsströmen (oder im deutschen Kettensägenmassaker durch die Ostdeutschen), die Deutschland belagern wie feindliche Armeen. Diese Bilder der Belagerung durch feindliche Armeen, der Flutwelle oder des überfüllten Bootes sind gerade in dieser Zeit, zu Beginn der 90er Jahre, kollektive Bilder, die durch die Massenmedien verbreitet wurden und dadurch erst ihre epidemische und hysterische Dimension annehmen konnten.

Im Fall der Glaubensgemeinschaft „Fiat Lux“ sind die Parallelen zu solch bizarren Hystorien, wie sie Elaine Showalter beschreibt, noch markanter. Immer wieder bereiteten sich die Mitglieder auf das Weltende und auf Evakuierung durch Raumschiffe von anderen Planeten vor, die Anführer der Gemeinde schürten Ängste und fanden so neue Mitglieder dank sensationsinteressierter Medienmacher.

Die Hysterie ist in Schlingensiefs Filmen allgegenwärtig, wobei Hysterie hier eher in einem alltagssprachlichen Verständnis gemeint ist, da nichts ferner liegt als die Filme der Deutschlandtrilogie psychoanalytisch zu deuten. Schlingensiefs Figuren reagieren übertrieben, überreizt, sind zu keiner angemessenen Einschätzung der Situation mehr fähig. Ihr Ausdruck ist das Schreien, Kreischen, Fluchen, Zerstören usw. Inspektor Körn überfällt gegen Ende des Films ein unkontrollierbarer Zitteranfall, Schaum läuft ihm aus dem Mund. Die aus den Fugen geratene Welt lässt sich durch niemanden mehr einrenken, weder durch den Kommissar, noch durch Politiker – der Auftritt des Innenministers zeigt dies überdeutlich – oder die Justiz. Darin besteht der Terror 2000: Nach der Zerstörung der alten Ordnung und das Näherrücken der magischen Jahrtausendwende treten Unsicherheit und Orientierungslosigkeit an die Stelle der ehemaligen Ordnung einer bipolaren Welt. Alte und neue Erklärungsmuster stehen jedoch bereit, sei es die überarbeitete Neuauflage nationalsozialistischer Ideologie oder die Hingabe an spiritistische Führungspersönlichkeiten. Der Terror geht von diesen Marktschreiern aus, deren Stimme durch die Medien verstärkt wird und auf die nur noch hysterisch reagiert werden kann.

6.5 Der Einfluss der Medien auf die Ereignisse in Rassau

Einen besonderen Wendepunkt in der Handlung von Terror 2000 bildet die Beerdigung der polnischen Familie, zu der auch der deutsche Innenminister erscheint, um einen Kranz in das Grab zu werfen. Die Beerdigung selbst wird zu einer reinen Farce, bei der offen zutage tritt, was in Rassau vor sich geht. Weder der Innenminister noch die berichterstattende Journalistin reagieren jedoch angemessen darauf; statt dessen ergießen sie sich in Plattitüden und werden damit selbst zum aktiven Teil der Farce.

Schon bei seiner Fahrt durch Rassau wird der Innenminister mit der unverdeckten Gewalt gegen Ausländer konfrontiert. Auf der Straße wird ein Asiate zusammengeschlagen, ein Haus steht in Flammen, an einer Mauer sind neben einem Wahlplakat mit Helmut Kohl Hakenkreuze aufgemalt. Bei seiner Ankunft am Grab fordert der selbst auf Krücken gestützte Politiker einen Rollstuhlfahrer unwirsch auf, den Platz zu räumen – „Aus dem Weg, du Krüppel!“ – der daraufhin auch rabiat weggedrängt wird.

Die Predigt von Pfarrer Jablonski ist letztlich nicht mehr als die Parodie einer Predigt: Sie beginnt zunächst wie eine typische Predigt, sowohl im Inhalt, wie auch in der Vortragsweise, setzt dann jedoch rechtsradikale Parolen an die Stelle christlicher Nächstenliebe:

Oh Herr, wir sind zusammengekommen, um endgültig Abschied zu nehmen. Die Pawlaks sind tot. Menschen, die einen Hafen suchten, wo kein Hafen ist.[173] Menschen klagen, sie haben keine Heimat. Ich weiß keine Antwort. Ich möchte sagen:

Von hier an spricht Jablonsksi nicht mehr im Ton einer Predigt. Die letzten Sätze werden zur lautstarken politischen Agitation:

Deutschland ist nicht Amerika, wir sind kein Einwanderungsland. Ihr Menschen, oh ihr Ungeheuer. Oh, ihr Ungeheuer.

Obgleich der Innenminister von dieser ungewöhnlichen Predigt überrascht ist, stört er den durchgeplanten Ablauf der Beerdigung nicht[174], hält seine vorbereitete, wenig aussagekräftige Rede, wirft anschließend einen Kranz in das Grab und wird dafür mit völlig unangemessenen Hurrah-Rufen quittiert. Zuletzt singt der Rassauer Asylantenchor „Auf wiederseh’n“.

Grotesk erscheint auch die Fernsehberichterstattung. Eine Journalistin schließt ihre Reportage mit den Worten: „Der Innenminister ist weg. In Rassau herrscht wieder Ruhe.“ Dass in Rassau keineswegs Ruhe einkehrt machen schon die Hintergrundbilder – und geräusche der Reportage deutlich. Die Abfahrt des Innenministers aus Rassau ist derart rasant und überstürzt, dass die vom Auto aufgewirbelte Staubwolke deutlich signalisiert, dass er sich aus dem Staub macht. Kommissar Körn, dem der Innenminister jegliche Hilfe verweigert hat, schreit ihm hinterher: „Ich fick euch alle.“

In der Beerdigungsszene finden sich einige Anspielungen auf die Ereignisse in Hoyerswerda, wo sich erst nach Tagen andauernder gewalttätiger Ausschreitungen ein Politiker einfand, der damalige Innenminister Sachsens Rudolf Krause. Wenn in Terror 2000 aus dem Sächsischen Innenminister der deutsche Innenminister wird, wird deutlich, dass Schlingensief die Situation in Hoyerswerda als gesamtdeutsches Phänomen wertet.

Als Wendepunkt offenbart sich die Beerdigung insofern, als die Asylanten in Rassau nun erkennen, dass ihnen weder von den Politikern noch von den Medien wirklich Hilfe oder Schutz geboten werden kann. Unter Parolen wie „Weiße Scheiße“ und dem 68er-Slogan „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, zerstören sie das Asylantenheim und demonstrieren in den Straßen von Rassau. Daraufhin kommt es zu offenen Ausschreitungen.

Mit einem Mal ändert sich nun der Ton in der Berichterstattung. Wurden die tatsächlichen Vorfälle in Rassau bislang eher totgeschwiegen oder beschönigt, wird die fremdenfeindliche Stimmung nun durch die Medien zusätzlich angeheizt. Ebenjene Reporterin, die für die Beerdigung nur standardisierte Phrasen übrig hatte, die den tatsächlichen Ereignissen in keiner Weise entsprachen, berichtet nun folgendermaßen: „KZ, KZ, rufen sie und wissen nicht einmal, was es bedeutet. Sie zerschlagen ihre Betten, sie zerschlagen ihre Schränke. Man gab ihnen ein Dach über dem Kopf, man gab ihnen zu essen. Doch geblieben ist nur eines: Undank.“

Auch dem nach Rassau gekommenen Naziführer (gespielt von Dietrich Kuhlbrodt), den die Presse unter Verdacht hat, bei den Rassenunruhen maßgeblich beteiligt gewesen zu sein, hält man bereitwillig und kommentarlos das Mirkrofon hin. Wie zu erwarten, streitet er die Vorwürfe ab, nutzt die Situation jedoch sogleich aus, um seinen Standpunk über den Äther gehen zu lassen:

Ich bin rein geschäftlich hier, und ich kann es nicht mit ansehen, wie ehrenwerte Bürger, die ihr Land wieder aufbauen wollen und Deutschland zu dem machen wollen, was es mal war, wie die hier verdächtigt werden irgendwelcher Gewalttätigkeiten, bloß weil hier zufällig ein paar tote Ausländer aufgefunden worden sind. Wir wollen mal eins klarstellen: Wir dulden hier keine Juden, denn die sind ’33 abgehauen nach Hollywood. Und wir dulden keine Serben, Litauer, Serbo-Kroaten, Bosnier, Mongolen, all dieses Zeug, Chinesen, Indianer, all diese zerstückelten Völker. Was wir wollen ist, die deutsche Lebensart, die nationale Lebensart wieder herzustellen, die germanische Kultur zu schöpfen.

Der Diskurs über die Asylbewerber, medial vermittelt, wird beeinflusst von rechtsradikaler Agitation durch Neonazis, zweifelhafter Berichterstattung und hilflosen Politikern, die in dieser Zeit als einzige Maßnahme eine Verschärfung des Einwanderungsgesetzes forderten. Die Wirkung war enorm: Tatsächlich hatten Umfragen ergeben, dass jeder Dritte Bundesbürger in der Zeit unmittelbar nach Hoyerswerda Verständnis für das Handeln der Neonazis aufbrachte. Als Teil einer Deutschlandtrilogie ist das Thema also keineswegs unangebracht, da es hier nicht nur um die Minderheit der tatsächlichen Neonazis geht, sondern um eine von Medien und Politik angeheizte latente bis offenkundige Mehrheit fremdenfeindlicher Bürger der Bundesrepublik.

6.6 Wibke als Trauma deutscher Geschichte

Der Vorspann zu Terror 2000 enthält eine Widmung. Eingerahmt in eine Herzform wird das Bild von Wibke gezeigt (nicht Silke Bischoff, sondern der Schauspielerin, die Wibke darstellt), die sich selbst eine Pistole in den Mund hält. Von der Widmung selbst – „Für Wibke“ – steht je ein Wort rechts, eins links ihres Kopf. Wem aber ist damit der Film gewidmet? Ist es eine absurde Widmung, da sie einer fiktiven Person erteilt wird oder ist eigentlich Silke Bischoff gemeint, die trotz Namensänderung in der Person Wibke unzweifelhaft dargestellt wird. Der Film endet damit, dass Kommissar Körn, dessen Frau Margret, Bössler und Jablonski im Auto sitzen und gemeinsam singen: „Ich bin die Wibke, und du hast mich erschossen, du Schwein.“ Auch hier stellt sich die Frage, wer Wibke ist oder vielleicht vielmehr, was sie ist? Wofür steht Wibke? Worauf verweist die Ich-Form und an wen richtet sich die Anklage? Um diese Fragen zu klären, ist es sinnvoll, zunächst alle Hinweise auf Wibke, die der Film bereitstellt, zusammen zu tragen.

Beim Überfall auf die polnische Familie zu Beginn des Films wird die kleine Tochter von einem der Gangster vergewaltigt, dabei ein Zopf des blonden Haars abgeschnitten, der anschließend zum einzigen Beweisstück für Körn wird und gleichzeitig erster Hinweis auf eine den gesamten Film durchziehenden Fixierung auf blonde Haare. Bezugspunkt dafür ist Wibkes blondes Haar (bzw. das blonde Haar Silke Bischoffs), das im Film für alle, die am Gladbecker Geiseldrama beteiligt waren, zum Fetisch geworden ist, selbst für den einsatzleitenden Kommissar Peter Körn. Auf dem Weg nach Rassau erinnert sich dessen Frau Margret: „Weißt du noch, als ich die Haare blond hatte? Ich weiß genau, dass dich das auch wahnsinnig geil gemacht hat, dieses lange, blonde Haar.“

Das blonde Haar wird zum Fetisch, der, so Freud[175] in den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, in jenen Fällen entstehe,

in denen das normale Sexualobjekt ersetzt wird durch ein anderes, das zu ihm in Beziehung steht, dabei aber völlig ungeeignet ist, dem normalen Sexualziel zu dienen. [...] Der Ersatz für das Sexualobjekt ist ein im allgemeinen für sexuelle Zwecke sehr wenig geeigneter Körperteil (Fuß, Haar) [...].[176]

Martina und Margret tragen immer wieder blonde Perücken, ebenso gegen Ende des Films Jablonski, wenn er sich als Wibke verkleidet. Das blonde Haar als sexuelle Obsession ist jedoch zugleich mit einem gewaltsamen Aspekt verknüpft; bereits die Widmung lässt dies erkennen, da das in Herzform eingerahmte Porträt Wibke mit einer Pistole im Mund zeigt. So wird sie auch später im Film immer wieder gezeigt, wie überhaupt Jablonski und Bössler sich immer wieder auch selbst die Pistole in den Mund halten. In diesem Bild verschmelzen die beiden Komponenten von Sexualität und Gewalt, indem durch die Pistole als Phallus die Anklänge an die Fellatio evident werden.

Dieser Zusammenhang entspringt nicht der übertriebenen Form der Schlingensief’schen Art, Filme zu machen, sondern entspricht vielmehr dessen Talent, verschiedene zunächst separat erscheinende Aspekte, für die er einen Zusammenhang konstatiert, in einem Bild zusammen zu bringen. Es ist in diesem Fall das Bild der achtzehnjährigen Silke Bischoff, die aufgrund ihrer attraktiven Erscheinung von den Journalisten besonders gern ins Visier genommen wurde, so dass sich die Situation der gewaltsamen Geiselnahme mit der gleichzeitigen Erotisierung der Bilder verband, die eine vor den Fernseher gelockte Bevölkerung aufzunehmen bereit war. Die Bilder, die Silke Bischoff verängstigt auf der Rückbank des Autos der Geiselnehmer sitzend zeigen, die Pistole von Bössler nah an ihr Gesicht oder in Höhe ihrer Brüste gehalten, symbolisieren eine Vergewaltigungssituation. Dass sie dieser Situation nicht lebend entkommen konnte, es somit keine Wiederherstellung der Normalität gab, ließ Silke Bischoff zum Trauma aller Beteiligten werden, so suggeriert Terror 2000. Die sexuelle Aufladung der Bilder von Silke Bischoff durch die Geiselnehmer, skrupellose Journalisten und einem Massenpublikum, sowie die Fehlentscheidungen der Polizei, die schließlich zu der Tötung der Geisel beitrugen, zeigt Schlingensief als tiefsitzendes Trauma der deutschen Gesellschaft.

Die Fetischisierung des blondes Haars wird erweitert um einen weiteren Körperteil Wibkes. In einer Rückblende, die das Ehepaar Körn in der Zeit während des Gladbecker Geiseldramas zeigt, entsteht folgender kurzer Dialog:

Peter Körn: Margret, bitte. Wibke hat ’nen geilen Arsch.

Margret Körn: Hat sie nicht.

Peter Körn: Hat sie doch.

Bereits während des Geiseldramas, in dem Körn als Einsatzleiter beteiligt war, steht für ihn nicht die Angst um die Geiseln im Mittelpunkt des Interesses, sondern Fragen nach der Attraktivität der achtzehnjährigen Geisel. Als er in Rassau erstmals auf Martina trifft, die seine Erinnerung an Gladbeck wachruft und noch dazu eine blonde Perücke trägt, fordert er sie auf: „Zeig mir deinen Arsch!“ Entsprechend wirft Jablonski Körn später vor: „Du hast mich zum Arschficker gemacht. Nachts träume ich von Wibke, die mich anschreit: Du Arschficker, du Arschficker!“ Das brutalste Bild hierfür im Film zeigt eine vornüber gebeugte, nackte Frau von hinten. Ein Schuss fällt, woraufhin ihr Analbereich blutverschmiert zu sehen ist. Das Abfeuern der als Phallus kodierten Waffe entspricht hierbei der männlichen Ejakulation. Der Vorwurf, den Jablonski an Körn richtet, er habe ihn zum „Arschficker“ gemacht, wird verständlich, da durch die Mitschuld der Polizei am blutigen Ausgang des Geiseldramas Wibke für alle zum Trauma wurde. Eine Rückkehr zur Normalität scheint wegen des tragischen Endes des Gladbecker Geiseldramas nicht mehr möglich. Auch Martina hat die Verbindung von Gewalt und Sexualität verinnerlicht. Als sie dabei zusieht, wie ein Transvestit zusammengeschlagen wird, wird sie hiervon derart erregt, dass sie zu masturbieren beginnt. Jablonski hingegen dreht zusammen mit Klausl pornographische Filme, in denen die Frauen immer wieder den Namen Wibke nennen müssen.

Durch die Verbindung des Gladbecker Geiseldramas mit den Anschlägen auf Asylantenheime in den frühen 90er Jahren, werden somit sich wiederholende Strukturen und Einflussfaktoren unterstellt. Quasi leitmotivisch durchzieht dabei Wibke den Film, durch Nennung des Namens, als Trauma oder als Fetisch, wenn blonde Haare als pars pro toto Erinnerungen an sie wecken. Sie wird wichtiger Bezugspunkt für alles Handeln. Dabei ist in ihrer Person vieles verdichtet zusammengetragen, so dass kaum mehr auseinander zu halten ist, ob es sich hierbei im Film um ein iconisches, indexikalisches oder symbolisches Zeichen handelt. All dies kommt wohl zusammen, in einer Trope, die kaum mehr adäquat in Sprache übersetzt werden kann. Der iconische Gehalt ergibt sich aus der äußerlichen Nähe Wibkes zu Silke Bischoff. Indexikalisch gesehen ist sie der Maßstab einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung, zugleich ist sie jedoch auch ein Symbol für die Verbindung von Brutalität und Sexualität.

Die Darstellung von Gewalt führt häufig dazu, dass man dem iconischen Zeichen den Vorrang einräumt, was gleichzeitig zu einer Abwertung von Gewaltdarstellungen überhaupt geführt hat. Gerade deshalb befindet sich etwa das Horrorgenre bis heute in einem Rechtfertigungszwang. Rezensionen zu Schlingensiefs Filmen weisen ebenfalls immer wieder eine unterstellte Dominanz des Icons auf: Spritzendes Blut, Vergewaltigungen, Kot usw. werden als pure Denotation angesehen. Diese Filmbetrachtung greift jedoch, wie gerade gezeigt, viel zu kurz. Zugegebenermaßen etwas spekulativ, ließe sich darüber nachdenken, ob Schlingensiefs Filme nicht vielleicht gerade deshalb die Spieldauer gängiger Kinofilme um bis zu 30 Minuten unterschreiten, weil er Emotionen, Entwicklungen und Einstellungen der Personen, die sonst etwa durch Sprache zum Ausdruck gebracht werden, durch drastische Formen ersetzt, die solche Ausdrucksmöglichkeiten zeitsparend in völlig komprimierter oder verdichteter Form ermöglichen.

Schlussbetrachtungen

Walter Benjamin sah in seinem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“[177] die Dadaisten in einer Art Vorreiterrolle für das neue technische Medium Film, denn, so Benjamin, es sei „von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist.“[178] Wesentliche Charakteristika des Films, wie die Chockwirkung, die Montage oder das völlige Verschwinden des Kultwertes, seien bereits durch die Arbeiten der Dadaisten angelegt worden: „Der Dadaismus versuchte, die Effekte, die das Publikum heute im Film sucht, mit den Mitteln der Malerei (bzw. der Literatur) zu erzeugen.“

Die revolutionäre Veränderung, die mit dem Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks einsetzt, ist die Zerstörung der Aura, so dass die Innovationen auf technischem Gebiet erstmalig den Gesamtcharakter der Kunst veränderten. Auratische Kunst, in die sich der Rezipient kontemplativ versenkt, sei nun nicht mehr möglich, da sich die Wahrnehmung der Menschen durch den Film derart verändert hätten, dass sie auch ehemals auratische Kunstwerke nicht mehr mit kontemplativer Haltung aufzunehmen im Stande seien.[179]

Obgleich dem Kunstwerkaufsatz immer eine gewisse Melancholie wegen des Verlusts der Aura bescheinigt wird, steht Benjamin dieser Entwicklung grundsätzlich positiv gegenüber. Denn entgegen der heute gängigen Auffassung, die bürgerliche Kunst des 18. Jahrhunderts hätte mit dem sakralen Charakter der höfischen Kunst gebrochen und das Kunstwerk autonom werden lassen, attestiert Benjamin der Kunst bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Verbindung zum Sakralen, für die er die Bezeichnung Aura verwendet, die „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.“[180] Erst durch die Dadaisten, mit der „Entwürdigung ihres Materials“, den „Wortsalaten“, „obszönen Wendungen“ und dem von ihnen verwendeten „Abfall der Sprache“[181], sei die Ehrfurcht vor dem großen, dem organischen Kunstwerk erstmalig zerstört worden. Fortgeführt werde diese Entwicklung durch den Film, der kein auratisches Original mehr kenne und durch die permanente Bildfolge jegliche Kontemplation verhindere. Die Loslösung vom Sakralen sei damit endgültig erfolgt und erstmals eine wirkliche „Fundierung auf Politik“[182] möglich.

Bei der Beurteilung der Benjamin’schen Kunsttheorie gehen die Positionen heute weit auseinander. Obgleich sich die Wahrnehmungsweise der Menschen durch den Film nachweislich tatsächlich geändert hat, bestehen Zweifel, ob nicht auch der Film der auratischen Kunst zugerechnet werden muss. Dabei darf jedoch nicht unterschlagen werden, dass sich Benjamin dieser Möglichkeit bzw. Gefahr durchaus bewusst war, wenn er den Starkult als reaktionäre Kraft beschreibt:

Der Film antwortet auf das Einschrumpfen der Aura mit einem künstlichen Aufbau der „personality“ außerhalb des Ateliers. Der vom Filmkapital geförderte Starkultus konserviert jenen Zauber der Persönlichkeit, der schon längst nur noch im fauligen Zauber ihres Warencharakters besteht.[183]

Ob man die bis heute weitestgehend ausgebliebene Fundierung auf Politik dem Starkult zuschreiben möchte oder einer falschen Argumentation Benjamins: Was Schlingensief anbelangt, stellt der Kunstwerkaufsatz wohl die zentrale Kunsttheorie zur Erfassung dessen filmischer Arbeiten dar. Seine Filme zerstören mit aller Gewalt jeglichen Funken Aura, der sich dort anzusammeln droht. Die immense Bilderflut, die keine großen Szenen, schon gar keine großen Auftritte oder Monologe mehr kennt, statt dessen Minisequenzen aneinander reiht, die auf fließende Übergänge verzichten und nur noch ein chaotisches und lärmendes Spektakel entfachen, ist die Verweigerung von Kontemplation in Vollendung. In Schlingensiefs Filmen gibt es keinen Moment des Innehaltens mehr. Sie sind auf Bild- und Tonebene eine Aneinanderreihung von Zumutungen, ein auf Zelluloid gebanntes Theater der Grausamkeit, das keine Kontemplation mehr gestattet. Die von diesen Filmen ausgehende Chockwirkung reißt den Zuschauer auf der Oberfläche der Bilder mit sich. Wenn daher Schlingensief in Bezug auf Die 120 Tage von Bottrop davon träumt, dieser Film möge eines Tages auf der Müllhalde gefunden werden,[184] bringt er damit seinen Wunsch nach Zerstörung des Kultwertes präzise zum Ausdruck.

Indem er sich derart gewaltsam vom sakralen Gehalt der Kunst befreit, nutzt er diese Loslösung für die von Benjamin geforderte Fundierung auf Politik, die in allen Arbeiten Schlingensiefs ein derartiges Gewicht erhält, dass es schwer fällt, Georg Seeßlen etwas entgegen zu setzen, wenn dieser behauptet, Schlingensiefs Arbeiten seien „das weitaus ’Politischste’, was in der deutschen Kultur derzeit geschehen kann“[185].

Die Zerstörung der Aura darf jedoch keineswegs, wie durch die Fundierung auf Politik schon deutlich geworden ist, mit einer Trivialisierung der Filme gleichgesetzt werden. Auch in Benjamins Kunstwerkaufsatz wird der Verlust der Kontemplation nicht mit der Abschaltung des Gehirns bezahlt, wie es viele Medientheorien nach ihm so gerne herbeireden wollten. Ganz im Gegenteil will die „Chockwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen“ werden, was im Klartext heißt, der Rezipient muss aktiver sein und schneller reagieren, als es bei der auratischen Kunst noch der Fall war.[186]

Die Analyse der Deutschlandtrilogie hat gezeigt, wie stark Schlingensiefs politischer Impetus bei der Entstehung dieser Filme mitgewirkt hat. Die Filme sind absolut gegenwartsbezogen, so dass sie die Chance der Einflussnahme auf die eigene Zeit bereitstellen. Hiermit ist zugleich das Risiko verbunden, lediglich den Mainstreamdiskurs der Zeit wider zu spiegeln, der möglicherweise aus dem Abstand einiger Jahre völlig anders beurteilt werden kann. Selbstverständlich bewegt sich auch ein Schlingensief nicht autonom in seiner Zeit, tatsächlich hat aber die Analyse der Filme ergeben, dass er keineswegs der Macht des gängigen Diskurses erliegt. Die Filme schreiben sich vielmehr in kleinere Gegendiskurse ein, bei Terror 2000 etwa in die Warnungen einiger Soziologen, die seit Mitte der 80er Jahre gegen die Gefahr der vor allem über die Medien verbreiteten fremdenfeindlichen Stimmung anschreiben. Aus der Einleitung zu diesem Film lässt sich zumindest erahnen, dass sich Schlingensief im Vorfeld des Drehs mit diesen Arbeiten auseinandergesetzt hat:

Der nun folgende Film schildert einen authentischen Fall aus dem Jahre 1992. Deutschland hat sich verändert: Die Asylantenheime sind überfüllt, die Regierung befindet sich auf dem Rückzug, die Polizei vor Ort ist allein gelassen. Ein großer Teil der Bevölkerung ist außer Kontrolle geraten und leistet offen Widerstand. Nur einige Fachleute bemühen sich um Klärung der Lage, doch bislang vergeblich.

Zum großen Bild der Asylantenflut etablierten diese Fachleute den Gegendiskurs, den Schlingensief, filmisch und künstlerisch überformt, in Terror 2000 verstärkt und so einem Publikum zugänglich macht, das über den Expertendiskurs kaum zu erreichen ist.

Wenn Seeßlen also Recht hat und Schlingensief in punkto politisch-engagierter Kunst in Deutschland tatsächlich die Nase vorn hat, muss es als Versäumnis gelten, dass seine Filme nach wie vor nur über VHS oder DVD verfügbar sind, so gut wie nie hingegen im Fernsehen gesendet werden. Nur deshalb kann Sabine Pott in der bereits erwähnten Arbeit über die Deutschlandtrilogie Fassbinders zu folgendem Urteil gelangen:

Mit Fassbinders Tod 1982 ist eine Traditionslinie in der deutschen Filmgeschichte abgebrochen, die ihre künstlerischen wie politisch-kritischen Wurzeln in den zwanziger Jahren in Deutschland fand.[187]

Diese Aussage ist, zumindest in Hinblick auf Schlingensief, ebenso falsch, wie ihr absolut zuzustimmen ist. Sie ist vor allem symptomatisch. In seiner eigenen Weise führt Schlingensief diese Traditionslinie durchaus fort, ohne als Epigone Fassbinders gelten zu können. Insofern als er bislang eher ein kleines Publikum erreicht und seine Filme nicht über das Fernsehen verbreitet werden, trifft die Aussage von Sabine Pott jedoch durchaus zu.

Dass ihm das große Publikum bislang verwehrt blieb, hat sicherlich auch mit der Art seiner Filme zu tun, seinem Kino der Grausamkeit, ganz bestimmt jedoch nicht mit der bisweilen unterstellten Banalität seiner Filme. Zumindest das hat diese Arbeit herausgestellt: Ob man sich bei der Betrachtung lediglich provoziert fühlt oder zum Nachdenken angeregt wird, bleibt letztlich der individuellen Rezeption der Filme überlassen, letztgenannte Option ist jedoch sicherlich ergiebiger.

Literatur- und Filmverzeichnis

Literatur

Appolonio, Umbro (Hg.) (1972) Der Futurismus. Manifeste und Dokumente einer künstlerischen Revolution 1909-1918. Köln: DuMont.

Benjamin, Walter (1974) Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Gesammelte Schriften, I, 2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Franfurt a.M.: Suhrkamp, S. 471-507.

Benthien, Claudia / Velten, Hans Rudolf (Hg.) (2002) Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (= rowohlts enzyklopädie 55643).

Behrendt, Eva (2001) Ruf der Schlachtbank. Schlingensiefs Spielshow „U 3000“ auf MTV. In: Theater heute, 2 (2001), S. 76-77.

Bergermann, Ulrike / Winkler, Hartmut (Hg.) (2000) TV-Trash. The TV-Show I Love to Hate. Marburg: Schüren.

Brecht, Bertolt (1967) Zu „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“. Anmerkungen. In: Ders.: Gesammelte Werke, Band 17. Herausgegeben vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann. Frankfurt a.M: Suhrkamp, S. 1176-1180.

Briegleb, Till (1998) 7 Tage Notruf für Deutschland. Eine Bahnhofsmission. In: Julia Lochte und Wilfried Schulz (Hg.) (1998), S. 97-138.

Bruns-Kösters, Holger (1988) Mitschuld. Polizei trieb Bankräuber auf Kamikaze-Tour. In: TAZ-Bremen vom 19.8.1988, S. 17.

Bürger, Christa und Peter / Jochen Schulte-Sasse (Hg.) (1982) Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Bürger, Peter (1974) Theorie der Avantgarde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Detje, Robin (2004) Wie er tut, was wir nicht lassen können. In: Theater heute, 2 (2004), S. 12-14.

Dreher, Thomas (2001) Performance art nach 1945. Aktionstheater und Intermedia. München: Fink (= Das Problempotential der Nachkriegsavantgarden; Bd. 3).

Dümcke, Wolfgang / Vilmar, Fritz (Hg.) (1996) Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses. 3. Aufl. Münster: Agenda Verlag.

Dümcke, Wolfgang / Vilmar, Fritz (1996a) Es hätte auch anders gehen können. Wider die Fatalität des Einigungsprozesses. In: Dies. (Hg.) (1996), S. 7-11.

Dümcke, Wolfgang (1996) Zusammenbruch der DDR – Ursachen und vertane Chancen. In: Dümcke / Vilmar (Hg.) (1996), S. 23- 39.

Eisner, Lotte H. (1990) Die dämonische Leinwand. Hg. von Hilmar Hoffmann und Walter Schobert. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag.

Elias, Norbert (1992) Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Michael Schröter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (=suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1008).

Foucault, Michel (1994) Dits et écrits. Bd. IV. Hg. von Daniel Defert und Francois Ewald. Paris: Gallimard.

Finke, Johannes / Wulff, Matthias (Hg.) (1999) CHANCE 2000. Phänomen Materialien Chronologie. Agenbach: Lautsprecher Verlag.

Fischer-Lichte, Erika / Kreuder, Friedmann / Pflug, Isabel (Hg.) (1998) Theater seit den 60er Jahren. Grenzgänge der Neo-Avantgarde. Tübingen, Basel: Francke (= UTB für Wissenschaft: Uni Taschenbücher; 2010).

Fischer-Lichte, Erika (1998a) Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Wege zu einer performativen Kultur. In: Fischer-Lichte / Kreuder / Pflug (Hg.) (1998), S. 1-20.

Fischer-Lichte, Erika (1998b) Verwandlung als ästhetische Kategorie. Zur Entwicklung einer Ästhetik des Performativen. In: Fischer-Lichte / Kreuder / Pflug (Hg.) (1998), S. 21-91.

Freud, Siegmund (2000) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Studienausgabe, Bd. V. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards u.a. Frankfurt a.M.: Fischer.

Fröhlich, Margrit / Loewy, Hanno / Steinert, Heinz (Hg.) (2003a) Lachen über Hitler – Auschwitz-Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust. München: Richard Boorberg Verlag.

Fröhlich, Margrit / Loewy, Hanno / Steinert, Heinz (2003b) Lachen darf man nicht, lachen muss man. In: In: Fröhlich / Loewy / Steinert (Hg.) (2003a), S. 9-18.

Girard, René (1992) Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt a.M.: Fischer.

Hake, Sabine (2004) Film in Deutschland. Geschichte und Geschichten seit 1895. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag (= rowohlts enzyklopädie 55663).

Haller, Michael / Holzhey, Helmut (Hg.) (1992) Medien-Ethik. Beschreibungen, Analysen, Konzepte. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Hickethier, Knut (2000) Trashfernsehen und gesellschaftliche Modernisierung. In: Bergermann / Winkler (Hg.) (2000), S. 23-45.

Hickethier, Knut (2001) Film- und Fernsehanalyse. 3., überarb. Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler (= Sammlung Metzler, Bd. 277).

Horkheimer, Max / Adorno, Theordor W. (2002) Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag.

Jäger, Siegfried (1997) Die Anstifter der Brandstifter? Zum Anteil der Medien an der Eskalation rassistisch motivierter Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland. In: Scheffer (Hg.) (1997), S. 73-98.

Jäger, Siegfried / Quinkert, Andreas (1991) „Warum dieser Haß in Hoyerswerda?“ Die rassistische Hetze von BILD gegen Flüchtlinge im Herbst 1991. Köln (=DISS-Script 4).

Jappe, Elisabeth (1993) Performance – Ritual – Prozeß. Handbuch der Aktionskunst in Europa. München, New York: Prestel.

Jünger, Ernst (1980) Über die Linie. In: Ders.: Sämtliche Werke, Band 7 Essays I. Stuttgart: Ernst Klett Verlag, S. 237-280.

Kasten, Jürgen (1990) Der expressionistische Film. Abgefilmtes Theater oder avantgardistisches Erzählkino? Eine stil-, produktions- und rezeptionsgeschichtliche Untersuchung. Münster: MakS Publikationen.

Kluge, Alexander (2001) Facts & Fakes 2/3. Fernseh-Nachschriften. Herzblut trifft Kunstblut. Erster imaginärer Opernführer. Hg. von Christian Schulte und Reinald Gussmann. Berlin: Vorwerk 8.

Kopfermann, Thomas (1981) Konkrete Poesie – Fundamentalpoetik und Textpraxis einer Neo-Avantgarde. Frankfurt a.M., Bern: Peter D. Lang.

Kracauer, Siegfried (1979) Schriften, Bd. 2. Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. Hg. von Karsten Witte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Kralicek, Wolfgang (2000) Österreich wie es stinkt und lacht. Über Christoph Schlingensiefs Container-Aktion „Bitte liebt Österreich!“ – und was bei den Wiener Festwochen außerdem noch gespielt wurde. In: Theater heute, 8/9 (2000), S. 5-11.

Lochte, Julia / Schulz, Wilfried (Hg.) (1998a) Schlingensief! Notruf für Deutschland. Hamburg: Rotbuch Verlag.

Lochte, Julia / Schulz, Wilfried (1998b) Schlingensief! Vorwort. In: Dies. (Hg.) (1998a), S. 9-10.

Löhndorf, Marion (1998) Lieblingsziel Totalirritation. In: Kunstforum, Bd. 142, 10/98, S. 94-101.

Loshitzky, Yosefa (2003) Verbotenes Lachen. Politik und Ethik der Holocaust-Filmkomödie. In: Fröhlich / Loewy / Steinert (Hg.) (2003), S. 21-36.

Metzler-Film-Lexikon (1995) Hg. von Michael Töteberg. Stuttgart und Weimar: Metzler.

Müller, Christian (2001) Medien, Macht und Ethik. Zum Selbstverständnis der Individuen in der Medienkultur. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Müller, Heiner (1988) Germania Tod in Berlin. Berlin: Rotbuch.

Müller, Martin (1993) Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt. Schamanismus und Erkenntnis im Werk von Joseph Beuys. Alfter: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaft.

Nadeau, Maurice (2002) Geschichte des Surrealismus. 6. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Suhrkamp (= rowohlts enzyklopädien 55437).

Nietzsche, Friedrich (1968) Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. In: Ders.: Nietzsche Werke, 6. Abteilung, zweiter Band. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin: de Gruyter.

Nietzsche, Friedrich (1999) Der Fall Wagner. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 6. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin, New York: de Gruyter, S. 9-54.

Ohff, Heinz (1973) Anti-Kunst. Düsseldorf: Droste.

Paech, Joachim (2003) Das Komische als reflexive Figur im Hitler- oder Holocaust-Film. In: Fröhlich / Loewy / Steinert (Hg.) (2003), S. 65-79.

Pott, Sabine (2004) Film als Geschichtsschreibung bei Rainer Werner Fassbinder. Fassbinders Darstellung der Bundesrepublik Deutschland anhand ausgewählter Frauenfiguren in seiner „BRD-Trilogie“: Die Ehe der Maria Braun (1978), Lola (1981) und Die Sehnsucht der Veronika Voss (1982). 2., durchgesehene Aufl. Frankfurt a.M.: Peter Lang.

Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd.1. Hg. von Klaus Weimar. 3., neuberarb. Aufl. Berlin, New York: de Gruyter 1997.

Roth, Wilhelm (1998) 100 JAHRE ADOLF HITLER – DIE LETZTE STUNDE IM FÜHRERBUNKER. In: epd Film, 8/1989, S. 29.

Roth, Wolfgang / Matthäus, Ingrid u.a. (Hg.) (1972) Schwarzbuch: Franz Josef Strauß. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

Ruß-Mohl, Stephan / Bertold Seewald (1992) Die Diskussion über journalistische Ethik in Deutschland – eine Zwischenbilanz. In: Haller/Holzhey (Hg.) (1992), S. 22-36.

Scheffer, Bernd (1997) Medien und Fremdenfeindlichkeit. Alltägliche Paradoxien, Dilemmata, Absurditäten und Zynismen. Opladen: Leske + Budrich.

Schlingensief, Christoph (1996) Mann tot, Fernseher aus. In: TAZ vom 15.08.1996, S. 17.

Schlingensief, Christoph (1997) „Zynisch, das abrupt zu beenden.“ Interview. TAZ-Hamburg vom 22.101997, S. 22.

Schlingensief, Christoph (1998a) Wir sind zwar nicht gut, aber wir sind da. In: Julia Lochte und Wilfried Schulz (Hg.) (1998), S. 12-39.

Schlingensief, Christoph (1998b) Losrasen für Deutschland. In: DER SPIEGEL 11/1998, S. 214-216.

Schlingensief, Christoph (1998c) TALK 2000. Wien und München: Franz Deuticke Verlagsgesellschaft.

Schlingensief, Christoph (2004) Im Hauptquartier. In: Theater heute 10/2004, S. 63.

Seeßlen, Georg (1998) Vom barbarischen Film zur nomadischen Politik. In: Lochte / Schulz (Hg.) (1998), S. 40-78.

Seidl, Claudius (1990) Von Menschen und Metzgern. In: DER SPIEGEL 49/90, S. 264-166.

Seliger, Helfried W. (1974) Das Amerikabild Bertolt Brechts. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann (= Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik; Bd. 21).

Showalter, Elaine (1999) Hystorien. Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag.

Sontag, Susan (1989a) Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Frankfurt a.M.: Fischer.

Sontag, Susan (1989b) Anmerkungen zu ‚Camp’. In: Dies. (1989a), S. 322-341.

Sontag, Susan (1989c) Happenings: Die Kunst des radikalen Nebeneinanders. In: Dies. (1989a), S. 309-321.

Spengler, Oswald (1980) Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München: Beck.

Stachelhaus, Heiner (2001) Joseph Beuys. 5. Aufl. München: Econ.

Stresau, Norbert (1987) Der Horror-Film. Von Dracula zum Zombie-Schocker. München: Heyne.

Thon, Ute (1990) Kein neues Gesicht. TAZ vom 1.11.1990, S. 15.

Töteberg, Michael (2001) Rainer Werner Fassbinder. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag (= rowohlts monographien 50458).

Vilmar, Fritz (1996) Eine alternative Deutschlandpolitik. In: Dümcke / Vilmar (Hg.) (1996), S. 106-115.

Wagner, Benno (1992) Vom Licht des Krieges zur black box des Modells Deutschland. Ausnahme und Erkenntnis nach Schmitt und Foucault. In: Friedrich Balke, Eric Méchoulan und Benno Wagner (Hg.) (1992) Zeit des Ereignisses – Ende der Geschichte? München: Wilhelm Fink.

Winter, Rainer (1995) Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozess. München: Quintessenz.

Internetquellen

Horst, Jörg van der (2002a) Schlingensief united. Oberhausen, Untertage und „Alles über Deutschland“. http://www.schlingensief.com/downloads/jvdh_portrait.pdf (03.09.2005).

Horst, Jörg van der (2000b) Theater als Baustelle. Schlingensiefs Theater im Antitheorietest. http://www.schlingensief.com/downloads/jvdh_theater.pdf (03.09.2005).

Horst, Jörg van der (2002c) Zweimal Kino ‚69, bitte!“ Die Filme von Christoph Schlingensief und ihr Verhältnis zu Fassbinder. http://www.schlingensief.com/downloads/jvdh_film.pdf (03.09.2005).

Kluge, Alexander (2000) http://www.freitag.de/2000/42/0042/00421301.htm (12.02.2003).

Kuhlbrodt, Dietrich (1989) Portrait Christoph Schlingensief.

Interviews mit Schlingensief

http://www.schlingensief.com/bio_kuhlbrodt.php (03.09.2005).

http://www.djfl.de/entertainment/stars/c/christoph_schlingensief_united.html (09.07.05).

http://www.freitag.de/2000/42/0042/00421301.htm (12.09.2005).

http://ftp.fortunaty.net/com/textz/textz/schlingensief_christoph_psycho_fuer_arme.txt (03.09.2005).

Filmverzeichnis

Benigni, Roberto

La vita è bella (1997)

Chaplin, Charles Spencer

The Great Dictator (1940)

Fassbinder, Rainer Werner

Satansbraten (1976)

Die Ehe der Maria Braun (1978)

Lola (1981)

Die Sehnsucht der Veronika Voss (1981)

Hitchcock, Alfred

Psycho (1960)

Hooper, Tobe

The Texas Chainsaw Massacre (1974)

Schlingensief, Christoph

100 Jahre Adolf Hitler. Die letzte Stunde im Führerbunker (1989)

Das deutsche Kettensägenmassaker. Die erste Stunde der Wiedervereinigung (1990)

Terror 2000. Intensivstation Deutschland (1992)

Die 120 Tage von Bottrop (1997)

United Trash (1996)

Wiene, Robert

Das Cabinet des Dr. Caligari (1919)

TV-Dokumentationen

10 vor 11. Ten to eleven. „Ich rieche Menschenfleisch.“ Christoph Schlingensief und sein Film DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER. RTL, 17.05.1993.

Christoph Schlingensief und seine Filme (2004)

[...]


[1] Nietzsche 1999, S. 13.

[2] Schlingensief zit. nach Seeßlen 1998, S. 42.

[3] Vgl. Nietzsche, „Jenseits von Gut und Böse“. Dort heißt es: „Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob es Gegensätze überhaupt gibt, und zweitens, ob jene volkstümlichen Wertschätzungen und Wert-Gegensätze, auf welche die Metaphysiker ihr Siegel gedrückt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen sind, nur vorläufige Perspektiven, vielleicht noch dazu aus einem Winkel heraus, vielleicht von unten hinauf, Froschperspektive gleichsam, um einen Ausdruck zu borgen, der den Malern geläufig ist?“ (Nietzsche 1968, S. 10)

[4] Vgl. hierzu etwa Ch. und P. Bürger /Schulte-Sasse 1982.

[5] Vgl. Benthien / Velten 2002.

[6] Damit allerdings auch bisweilen ein kurzes Verfallsdatum aufweist. Dazu Schlingensief: „Das Schlimme ist, wenn Leute sagen: Nach meinem Tod wird man verstehen, was ich gemeint habe. Dann haben sie nichts für sich unternommen...“ (Kluge/Schlingensief 2001, S. 4)

[7] In ihrer 2001 veröffentlichten Dissertation über Fassbinders Deutschlandtrilogie konstatiert Sabine Pott bezüglich der Fassbinder-Rezeption im In- und Ausland: „Die Rezeption im englischsprachigen Ausland ist der deutschen Rezeption [...] voraus. Hier wird sich unvoreingenommener mit seinem Werk auseinandergesetzt als im Inland. Es liegen Aufsätze vor zu Fassbinders Sirk-Rezeption, zu Fassbinders melodramatischen Adaptionen, sogar zu Fassbinders Einordnung und Stellenwert im Neuen Deutschen Film kamen die Untersuchungen von außen. Zur Zeit werden Fassbinders Filme in den USA unter dem Aspekt der ’sexual politics’ untersucht, in Deutschland gibt es nichts Vergleichbares.“ (Pott 2004, S. 10.)

[8] Pott 2004, S. 10.

[9] Der Vorwurf des Pubertären findet bei Schlingensief selbst mittlerweile großen Anklang und überzeugt auch andere. Georg Seeßlen schreibt: „Wenn man Schlingensiefs Arbeiten gerade einmal nicht mag, was vorkommen soll, vielleicht gerade weil sich davon so wenig behalten, so wenig abspeichern, so wenig historisieren läßt, dann nennt man seinen Stil gerne ’pubertär’. [...] Seine Kunst besteht vor allem darin, seine Umwelt als Ganzes in die Pubertät zurückzuschicken, wo alles möglich war. Eben auch das Allerdümmste und Allerpeinlichste.“ (Seeßlen 1998, S. 71)

[10] Die Trennung von Werk und Autor wäre bei Schlingensief wesentlich leichter als noch bei Fassbinder, der in seinen Filmen immer wieder sich selbst, seine Homosexualität und seine privaten Beziehungen zum Thema macht. In Schlingensiefs Filmen hingegen fließt die Biographie des Regisseurs kaum ein.

[11] Es ist auffällig, dass in den Filmen Schlingensiefs Sprache ihre Funktion zur Verständigung immer wieder verliert. Es wird nicht diskutiert, sondern geschrieen, gemordet, vergewaltigt. Wenn doch gesprochen wird, fallen häufig Plattitüden, Hetzparolen, oder standardisierte Formulierungen, wie etwa bei der Grabrede des Innenministers in Terror 2000 oder die anschließende Fernsehberichterstattung.

[12] Ten to eleven, RTL, 17.05.1993.

[13] Schlingensief 1998a, S. 27.

[14] Peter Bürger schreibt hierzu: „Der Begriff historische Avantgardebewegung setzt diese ab von allen neoavantgardistischen Versuchen, wie sie für die 50er und 60er Jahre in Westeuropa charakteristisch sind. Obwohl die Neoavantgarden zum Teil die gleichen Ziele proklamieren wie die Vertreter der historischen Avantgardebewegung, kann der Anspruch auf eine Rückführung der Kunst in die Lebenspraxis innerhalb der bestehenden Gesellschaft nach dem Scheitern der avantgardistischen Intentionen nicht mehr ernsthaft gestellt werden. Wenn heute ein Künstler ein Ofenrohr auf eine Ausstellung schickt, so ist damit keineswegs mehr die Intensität des Protests zu erreichen, die Duchamps Ready-mades hatten.“ (Bürger 1974, S. 45) Zu einer Kritik an Bürgers Position siehe Kopfermann 1981 oder Detje 2004.

[15] Finke und Wulff 1999

[16] Ebd. S. 9.

[17] Ebd., S. 8.

[18] Siehe hierzu Bürger 1974, S.76-116.

[19] Ebd., S. 63ff.

[20] Schlingensief 1998b, S. 216.

[21] Bürger 1974, S. 29.

[22] Schlingensiefs erster, wohl nicht ganz ernst gemeinter Vorschlag bestand darin, „die Fassade des Schauspielhauses niederzureißen und die Stühle umzudrehen, damit die Zuschauer das Elend um den gegenüberliegenden Hauptbahnhof betrachten können, wo Straßenstrich, Drogenkonsum und Obdachlosigkeit die Szenerie prägen. Das ging leider aus ‚technischen Gründen’ nicht.“ (Briegleb 1998, S. 100f.)

[23] Schlingensief 1997, S. 22.

[24] Zit. nach Briegleb 1998, S. 123f.

[25] Zit. nach Kralicek 2000, S. 6.

[26] Schlingensief 1998a, S. 15.

[27] Schödel, zit. nach Schlingensief 1998c, S. 166.

[28] Vgl. Ohff 1973, S. 8-11.

[29] Ebd. 1973, S. 8.

[30] Ebd. 1973, S. 9.

[31] Siehe hierzu Nadeau 2002, S. 34-39.

[32] Als Reaktion darauf schreibt Schlingensief folgenden Dialog mit dem Titel „Im Hauptquartier“:

Harfouch Ja, hier ist die Bernd-Eichinger-Filmproduktion. Corinna Harfouch am Apparat.

Schlingensief Corinna? Hier ist Christoph. Du, ich habe gestern den Film „Der Untergang“ gesehen. Du warst großartig als Frau Goebbels. Das fand ich so erregend, wie du die ganzen Kinder umgebracht hast. Das war sicher nicht leicht. Aber irgendwie hat es mich total angemacht. Ich bin verrückt nach dir, ich bin komplett aus dem Häuschen. Ich will sterben! Mit deiner Hilfe! Mama?

Im Hintergrund tiefe, dunkle, schnarzende Stimme mit Schweizer Akzent: Wer ist denn da?

Corinna Das ist der Herr Schlingensief ... Der hat uns gestern beim „Untergang“ zugeschaut.

Bruno Ganz Und? ...Wie bin ich?

Christoph Corinna?

Bruno Ganz WIE BIN ICH? ...Hier ist Hitler! Meine rechte Hand zittert, dass kommt vom Winken. Wieso haben Sie sich vom Gefechtsstand entfernt? Ich will, dass die 9. Armee endlich zugreift! Schaffen Sie mir Fegelein her!

Christoph Hallo? Wer ist denn da?

Corinna Das war Adolf Hitler...

Christoph Hitler? Was macht der denn bei euch? Ich dachte, der ist doch tot und verbrannt, jedenfalls war das gestern ganz deutlich im Film zu sehen.

Corinna Nein, das war der Bruno...der Ganz! Der ist da verbrannt.

Christoph Der Bruno ist ganz verbrannt? Und wer spielt jetzt Hitler?

Bruno Ganz Ich bin Hitler!

Christoph Wie bitte? Hitler ist Schweizer?

Bruno Ganz Hitler, ich bin Hitler! Hitler, Hitler, Hitler ... ich gebe der deutschen Nation die Möglichkeit, um mich zu trauern!

Christoph Aber Frau Goebbels sagte gerade, dass sie verbrannt sind, Herr Ganz.

Bruno Ganz Aber nicht ganz! Der Hitler in mir ist geblieben. Keinen Schritt weiter, oder ich lasse die Bunkerlüftung ausschalten!

Corinna Christoph, dem Bruno geht’s nicht so gut. Der kommt nicht raus aus seiner Rolle... flüstert: Ich glaube, der war schon immer Hitler, auch damals als Faust. Da haben sie ihn nur ausgetauscht, weil der der Hitler ist ...! Der Bruno ist eigentlich der Hitler! Und Hitler ist Schweizer!

( Schlingensief 2004, S. 63)

[33] Vgl. Ohff 1973, S. 82f.

[34] Dreher 2001, S15.

[35] Marinetti, zit. nach Appoloni 1972, S. 174.

[36] Vgl. ebd.

[37] Vgl. Fischer-Lichte 1998a, S. 3f.

[38] Ebd, S. 6.

[39] Vgl. ebd., S. 1f.

[40] Schlingensief 1998a, S. 27.

[41] Susan Sontag gibt ihrem Aufsatz über Happenings den bezeichnenden Untertitel „Die Kunst des radikalen Nebeneinanders“. (Sontag 1989c)

[42] Vgl. Jappe 1993, S. 18.

[43] Zu einer Abgrenzung des Happening von Fluxus siehe Jappe 1993, S. 19-22. „Das Happening setzt einen Prozeß in Gang, ein Szenario wird entworfen, aber der Ablauf des Geschehens ist abhängig von den Reaktionen des Publikums, der Ausgang ist ungewiß. Eine Fluxus-Aktion ist – im Gegensatz zum eher >amorphen Bild< des Happening – definierter, bleibt in der Hand des Künstlers. Auch hier ist das Publikum involviert, doch wird erwartet, daß es auch gelegentlich harte Attacken widerstandslos über sich ergehen läßt (oder weggeht – auf jeden Fall nicht selbst agiert).“ (Jappe 1993, S. 19.)

[44] Vgl. Jappe 1993, S. 19ff.

[45] Ebd., S. 22.

[46] In einem Interview nennt er Herschell Gordon Lewis einen seiner größten Einflüsse, sicher nicht ohne um den provokanten Gehalt dieser Aussage zu wissen. Mit Lewis Film Blood Feast beginnt Anfang der 60er Jahre im Genre des Horrorfilms das Subgenre Splatter, das auf die Zerstörung des Körpers setzt und diese Zerstörung bis ins Detail und in Großaufnahme zeigt. Während einige Splatterfilme heute durchaus als anspruchsvoll gelten, insofern das Zuschaustellen der Gewalt einerseits durch die Handlung motiviert, andererseits kritisch bis ironisch im Film selbst reflektiert wird, so etwa in Braindead, Scanners oder The Evil Dead, wird in Herschell Gordon Lewis eher ein Vertreter des Exploitation-Films gesehen, der bei seinen Zuschauern auf Lust am Ekel und auf die detaillierte Darstellung von Gewalt setzt. (Vgl. Stresau 1987, S. 156f.) Mit Das deutsche Kettensägenmassaker bezieht sich Schlingensief ganz deutlich auf den Splatterfilm, allerdings erfährt das filmische Vorbild – Tobe Hoopers The Texas Chainsaw Massacre – , nachdem es jahrelang fälschlich als besonders blutrünstig verschrien und in Deutschland lange zensiert war, mittlerweile eine Aufwertung.

[47] Fischer-Lichte 1998b, S. 21 f.

[48] Vgl. Behrendt 2001.

[49] http://www.djfl.de/entertainment/stars/c/christoph_schlingensief_united.html (09.07.05)

[50] Girard 1992, S. 18.

[51] Zum Aspekt des Schamanismus im Werk von Beuys siehe Müller, M. 1993.

[52] Schlingensief 1998a, S. 15.

[53] Zu der Bedeutung der Tiere bei Beuys siehe Stachelhaus 2001, S. 71-78.

[54] Siehe hierzu Finke und Wulff 1999.

[55] Vgl. Stachelhaus 2001, S. 136f.

[56] Vgl. hierzu Horst (2002c), http://www.schlingensief.com/downloads/jvdh_film.pdf (03.09.2005).

[57] Lochte /Schulz 1998b, S.9f.

[58] Seeßlen 1998, S. 42.

[59] Ebd., S. 52.

[60] Seidl 1990, S. 266.

[61] Seeßlen 1998, S. 54.

[62] Hickethier 2000.

[63] Für den vergleichbaren Fall des Phänomens Camp, verwendet Susan Sontag hierfür das Wort sensibility, in der deutschen Ausgabe mit „Erlebnisweise“ übersetzt. (Vgl. Sontag 1989b)

[64] Hickethier 2000, S. 23.

[65] Ebd., S. 26.

[66] Ebd., S. 26.

[67] Vgl. Schlingensief 1996, S. 17.

[68] Hickethier, 2000, S. 26.

[69] Ebd. S. 27.

[70] Ebd. S. 26.

[71] Ich konnte keinen Hinweis darauf finden, dass 100 Jahre Adolf Hitler tatsächlich als erster Teil einer Trilogie gelten sollte. Es scheint, dass erst mit Das deutsche Kettensägenmassaker die Idee von drei Filmen zu Deutschland entstand und der Hitlerfilm rückwirkend zum Auftakt dieser Trilogie erklärt wurde.

[72] Kluge (2000), http://www.freitag.de/2000/42/0042/00421301.htm (12.02.2003).

[73] Siehe hierzu Loshitzky 2003.

[74] Paech 2003, S. 65.

[75] Chaplin, zit. nach Loshitzky 2003, S. 22f.

[76] Frölich/Loewy/Steinert 2003b, S. 14.

[77] Loshitzky 2003, S. 23.

[78] Frölich/Loewy/Steinert 2003b, S. 13.

[79] Imre Kertész zit. nach Frölich/Loewy/Steinert 2003b, S. 16.

[80] Stichwort „Groteske“ in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 748.

[81] So wurde etwa Alexander von Humboldt im Jahre 2004 durch die Berichte über den zweihundertsten Jahrestag des Endes seiner Lateinamerikareise aus der Marginalisierung im öffentlichen Bewusstsein gehoben und wurde so binnen weniger Wochen vom unbekannteren kleinen Bruder zum Musterbeispiel des Vorzeigedeutschen. (Vgl. hierzu etwa die Berichterstattung in DER SPIEGEL 38/2004. Hier wird Alexander von Humboldt als „Vorbild-Deutscher“ bezeichnet und wird als Gegenbeispiel etabliert zu der „Jammersucht der Deutschen“. )

[82] Christoph Schlingensief in dem Interviewfilm Christoph Schlingensief und seine Filme.

[83] Roth 1989.

[84] Brecht 1967, S. 1177f.

[85] Ebd., S. 1179.

[86] Ebd.

[87] Vgl. Seliger 1974.

[88] Vgl. Seeßlen 1998, S. 44.

[89] Schlingensief in dem Interviewfilm Christoph Schlingensief und seine Filme.

[90] Mit einigem Recht weist u.a. Seeßlen darauf hin, dass Schlingensiefs Filme, wie auch seine Theaterstücke, keine „Dramaturgie“ aufweisen: „Sie sind nicht auf klassischen Vorstellungen von einer Erzählung, von der Katharsis usw. aufgebaut, sondern viel eher einer Montage der Attraktionen vergleichbar, in der es weder den Augenblick der Retardierung und Ruhe noch die Vorbereitung des Höhepunktes gibt.“ (Seeßlen 1998, S. 44) Dennoch zeigt sich im Vergleich der Trilogie, dass Das deutsche Kettensägenmassaker und Terror 2000 im Unterschied zu 100 Jahre Adolf Hitler durchaus einen Plot aufweisen, der sich jedoch unseren gängigen Vorstellungen von einer filmischen Handlung verweigert.

[91] Eichinger zit. nach Behrendt 2004, S. 63.

[92] Eichinger zit. nach Behrendt 2004., S. 64. Der Kommentar der „Theater heute“-Redakteurin Eva Behrendt zu diesem Zitat Bernd Eichingers lautet: „[Z]u solch fortschrittlichen Ansichten hätte man ihn zuletzt im 19. Jahrhundert beglückwünscht.“ (Ebd.)

[93] Schlingensief im Interviewfilm Christoph Schlingensief und seine Filme.

[94] Ebd.

[95] Auf die Verwandtschaft von 100 Jahre Adolf Hitler zum expressionistischen Film haben sowohl Marion Löhndorf (Löhndorf 1989) als auch Dietrich Kuhlbrodt (Kuhlbrodt 1990, http://www.schlingensief.com/bio_kuhlbrodt.php) hingewiesen, ohne jedoch diese Hinweise auszuarbeiten.

[96] Kasten 1990, S. 9.

[97] Kasten 1990, S. 9.

[98] Eisner 1990, S. 16. Die darin enthaltenen Zitate von Edschmid entstammen: Kasimir Edschmid: Über den Expressionismus in der Literatur und die neue Dichtung. 1917.

[99] Tatsächlich wird die Verwendung des Lichts, die für den Expressionismus charakteristisch werden soll, von Reinhardt bereits 1916 in einer Inszenierung von „Dantons Tod“ erprobt. Siehe hierzu: Kasten 1990, S. 10.

[100] Eisner 1990, S. 47.

[101] Spengler 1980.

[102] Ebd., S. 3.

[103] Eisner 1990, S. 49.

[104] Kracauer 1979, S. 9.

[105] Ebd., S. 11.

[106] Ebd., S. 71.

[107] Ebd., S. 73.

[108] Ebd., S. 79.

[109] Vgl. Kuhlbrodt 1990, http://www.schlingensief.com/bio_kuhlbrodt.php (03.09.2005).

[110] Schlingensief zit. nach Seeßlen S. 42.

[111] Kuhlbrodt 1990, http://www.schlingensief.com/bio_kuhlbrodt.php (03.09.2005).

[112] Vgl. Hickethier 2001, S. 173.

[113] Ebd., S. 173f.

[114] „Verrat, Verrat. Fegelein hat uns verraten“, heißt es schon zu Beginn des Films, und später: „Er wurde mit einer Prostituierten erwischt.“ Die Prostituierte, als Metapher verstanden, meint die Westmächte, mit denen Heinrich Himmler, dessen persönlicher Vertreter in der Reichskanzlei Fegelein war, Ende Mai Kapitulationsverhandlungen aufgenommen hatte. Da Hitler an Himmler selbst nicht herankam, ordnete er am 28. Mai die standrechtliche Erschießung Fegeleins an, der jedoch derart betrunken aufgegriffen wurde, dass die Erschießung erst am nächsten Morgen stattfinden konnte.

[115] Kluge 2001, S. 164.

[116] Hake 2004, S. 274.

[117] Schlingensief zit. nach Seeßlen 1998, S. 42.

[118] Müller, H. 1988.

[119] Vgl. ebd., S. 58-63.

[120] Hierin kann man die bildliche Umsetzung von Jean Pauls Definition des Witzes sehen: „Der Witz ist der verkleidete Priester, der jedes Paar traut.“

[121] Das bekannteste Buch hierzu ist wohl immer noch „Schwarzbuch: Franz Josef Strauß“ (Roth/Matthäus u.a. 1972).

[122] Elias 1992, S.12.

[123] Seeßlen 1998, S. 53 f.

[124] Töteberg 2002, S. 11.

[125] http://ftp.fortunaty.net/com/textz/textz/schlingensief_christoph_psycho_fuer_arme.txt (03.09.2005)

[126] So etwa Seeßlen, der die Filme nicht zu unrecht als “Montage der Attraktionen” bezeichnet. (Seeßlen, 1998, S. 44)

[127] Metzler-Film-Lexikon 1995, S. 151.

[128] Aus dem Interviewfilm Christoph Schlingensief und seine Filme.

[129] http://www.djfl.de/entertainment/stars/c/christoph_schlingensief_united.html (9.7.05)

[130] „Wie alle medialen Texte stellt auch der Horrorfilm eine semiotische Ressource dar, dessen Potential unterschiedlich angeeignet werden kann. In den Interpretationen der Kritiker wird dagegen unterstellt, daß die Filme eine Botschaft und eine daraus ableitbare Wirkung haben. Sie übersehen, daß der Sinn eines Textes nicht an sich gegeben ist, sondern Gegenstand eines ‚Kampfes von Interpretationen’ ist.“ (Winter 1995, S. 127)

[131] Stresau 1987, S. 156.

[132] Ten to eleven, RTL, 17.05.1993.

[133] Seidl, SPIEGEL 49/90, S. 264.

[134] Stresau 1987, S. 194.

[135] Ten to eleven, RTL, 17.05.1993.

[136] Stresau 1987, S. 196.

[137] Winter 1995, S. 139.

[138] http://ftp.fortunaty.net/com/textz/textz/schlingensief_christoph_psycho_fuer_arme.txt (03.09.2005)

[139] Ebd.

[140] Dümcke/Vilmar 1996.

[141] Dümcke/Vilmar 1996a, S. 7.

[142] Ebd.

[143] Ebd., S, 8.

[144] Siehe hierzu Dümcke 1996 und Vilmar 1996.

[145] Ten to eleven, RTL, 17.05.1993.

[146] Thon 1990, S. 15.

[147] Wolfgang Schäuble, zit. nach Wagner 1992, S. 233.

[148] Jünger 1980, S. 239.

[149] Ebd., S. 240.

[150] Ebd., S. 242.

[151] Ebd.

[152] Ebd., S. 279.

[153] Horkheimer/Adorno 2002, S. 38.

[154] So Schlingensief in Ten to eleven, RTL, 17.05.1993.

[155] Während offiziell stets Intensivstation Deutschland als Untertitel gilt, wird im Vorspann des Films der Untertitel Deutschland außer Rand und Band verwendet.

[156] In der Nacht zum 24. Februar 1993 verübten sechs Vermummte, die vermutlich zur autonomen Szene gehörten, auf die Filmrollen, die sich im Kreuzberger Kino Sputnik befanden, einen Säureanschlag. Sie stapelten dabei Filmrollen dreier Filme, darunter auch eine Kopie von Terror 2000, und übergossen sie mit Buttersäure. Im Bekennerschreiben hieß es, der Film sei „stumpfsinnig, rassistisch und sexistische Propaganda“, und ermögliche es dem Publikum, sich an der „exzessiven Gewalt aufzugeilen“. (Zitate nach: TAZ-Berlin vom 25.2.1993, S. 21)

[157] Um die Figur des Kommissars Körn besser zu verstehen, bietet sich ein Vergleich mit dem Film Rambo an. Ebenso wie Körn, der sich unter dem Druck der Kritik von Seiten der Medien immer mehr vom Gesetzesvertreter zum hasserfüllten Revolverhelden, der sich über jedes Gesetz hinwegzusetzen bereit ist, entwickelt, wird auch John Rambo in seinem gesteigerten Gerechtigkeitswahn zum Widerstandskämpfer, der schließlich eine ganze Stadt in Schutt und Asche legt. Die Parallele zu Rambo wird deutlich, wenn Körn zu berichten beginnt: „Ich war Einsatzleiter in Mogadischu, da kannten mich alle. Und ich kannte sie auch. In Mogadischu, da war ich ganz oben.“ Damit verweist er auf den berühmten Monolog gegen Ende des ersten Rambo-Films, wenn der bislang eher sprachunfähige Vietnamveteran weinend zusammenbricht und in dieser Regression seine eigene Situation zu reflektieren beginnt. Dort heißt es u.a.: „Da drüben flog ich einen Hubschrauber oder ich bin Panzer gefahren. Ich war verantwortlich für eine Million Dollar Ausrüstung. [...] Ich hatte Freunde, wir waren ein Haufen, alles Wahnsinnskumpels, wir sind zusammen durch die Hölle gegangen. Ich habe ihnen vertraut.“ Kleinere Anspielungen dieser Art finden sich in Schlingensiefs Filmen häufiger. In Terror 2000 wird u.a. noch auf die Filme I never promissed you a rosegarden und Mel Brooks Springtime for Hitler verwiesen. Die Verweise sind jedoch nicht angelegt, um Kohärenz zu stiften. Es sind mehr oder minder lose Verknüpfungen zu anderen Filmen, Ereignissen, Personen etc., die das Weiterdenken des Zuschauers in eine bestimmte Richtung lenken. Da es in dieser Arbeit nicht darum gehen soll, in positivistischer Manier möglichst alle angelegten Verweise aufzudecken, finden sie hier nur Erwähnung, wenn sie für die Analyse der Filme von Bedeutung sind.

[158] Das Zitat wurde entnommen der TAZ vom 5.11.1992, S.13.

[159] Jäger 1997, S. 73.

[160] Die Reihe der Bild-Zitate entstammen Scheffer 1997, S. 25f.

[161] Jäger 1997, S. 85.

[162] Bruns-Kösters 1988, S. 17.

[163] Ruß-Mohl/Seewald 1992, S.24.

[164] Foucault 1994, S. 386.

[165] Vgl. etwa dazu die Broschüre von Siegfried Jäger und Andreas Quinkert mit dem Titel „Warum dieser Haß in Hoyerswerda?“ Die rassistische Hetze von BILD gegen Flüchtlinge im Herbst 1991. (Jäger/Quinkert 1991)

[166] http://ftp.fortunaty.net/com/textz/textz/schlingensief_christoph_psycho_fuer_arme.txt (03.09.2005)

[167] Die Namensänderung dürfte nicht nur aus juristischen Gründen vorgenommen worden sein. Der Name Pupilla verweist überdeutlich auf das Auge, auf eben jenes Sinnesorgan, dem heute eine übergeordnete Bedeutung beigemessen wird und das gerade für ein sensationsinteressiertes Publikum so bedeutsam wird, ein Publikum, das alles sehen will.

Marshall McLuhan hat darauf hingewiesen, dass die ehemalige „Tyrannei des Ohres“ spätestens mit dem Buchdruck endgültig durch eine „Dominanz des Auges“ abgelöst wurde, die zu einer Einschränkung der Sinnlichkeit führte. Dadurch entstand die starre Haltung eines Standpunktes, wie McLuhan u.a. aus einer Analogie mit der Entdeckung der Zentralperspektive in der Malerei der Renaissance schließt, ein neuer Wissenstyp, der das Fremde ausgrenzt und nur noch die eigene „Perspektive“ zulässt. Während McLuhan die Hoffnung hegt, diesen letztlich eurozentrischen Standpunkt durch das Zeitalter der Elektrizität, das die Welt zum Global Village zusammenrücken lässt, überwinden zu können, bleibt Schlingensief bei der negativen Einschätzung eines auf das Sehen fixierten Massenpublikums, deren zentrales Medium das Fernsehen ist.

[168] Showalter 1999, S. 14.

[169] Ebd., S. 25.

[170] Ebd., S. 16.

[171] Ebd., S. 234.

[172] Hierzu bemerkt Seeßlen: „Schlingensief, so scheint’s, ist seit jeher besessen von der Zahl 2000. [...] Gern spricht er – eines der seriellen Motive, von denen später die Rede sein wird – davon, daß im Jahre 2000 die Autos fliegen und wir uns von Tabletten ernähren. Das ist einerseits eine runde Zahl, das Versprechen auf etwas Neues, andererseits schöne Parodie auf die Anpreisungssprache von Werbung und Nachrichten (bei ‚2000’ sind wir dabei, und schon wird die Zeit wieder knapp, dann kommt ‚2001’), und schließlich steckt darin die klassische Millenium-Drohung. Apokalypse Now. Jüngstes Gericht.“ (Seeßlen 1998, S. 42)

[173] Das Bild des Hafens ist eine Metapher aus der Schnittmenge zwischen christlicher Metaphorik und der bereits erwähnten Boot-Metaphorik in der Berichterstattung über die Flüchtlings ströme zu Beginn der 90er Jahre.

[174] Hierin kann eine Parallele zum Anfang von Das deutschen Kettensägenmassaker gesehen werden, wo Bundespräsident Richard von Weizsäcker so sehr um den reibungslosen Ablauf der Wiedervereinigungsfeier bemüht ist, dass seine größte Sorge der nahtlosen Anknüpfung der Nationalhymne an seine Rede gilt. In beiden Fällen bemühen sich Politiker vorrangig um die Bewahrung einer vorgegebenen Struktur der Zeremonie.

[175] Es soll keineswegs darum gehen, dem Film eine psychoanalytische Deutung aufzudrängen. Während mir eine solche Herangehensweise für die Deutschlandtrilogie völlig ungeeignet erscheint, zeigt sich in Bezug auf das blonde Haar Wibkes, dass der Film hier selbst ein Element aus der Psychoanalyse aufgreift. Der Fetischcharakter des Haars, ebenso wie der Name Wibke ist überdeutlich angelegt. Damit wird aber eher auf eine Fehlentwicklung in der deutschen Geschichte verwiesen, als auf eine besondere Eigenschaft der Personen. Mit anderen Worten: Auch das Auftauchen psychoanalytischer Elemente im Film ist nicht psychoanalytisch zu verstehen.

[176] Freud 2000, S. 63.

[177] Benjamin 1974.

[178] Ebd., S. 500.

[179] Vgl. ebd., S. 477f.

[180] Ebd., S 479.

[181] Ebd., S. 502.

[182] Ebd., S. 482.

[183] Ebd., S. 492.

[184] Vgl. Seeßlen 1998, S. 52

[185] Seeßlen 1998, S. 52.

[186] Zugegebenermaßen entsteht hierbei ein merkwürdiger Zwiespalt: Einerseits machen Schlingensiefs Filme jede Gelegenheit zum Innehalten und zur Reflexion unmöglich, andererseits sind die Verbindungen, die er in seinen Filmen knüpft bisweilen so komplex, dass sie ohne eben dieses Innehalten für den Zuschauer beim ersten Betrachten kaum nachvollzogen werden können. In den Rezensionen zu Schlingensiefs Filmen spiegelt sich oftmals eben dieses Dilemma wider, da der Filmkritik unter dem „Druck des raschen Urteils“ (Hickethier 2001, S. 26) Vieles entgeht. Gerade hier wäre es Aufgabe etwa der Germanistik, durch Filmanalysen die Rezeption Schlingensief’scher Filme anspruchsvoller und interessanter werden zu lassen.

[187] Pott 2004, S. 244.

Fin de l'extrait de 125 pages

Résumé des informations

Titre
Christoph Schlingensiefs Deutschlandtrilogie - Geschichts- und Gesellschaftsdiagnose im Film
Université
University of Kassel
Note
1
Auteur
Année
2005
Pages
125
N° de catalogue
V109880
ISBN (ebook)
9783640080588
ISBN (Livre)
9783640171613
Taille d'un fichier
842 KB
Langue
allemand
Mots clés
Christoph, Schlingensiefs, Deutschlandtrilogie, Geschichts-, Gesellschaftsdiagnose, Film
Citation du texte
Bernd Maubach (Auteur), 2005, Christoph Schlingensiefs Deutschlandtrilogie - Geschichts- und Gesellschaftsdiagnose im Film, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109880

Commentaires

  • Pas encore de commentaires.
Lire l'ebook
Titre: Christoph Schlingensiefs Deutschlandtrilogie - Geschichts- und Gesellschaftsdiagnose im Film



Télécharger textes

Votre devoir / mémoire:

- Publication en tant qu'eBook et livre
- Honoraires élevés sur les ventes
- Pour vous complètement gratuit - avec ISBN
- Cela dure que 5 minutes
- Chaque œuvre trouve des lecteurs

Devenir un auteur