Kulturschock Deutschland, oder: Müffeln Armenier?


Recension Littéraire, 2006

12 Pages


Extrait


Tessa Hofmann

Kulturschock Deutschland, oder:

Müffeln Armenier?

Buchbesprechung zu:

Friesen, Ute; Würmli, Marcus:

Kulturschock Kaukasus. Bielefeld: Reise Know-How, (2006).

256 S.; ISBN 3-8317-1293

EUR 14,90

Über die Rezensentin:

Dr. phil.Tessa Hofmannhat Neuphilogie (Slawistik, Armenistik) sowie Soziologie studiert und arbeitet am Osteuropa-Institut der Freien Universität. Sie bereist den Südkaukasus seit 1975, davon zehn Jahre als Leiterin kunsthistorischer Studienreisen, und ist Autorin bzw. Herausgeberin von 13 Büchern zur Geschichte, Kultur und Gegenwartslage Armeniens. Zu ihren neueren Veröffentlichungen gehören:

- Annäherung an Armenien: Geschichte und Kultur München 1997; 2. überarb. u. aktualisierte Aufl. 2006
- Armenien: Stein um Stein; mit Andreas Wolfensberger (Fotos; 2001; 2. Aufl. 2005)
- Tessa Hofmann (Hg.): Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich 1912-1922. Münster: LIT-Verlag, 2004
- Armenier in Berlin – Berlin und Armenien

(Berlin: Der Beauftrage des Senats von Berlin für Integration und Migration, 2005)

Bei meiner letzten Armenienreise im Juni dieses Jahres stieß ich mehrfach auf empörte Leser/Innen einer deutschen Neuerscheinung. Das machte mich neugierig: Was hatte meine armenischen Gesprächspartner/Innen derartig in Aufregung versetzt? Hatten sie überempfindlich reagiert? Ich bat den Verlag um ein Rezensionsexemplar.

Auf der Titelseite dieses Reiseratgebers wurde versprochen, über sämtliche Bereiche der allgemeinen und Alltagskultur, der Verhaltensregeln, der Beziehungen zwischen Mann und Frau, des Stadt- und Landlebens in den drei kaukasischen Staaten zu informieren. Nun, nach der Lektüre, lege ich das Buch verwirrt aus der Hand. Habe ich etwa seit 31 Jahren eine ganz andere Region bereist? Denn „mein“ Armenien erkenne ich in diesem Buch nur bruchstückhaft. Es geht nämlich im „Kulturschock Kaukasus“ trotz des Titels weitgehend um Armenien, wo die Autorin Ute Friesen drei Jahre lang als Deutschlehrerin gearbeitet hat. Ihr Mitautor Dr. Würmli lebte laut Verlagsinformation vier Jahre „im Kaukasus. Er beschäftigte sich wissenschaftlich mit den im Kaukasus heimischen Insekten und Gliederfüßlern. Dabei reiste er viel durch die verschiedenen Landschaften des Kaukasus. (…) Seine Spezialgebiete sind Küche und Weinkeller, antike Teppiche sowie Zoologie.“ (S. 256) Tatsächlich sind U. Friesen/M. Würmli ein erfahrenes Autorenduo, das gemeinsam Reiseführer zu Australien und Italien, aber auch ein Kinderlexikon für den Bertelsmann-Verlag verfasst hat.

Mit den Georgiern glauben die Autoren, dass die Kultivierung der Weinrebe in Georgien heimisch ist (nicht etwa in Ägypten, nicht in Mesopotamien, trotz älterer archäologischer Berfunde). Sie teilen auch mit den Georgiern die Überzeugung, dass diese zu einem außergewöhnlich gebildeten Volk gehören, im Unterschied zu Armeniern und Aseris (S. 145). Vor allem an den Armeniern haben sich die Autoren höchst kritisch abgearbeitet, und dass, was pauschal über „die“ Kaukasier ausgesagt wird, wird fast immer mit Beispielen aus Armenien belegt. Dabei werden schwere Geschütze aufgefahren: Kaukasier sind nationalistisch, vergangenheitsfixiert, nehmen aber ihre Geschichte nur sehr selektiv wahr. Sie sind eitel, modebesessen und auf Äußerlichkeiten fixiert, zugleich aber unhygienisch, unaufrichtig, abergläubisch bis zur Lächerlichkeit, schicksalsgläubig und daher passiv und apathisch und scheuen körperliche Arbeit. Speziell die Armenier leiden an Selbstüberschätzung (S. 145), sie sind im Grunde irreligiös; ihre apostolische Kirche ist „eine unbarmherzige Kirche“ (S. 105), die sich nur auf den Ritus beschränkt (dass andere Wirkungsbereiche 70 Jahre lang durch die Sowjetmacht unterdrückt wurden, bleibt unerwähnt). Armenier, so behaupten Friesen/Würmli wiederholt, sind neidisch auf Israel und die Juden und zugleich wüste Antisemiten (S. 23 und 145), obwohl sie doch mit den Juden soviel gemeinsam haben, nämlich die bereits in der antisemitischen Nazipropaganda abgebildeten Krummnasen und das familiäre Mittelmeerfieber (S. 145). Witwen gelten als Prostituierte und sind auch bereit, sich für ein Abendessen zu prostituieren (S. 71). Armenische Männer sind als Kinder verhätschelte Prinzchen und als Erwachsene Machos und gleichzeitig unaufmerksame Liebhaber, wie deutsche Frauen wahrgenommen haben sollen (S. 58). Armenier sind auch schuhbesessen, angeblich, weil es in der Sowjetzeit kaum Schuhe gab. Bereits der dreijährige Mher weiß, „dass sein Sozialprestige als Mann ganz wesentlich von den Schuhen abhängt“. Mit der Körperpflege haben beide Geschlechter in Armenien Probleme: „Bei erwachsenen Frauen überdeckt das Parfüm oft nur schlecht den Geruch der faulenden Ruinenlandschaft des Gebisses.“ (S. 84) Während sich die sauberen Deutschen „in Armenien (…) im Winter immer wieder zum Duschen (besuchen)“, scheinen „viele Einheimische (…) diese Möglichkeit, sich regelmäßig zu reinigen, nicht zu haben und müffeln auch deswegen schneller, weil sie beinahe ausschließlich in Synthetik gekleidet sind. Wenn jemand müffelt, dann kann auch ein Todesfall in der Familie schuld sein. Ältere Menschen halten an dem Verbot fest, sich 40 Tage nach dem Tod eines Verwandten nicht zu waschen.“ (S. 85) Im Klartext: Armenier/Innen stinken saisonal, vor allem gegen Ende des Winters.

Dass Armenier bzw. Kaukasier – angeblich - synthetische Fasern statt der Naturprodukte bevorzugen, liegt nach Meinung der Autoren an ihrem gestörten Verhältnis zur Natur. U. Friesen macht das vor allem an Wollsocken fest, die für sie selbst eine zentrale Bedeutung zu besitzen scheinen und darum in dem Buch mehrfach erwähnt werden. Weil in den georgischen Bergdörfern weiterhin Socken in traditionellen Mustern gestrickt und Wolle gesponnen wird, folgern die Autoren messerscharf: „Die Georgier schämen sich im Gegensatz zu den Armeniern ihrer bäuerlichen Kultur nicht.“ (S. 31) Gern hätte ich Frau Friesen meine eigene Sammlung wunderschöner armenischer Woll- und Baumwollstricksocken gezeigt, gefertigt von armenischen Strickerinnen vor nicht allzu langer Zeit. Vielleicht würde sich ihr Armenienbild aufhellen.

Das angeblich gestörte Naturverhältnis der Kaukasier/Innen zeigt sich angeblich auch in ihrer negativen Einstellung zu den eigenen Körperfunktionen: Um nicht urinieren zu müssen, trinken Kaukasier/Innen chronisch zu wenig. „Selten sieht man Männer, die am Straßenrand an Bäume pinkeln.“ (S. 90) Das ist doch sehr positiv zu bewerten, finde ich. Dass deutsche Männer hemmungslos und öffentlich ihr Wasser abschlagen, wo gerade sie der Harndrang anwandelt, hat nichts mit einem ungestörten Naturverhältnis, aber viel mit Rücksichtslosigkeit und fehlender Kinderstube zu tun.

Spätestens beim Abschnitt „Stille Örtchen“ reichte es mir. Das Unbekömmliche dieses Buches bilden nicht so sehr die Einzelwahrnehmungen, als die oberflächlichen, verzerrten und manchmal auch falschen Erklärungen der geschilderten Missstände. Dass Mütter in Armenien ihren Kindern erst nach dem Unterricht zu trinken gaben und geben, hat nichts mit einer gestörten Naturbeziehung, aber sehr viel mit der Furcht vor Seuchen und Ansteckung zu tun. Diese Furcht vor öffentlichen Toiletten oder massenhaft benutzten Toiletten in Schulen und Universitäten war gerade während der Energieblockade und der Wassersperrungen nicht unbegründet. Es ist eine Furcht, die übrigens auch ältere Menschen in Deutschland teilen, die Krisenzeiten und die Ansteckungsgefahren in solchen Zeiten kennen gelernt haben.

Die schnöde Abrechnung mit den Kaukasier/Innen, die die offensichtlich vom Kaukasus frustrierten Autoren vornehmen, beruht auf einem weitgehend statischen und deterministischen Menschenbild. Die eigenen Normen und Gewohnheiten werden nicht hinterfragt. Man erfährt kaum etwas von den gewaltigen Anpassungsleistungen, die Menschen in postsozialistischen Staaten beim Übergang von der staatlichen Planwirtschaft zur freien Marktwirtschaft abverlangt werden. Die Behauptungen, dass es in Armenien bzw. im Kaukasus keine Bürgerrechtsinitiativen oder Frauenbewegung gebe, dass Armenier unfähig zur Selbsthilfe sein und nur in Forderungshaltung auftreten, sind schlichtweg nicht wahr. Schon bei einer einfachen Internet-Recherche stößt man auf viele kenntnisreiche Darstellungen zur zivilgesellschaftlichen Organisationsstruktur Armeniens; zahlreiche der dort tätigen NGOs widmen sich sozialen Problemen, den Problemen von Frauen und zunehmend wieder Umweltfragen. Unbefriedigend bleibt auch die Darstellung der drei Dauerkonflikte Berg-Karabach, Südossetien und Abchasien. Mit dem Friedensprozess in Karabach geht es nach Meinung der Autoren deshalb nicht voran, weil „beide Seiten sich (nicht) kompromissbereit zeigen. Aserbaidschan will lieber mit den letzten Armeniern in Karabach, den Betroffenen, verhandeln, als mit dem Nachbarstaat (Armenien), der sich in ihre Angelegenheiten eingemischt hat.“ (S. 157) Schön wär’s ja. Aber dass Karabach seit 1994 fortgesetzt aus den Verhandlungen ausgeschlossen wurde – und zwar in erster Linie durch Aserbaidschan – bildet gerade einen Teil des Problems. Das Stichwort Selbstbestimmungsrecht taucht bei der Betrachtung der „frozen conflicts“ gar nicht erst auf. Die Autoren schildern Südossetien und Abchasien oberflächlich bzw. ungewollt komisch und aus offizieller georgischer Sicht als Schmuggler- bzw. multiethnisches Ferienparadies, in das die Russen „aus Hunger auf Sonne und Eiscreme“ (S. 32) kamen – als hätte es nicht in Russland schon zur Zarenzeit das vermutlich beste Speiseeis der Welt gegeben. Überhaupt die Russen, das traditionelle deutsche Hass- und Spottobjekt: Als die Sowjetunion zusammenbrach und „in Georgien der Bürgerkrieg begann“, „belieferten sie die Abchasen mit Waffen“. In Abchasien bilden die Russen, angeblich, noch immer die Bevölkerungsmehrheit (S. 39). Die Autoren wissen: Russinnen haben „eine weniger strenge Sexualmoral als die Kaukasierinnen“, weshalb die Prostituierten im Kaukasus früher überwiegend Russinnen waren. Darum assoziiere „der ganze Kaukasus“ bis heute „groß, blond und blauäugig“ mit russischen Nutten (S. 167).

Die Autoren raten Reisenden zu einem Kulturaustausch ohne Belehrung der Einheimischen (S. 169). Aber diesem Ratschlag folgen sie selbst nicht. Sie (ver-)urteilen und belehren fortgesetzt. Man wünscht sich, dass sie ihren apodiktischen, penetrant moralisierenden und pauschalisierenden Ton zumindest ab und an unterbrechen würden, um ihre Aussagen mit Zitaten aus den armenischen Medien zu versachlichen oder einen armenischen bzw. kaukasischen Experten zu Wort kommen zu lassen, bei Frauen- und Geschlechterfragen in Armenien etwa die Soziologin und Abgeordnete Ludmilla Harutjunjan, zu heiklen Themen wie internationale Sexindustrie, Frauenhandel und Prostitution investigative Journalisten wie Ara Manukjan oder Edik Bardassarjan, deren dankenswerte Recherchen und Reportagen aus Dubai online auf der auch sonst sehr empfehlenswerten Webseitehetqonline– Investigative journalists of Armenia(http://www.hetq.am/eng/society/0606-arab.html und http://hetq.am/eng/society/0503-dub-5.html) nachzulesen sind. Für diese kritische Berichterstattung haben die Vereinigten Arabischen Emiratehetqonlinesperren lassen. Eine gleichermaßen aktuelle und über zahlreiche Bereiche kritisch informierende Seite ist der von Matt Malcomson 2004 begründete britisch-armenische Blogblogrel(http://www.blogrel.com/category/armenia/).

Die von U. Friesen eingestreuten persönlichen Erlebnisse mit ihren fiktiven oder anonymisierten armenischen Freundinnen Meri, Anahit usw. kann man glauben oder auch nicht. Meine persönlichen Erfahrungen weichen von ihren ab: Ich habe männliche Freunde unter Armeniern gefunden und kenne allein erziehende Witwen, die nicht im Traum an Prostitution denken. Ich kenne und schätze Kolleg/Innen, die im Menschenrechtsbereich aktiv sind. Ich kenne Beispiele der Tierliebe (aber leider auch des Gegenteils). Die Frage ist, wie repräsentativ unsere persönlichen Erfahrungen jeweils sind und welche Trends wir als Autor/Innen betonen bzw. auslassen.

Als Leser sperrt man sich bald gegen eine nicht überprüfbare, auf rein persönlichen Erlebnissen beruhende und zugleich verallgemeinernde Darstellung. Bei ernsthaften und für die armenische Gesellschaft schwierigen Themen wie Antisemitismus, die im Straßenbild und öffentlichen Leben auffallende „Sexualisierung“ des weiblichen Erscheinungsbildes, Prostitution, Migration usw. vermisse ich Auskünfte zu folgenden Fragen: Handelt es sich bei diesen Erscheinungen um jüngere bzw. postsozialistische Phänomene? Wie repräsentativ sind sie? Wer sind ihre sozialen Träger? Gibt es dazu bereits Untersuchungen oder eine öffentliche Debatte bzw. Kritik in Armenien (im Kaukasus) und außerhalb? Jenseits des Gegensatzpaares „unkritische Tourismuswerbung oder abwertende Denunziation“ bestehen etliche akzeptable Formen der Versachlichung von persönlichen Eindrücken.

Ich möchte meine Kritik an drei Beispielen veranschaulichen:

- MangelndeKörperpflege: Friesen/Würmli begründen das teilweise mit exzessiven Trauerriten. Dass das Haarschnitt-, Rasur- und Waschverbot zum alttestamentarisch-talmudischen Erbe gehört, das die armenische Kirche aus der jüdischen Religion übernommen hat, bleibt unerwähnt. Während der Schiwa, der ersten siebentägigen und stärksten Zeit der Trauer um Verstorbene, werden auch in einem jüdisch-„orthodoxen“ Trauerhaus Spiegel verhängt (das Anhalten von Uhren und Verhängen von Spiegeln kenne ich auch aus deutschen Trauerhäusern, inklusive meiner eigenen Familientradition). Aber in einem Israel-Reiseführer hätten die Autoren vermutlich nicht kritisch vermerkt, dass „orthodoxe“ trauernde Juden „müffeln“. Dass unabhängig von Trauerriten auch Zentraleuropäer regelmäßig lästigen Körpergeruch verbreiten, lässt sich in jeder U-Bahn während der Hauptverkehrszeiten beobachten.

-Armenisch: Friesen/Würmli behaupten, dass die armenische Grammatik vom Persischen und Türkischen geprägt sei und die Umgangssprache zahlreiche Russismen enthalte (S. 80, 126-128, 136). Richtig ist daran, dass während lang anhaltender Fremdherrschaft auch sprachliche Einflüsse erfolgen. Neuarmenisch war im Verlauf der Zeit lexikalisch erst dem Einfluss des Persischen und Türkischen, ausgesetzt, dann – im Neuostarmenischen – dem Russischen. Ein überzeugender philologischer Beweis für die Veränderung der sprachlichen Tiefenstrukturen, etwa der neuostarmenischen Grammatik oder Syntax steht noch aus und ist nicht nur durch einen philologischen Beitrag zu erbringen. Die Beeinflussung des Wortschatzes durch Fremdsprachen erfolgt in Mitteleuropa, speziell Deutschland, aber auch ohne Fremdherrschaft, wie das Phänomen „Denglisch“ belegt. Es gibt in unserem Land zunehmend Menschen, die sich kaum noch ohne Anleihen beim Englischen bzw. Amerikanischen ausdrücken können oder wollen. Das offizielle DDR-Deutsch entwickelte eine Vorliebe zu Substantivketten – eine Folge des „Russifizierung“ Ostdeutschlands? Dass einmal Französisch in ganz Europa einschließlich Russland die Sprache der Ober- und Führungsschicht bildete, stellt ein weiteres Beispiel für den übernationalen Gebrauch einer Sprache dar. Relativierende Vergleiche oder kulturhistorische Bezüge sucht man aber im „Reiseschock Kaukasus“ vergeblich. Es scheint den Autoren in erster Linie darum zu gehen, die Kulturleistungen der Kaukasier in Abrede zu stellen. Im Abschnitt „Wissenschaft und Brain Drain“ wird auf knapp drei Buchseiten nicht mehr und nicht weniger behauptet, als dass die Wissenschaft in Armenien mit Ausnahme der Astrophysik und Botanik vor sich „hindümpelt“ Auf der empirischen Grundlage von jeweils einem Beispiel schildert U. Friesen die armenische Sprachwissenschaft als nationalistisch verblendet (S. 136) sowie die Ethnologie und Psychologie als verblödet. U. Friesen: „Es ist anzunehmen, dass auch deswegen nie ein etymologisches Wörterbuch veröffentlicht wurde, weil dann herauskäme, wie viele Wörter aus dem Türkischen und Persischen übernommen worden sind.“ (S. 136) U. Friesen lebte drei Jahre in Armenien, ohne je über das vierbändige Wurzelwörterbuch (Hayerēn Armatakan Bararan, 1971-79)von Hratschia Adscharjan und M.G. Nersisjan oder das ebenfalls vierbändige „Zeitgenössische armenische erklärende Wörterbuch“ (1970-80) zu stolpern? Für die sprachlichen Interaktionen zwischen Armenisch und Türkisch, aber auch Griechisch, Kurdisch sowie den südkaukasischen Sprachen Lasisch und Georgisch im Pontosgebiet wäre die Monographie von Uwe Blasing „Armenisch – Türkisch“ (1995) heranzuziehen; sie stellt eine Weiterführung und Vertiefung des Bandes „Armenisches Lehngut im Türkeitürkischen“ (1992) des selben Autors dar.

-Brautwerbung: Je weiter eine Region entfernt ist und je weniger sie von Deutschen bereist wird, um so leichter und folgenloser ist es, unbewiesene Behauptungen über angeblich exotischen Sitten und Gebräuche in Umlauf zu setzen. Die Nicht-Volkskundler Friesen/Würmli behaupten: „Der Hochzeit geht die Brautwerbung voraus. Verwandte des Mannes gehen in das Haus der gewünschten Braut und halten um die Hand an. In der Gegend von Gjümri (sic!) in Nordarmenien handelt es sich dabei um eine reine Brautschau. Die Braut muss in verschiedenen Kleidern und auch im Badeanzug erscheinen, damit die Verwandtschaft eventuelle Behinderungen erkennen kann. In den übrigen Ländern ist diese Sitte ausgestorben.“ (S. 62) Indessen hat keiner meiner Bekannten aus Nordarmenien jemals von solchem Brauchtum gehört. In Deutschland wird man, falls man danach sucht, die Relikte einer Reihe höchst bizarren Brauchtums feststellen können. Aber solche Erscheinungen gehören eher in ethnologische Spezialstudien, als in einen Reisehandgeber „Kulturschock Deutschland“, weil sie nichts über das durchschnittliche Verhalten von Millionen Menschen aussagen.

Wer das Sozialverhalten der heutigen Armenier bzw. der Kaukasier verstehen möchte, sollte sich vergegenwärtigen, wodurch es geprägt wurde: In der historisch kurzen Zeit von nur 50 Jahren war die Gesellschaft wiederholten Massakern und einem Genozid ausgesetzt, den stalinistischen Säuberungen sowie zwei Weltkriegen, bei denen der Südkaukasus zumindest teilweise Kriegsschauplatz wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte die Industrialisierung des Südkaukasus, verbundenen mit dadurch ausgelösten Migrationsprozessen, der Zusammenbruch der UdSSR, der Ausbruch interethnischer Gewalt mit der Vertreibung bzw. Flucht von Hunderttausenden Menschen im Südkaukasus und das Erdbeben in Nordarmenien (1988) mit Zehntausenden Opfern.

Vielleicht liegen die Mängel dieses Buches bereits im Konzept einer Reihe begründet, die sich Kulturschock nennt. Wer die Begegnung mit einer andersartigen Kultur als Schock und nicht als Bereicherung und Erweiterung des eigenen Horizonts erlebt, wird unter der Begegnung mit dem Anderen, Fremden und Unverständlichen erst leiden, bevor in einer letzten Entwicklungsphase die Unterschiede angenommen und Widersprüche ausgehalten werden. Mir hat vor einigen Jahren ein Ratgeber aus einer ganz anders konzipierten Reihe geholfen, mich gut auf eine Japanreise vorzubereiten. Als „Reisegast in Japan“ näherte ich mich dem für Mitteleuropäer sehr andersartigen Land mit Neugier, Interesse und einer gehörigen Dosis Respekt, ohne eurozentristische Vorverurteilung. Ich wurde nicht nur darauf vorbereitet, die gröbsten Verhaltensfehler und interkulturellen Missverständnisse zu vermeiden, sondern konnte die Kulturschätze Kyotos intensiver genießen, weil es die Autorinnen Gothild und Kristina Thomas verstanden, ihre Leser einfühlsam in die historischen und kulturgeschichtlichen Besonderheiten einzuführen. Friesen/Würmli dagegen behaupten, dass wir Reisegäste im Kaukasus uns keine Mühe mit der Anpassung geben müssen: „Es ist aussichtslos, sich anpassen zu wollen“ (S. 165) „Denn was Sie auch tun, Sie tun es als Westeuropäer. Man wird Ihr Verhalten nicht verurteilen.“ (S. 163) Da irren sich die beiden allerdings gewaltig, wie die wütenden Reaktionen ihrer kaukasischen Leser/Innen beweisen. Die kaukasische Langmut mit deutschen Absonderlichkeiten stößt in diesem Fall an ihre Grenze: Kulturschock Deutschland!

Wie soll man also reisen? Im Zweifelsfall immer mit dem Kantschen Imperativ im Kopf, den das deutsche Sprichwort zusammenfasst: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!“ Wenn wir urteilen, müssen wir unsere eigenen Maßstäbe an uns selbst anlegen, mit gleicher Strenge. Wir werden schnell feststellen, dass unsere Ähnlichkeiten mit den Kritisierten größer als die Unterschiede sind. Wenn wir beispielsweise Armeniern Antisemitismus vorwerfen, dann sollten wir uns nicht nur unserer eigenen Sünden auf diesem Gebiet bewusst sein, sondern uns auch der rassistischen Äußerungen von Deutschen erinnern, die sich gleichermaßen gegen Armenier wie Juden richten und vor deren Hintergrund die Vergleiche, die Friesen/Würmli zwischen Juden und Armeniern anstellen („Die Armenier konkurrieren mit den Juden um die Rolle des geplagtesten Volkes der Welt.“ S. 145), zu beurteilen ist: „(...) der Armenier ist, wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit des Landes, in dem er sich niedergelassen hat, aufsaugt.“ Das stammt von dem Armenierhasser Generalmajor Fritz Bronsart von Schellendorff, dem zweitwichtigsten Mann in der osmanischen Heeresleitung während des Ersten Weltkrieges und Apologet des türkischen Deportationsbefehls. Es sind solche Zusammenhänge, die den Deutschen Bundestag dazu bewegten, in einer Stellungnahme am 16. Juni 2005 von deutscher Mitverantwortung am Völkermord an den Armeniern zu sprechen.

Bei einer Neuauflage des „Kulturschocks Kaukasus“ könnten zwei von armenischen Autor/Innen verfasste Kapitel über die Wahrnehmung europäischer Reisender sowie über armenische Erfahrungen in und mit Deutschland eine willkommene, lehrreiche Ergänzung und Kompensation bilden: Wir Deutschen und unsere Gesellschaft im Spiegel der von uns Gespiegelten.Quid pro quo– eine der Grundregeln des Zusammenlebens im Kaukasus, die von Friesen/Würmli aber unerwähnt bleibt – wäre endlich wiederhergestellt.

Fin de l'extrait de 12 pages

Résumé des informations

Titre
Kulturschock Deutschland, oder: Müffeln Armenier?
Université
Free University of Berlin
Auteur
Année
2006
Pages
12
N° de catalogue
V110281
ISBN (ebook)
9783640084562
Taille d'un fichier
560 KB
Langue
allemand
Mots clés
Kulturschock, Deutschland, Müffeln, Armenier
Citation du texte
Dr. phil. Tessa Hofmann (Auteur), 2006, Kulturschock Deutschland, oder: Müffeln Armenier? , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110281

Commentaires

  • invité le 9/10/2009

    Herzlichen Dank.

    Zuerst moechte ich mich bei der sehrgeehrten Frau Hoffmann fuer Ihre Taetigkeit und fuer diesen Artikel bedanken. Ich habe in Jerewan in den Raeumen der Franzoesisch - Deutschen Organisation SPFA die Gelegenheit gehabt, mit der Frau Hoffmann ueber das Buch zu diskutieren.
    Ich hab dieses Buch nur einmal in Hand haben koennen, nach der Lektuere war ich einfach erbittert. Haben 2 Menschen, die mehrere Jahre in Armenien gelebt und gearbeitet haben, nichts Positives erblicken koennen? Spricht das eher nicht von einem persoenlichen Problem bei den Beiden?
    Ich habe einen staendigen beruflichen Kontakt mit Deutschen, habe viele deutsche Freunde, die alle ueber das Buch empoert waren.
    Wir, Germanisten haben immer geglaubt, dass die Deutschen, die einmal in Armenien gewesen sind, keinesfalls mit den Autoren einverstanden sein koennen.Ich bin sehr froh, dass nicht nur Frau Tessa Hoffmann, sondern auch andere Armenisten, ihre Meinung zu dem Buch sehr scharf geaeussert haben.

    Den Autoren des Buches Kulturschock Kaukasus wuerde ich einfach raten, unser Land und Volk, alle auf einmal zu vergessen und die Laender zu besuchen, in denen die Leute nicht MUEFFELN und in denen die Kinder wissen, was eine UHR ist.

    Angela Poghosyan, Germanistin, Jerewan, Republik Armenien

  • invité le 27/11/2006

    Kulturschock Kaukasus/Rezension vonTessa Hofmann.

    Jeder Satz von Tessa Hofmann ist mir aus der Seele geschrieben. Habe dieses Traktat von U. Friesen fassungslos gelesen. Voller Vorurteile, teilweise hasserfüllt, ständig belehrend, voller falscher Fakten und beleidigend. War selbst wieder im September in Armenien - war ich in einem anderen Land ? Der unbefangene Leser bekommt völlig falsche Eindrücke vermittelt.
    Frau Friesen ist allerdings mittlerweile in Armenien einschlägig als recht wunderlich bekannt und erfreute sich während ihres Aufenthaltes nur äußerst begrenzter Beliebtheit, da sie unablässig missionieren wollte, wie man denn doch eigentlich 'besser' leben sollte. Verstanden hat sie von diesem Kulturkreis rein gar nichts.
    Artur Minassian, München

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