Walter Grode
ZWANGSSTERILISATION IM NATIONALSOZIALISMUS
Rezensionsessay zur gleichnamigen Studie von Gisela Bock, erschienen in: >Politische Vierteljahreshefte< 29 (Heft 3/1988)
Die NS-Sterilisationspolitik ist in einschlägigen Untersuchungen bisher fast ausschließlich als Vorstufe der Vernichtungspolitik seit 1939 gesehen worden.
Gisela Bock, Professorin für Neuere Geschichte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, kommt demgegenüber in ihrer Studie, einer gekürzten und überarbeiteten Fassung ihrer Habilitationsschrift, zu einer fundamentalen Neubewertung.
"Es bedarf nicht", so die nicht unproblematische Ausgangsthese, "einer mit ihr historisch zusammenhängenden Mordpolitik, um sie als Unrecht zu erweisen" (8). Aus diesem Grunde wird die Sterilisationspolitik von der Autorin "um ihrer selbst willen" erforscht, "nämlich als "integraler Bestandteil der nationalsozialistischen Geburtenpolitik" (8).
Die Arbeit widerlegt die vorherrschende Ansicht, die NS-Frauenpolitik sei ausschließlich "pronatalistisch" gewesen und der Pronatalismus sei mit allen Mitteln betrieben worden: vom Ausschluß der Frauen aus der Erwerbstätigkeit bis hin zum Gebärzwang. Identifiziert man jedoch ein Spezifikum des Nationalsozialismus in Zwang und Gewalt, so findet es sich was Frauen betrifft, eben nicht in seiner pronatalistischen, sondern in seiner antinatalistischen Politik, eben nicht im vermeintlichen Gebärzwang, sondern insbesondere in den Zwangssterilisationen.
Die Untersuchung übernimmt aus der englischsprachigen Forschung eine Reihe von Konzeptionen (z.B. Pro-, Antinatalismus, institutioneller Rassismus), vor allem aber ein Verständnis von Rassismus als eines sozialen Verhältnisses zwischen ethnischen bzw. vergleichbaren soziokulturellen Minderheiten und Mehrheiten. Deshalb behandelt die Arbeit die Sterilisationspolitik als eine der Formen des nationalsozialistischen Rassismus im Zusammenhang mit seinen übrigen Formen. In diesem Rahmen waren die Zwangssterilisationen lediglich ein Teil eines gleichermaßen gegen Frauen und Männer gerichteten vielfältigen Instrumentariums zur 'Ausmerzung' von ethnisch und eugenisch 'Minderwertigen' zum Zweck der 'Aufartung'.
Unterschiedliches bedeutete dagegen die Sterilisation für Frauen und Männer vor allem unter drei Aspekten, die sie als soziale Maßnahme charakterisieren: Die sterilisationspllitische Trennung von Geschlechtsverkehr und Fortpflanzung hieß in erster Linie "Freigabe männlicher Sexualgewalt gegenüber 'minderwertigen' und zwangssterilisierten Frauen" (394). Hinzu kommt die Gewalt des körperlichen Eingriffs, die sich in der Gesamtzahl von 5.000, darunter zu 90%
Frauen, unmittelbar oder mittelbar durch die Sterilisation Getöteten spiegelt. Entsprechend kennzeichnet die Autorin die Sterilisationspolitik für Frauen "nicht als Vorstufe, sondern als Beginn und erste Etappe der Massenmorde" (380).
Schließlich wird nach Meinung der Verfasserin die Bedeutung der Kinderlosigkeit für Frauen häufig, aber zu Unrecht mit "Emanzipation" bzw. "Feminismus" gleichgesetzt. Deshalb sah die bisherige Forschung die zu Recht vermutete Frauenfeindlichkeit des NS-Regimes nicht in seiner Politik des Gebärverbots, sondern des Gebärgebots.
Gisela Bocks Untersuchung liefert nicht zuletzt wegen der Breite ihrer Quellenbasis einen zentralen Beitrag zur Erforschung der NS-Rassenpolitik namentlich für die Jahre 1933 bis 1939, der über bisherige Veröffentlichungen wesentlich hinausgeht. Wünschenswert wäre jedoch zusätzlich eine in gleicher Weise ausführliche Analyse des 'Geburtenkriegs' während des Zweiten Weltkriegs als Teil des Rassenkampfs gegen 'innere' wie 'äußere Feinde'.
Häufig gestellte Fragen
Was ist das Thema des Rezensionsessays?
Das Rezensionsessay behandelt Gisela Bocks Studie "Zwangssterilisation im Nationalsozialismus" und ihre Neubewertung der NS-Sterilisationspolitik als integralen Bestandteil der nationalsozialistischen Geburtenpolitik.
Wie unterscheidet sich Bocks Studie von bisherigen Untersuchungen?
Bisherige Untersuchungen sahen die NS-Sterilisationspolitik hauptsächlich als Vorstufe der Vernichtungspolitik. Bock hingegen erforscht sie "um ihrer selbst willen" als Teil der Geburtenpolitik.
Welche These vertritt Gisela Bock in ihrer Studie?
Bock argumentiert, dass die Zwangssterilisationen ein integraler Bestandteil der NS-Geburtenpolitik waren und widerlegt die Ansicht, dass die NS-Frauenpolitik ausschließlich pronatalistisch gewesen sei.
Wie wird Rassismus in Bocks Arbeit verstanden?
Rassismus wird als soziales Verhältnis zwischen ethnischen bzw. soziokulturellen Minderheiten und Mehrheiten verstanden. Die Sterilisationspolitik wird als eine Form des nationalsozialistischen Rassismus betrachtet.
Welche Rolle spielten Zwangssterilisationen im Kontext des NS-Rassismus?
Zwangssterilisationen waren Teil eines Instrumentariums zur 'Ausmerzung' von ethnisch und eugenisch 'Minderwertigen' zum Zweck der 'Aufartung', sowohl gegen Frauen als auch gegen Männer gerichtet.
Welche unterschiedlichen Auswirkungen hatte die Sterilisation auf Frauen und Männer?
Für Frauen bedeutete die Sterilisation die "Freigabe männlicher Sexualgewalt gegenüber 'minderwertigen' und zwangssterilisierten Frauen". Außerdem waren Frauen mit 90% der 5.000 Sterilisationsopfer deutlich häufiger betroffen.
Wie bewertet die Autorin die Bedeutung der Kinderlosigkeit für Frauen im Kontext der NS-Zeit?
Die Autorin kritisiert die Gleichsetzung von Kinderlosigkeit mit "Emanzipation" bzw. "Feminismus" und betont, dass die NS-Frauenfeindlichkeit nicht in einem vermeintlichen Gebärzwang, sondern im Gebärverbot lag.
Welchen Beitrag leistet Bocks Untersuchung zur Erforschung der NS-Rassenpolitik?
Bocks Untersuchung liefert einen zentralen Beitrag zur Erforschung der NS-Rassenpolitik, insbesondere für die Jahre 1933 bis 1939, und geht über bisherige Veröffentlichungen hinaus.
Welche Ergänzung wäre wünschenswert?
Eine in gleicher Weise ausführliche Analyse des 'Geburtenkriegs' während des Zweiten Weltkriegs als Teil des Rassenkampfs gegen 'innere' wie 'äußere Feinde' wäre wünschenswert.
Wo kann man Gisela Bocks Studie finden?
Gisela Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik. (Schriften des Zentralinstitutes für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, Bd. 48). Opladen: Westdeutscher Verlag 1986, 494 S.
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- Dr. phil. Walter Grode (Author), 1988, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110254