Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um die, leider im wesentlichen nur formal, aktualisierte Fassung der juristischen Dissertation des Autors aus dem Jahre 1985. Die Arbeit Ganssmüllers beruht vor allem auf im Bundesarchiv Koblenz verfügbaren Akten sowie auf Quellen des Staatsarchivs Freiburg, die die Aktivitäten der sog. Erbgesundheitsgerichte beleuchten.
Der Autor zeigt das juristisch-administrative Normensystem auf, das das NS-Regime zur Durchführung und Durchsetzung der Erbgesundheitspolitik neu setzte, wobei die Entscheidungsabläufe bis zum Erlaß von Verwaltungsvorschriften und Gesetzen nachgezeichnet werden. Hier steht dann das Verhältnis von Partei und Verwaltung und deren jeweiliger innerer Struktur und Wirkungsweise im Zentrum der Betrachtung.
Der Blick richtet sich daneben auf die Rechtsanwendungspraxis, das Selbstverständnis der Justiz sowie die nationalsozialistische Justizpolitik. Eingegangen wird auf die Bedeutung des Machtkampfs zwischen Partei und Staat für die Justiz und das Rechtssystem.
Neben der besonderen Rolle des Reichsjustizministeriums wird darüber hinaus die Bedeutung Hitlers als Entscheidungsträger hervorgehoben.
Ganssmüller selbst versteht seine Untersuchung zur Planung, Durchführung und Durchsetzung der NS-Erbgesundheitspolitik, die inhaltlich kaum mehr als marginale neue Erkenntnisse liefert,lediglich als einen Mosaikstein für eine Analyse von Aufbau und Wirkungsweise des Dritten Reiches.
Nationalsozialistische Erbgesundheitspolitik
[Die folgende Rezension erschien im Heft 3/1988 in der: >Politischen Vierteljahresschrift<]
Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um die, leider im wesentlichen nur formal, aktualisierte Fassung der juristischen Dissertation des Autors aus dem Jahre 1985.
Die Arbeit Ganssmüllers beruht vor allem auf im Bundes- archiv Koblenz verfügbaren Akten sowie auf Quellen des Staatsarchivs Freiburg, die die Aktivitäten der sog. Erbge- sundheitsgerichte beleuchten.
Der Autor zeigt das "juristisch-administrative Normen- system" (D. Majer) auf, das das NS-Regime zur Durchführung und Durchsetzung der Erbgesundheitspolitik neu setzte, wobei die Entscheidungsabläufe bis zum Erlaß von Verwaltungs- vorschriften und Gesetzen nachgezeichnet werden. Hier steht dann das Verhältnis von Partei und Verwaltung und deren jeweiliger innerer Struktur und Wirkungsweise im Zentrum der Betrachtung.
Der Blick richtet sich daneben auf die Rechtsanwen- dungspraxis, das Selbstverständnis der Justiz sowie die nationalsozialistische Justizpolitik. Eingegangen wird auf die Bedeutung des Machtkampfs zwischen Partei und Staat für die Justiz und das Rechtssystem.
Neben der besonderen Rolle des Reichsjustizministeriums wird darüber hinaus die Bedeutung Hitlers als Entscheidungsträger hervorgehoben.
Ganssmüller selbst versteht seine Untersuchung zur Planung, Durchführung und Durchsetzung der NS-Erbgesund- heitspolitik, die inhaltlich kaum mehr als marginale neue Erkenntnisse liefert,lediglich als "einen Mosaikstein für eine Analyse von Aufbau und Wirkungsweise des Dritten Reiches" (177).
Dennoch bestätige nach seiner Einschätzung seine - nicht immer von apologetischen Tendenzen freie - Einzelfall- studie die These von der "Formlosigkeit des Staates Hit- lers" (177). Dieser Eindruck drängt sich in der Tat auf, wenn man die Erbgesundheitspolitik im Zusammenhang zu den Maßnahmen des NS-Staates zur Vernichtung "lebensunwerten Lebens" sieht. Planung wie auch große Teile der Durchfüh- rung und Durchsetzung dieser "Aktionen", die der Autor im abschließenden Teil der Untersuchung schildert,übertrug Hit- ler weder dem Reichsinnenministerium noch Parteistellen, sondern der ihm unmittelbar unterstellten"Kanzlei des Füh- rers". Die hergebrachte Verwaltung behielt lediglich eine Helferrolle,während die Justiz völlig über-und umgangen wurde.
Dieses Überflüssigsein von Verwaltung und Justiz galt jedoch keineswegs bereits für den Beginn der national- sozialistischen Erbgesundheitspolitik, der durch Zwangsster- ilisationen, Schwangerschaftsunterbrechungen und Eheverbote in gesetzlich geregelten Fällen gekennzeichnet war.
Auf diesen Feldern entwickelte sich hinter einem Gerangel um Kompetenzen recht zügig eine Art Artbeitsteilung zwischen hergebrachter Verwaltung und "nationalsozialistischer Bewe- gung": Die praktische Durchführung der Erbgesundheitspoltik oblag staatlichen Ämtern und Gerichten (45-51). Die NSDAP ihrerseits kümmerte sich um die Gleichschaltung der Verbände und die "Säuberung" der Ärzteschaft und Juristen, sowie um
die Aus-, Fort- und Weiterbildung der an der Erbgesundheits
politik Beteiligten (51-70).
Mochten Staat und Partei auch auf anderen Gebieten rivalisieren, in der Propagierung und Realisierung der Sterilisationspolitik "gingen sie doch Hand in Hand" (G. Bock). Dieses macht auch Ganssmüller deutlich, wenn er schreibt, daß sich die Notwendigkeit zu einer Steuerung der Justiz durch das NS-Regime beim Sterilisierungsgesetz "mehr aus der medizinischen Unkenntnis der Richter, als aus einer Kampfstellung der Justiz"(62) ergab.
Betrachtet man also die NS-Erbgesundheitspolitik als eine dynamische Entwicklung von der Zwangssterilisation bis zur "Euthanasie" und versucht sie in einen theoretischen Zusammenhang einzuordnen, so erscheint sie weniger als ein Beleg für die These von der Formlosigkeit des NS-Regimes, sondern vielmehr als ein Beispiel für den "Verfall der Staatsfunktionen" (H. Mommsen) im politischen System des Nationalsozialismus.
Literatur
Häufig gestellte Fragen
Worum geht es in Christian Ganssmüllers Untersuchung zur nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik?
Die Untersuchung befasst sich mit der Planung, Durchführung und Durchsetzung der NS-Erbgesundheitspolitik. Sie analysiert das "juristisch-administrative Normensystem" des NS-Regimes, die Entscheidungsabläufe, das Verhältnis von Partei und Verwaltung, die Rechtsanwendungspraxis und die Rolle der Justiz.
Welche Quellen verwendete Ganssmüller für seine Arbeit?
Ganssmüller stützte sich hauptsächlich auf Akten des Bundesarchivs Koblenz und des Staatsarchivs Freiburg, die die Aktivitäten der Erbgesundheitsgerichte beleuchten.
Welche Rolle spielte das Reichsjustizministerium bei der Erbgesundheitspolitik?
Die Untersuchung beleuchtet die besondere Rolle des Reichsjustizministeriums und betont darüber hinaus die Bedeutung Hitlers als Entscheidungsträger.
Was ist die Hauptaussage der Untersuchung bezüglich der NS-Erbgesundheitspolitik?
Ganssmüller sieht seine Untersuchung lediglich als "einen Mosaikstein für eine Analyse von Aufbau und Wirkungsweise des Dritten Reiches". Er bestätigt die These von der "Formlosigkeit des Staates Hitlers".
Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen Staat und Partei bei der Umsetzung der Erbgesundheitspolitik?
Anfangs entwickelte sich eine Arbeitsteilung zwischen Verwaltung und NSDAP. Staatliche Ämter und Gerichte waren für die praktische Durchführung zuständig, während die NSDAP sich um die Gleichschaltung der Verbände, die "Säuberung" der Ärzteschaft und Juristen sowie um die Aus- und Weiterbildung der Beteiligten kümmerte.
Inwiefern unterschied sich die Umsetzung der Zwangssterilisation von der "Euthanasie"?
Während die Zwangssterilisationen, Schwangerschaftsunterbrechungen und Eheverbote in gesetzlich geregelten Fällen durch Verwaltung und Justiz erfolgten, wurde die Planung, Durchführung und Durchsetzung der "Euthanasie" direkt von Hitlers "Kanzlei des Führers" gesteuert, wodurch Verwaltung und Justiz umgangen wurden.
Welche These wird in der Rezension zur Erbgesundheitspolitik in Bezug auf den NS-Staat aufgestellt?
Die Rezension argumentiert, dass die NS-Erbgesundheitspolitik, insbesondere im Kontext von der Zwangssterilisation bis zur "Euthanasie", weniger ein Beleg für die These von der Formlosigkeit des NS-Regimes ist, sondern vielmehr ein Beispiel für den "Verfall der Staatsfunktionen" im politischen System des Nationalsozialismus darstellt.
Gibt es eine Kritik an Ganssmüllers Arbeit?
Die Rezension weist darauf hin, dass Ganssmüllers Einzelfallstudie nicht immer von apologetischen Tendenzen frei ist.
- Quote paper
- Dr. phil. Walter Grode (Author), 1988, Nationalsozialistische Erbgesundheitspolitik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110590