Der lyrische Kompromiss - Louis Aragon und Paul Éluard als Surrealisten, Résistancedichter und sozialistische Realisten


Term Paper (Advanced seminar), 2006

40 Pages, Grade: 2,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Vom Surrealismus zum sozialistischen Realismus

3 Zur gesellschaftlichen und literarischen Situation der Résistance

4 Aragon, Surrealist und Résistancedichter
4.1 Lyrische Entwicklung vom Surrealismus zur Résistance, bzw. hin zum sozialistischen Realismus
4.1.1 Die Sammlung Le Mouvement perpétuel (1926) - Beispiel seines Surrealismus
4.1.2 Magnitogorsk - Beispiel seines Sozialismus
4.1.3 Les Lilas et les Roses - Beispiel seiner Résistance-Lyrik

5 Éluard, Surrealist und Résistancedichter
5.1 Vom apolitischen hin zum Sozialismus; vom abstrakten Liebesbegriff zur Befreiungslyrik
5.1.1 On ne peut me connaître - Beispiel für seinen Surrealismus
5.1.2 Liberté - Beispiel für seine Résistance-Lyrik
5.1.3 Joseph Staline und L’URSS - Seule promesse - Beispiele für seinen Sozialismus

6 Abschließende Betrachtung

7 Literaturverzeichnis
7.1 Primärliteratur
7.2 Sekundärliteratur

8 Anhang
8.1 Aragon : La route de la révolte
8.2 Aragon: Magnitogorsk 1932
8.3 Éluard : L’U.R.S.S. Seule promesse
8.4 Éluard : Joseph Staline

1 Einleitung

» Der reine Surrealismus und seine Verfahrensweise haben sich im Hinblick auf die Dichtung […] als relativ steril erwiesen. Das poetische Wirkungspotential dieser Verfahrensweise ist gering und wenig originell […]. Der Surrealismus ist in der Dichtung dagegen dort fruchtbar geworden, wo er Kompromisse mit Hergebrachtem geschlossen hat. «[1]

Unter den Dichtern, die noch bis heute im kollektiven Gedächtnis geblieben sind und sich einen Rang und einen Namen gemacht haben, finden sich nur wenige, die diesen Kompromiss eingegangen sind. Vor allem Paul Éluard und Louis Aragon, die zu den größten Talenten des 20. Jahrhunderts zählen und in ihrer Anfangsphase im engen Bannkreis André Bretons standen, teilweise sogar den Surrealismus aktiv entstehen ließen, bzw. mitbegründeten, verpflichteten sich schließlich der Tradition ebenso wie der Entdeckung von Neuem.

Diese Arbeit beschäftigt sich mit eben jener Entwicklung in der Lyrik, die beide Autoren in ihrem Werk deutlich gemacht haben, wobei im Speziellen auch auf einen dritten Themenkomplex eingegangen werden soll: ihre Hinwendung zum sozialistischen Realismus. Beleuchtet werden soll anhand von jeweils drei Beispielen aus dem lyrischen Werk das Verhältnis dieser surrealistischen Dichter, die sich später aktiv an der Résistance – Bewegung beteiligten, zur Idee des Surrealismus, zur Aufgabe der Résistance und zum Sozialismus im Allgemeinen, bzw. zur PCF im Speziellen. Dabei wird versucht, die poetische Entwicklung, trotz aller hart anmutenden Streitigkeiten, Zerwürfnisse und Trennungen, die vor allem die junge Phase der beiden Autoren prägt als kontinuierliche Weiterentwicklung einer Idee von Kunst zu sehen, die sich natürlich dem Zeitgeschehen in gewisser Weise anpassen muss. Beide, Aragon und Éluard, sind sich treu geblieben, was ihre grundsätzliche Konzeption von Kunst betrifft: sie geht mit der Gesellschaft und dem Fortschritt und soll dabei „die Ideen des Volkes in seinem revolutionären Werden ausdrücken“ und im Krisenfall hat das konkrete Bild Vorrang vor der Abstraktion[2].

Im Folgenden (Kapitel 2) soll kurz auf die Tendenzen der Surrealisten hin zum Politischen eingegangen werden, da diese im Wesentlichen auch dazu geführt haben, dass Louis Aragon und Paul Éluard während der Zeit der Besetzung Frankreichs nicht schweigen konnten, sondern ihre Stimmen erheben mussten und dass sie dies teilweise durch die Aufgabe der abstrakteren Stilelemente zu Gunsten konkret werdender Spielvarianten der Lyrik taten um die reine Revolution des Geistes in eine Revolution der französischen Gesellschaft einerseits gegen die Besatzer (also eine nationale), andererseits gegen den Kapitalismus (also eine sozialistische) umzuwandeln. Im Anschluss wird die gesellschaftliche Situation der Résistance skizziert und die neuen sozialen und politischen Herausforderungen, die auch die Lyrik beeinflussen mussten (Kapitel 3). Hierzu ist anzumerken, dass man den Begriff der Résistancedichtung nicht als ein Begriff der Einheit verwenden kann, wie der Romanist Wolfgang Babilas richtig feststellt: der „poésie de l’événement“ entspricht keine „ poétique de l’événement“[3] und dass hier unter diesem Begriff hauptsächlich die Werke subsumiert werden, die von den ehemaligen Surrealisten verfasst wurden. Aus Umfangsgründen werden diese beiden Darstellungen kurz gehalten, da der eigentliche Schwerpunkt dieser Arbeit die dann folgenden Gedichtinterpretationen sind. Hier wurde versucht, möglichst eindeutige Beispiele aus dem Werk des jeweiligen Autors zu wählen und natürlich hätte diese Auswahl auch ganz anders ausfallen können und beruht auf rein subjektivem Empfinden, mit der kleinen Einschränkung, dass die beiden gewählten Résistance Gedichte auch tatsächlich zu den berühmtesten gehören. Die Interpretationen konzentrieren sich auf die oben genannten Aspekte des Kompromisses, des gleichzeitigen Anwendens verschiedener surrealistischer Methoden unter der Doktrin der allgemeinen Verständlichkeit bzw. dem revolutionären Anspruch einer Verbesserung des Ist-Zustandes. Im Schlusswort werden unter der Fragestellung „Kontinuität oder Bruch“ die poetischen Charakteristika beider Phasen zusammengefasst. Auf die Biographien beider Autoren kann hier nicht gesondert eingegangen werden, obwohl sie für ihr literarisches Schaffen äußert wichtig sind, deswegen werden sie, abgesehen von einzelnen kurzen Informationen an den entsprechenden Stellen, als bekannt vorausgesetzt.

2 Vom Surrealismus zum sozialistischen Realismus

In die Jahre 1924 bis etwa 1928/29 fällt die fruchtbarste Etappe surrealistischen Wirkens; aufgelöst wird die Bewegung erst 1969. Dass heißt auch während der Résistance existiert eine, wenn auch fast nur aus neuen Mitgliedern bestehende Truppe, die den Surrealismus im Geiste Bretons fortführen[4].

Nach der Einschätzung des Romanisten Peter Bürger, der für den deutschen Raum maßgebliche Forschungen zu diesem Thema veröffentlicht hat, leben die Surrealisten in der ersten Bewegungs-Phase von 1918 bis 25 eher geschichtsfern. Maurice Nadeau, dessen Histoire du surréalisme im Übrigen in fast allen späteren Studien zitiert wird und als eines der Standardwerke gilt, spricht von La période héroïque [5] (Im Gegensatz zu späteren Période raisonnante) . Der französische Marokkokrieg dann wird 1925 zum Anlass einer dezidierteren Politisierung und zum Zusammenschluss mit anderen Kräften, die gegen den imperialistischen Kampf der Kolonialmacht Frankreich sind - Politische Differenzen führen dann zur Entzweiung der Surrealisten untereinander. Grundsätzlich prägend für die surrealistische Bewegung ist die Absicht zur Veränderung. Im Kernbegriff révolution kommt die Idee einer Veränderung der Wirklichkeit zum Ausdruck. Der Titel der seit 1924 erscheinenden Zeitschrift La Révolution surréaliste bezieht sich aber nicht primär auf eine gesellschaftliche, sondern auf eine „geistige Veränderung“[6]. Später wird Revolution auch im Sinne der politisch-sozialen Umwälzung verstanden und gefordert. Bürger registriert Tendenzen, die nach einer Heilserwartung durch totale Befreiung des Menschen klingen. Eine ähnliche Tendenz kann man im Übrigen bei den deutschen Nachbarn in den expressionistischen Gedankengängen wieder finden, die schon früher und aggressiver ihr Postulat vom „Neuen Menschen“ formulierten und auch im Sozialismus kennt man solche Ideen. Aber zurück zu unseren noch jungen Surrealisten: die Entwicklung nimmt ihren Lauf, aus dem Dadaismus wird der Surrealismus geboren, unsere „jungen Helden“ ziehen sich durch aggressive Pamphlete die Feindseligkeit der Presse und der intellektuellen Kreise zu, publizieren fleißig Manifeste, gründen Zeitschriften und eröffnen in Paris das Büro für surrealistische Forschung. Am 27. Januar 1925 bringt eben jene Pariser Gruppe, also die eigentlichen, echten und absoluten Surrealisten, eine Erklärung heraus, die alle Zweifel aus der Welt schaffen und verschiedenen Interpretationsversuchen ihres surrealistischen Unterfangens entgegen wirken sollte. Dieses Thesenpapier umfasst neun Punkte, in denen die Verfasser erklären, dass sie zwar nichts mit Literatur zu tun haben, sich ihrer notfalls aber bedienen können, dass der Surrealismus ein Mittel der totalen Befreiung des Geistes ist und dass sie beabsichtigen eine selbstlose, gleichgültige, ja verzweifelte Revolution zu beginnen, die nicht darauf aus ist die Sitten der Menschen zu verändern, sondern nur die Fragwürdigkeit ihres Denkens zu demonstrieren. Sie beinhaltet des Weiteren eine Warnung an die Gesellschaft, die sich vor Fehltritten des Geistes hüten soll, da sie (die Surrealisten und Spezialisten der Revolte) es erfahren würden und mit jedweder Aktionsform reagieren würden:

»1.Nous n’avons rien à voir avec la littérature, mais nous sommes très capables, au besoin, de nous en servir comme tout le monde. 2.Le SURRÉALISME n’est pas un moyen d’expression nouveau ou plus facile, ni même une métaphysique de la poésie ; il est un moyen de libération totale de l’esprit et de tout ce qui lui ressembl. 3.Nous sommes bien décidés à faire une Révolution. 4.Nous avons accolé le mot de SURRÉALISME au mot de RÉVOLUTION uniquement pour montrer le caractère désintéressé, détaché, et même tout à fait désespéré, de cette révolution. 5.Nous ne prétendons rien changer aux mœurs des hommes, mais nous pensons bien leur démontrer la fragilité de leur pensées, et sur quelles caves, ils ont fixé leurs treblantes maisons (...) 8.Nous sommes des spécialistes de la Révolte. Il n’est pas de moyen d’action que ne soyons capables, au besoin, d’employer (...) Le SURRÉALISME n’est pas une forme poétique. Il est un cri de l’esprit qui retourne vers lui-même et bien décidé à broyer désespérément ses entraves, et au besoin par des marteaux matériels.« [7]

Man kann also behaupten, dass sich der Surrealismus seit Mitte der 20er Jahre zunehmend als politisch-revolutionäre Bewegung verstand.

Als all das aber nicht hilft und sie sich in der konservativen französischen Gesellschaft immer noch nicht verstanden fühlen treten sie (Aragon, Breton, Éluard, Péret, Unik) 1927 der Französischen Kommunistischen Partei bei. Aber auch hier stoßen sie sich sogleich an unüberwindlichen Schwierigkeiten: 10 Jahre lang versuchen die Surrealisten, sich mit den Kommunisten zusammenzuschließen; wobei einige dem eher strukturierten leninistischen und stalinistischen Weltbild folgen, wie Éluard und Aragon und andere an fast anarchischen Vorstellungen Gefallen finden, wie Breton, der Leo Trotzki 1938 in dessen mexikanischem Exil besucht. Ideologische Auseinandersetzungen, Parteieintritte und -austritte gehören mit zur Geschichte des Surrealismus. Insbesondere die Politisierung führt zu Spaltungstendenzen. Denjenigen, denen primär an politischen Aktivitäten gelegen ist, stehen die gegenüber, die den Surrealismus primär für eine künstlerische Bewegung halten.

» Schon seit seinen Anfängen befand sich der Surrealismus in einem Spannungsfeld auf der Grenze zwischen Innenwelt und Außenwelt, zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Kunst und Leben, zwischen geistiger Revolution und politisch-sozialer Revolution, zwischen Anspruch und Realität von individueller und geschichtlicher Entwicklung, zwischen Rationalität und Irrationalismus wie auch zwischen Individuum und Gruppe. Als eine zugleich ‘poetische, moralische und revolutionäre Bewegung’ war der Surrealismus auch Grenzgänger zwischen Poesie, Moral und Revolution. « [8]

Georges Sadoul und Louis Aragon werden wegen Beleidigung der Armee und der Nation angeklagt. Im gleichen Jahr verwüstet eine Gruppe von Surrealisten ein Nachtlokal, das der Besitzer nach dem Titel eines Buchs von Lautréamont, dem verehrten Vorfahren, benannt hatte. 1931 beteiligen sie sich an einer Gegenausstellung zur regierungsoffiziellen Kolonialausstellung. Sowohl Aragon, der 1932 mit den Surrealisten bricht, nachdem Breton seine Verteidigungsschrift Misère de la poésie veröffentlicht, als auch Éluard, der ein Jahr später aus der PCF ausgeschlossen wird, sich ebenfalls vom Surrealismus abwendet, um sich dann ganz dem Kommunismus zuzuwenden, hatten ein sehr bewegtes Leben und haben gleichzeitig auch sehr vieles bewegt. 1933 verurteilten Éluard und Péret die Mitverantwortung des französischen Imperialismus für die Errichtung einer faschistischen Diktatur in Deutschland, und 1936 engagierten sie sich für die spanische Republik. Ein Jahr vorher bricht der Kopf der Truppe, André Breton, mit der PCF und verfasst sein Manifest Position politique du surréalisme (1935), das sich keinem Parteiprogramm zuordnen lässt. 1941 emigriert er dann in die USA.

Betrachtet man die poetische Entwicklung bei Aragon und auch bei Éluard, so kann man vom Surrealismus hin zur politisch aktiven Résistance-Dichtung eine Tendenz des sozialistischen Realismus erkennen (Aragon wird in der wissenschaftlichen Literatur teilweise sogar als der Repräsentant des sozialistischen Realismus in Frankreich genannt). Diese Stilrichtung bezeichnet in ihrem Ursprung eine Kunst, die 1932 vom Zentralkomitee der KPdSU als Richtlinie für Literatur, bildende Kunst und Musik beschlossen und später für das gesamte sozialistische System verbindlich wird und dessen offizielle Doktrin die sowjetische Kunst bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion in den späten 80er Jahren dominiert, ihre stärksten Auswirkungen allerdings während und nach dem Zweiten Weltkrieg hat. Auf dem ersten Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller im August 1934, bei dem 591 Teilnehmer aus 52 Nationen anwesend waren, wird diese neue Doktrin offen diskutiert und der sowjetische Schriftstellerverband gegründet (einer seiner Mitglieder war Aragon). In seinen Statuten wird der sozialistische Realismus als „verbindliche künstlerische Methode“ festgeschrieben; wörtlich heißt es dort:

»Der sozialistische Realismus als Hauptmethode der sowjetischen künstlerischen Literatur und Literaturkritik, fordert vom Künstler wahrheitsgetreue, historisch konkrete Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung. Wahrheitstreue und historische Konkretheit der künstlerischen Darstellung müssen mit den Aufgaben der ideologischen Umformung und Erziehung der Werktätigen im Geiste des Sozialismus abgestimmt werden. «[9]

Formal versucht er die Romantik mit dem Realismus zu vereinen, die aus russischer Perspektive die beiden literarischen Hauptepochen des 19. Jahrhunderts darstellen: die Art der Darstellung wird als Methode dem Realismus entnommen, der positive Geist und die Emotionen hingegen aus der Romantik. Es werden also alte Formen wiederverwendet um neue, gesellschaftspolitisch konforme Inhalte zu transportieren. In seiner radikalsten Form lässt er keine Freiheiten zu und dient in der Sowjetunion als Zensurmittel Andersdenkender: Dichter der Avantgarde, die neue sprachliche Formen und Ausdrucksmöglichkeiten der Poesie entwickeln, passen nicht mehr in dieses Konzept. Allerdings sieht die Situation in Frankreich anders aus und lässt eben Aragon und Éluard genügend Freiraum zur eigenen Entfaltung. Typische Motive der Literatur dieser Epoche, die auch von den Franzosen aufgegriffen werden, sind die Helden des Aufbaus der sowjetischen Gesellschaft, der Arbeiter- und Arbeitskult, die Industrialisierung und die Verteidigungsbereitschaft gegenüber dem faschistischen Ausland. Vor allem der Roman-Epos wird zur beliebten Gattung, da er eine Verschmelzung von klassischen Heldenepen und bürgerlichem Roman darstellt, aber auch die Lyrik, besonders in Liedformen wie der Hymne und der Ode hatte ihren besonderen Stellenwert (s. Kapitel 4.1.2.und 5.1.3.).

3 Zur gesellschaftlichen und literarischen Situation der Résistance

Unter dem Schatten der années noires - Hitler marschiert am 14.Juni 1940 in Paris ein, daraufhin veranlasst Pétain die Kapitulation und Frankreich wird durch die Demarkationslinie in eine besetzte Zone (Nordwest Frankreich) und eine so genannte freie Zone (zone libre im südlichen Frankreich) zerschnitten – bildet sich gegen die Kollaborationspolitik Pétains eine avantgardistische Bewegung der Résistance. Ihr gehören die meisten Vertreter der surrealistischen Strömung an, die sich fast alle dem Kommunismus verschrieben hatten, aber auch Konservative und Christen gesellen sich hinzu mit den gemeinsamen Zielen den Feind zu verunsichern und zu vernichten, die nationale Einheit wieder herzustellen und die kulturellen Traditionen Frankreichs zu verteidigen. Durch die Schaffung von Selbsthilfegruppen und durch die illegale Edition de Minuit wird gegen die starke deutsche Zensur politische Aufklärungsarbeit geleistet. Wer nur irgendwie kann, druckt Plakate und Flugblätter um sie in der besetzten Zone zu verteilen. Vorrangiges Ziel ist - neben der Beseitigung des von Teilen der Résistance von Beginn an nicht anerkannten Vichy-Regimes - die Befreiung des Landes vom deutschen Besatzer. Die Résistance fühlt sich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt, wenngleich es mindestens drei Besatzungsjahre dauert, bis diese Einschätzung der Résistance auch tatsächlich eintritt. Im Unterschied zur Situation in Deutschland gibt es in Frankreich größere überregionale Widerstandsgruppen, die sich schließlich 1943 unter einem zentralen Dachverband zusammenschließen deren literarisches Instrument die eben erwähnte Edition de Minuit ist. Gleichwohl bestehen sie als einzelne, unabhängige Organisationen fort. Die Repression durch die Besatzer und das Vichy-Regime fordert in Frankreich ebenfalls viele Opfer. Allerdings sind das Spitzelwesen und Denunziantentum weniger ausgeprägt als in Deutschland. So überleben viele Organisationen und können sich von Rückschlägen und Verhaftungen wieder erholen. Anders als die meisten Staaten, die von Deutschland besetzt wurden, hat Frankreich bis zur Besetzung der Südzone im November 1942 eine „im Lande residierende Regierung“, die „eine mehr oder weniger große Handlungsfreiheit gen[ießt]“.[10] Zunächst sehen größere Teile der französischen Résistance die Vichy-Regierung nicht als ein zu bekämpfendes Übel an, denn wie die Mehrheit der Bevölkerung vertrauen sie Marschall Pétain und halten seine Politik für eine Täuschung gegenüber den Deutschen. Erst als deutlich wird, dass Vichy auf eine Kollaboration zusteuert, ändert die Mehrzahl ihre Haltung. Die Bevölkerung selbst braucht noch länger, um sich gegen Vichy zu entscheiden. Damit ergibt sich ab 1942 für die Résistance die Schwierigkeit, zwei Gegnern gegenüberzustehen: dem deutschen Militär und der Vichy-Regierung, bzw. deren Befürwortern.

Interessant ist hier die neue Rolle der Lyrik: „Die Poesie reagierte mit besonderer Sensibilität auf die Ereignisse und erweist sich, nicht zuletzt dank einer langen Tradition gesellschaftskritischer Dichtung, als Medium des Widerspruchs und der intellektuellen Résistance“[11] In diesem Zusammenhang sind vor allem die beiden Namen zu nennen, um die es in dieser Arbeit geht: Louis Aragon und Paul Éluard: Ihnen wird klar, dass mit der extremen surrealistischen Prämisse der Alogik und der kompletten Loslösung von allen Traditionen keine für die Bürger verständlichen politischen Aussagen zu machen sind. Sie nehmen also ihre scharfen Stilgesetze teilweise zu Gunsten marxistischer Aufklärungsgedanken zurück und „gelten nun [hauptsächlich] als Résistancedichter, nicht mehr Verkünder der Subversion.“[12] Unter diesem Dualismus sind die hier behandelten Gedichte zu verstehen, die surrealistische Aspekte mit traditionellen Formen der Lyrik verbinden. Margarete Zimmermann und Jürgen Grimm unterstützen die These der Wandlung, indem sie Éluard zitieren:

»1942 bezeichnet Éluard die Wandlung der Lyrik von einem hermetischen Spiel für eine eingeweihte Minorität zu einer kritisch auf die Zeitverhältnisse bezogenen Dichtung sogar als Notwendigkeit: Mais il fallait bien que la poésie prît le maquis . Elle ne peut trop longtemps jouer sans risque sur les mots« [13]

Nach Karl Kohut, dessen Literatur der Résistance und der Kollaboration in Frankreich für die deutschsprachige Romanistikforschung unerlässlich ist, sieht hingegen eine eindeutige Kontinuität:

»Es ist nun interessant zu beobachten, dass die ehemaligen Surrealisten in ihren Gedichten der Résistance entscheidende Stilzüge der surrealistischen Poetik bewahrten oder wiederaufnahmen und sie der neuen politischen Zielsetzung nutzbar machten. Die Vorliebe der Surrealisten für das außergewöhnliche Bild, die Neigung zur Verrätselung traf sich mit dem durch die Zensur hervorgerufenen Zwang zur Tarnung der politischen Aussage«[14]

Zusammenfassend kann man festhalten, dass die literarischen Prozesse der Résistance im Allgemeinen und ihre Lyrik im Speziellen Produkt vieler verschiedener poetischer Erfahrungen waren und dass vor allem durch die personellen Überschneidungen den surrealistischen Methoden ein hoher Stellenwert zukommt: die traumhafte Durchdringung der Wirklichkeit, die Provokation durch das Wort, das verblüffende Bild, die Collage, die Synästhesie, sie alle finden sich in den Veröffentlichungen dieser Tage wieder. Für Stephan Hermlin ist der Surrealismus sogar „im Frankreich der Kriegsjahre bereits eine nationale Tradition geworden“[15]

4 Aragon, Surrealist und Résistancedichter

Kein Poet des 20.Jahrhunderts ist so umstritten wie Louis Aragon (1887–1982), als Surrealist, Verfechter des sozialistischen Realismus und prominenter Parteikommunist (Mitgliedschaft 1927 - 1931). Er erhebt den surrealistischen Grundanspruch, also die Untrennbarkeit zwischen Wissen und ästhetischer Erfahrung radikaler als seine Kollegen, dafür akzeptiert er das Prinzip der écriture automatique nicht unter den extremen Voraussetzungen des totalen Bezeichnungsverlusts. Für ihn kann das Banale poetisch und umgekehrt das Poetische banal sein. In seiner Frühphase (bis 1939) sind seine Werke noch metaphorischer und beinhalten unzählige bizarre Traumbilderwelten. Ab seinem Band Le Crève – Coeur (1941) spricht man von der poésie de la Résistance. Die durch starke Verfremdung der Aktualität geprägten, an Binnenreimen und Alliterationen reichen Gedichte sind auch unter dem Titel der poésie de contrebande (zu Deutsch Schmuggellyrik) bekannt geworden. Ihr gehört auch sein populärstes Gedicht Les Lilas et les Roses an, welches unter Punkt 4.1.3. besprochen wird.[16] Peter Bürger betont, dass Aragons Konzept einer „modernen Mythologie“ als „Protest gegen die Entfremdungserscheinungen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft“[17] begriffen werden kann: ästhetisches Programm und politische Idee finden sich also auch hier vereint. Außerdem weist er zu Recht darauf hin, dass etwa Walter Benjamin um 1930 noch die Hoffnung der Surrealisten „auf die Möglichkeit einer ästhetischen Praxis, die nicht vom Leben abgespalten, sondern zugleich revolutionäre Praxis wäre“[18], geteilt hat; auch Benjamin hegte die Hoffnung, „Kunst könnte in einer im weitesten Wortsinne politischen Praxis aufgehen.“

Nach einer Russlandreise im Jahre 1930 zum 2. Schriftstellerkongress in Charkow tritt Aragon aus der surrealistischen Bewegung aus und in die partie communiste ein. Damit vollzog er - zumindest in der Theorie - gleichzeitig den Übergang vom Surrealismus zum späteren sozialistischen Realismus.[19]

4.1 Lyrische Entwicklung vom Surrealismus zur Résistance, bzw. hin zum sozialistischen Realismus

» Si vous écrivez, suivant une méthode surréaliste, de tristes imbécillités, ce sont de tristes imbécillités. Sans excuses. Et particulièrement si vous appartenez à cette lamentable espèce de particuliers qui ignore le sens des mots, il est vraisemblable que la pratique du surréalisme ne mettra guère en lumière autre chose que cette ignorance crasse[20] « .

» Nous sommes à la veille d’une période aussi riche et neuve que le fut l’ère romantique[21] «

4.1.1 Die Sammlung Le Mouvement perpétuel (1926) - Beispiel seines Surrealismus

Aragons größerer Schaffenskreis dieser Zeit war überraschenderweise, das für die Surrealisten eher unübliche, teilweise sogar angegriffene und angefeindete Genre des Romans und der Prosa-Texte wie zum Beispiel Le Libertinage (1924), Le Paysan de Paris (1926) und Une vague de rêves (1924). Nichtsdestotrotz brachte er in dieser Frühphase dem Surrealismus verschriebene Gedichte und Sammlungen heraus: Écritures automatiques (14 Texte von 1919-20, die erst 1970 unter diesem Titel gemeinsam verlegt werden), Le Mouvement perpétuel (1926) und La Grande Gaîté (1929). In letzterem sammelt Aragon die meisten seiner zwischen 1919 und 1925/26 verfassten Gedichte und stellt ihnen folgende Widmung voran: „ Je dédie ce livre à LA POÉSIE et merde pour ceux qui le liront“. Teilweise lassen die hier abgedruckten Gedichte den Dadaisten in ihm erkennen, so besteht das Gedicht Persiennes (1920) nur aus einer Aneinanderreihung dieses Wortes im Singular mit abschließendem Fragezeichen versehen, oder Suicide (1920) ist eine Darstellung des Alphabets, bei dem die in Zeilen eingeteilten Buchstaben gegen Ende immer weniger werden, bis die letzte Zeile nur noch die letzten drei Buchstaben füllt. Der zweite Teil dieses Bandes hat den revolutionären Titel Les destinées de la poésie, der anzeigt, dass es Aragon auch um eine neue Richtung der Poesie geht. Durch die Namensgebung der unaufhörlichen Bewegung spielt Aragon vermutlich auf die Diskussion um das Perpetuum Mobile an, (lat. das „ununterbrochen Bewegliche“) eine Konstruktion die, einmal in Gang gesetzt, ewig in Bewegung bleiben und dabei unter Umständen noch Arbeit verrichten soll. Auf Grund von fundamentalen Erkenntnissen aus der Thermodynamik weiß man seit langem, dass ein Perpetuum Mobile nicht existieren kann; Theorien, welche die Existenz eines Perpetuum Mobile behaupten, gelten also als pseudowissenschaftlich, oder eben als surreal: anhand von rein naturwissenschaftlichen Phänomenen nicht erklärbar, aber in der Überrealität durchaus vorstellbar. Darüber hinaus kann man die Bewegung von Dadaismus hin zum Surrealismus auch als ununterbrochen interpretieren, oder auf Aragon selbst übertragen als derjenige, der Nichts unterbricht und sein Werk als eine Einheit gesehen haben möchte: er ist der Mobilisator dieser ständigen Bewegung. Eine weitere Erklärung könnte die sein, dass er den Titel als Rechtfertigung gegen die Streitigkeiten aus der Gruppe äußert: wir alle dürfen uns nicht in solchen Lappalien gegenseitig von unserer Entwicklung (Bewegung) abhalten, sondern müssen unsere Poesie ununterbrochen fortsetzen.

Das Gedicht La route de la révolte, auf welches hier nur kurz eingegangen werden soll, ist André Breton gewidmet und drückt durch das in den ersten sieben Versen wiederholte Ni die typische dadaistische und surrealistische Antihaltung der jungen Revolutionäre aus, die durch das einzige Verb accepter unterstrichen wird. Diesen 4. Vers kann man als die zentrale Aussage im ersten Teil ansehen, darum geht es dem Autor, deswegen bringt er hier das lyrische Ich an: weder akzeptiere ich Soldaten noch einen Gott! Diesem ablehnenden Teil steht ein aber, ein bestimmte Dinge befürwortender Teil gegenüber, der sich inhaltlich stark an den surrealistischen Themengebieten bedient und dessen malerische Wortkombinationen er anwendet: les larmes danseuses du rire, le cristal des roches d'aube; dass sind die Dinge die er liebt.

Wie in diesem Gedicht, so kann man im ganzen Band bei genauerem Hinhören zwei Stimmen vernehmen, die zum Leser sprechen, teilweise ironisch und ernsthaft, dann wieder passioniert aggressiv und verzweifelt, fast hoffnungslos. Alain Jouffroy schreibt dazu in seinem Vorwort von Le mouvement perpétuel:

» Aragon à su très tôt montrer la conscience qu'il avait de cette ambivalence de l'écriture, qui ressemble à celle des sentiments comme une sœur jumelle.[22] «

Zum Titel sei hier vermerkt, dass der heutige Boulevard Anatole France (so benannt seit 1926) , der sich in Paris - St. Denis befindet bis 1848 diesen Namen trug, gebaut wurde er um 1750 unter Louis XV. Leider kann hier nicht festgestellt werden, ob Aragon sich darauf bezogen hatte.

4.1.2 Magnitogorsk - Beispiel seines Sozialismus

Schon im Jahre 1932 mit der Veröffentlichung von Front Rouge bekam Aragon höllischen Ärger: diese Propagandapoesie widersprach so gut wie allem, wofür der Surrealismus stand. Weil Aragon jedoch wegen Aufhetzung zum Massenmord belangt werden sollte, mit einer drohenden Höchststrafe von fünf Jahren Gefängnis, eilten die Surrealisten ihm dennoch zu Hilfe. Breton konnte es sich jedoch nicht verkneifen, in seiner Verteidigungsschrift Misère de la poésie einen harschen Angriff gegen die Kommunistische Partei zu führen, was teilweise auch zum Bruch zwischen den beiden Freunden führte. Zwei Jahre später versucht Aragon in weniger aggressiven Ton und frei von den surrealistischen Zwängen die Ideen vom sozialistischen Realismus in Magnitogorsk umzusetzen. Das Gedicht stammt aus der 1934 erschienenen, wegen ihres lautwiederholenden Titels Hourra l’Oural surrealistisch anmutenden Sammlung, die jedoch fast gänzlich dem sozialistischen Realismus zuzuordnen ist und deren Gedichte als Propaganda für das System der UDSSR zu verstehen sind. Er Lernte die Sowjetunion auf einer Besichtigungsreise in den Ural 1932 zusammen mit seiner Frau Elsa Triolet und drei anderen ausländischen Schriftstellern unter der Führung eines sowjetischen Gewerkschaftlers kennen. Die Gedichte drücken den Enthusiasmus aus, den er wohl beim Anblick der neuen Welt empfunden hat. Dem in vier Teilen gegliederten Band, ist der gesamte zweite Abschnitt Magnitogorsk und dessen Entwicklung gewidmet.

Nachdem Aragon 1931 aus der surrealistischen Bewegung aus- und in die PCF eingetreten ist, kann man diesen Übergang vom Surrealismus zum sozialistischen Realismus auch in seinem Schreibstil wieder finden. Formal kann man das Gedicht wie folgt beschreiben: es besteht aus 11 Strophen, die in der Mehrzahl neun Zeilen lang sind; abgesehen von einigen vermutlich nicht bewusst gewählten Ausnahmen ist es ganz ohne Reim und in freien Versen verfasst, die an seine theoretische Abhandlung über La rime en 1940 erinnern, die er hier zwar noch nicht geschrieben, aber wohl in der Praxis schon im Bewusstsein hatte. In einigen Punkten weichen sie allerdings von ihrer „Nicht - Norm“ ab, da Aragon mit bestimmten Überraschungseffekten die metrische und die syntaktische Periode nicht zusammenfallen lässt. Diese Enjambements kommen zweimal in den Versen 14 – 18 vor:

Le paysage a plus d’échafaudages qu’un jour d’été

n’a des mouches

Le paysage est à genoux dans le socialisme

et l’électricité

étire ses doigts fins du ciel ála poussière

Ähnliche Effekte der Hervorhebung findet man in den Versen 26 f, 29 f, 36 f, 49 f, 67 f, 70 f, 84 – 90. Dieses Gedicht ist ein sehr gutes Beispiel für Aragons Hinwendung zum Realismus, dessen Gegenstand hier Magnitogorsk ist: ein Industriekombinat im südlichen Ural. Von 1929, nachdem man den Ort mit einer Bahnverbindung zur transsibirischen Strecke versorgt hatte, bis 1932 wurden hier schwerindustrielle Anlagen gebaut, deren erste Bauphase eben im Jahre 1932 mit der Inbetriebnahme des ersten von sechs Hochöfen fertig gestellt wurde. Diesem, für die sowjetisch – sozialistische Arbeiterentwicklung wichtigen, ja feierlichen Datum ist das Gedicht gewidmet und trägt deswegen auch seine Jahreszahl im Titel.

Aragon hätte Magnitogorsk in der etwas naiven und realistischen Weise feiern können, die man in „echten“ sozialistisch-realistischen Gedichten findet. Er hätte die Genossen und Arbeiter besingen können, die für den Aufbau der neuen Gesellschaft heldenhaft ihr Ganzes geben. Doch von den Arbeitern ist überraschender Weise nur in der fünften Strophe die Rede:

...

De grands types circulent entre les épaules de la terre

Et sous leurs mains calleuses familièrement

Claque le flanc de l’avenir

De grands types qui lisent au voyant des édifices publics

Ces chiffres mystérieux de la fonte et du coke produits chaque jour

De grands types

Pour qui le ciel et la montagne

Se résument la soir dans un accordéon

Hauptziel der Aussagen, bzw. der Aneinanderreihung von Bildern ist es, den Menschen die neue Welt, die Welt des Sozialismus, deren Gesicht vom Fortschritt und von der Technik geprägt ist, verständlicher zu machen. Um dieses Verständnis für eben jene völlig neuen, manchen eher befremdelnden, Erscheinungsformen zu wecken, bedient er sich des Blickes eines kleinen Zirkuspferdes, das nichts von alledem versteht und dessen Sicht auf bestimmte Szenen uns bizarre Rätsel aufgibt. Damit sind wir bei einem der Hauptverfahren des sozialistischen Realismus angelangt: demjenigen der Verfremdung, die zum ersten Mal in einem Aufsatz von Šklovskij aus dem Jahre 1919 auftaucht und die vor allem durch Bertolt Brecht Berühmtheit und Bekanntheit erlangte.[23] Um der mit der Verfremdung oft gekoppelten Ironie aus dem Weg zu gehen, denn Aragon will hier in keinster Weise ironisch oder satirisch wirken, streut er viele technische und politische Termini ein, die den Horizont des Pferdchens erweitern und immer auch die Perspektive des Autors mit einfließen lassen: z.B. caissons (V.2), poteaux télégraphiques (V.8), socialisme (V.16), électricité (V.17), minerai, concasseuses (V.24), hauts-founeaux (V.25), idéologie (V.37) fonte, coke (V.34) und viele andere.

Trotz seines klaren propagandistischen Stils spielt Aragons surrealistisches Erbe auch in diesem Gedicht eine größere Rolle als wohl auf den ersten Blick angenommen: Schlüsselelement ist wieder die Perspektive des Pferds, bzw. die durch sie provozierten, den gesamten Text durchziehenden Metaphern und Vergleiche. In ihnen wird wieder deutlich, was der einstige Verfechter des „ Rauschmittels Bild“ durch sie erreichen kann: sie beleben Dinge, die für nüchterne, sachliche Augen unbelebt erscheinen. Die zentrale Metapher ist hier die Natur, die als ein Riese gesehen wird, der u.a. ein Geschirr von Rauch um den Hals hat (s. V.13, bzw. die gesamte Strophe II). Alle Bilder bauen sich auf bekannten Vokabeln des Pferdelebens auf: Nägel, Netz, Geschirr, Fliegen usw. und stammen aus der Zirkuswelt: z.B. in Strophe III: léopards de feu, tonnerre du rire, tonnerre d’applaudissements, au numéro d’un clown inconnu usw.

Formal und inhaltlich ist das Gedicht in zwei Hälften unterteilt: in den Strophen I bis V steht der Refrainvers Le petit cheval n’y comprend rien, der das gesamte Gedicht durchzieht noch am Anfang, während er in den Strophen VI bis VIII ans Ende rückt; Strophe IX ist als Rückbezug zu verstehen und widmet sich inhaltlich ganz dem Pferdchen. Die formal ganz aus dem Rahmen fallenden Strophen X und XI können als Zusammenfassung, als Hautaussage des Gedichtes gelesen werden, sozusagen die Synthese aus allen vorhergegangenen Bildern, die mit dem als Bitte umformulierten Refrain, der sich nicht nur an das Pferdchen, sondern an alle Leser richtet. Die erste Hälfte ist rein beschreibend (3.Person, Präsens), aber in der zweiten Hälfte wendet sich plötzlich ein Ich an das Du des Pferdchens (Strophe VI: »Ah mon amour ah mon amour allons au cirque«). Dieses Du unterscheidet sich in sofern vom Pferdchen, indem es nicht in diese seltsamen Bildern spricht, sondern versucht Verständnis für die neue Lebenssituation zu wecken: die innergedichtliche Reflexion über das anfangs Beschriebene in den Strophen IX bis XI ist nicht umsonst im Imperfekt verfasst.

Mit diesem Gedicht möchte Aragon allen Menschen die Ideologie des Sozialismus näher bringen und ebenso wie dem Pferdchen, dass erst von alledem Nichts versteht, möchte er Ihnen zurufen, dass das was am Anfang noch so bizarr und so technisch kalt und fremd wirkt zu einem guten Ende führen wird. Strophe X ist, wie schon angedeutet Kernsatz, Programm für alles vorher gesagte: Während des Wiederaufbaus hat die Technik Vorrang. Dieser fast schon futuristisch anmutende, die Technik fast verherrlichende Satz hat wenig mit surrealistischen Idealen zu tun, die doch im Gegensatz zur harten Realität die Traumwelt bevorzugen. Für alle, die den neuen Bildern immer noch nichts abgewinnen können, wird Aragon in seiner direkten Ansprache an das Pferd (Strophe IX), bzw. an den Leser noch deutlicher, indem er das alte kapitalistische System und die Religion in Frage stellt. Raible beschreibt sie so:

»Ob ihm [dem Pferdchen] nicht manchmal die Peitsche das Heu vergällt hat, ob es in den Dörfern…nicht die Menschen neben dem Gold von Madonnen hat hungern sehn? Hier Sklavschaft (Peitsche) und Hunger der einen angesichts des Reichtums anderer, dort Sozialismus und Kommunismus, der alle gleich macht und dessen Anziehungskraft den italienischen Akrobaten in den Bunkern eines roten Dampfers vor Mussolini hat fliehen lassen (V.48-50)«[24]

Aragon versucht sich in diejenigen zu versetzen, die nicht in dieser Welt der Technik groß geworden sind und plötzlich mit ihr konfrontiert werden; sie sollen nicht fliehen und es gibt keinen Grund zur Verwirrung, den der Gigant Landschaft wird gebändigt, in den Dienst des Sozialismus, des Fortschritts gestellt und somit auch dem Menschen zu Nutze gemacht. Zwar leidet die Kunst zuerst etwas darunter. Es gibt noch kein Theater in Magnitogorsk und die Poeten müssen auch erst in die Stadt einziehen (Vers 52 und 55), aber dann werden paradiesische Zustände herrschen: habt keine Angst, alles wird gut!

4.1.3 Les Lilas et les Roses - Beispiel seiner Résistance-Lyrik

» Jamais peut-être faire chanter les choses n’a été plus urgente et noble mission à l’homme, qu’à cette heure où il est plus profondément humilié, plus entièrement dégradé que jamais. Et nous sommes sans doute plusieurs à en avoir conscience, qui aurons le courage de maintenir, même dans le fracas de l’indignité, la véritable parole humaine, et son orchestre à faire pâlir les rossignols.[25] «

Es handelt sich bei diesem Werk um ein Gedicht, dass trotz unterschiedlicher Strophenlänge – die 1. und 5. ( auch letzte) Strophe umfassen nur 4 Verse, während die 3 Zwischenstrophen jeweils 8 Verse umfassen – einen konstanten Kreuzreim aufweist. Durch die beiden „halbierten Strophen“ am Anfang und am Ende wird das Konstrukt eingerahmt und ein Zirkeleffekt wird geschaffen. Daneben tauchen vereinzelte Binnenreime auf (Vers 5 und 13, sowie 3 und 27: Je n’oublierai jamais), die für eine rhythmische Bewegung sorgen. Der eben genannte Vers Je n’oublierai jamais... und weiter... les lilas ni les roses wird durch den Titel zum Leitvers und in zwei verschiedenen Variationen wieder aufgenommen: In Vers 5 nimmt der Autor sich vor nie die illusion tragique zu vergessen, auf die später noch einmal einzugehen ist und in Vers 13 sind es die jardins de la France denen er gedenkt. Die im Gedicht auftauchenden Metaphern haben alle die bizarren, surrealistischen Elemente der Psyche, die wie Bilder einer Traumwelt anmuten zu Eigen: Au vent de la panique, sur l’aile de la peur, aux vélos délirants, aux canons ironiques (Vers 17-19). Die Alliterationen in der 2.Strophe (Vers 6 auf dem Konsonanten c, und dann in Vers 7 auf ch) vollziehen einen Wandel vom Harten und Scharfen hin zum Weichen, Flüsternden.

Das Gedicht behandelt der Einfall der Nazis im Frühjahr 1940. Dieser Themenkomplex des Krieges, der barbarisch alles zerstörte was in Frankreich schön und gut war wird gegenübergestellt mit dem der Natur und des im Frühling aufblühenden, freien Leben. Historisch wird auch eben jener Frühling als einer der schönsten und wärmsten angesehen. Dazu kommt noch, dass die Franzosen nicht mit einem Angriff von Deutschland rechneten, da durch das Münchener Abkommen 1938, die Zugeständnisse an Hitler und die Abgabe von Böhmen und Mähren, der Waffenstillstand gesichert schien. Nun wurde aber ganz plötzlich, durch den unerwarteten Angriff der Deutschen und den Verrat Pétains, der auf den warmen Frühling folgende heiße Juni „erdolcht“. Die Armeen Hitlers strandeten nicht, wie erhofft an der Maginot – Linie, dem Festungswall, den die Franzosen an ihrer Grenze zu Deutschland errichtet hatten, sondern fielen binnen weniger Tage, nachdem sie in einem Blitzkrieg die Beneluxländer eingenommen hatten, überraschend von Nordwesten in das Land ein. Hier trafen sie die Franzosen an einem wunden Punkt, da sich genau dort die industriell am stärksten entwickelten Städte befanden, besetzten ein Dorf nach dem anderen, töteten oder vertrieben deren Einwohner und lösten so einen Exodus aus.

In der ersten Strophe wird in all diese Themen eingeführt, wobei die Natur als tragende Rolle im ersten Vers eine Wiedergeburt erlebt und im letzten Vers als Mutter, die ihre gefallenen Kinder in ihre Arme schließt, assoziiert wird. Das vorher romantische Summen der Bienen und Hummeln wird in der 2.Strophe durch das monotone Brummen der Panzer ersetzt (Vers 8). Mit der Begriffskonstellation der illusion tragique (Vers 5) spielt Aragon auf den im 17. Jahrhundert von Corneille geprägten Begriff der illusion comique an, der die Kunst des Theaterspielens als Vorspielen einer Realität versteht und erwähnt in ihm eine der großen kulturellen Leistungen Frankreichs um seine eigentliche Größe in Erinnerung zu rufen. Hier schimmert somit ein dritter Themenkomplex im Gedicht auf: der mit dem Einfall der Deutschen verbundene, und durch das Verhalten Pétains ausgelöste Verfall aller idealistischer Größe und kultureller Stärke Frankreichs. (Pétain schloss im Wald von Compiègne den in Vers 24 angedeuteten Pakt mit Hitler). Durch die Anspielung auf die Tricolore, die durch den blauen und weißen Flieder (Nationalblume) und durch die roten Rosen (Blume der Liebe) symbolisiert werden und der Erwähnung von bedeutenden Städten, bzw. Landstrichen (Paris, die Normandie, Flandre und Anjou) wird zur Widerherstellung dieser Größe aufgerufen. Mit Ironie wird der hinterhältige Plan der Deutschen dargestellt, die mit ihren Panzern von Belgien her einfallen (Vers 7: les chars chargés d’amour les dons de la belgique). Das blutige Aufeinandertreffen der Truppen zerstört die Idylle des schönen Frühlings. Diese Zerstörung wird durch die Blumensymbolik auf die Zerstörung Frankreichs übertragen: der Flieder wird durch das peuble grisé[26] (die grauen, oder trunkenen), von Siegeslust erfüllten Deutschen vernichtet und die Rosen verlieren gegen Ende ihre Unschuld, indem sie mit Feuer und Brand assoziiert werden[27]. Eine weitere französische, literarisch- kulturelle Errungenschaft wird in Vers 19 angesprochen, denn mit dem allzu surrealistischen Bild der vélos délirantes, der Fahrräder im Delirium, wird eine Verbindung zu Arthur Rimbauds Gedicht Le bâteau ivre, das betrunkene Boot, geknüpft. Gleichzeitig ist dieses, und das darauf folgende Bild der canon ironiques Beschreibung für die seltsame Situation des drôle de guerre: zwei hoch aufgerüstete, sich feindlich gesinnte Heere stehen sich mit ihren Kriegsmaschinerien wochenlang gegenüber und greifen sich aufgrund des Abkommens nicht an. Die deutschen Soldaten werden zu des faux campeurs (Vers 20) degradiert, die einfach nur dasitzen und nichts tun. Die Natur wird genutzt, um die Ideen der abstrakten Emotionen zu illustrieren. Le vent de la panique charakterisiert die unmenschliche Gewalt und mit den aile de la peur könnten sich die verängstigten und verunsicherten Soldaten schneller fortbewegen.

General Charles de Gaulle wird in Vers 23 erwähnt, der sich im Juni nach England absetzte und in dem kleinen Dorf in der Normandie Sainte – Marthe wurde Louis Aragon das Kriegskreuz überreicht. Die Region Flandre ist einerseits bekannt durch die große Schlacht unter Franzosen und Deutschen im 1. Weltkrieg, andererseits ist sie vermutlich die Gegend in der die fleur – de – Lis, Symbol der französischen Krone, am Fluss Lys wächst (eigentlich eine einheimische Irisart, die im Übrigen in getrocknetem und gepressten Zustand dieser sehr ähnelt). Der Landstrich Anjou ist eine Region, die durch ihre Rosenkultur bekannt ist, die Aragon durch den Einfall der Feinde in Brand stecken lässt.

5 Éluard, Surrealist und Résistancedichter

In der Anfangsphase gilt Éluard als der bedeutendste Poet der Surrealistengruppe. Er ist wohl auch derjenige, der durch seine freundschaftliche und schriftstellerische Nähe zu Breton - Mitarbeit an La Révolution surréaliste (1924-29), Le Surréalisme au service de la Révolution (1930-1933) und Minotaure (1933-1939) – am meisten unter der schlussendlichen Entzweiung gelitten hat. Trotz seiner Ambitionen zum Kommunismus (1926 Eintritt in die PCF) versucht er zwischen den Streitigkeiten der beiden Seiten zu vermitteln: die PCF wirft den Surrealisten vor, sie seien nur „ révolutionnaires de salon“, unverantwortliche Literaten, „ incapables de passer à l'action“.[28] Er hält derzeit noch Breton die Treue und wird deswegen 1933 aus der Partei ausgeschlossen, in die er erst 1942 erneut eintritt. Das hält ihn allerdings nicht davon ab, sich weiterhin an Aktionen der Linken zu beteiligen: Nach dem faschistischen Putschversuch (6.2.1934) Mitarbeit im antifaschistischen Wachsamkeitskomitee der Intellektuellen; Vortrag von Bretons Rede auf dem Pariser Kongress, da dieser dort nicht teilnehmen darf; Reise mit Breton nach Prag zur Eröffnung der Internationalen Surrealismus-Ausstellung; und nicht zuletzt seine Aktivitäten zur Unterstützung der Spanischen Republik. Das Jahr 1936 (Machtübernahme Francos, Erschießung des spanischen Schrifstellerkollegen Lorca…) macht ihn erst zum richtigen engagierten Poeten und führt zur Trennung von Breton und den Surrealisten (1938).

Ab 1940 widmet er sich schließlich voll und ganz der Résistance: Mitarbeit an den Lettres françaises, 1942 erscheint in der auf Goethes Dichtung und Wahrheit" bezogenen Broschüre Poésie et Vérité das weltberühmte Gedicht Liberté (hier vorgestellt und interpretiert in 5.1.2.). Diese Broschüre wird 1943 in hunderten Exemplaren von Flugzeugen der R. A. F. über der besetzten Zone abgeworfen. Ab Februar 1943 leitet Eluard das Comité National des Ecrivains in der Nordzone und sammelt die Gedichte für den Band L'Honneur des Poètes. Nach der Befreiung erhält er die Medaille für Verdienste um die Résistance und publiziert im Dezember 1944 unter dem Titel Au rendez-vous allemand die Sammlung seiner Résistancegedichte. Was seinen Kommunismus angeht und seine Wahrnehmung der Ereignisse in der Sowjetunion kann man ihm (und im übrigen Aragon auch) glatte Naivität nicht nur unterstellen, sondern auch bescheinigen: er sieht lange nicht die Grausamkeiten und Greueltaten, die so eine Diktatur mit sich bringen und neigt zu Verherrlichung der Realität mit ihr nicht entsprechenden Bildern vom Leben in einer sozialistischen Gemeinschaft: Frankreich ist nun mal weit weg vom stalinistischen Regime.

5.1 Vom apolitischen hin zum Sozialismus; vom abstrakten Liebesbegriff zur Befreiungslyrik

Für Éluard ist ein Gedicht:

«ce n’est plus seulement un objet biscornu ou l’exentricité d’une élégante à bout de souffle, mais ce qu’il est donné au poète de simuler, de reproduire, d’inventer, s’il croit que du monde qui lui est imposé naîtra l’universe qu’il rêve. Le poète, à l’affût des obscures nouvelles de monde,nous rendra les délices du langage le plus pur, celui de l’homme de la rue et du sage, de la femme, de l’enfant et du fou. (...) Ecoutons-les sans réfléchir et répondons, nous serons entendus. Sinon, nous ne sommes que des miroirs brisés et, désireux de rectifier les apparences, nous poètisons, nous retirons la vue première, élémentaire des choses, dans cet espace et ce temps qui sont nôtre. (...)

La poésie involontaire, si banale, si imparfaite, si grossière soit-elle, est faite des rapports entre la vie et le monde, entre le rêve et l’amour, entre l’amour et la nécessité.(...) Tout homme est frère de Prométhée. Nous n’avons pas une intelligence particulière nous sommes ddes êtres moraux et nous nous situions dans la foule.[29] »

5.1.1 On ne peut me connaître - Beispiel für seinen Surrealismus

Erstmalig in der Gedichtsammlung Les Yeux fertiles veröffentlicht, nahm er es 1941 in die Sammlung Choix de poèmes auf, die zu den ‚poetischen Bestsellern’ dieses Jahrhunderts gezählt wird. Das Gedicht erfüllt eine der allgemeinen Voraussetzung der Poesie des 20. Jahrhunderts, da es von Autor und Leser eine Art Ereignishorizont voraussetzt. Die Surrealisten, bzw. eigentliche alle Dichter der Moderne, beziehen ihre Inspiration, oder wie auch immer sie in ihren eigenen Sprachen diesen Motor des Schaffens auch nennen mögen, aus den verschiedensten Bereichen, seien es die Sprache, die Objekte, die Zeit oder die göttliche gratia wie bei Paul Claudel. Éluard bedient sich hier einer der traditionellsten Quellen der Lyrik überhaupt, der der Liebe. Wollten sich die Surrealisten auch auf vielen Feldern von ihren Vorgängern absetzen und Gegenposition ergreifen, kann auf jeden Fall nicht geleugnet werden, dass sie sich hier sehr anpassten, indem sie das Urthema Liebe zu einem ihrer drei Hauptinteressensbereiche machten. Man kann also auch in der „nach-surrealistischen“ Zeit Éluard nicht als Abweichler bezeichnen. Für ihn sind Inspiration und Liebe ein und dieselbe Sache[30]. Diese Inspiration durch die Liebe, die wir im Übrigen ebenfalls bei Aragon an vielen Stellen seines Werkes vorfinden beinhaltet bei beiden Autoren oft die Sicht auf, bzw. aus den Augen der Geliebten: bei Éluard heißt die Gedichtsammlung sogar Les Yeux fertiles, Aragon erzählt von Les Yeux d’Elsa und meint hier implizit die Augen seiner Geliebten Elsa Triolet.

Zur formalen Interpretation des Gedichtes ist anzumerken, dass Éluard, wie fast immer seine Verse – hier sind es 14 an der Zahl – von der Diktatur des Reims befreit hinstellt. Diesmal gibt er der Sache eine Art Rahmen von jeweils zwei Versen zum Beginn und zum Ausklang des Gedichtes, die sich nur mit je einem Wort unterscheiden, dem Du im ersten und dem Ich im letzten Verspaar. Man könnte quasi von zwei Polen sprechen, zwischen denen das Gedicht steht: die absolute Kenntnis des Ich durch das Du und umgedreht, also wieder die Liebe gegenüber dem weiblichen Gegenüber, die im Übrigen bei Éluard die reale, spezielle Liebe, also z.B. zu Nusch sein kann aber auch ganz allgemein die Frau an sich als Objekt der Liebe ansprechen kann. In der Literatur wurde schon des Öfteren festgestellt, dass der Anfang aller Dichtung bei Éluard diese zweite Person, also das weibliche Du voraussetzt; erst dann kann sich das Ich realisieren, da es eine Art Spiegel vorgehalten bekommt. Diese philosophischen Gedanken findet Éluard bei Hegel und bei Sartre wieder, der dem regard als einer der menschlichen Sinne ebenfalls eine große Bedeutung zukommen lässt.[31] Kurz gesagt: Éluard beschäftigt sich nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Theorie mit dieser Dialektik und macht sie so in der Diskussion mit Breton auch zum Thema der Surrealisten, sowie sie später in der Résistance als Fragestellung über das Selbstbild der Franzosen wiederauftaucht. Jedenfalls schrieb er schon 1938 mit Breton im Dictionnaire abrégé du Surréalisme in seinem Artikel über Dialectique darüber und diese Thematik taucht in frühen sowie in späten Werken immer wieder auf: man kann also eindeutig von einer continuation in seinem Werk sprechen.

Über die Symmetrie des Eingangs- und Ausgangsverses hatten wir bereits gesprochen, aber selbst die drei mittleren Strophen, die sich auch formal – alle sind Oktosyllaben – als Einheit abheben, weisen eine weitere Struktur auf, da in der zweiten und in der vierten Strophe von dem verbindenden Wir die Rede ist. Das Tous les deux in Vers 6 bekommt eine besondere Stellung, da es aus dem Rahmen heraus fällt, indem es der 2. Strophe als einzige vier Verse beschert und auch nicht in die ansonsten syntaktische und inhaltliche Parallelität der Strophen 2 und 3 passt. Die Hoffnung, dass das Du zur Verbesserung des Ichs beitragen kann, die Erwähnung des „in - den - Augen - Schlafen“ und des metaphorischen Reisens zeugen allesamt von einer tiefen Verwurzelung Éluards in den surrealistischen Motiven und Themen also auch noch 1936, obwohl er da schon begann sich etwas von der Gruppe zu isolieren.

5.1.2 Liberté - Beispiel für seine Résistance-Lyrik

Das Gedicht über die Freiheit von Paul Éluard wurde 1942 erstmals als Flugblatt, dann in Les Oeuvres complètes de Paul Éluard veröffentlicht[32]. Zum historischen Hintergrund ist kurz zu erwähnen, dass ab dem Jahr 1942 die Force de la France libre mehrere Aktionen zur Mobilisierung und Ermutigung der besetzten Gebiete startete. Unter anderem wurden hier Gedichte zum Widerstand als Aufruf der Verbindung Poésie et vérité mit Flugzeugen über den besagten Gegenden verteilt, u.a. auch Liberté, für das Paul Éluard nach dem Krieg den Orden um die Verdienste in der Résistance erhielt.

Das Gedicht ist aufgeteilt in 21 Strophen mit je 4 Versen. Bei den jeweils ersten 3 Versen jeder Strophe handelt es sich (mit Ausnahme der letzten Strophe) um Anaphern[33] der Präposition sur gefolgt von einer oft metaphorisch zu verstehenden Bestimmung des Ortes. Der jeweils letzte Vers jeder Strophe zieht sich refraingleich durch das ganze Gedicht; das lyrische Ich spricht hier direkt das Subjekt, um das es geht an: J’écris ton nom. Auch vom Sprech-Rhythmus fällt dieser Vers aus dem Rahmen, da er mit seinen 4 Silben wesentlich kürzer ist, als die vorangehenden Verse, die jeweils 7 Silben aufweisen. Es ist kein regelmäßiges Reimschema auszumachen, allerdings kommt es an manchen Stellen zu kleineren Binnenreimen: l.1 cahiers /écolier; l.6 pages/blanches l.55 patte/maladroite. Zusätzlich gibt es einige Ausnahmen des versübergreifenden Reims: Str.5, Vers2-3: journées/fiancées; Str.9, Vers1-2 : nuages/l’orage ; Str.11, Vers1.2 : éveillés/déployées ; Str.18, Vers1-3: détruits/ennui ; Str.20,Vers1-2: revenue/disparu.

Die einfache Form und die einprägsamen, kurzen Verse geben dem Gedicht Elan und Dynamik, die wohl die Hoffnung wachrufen sollen und die ständigen Wiederholungen sind klassische Kriterien von Litaneigesängen und mündlicher Poetik. Es scheint hier ein thematisches Vorgehen durch die Strophen angebracht und eine erste Grobeinteilung der Schlüsselbegriffe des Textes, die für bestimmte Lebensbereiche stehen, in eben diese Kategorien bietet sich an. Dadurch entsteht ein Schema einzelner Begriffsfamilien, die beliebig mit weiteren Begriffen aus dem Text ergänzt werden können:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Gedicht mutet wie eine Liebeserklärung an – eine Liebeserklärung an die Freiheit. Die ursprüngliche, handgeschriebene Version Paul Éluards, die man erst später ausfindig gemacht hatte, trug zuerst einen anderen Titel, der dann durchgestrichen und durch das Wort Liberté ersetzt wurde. Ohne einen Titel würde der Leser während der ganzen 21 Strophen in Ungewissheit gelassen werden, um was es sich hierbei handelt, um eine Liebeserklärung an einen Menschen oder wirklich an so einen abstrakten Begriff wie Freiheit. Erst ganz zum Schluss, nachdem in der letzten Strophe noch mal auf den Begriff direkt hingewiesen wird (Pour te nommer) löst er diese Unsicherheit auf und endet mit dem Titel Liberté. Dass dieses Gedicht an die Freiheit gerichtet ist, ja, eine Hymne an das menschliche Leben in seinen ganz unterschiedlichen Facetten darstellt, wird klar durch die diversen Gegenüberstellungen der Vielfalten des Lebens. Es lässt sich außerdem feststellen, dass Éluard oft auf sehr vergängliche Dinge schreiben möchte, z.B. auf den Schaum der Wellen, auf die Flügel von Vögeln usw. Davon wird die Vergänglichkeit des Begriffs der Freiheit als solche abgeleitet, der Hinweis, wie vorsichtig man mit ihm umzugehen hat und die Tatsache, dass er im Frankreich dieser Tage nicht existierte. Weiter ist eine Entwicklung des Begriffs von der äußeren Betrachtungsweise zum inneren Bedürfnis festzustellen: während Éluard am Anfang noch auf die Schulheftseiten und Bäume markiert, sind es am Ende die wiederkehrende Gesundheit und das verlorene Risiko auf die er zu schreiben versucht.

Es handelt sich um einen extrem modernen Text, der sich nicht an vorgegebene Schemata hält. Die spezielle Metaphorik (nackte Einsamkeit, Stufen des Todes, Fließen des geheiligten Feuers, die Mauern meiner Langeweile) erinnert an die im Surrealismus bevorzugten Traumwelten. Durch die écriture automatique, das ‚Bewusstsein, indem der Verstand ausgeschaltet ist’, wird ein eruptives, assoziatives Schreiben erzeugt. Der Vergleich des Gedicht mit einem Magnetsatz von Buchstaben, bzw. Wörtern auf einer Kühlschranktür, die man beliebig hin und her schieben, Verse ergänzen oder weglassen kann bietet sich an. Der Charakter einer Collage, bzw. einer Patchworkarbeit zwingt sich eben unmittelbar auf. Die Zuweisung J’écris ton nom, die eine Abstrahierung des Konkreten, nämlich des Begriffs als solchen darstellt ist ein Strukturprinzip, ein stilistisches Mittel, welches einen Zusammenhalt, eine Einheit erzeugt und den Zusammenhang zwischen all den desperaten Gegenständen herstellt, sie quasi konkret macht und zu verbinden sucht zwischen dem was existiert und was nicht existiert. Die Dichotomie im Text dreht sich um die Problematik des Benennens von Nichtexistentem, für das es eines Umwegs über zahllose Gegenstände, bzw. abstrakte Bilder bedarf. Es handelt sich hier um eine doppelte Abwesenheit: erstens auf der Ebene des Textes - ganz am Ende wird das „Fehlende“ dann doch erwähnt, aber davor handelt es sich um ein eloquentes Nichtsagen -, zweitens auf der Ebene des realen Lebens - das Gut Freiheit ist in dieser Zeit des Kriegs und der Besetzung auch real nicht existent. Paul Éluard bedient sich hier natürlich nicht unbewusst einer der zentralen Leitmotive Frankreichs nach der Revolution (Liberté, Fraternité, Égalité) und will dadurch den stark gesunkenen Nationalstolz der Franzosen wecken. In der letzten Strophe wird ein regelrechter Aufruf zum Beginn eines neuen Lebens postuliert. Paul Éluard begibt sich hier in eine gefährliche Lage, da er sich durch den Akt des Benennens haftbar macht (écrire, nommer= liberté). Am Anfang noch unschuldig, wird er konkret; ton nom wird Stellvertreter für die nur im Titel und in der letzten Zeile erwähnte Benennung, die dem Ganzen einen Rahmen verleiht: das Konkrete Versprechen am Anfang wird zum Schluss eingelöst und beeindruckt durch das letzte Wort, als den Höhepunkt, das zu erreichende Ziel alles Lebens. Er möchte alle Menschen, aber vor allem die Résistantes ansprechen, ihnen einen gemeinsamen Glauben, eine Identität schaffen, ein Lied für ihren Freiheitskampf mitgeben, deswegen nutzt er die leicht zugängliche, durch ein klares, einfaches Schriftbild dominierende Sprache. Durch die Vielfalt der erwähnten Gegenstände, die teilweise dem alltäglichen Gebrauch entspringen, erleichtert er die Identifikationsmöglichkeit mit dem lyrischen Ich. Trotz seiner Simplizität handelt es sich keineswegs um ein typisches Agitationsgedicht, da es mit keiner Silbe aufrührerisch und revolutionär erscheint. Es ist die „Politik der kleinen Schritte“ die er propagiert: jeder kann für sich im Kleinen Stück für Stück seinen Freiheitsbegriff umsetzten und jeder definiert sich seinen Freiheitsbegriff selbst. Dieses Gedicht ist ein Beispiel für die Macht von Literatur oder um Raymond Jean zu zitieren „sinnbildlich für die Macht des geschriebenen Wortes“, denn Paul Éluard hat es geschafft, durch diese Verse Menschen für die Résistance zu begeistern, sie dazu zubringen aufzustehen und ihre Freiheit zu verteidigen bzw. wiederzuerlangen. Das einfache Volk war dankbar: es gab also dort draußen noch Menschen, die sich ebenfalls Gedanken machten, auch wenn sie nicht jeden Vers nachvollziehen konnten gab ihnen Éluard am Ende eben jenen Leitsatz zur Identifikation.

5.1.3 Joseph Staline und L’URSS - Seule promesse - Beispiele für seinen Sozialismus

Diese beiden Gedichte sollen im Folgenden nur kurz behandelt werden, da sie zwar wichtige Zeugnisse für die in Frankreich allgemeine und bei Éluard spezielle Welle der kommunistische Euphorie dieser Tage darstellen, lyrisch allerdings im Vergleich zum restlichen Werk des Autors eher von geringerer Qualität sind. Sie erinnern an die klassische sozialistische Kampflyrik, die nicht nur in der Sowjetunion großen Anklang fand, sondern auch in Deutschland (z.B. Johannes Becher) und Frankreich bekannte Blüten trug. Das Ansehen der Sowjetunion stieg vor allem durch den Sieg der sozialistischen Truppen in Stalingrad, der die Deutschen zur Kapitulation zwang und dadurch den Wendepunkt an der Ostfront herbeiführte. Den Franzosen wurde gezeigt, dass man die Deutschen besiegen konnte, die PCF avancierte zur stärksten Partei, Éluard dankte Ihnen 1942 mit seinem Wiedereintritt und eben jenen Gedichten. Interessant ist, dass die Ode an Stalin allerdings aus dem Jahre 1948[34] stammt, als sich die PCF schon in innerparteiliche Widersprüche verstrickte und dadurch ihr Ansehen gefährdete. Es scheint also, als ob er versuchen wollte, „die große Sache“ für die er eintrat zu rechtfertigen, bzw. andere davon zu überzeugen, sich ebenfalls zu beteiligen. Damit reiht er sich ein in die Doktrin des sozialistischen Realismus, der 1932 vom Zentralkomitee der KPdSU als Richtlinie für Literatur, bildende Kunst und Musik beschlossen wurde. Als Werkzeug wurde häufig die weit verbreitete Ode[35] genutzt, da sie den größten poetischen Spielraum bietet und sich als strophische Dichtung zwischen Lied und Hymne ansiedelt. Als Abgrenzung zur Hymne kann man ihr Formbewußtsein erwähnen, welches einen nicht ganz so pathetischen Charakter hat; das Subjekt wendet sich an große, höher stehende Dinge. Als Gemeinsamkeiten mit der Hymne gelten ihre Feierlichkeit und ihre Erhabenheit. Der Aufbau von Joseph Staline entspricht der klassischen Odentheorie: 5 Strophen à 6 Verse, die sich keinem Reimschema und keiner Metrik unterwerfen und von einer, aus 2 Versen bestehenden Schlussfolgerung abgerundet werden. Die Strophen 1 und 2 bilden eine erste inhaltliche Einheit, da sie das Leiden eines Volkes beschreiben (Vers 2: … ils perdaient leurs forces), bevor ihr Retter (Stalin) zu ihnen kommt um sie zu befreien, bzw. ihre Sehnsüchte zu erfüllen (Vers 10: Les désir d’être heureux le désir d’être forts); die 3.Strophe markiert den Wendepunkt, da sie erstmals den Retter verbalisiert und ihn einreiht in die sozialistisch-kommunistische Tradition von Marx und Lenin. Das lyrische Ich verspricht sich Erlösung durch sein Erscheinen, die dann in der nächsten Einheit (Strophe 4 und 5) erfüllt zu sein scheint: das paradiesische Leben unter der Führung des Erretters.

Aus der Sicht der 3.Person (das eine Volk; les hommes), wird in der 1.Strophe das kraftlos Leidende, Aussichtslose beschrieben, hier leitet der Autor in die, den Kommunisten typische, Religionskritik über: die Religion unterdrückt das Volk durch ihre Ethik und Moral. Das einleitende O in Strophe 2 unterstreicht den Odencharakter, plötzlich wird der Leser direkt angesprochen und erste Auflehnungsmerkmale gegen den Status quo werden sichtbar, ein Wunsch nach Besserung manifestiert sich und erzeugt eine zielgerichtete Spannung. Diese wird in Strophe 3 weiter ausgeführt: durch die Benutzung von lebendigeren Wörtern, die Bewegung erzeugen und durch das erste Nous (Vers 20), welches den Leser nun vollends einbezieht. Das Thema wird durch die Nennung Stalins fixiert, der gleichsam hochgestellt, in religiöser Richtung als Übermacht dargstellt und als Gott verehrt wird, da er es schafft einem ganzen Volk zu helfen. Die Metaphern um Stalin zu beschreiben steigern sich in der 4. Strophe: der Meister, Held, Erretter und Befreier mit dem das Leben eines ohne Herbst ist, da Herbst Tod bedeutet, Stalin aber die Auferstehung beinhaltet. Die beiden letzten Verse sind wie schon erwähnt eine Schlussfolgerung des bis dahin gesagten, die Begründung der aufgebauten Argumente, evtl. kann man die letzte Zeile der 5. Strophe noch hinzurechnen, da sie syntaktisch denselben Aufbau hat. Das Versprechen der grenzenlosen Erfüllung aller Hoffnungen (Pour figurer sur terre leurs éspoirs sans bornes) ist ein zentrales Motiv, welches auch in L’URSS Seule promesse eine der Kernaussagen bekleidet (Hier, Vers 12: Les germes d’une vie sans soucis et sans bornes). Abgesehen davon ähneln sich die beiden Gedichte auch in ihrer ideologischen Verherrlichung und in ihrem Liedcharakter, wobei Seule promesse[36] ein Schlachtruf ist in dem der Autor verspricht für die URSS zu kämpfen und sie im Gegenzug ihm verspricht durch den Sozialismus für eine bessere Weltordnung zu sorgen. Der miroir humaine kann auf zwei Arten gedeutet werden, I: er zeigt die Resultate der beiden Weltkriege, die nicht verschleierbar sind und er ist auch nicht zerbrechbar: er spiegelt diese materiellen Schäden (Vers3: Miroir terrestre) um die Menschen darauf aufmerksam zu machen etwas zu verändern. Oder II: der Spiegel der Gesellschaft ist die URSS selber und der Kommunismus spiegelt alle menschlichen Bedürfnisse. Eine weitere ideologische Erhöhung wird durch die Licht – Metaphorik erzeugt: die strahlende URSS, die aufklärerisch ihr Licht im dunklen (weil kapitalistischen und durch religiöse Anachronismen versklavten) Europa verstrahlt und damit aufzeigen will, wie man gut zu leben hat (17: unira le monde, 19: atteindre à la paix, 22: avenir sans tache). Expansionsdrang und Aufbauwillen sind weitere Ideologien die hier mit einfließen (les aggrandit les améliore (7), á l’orient le jour est né (10), sans bornes (12)) und den Umbau vom Feudalismus zum modernen Industriestaat (Siehe auch Aragons Magnitogorsk) propagieren, die Renovierung der materiellen und geistigen Ruinen.

6 Abschließende Betrachtung

Zum eigentlichen Bruch der Gruppe um Breton, und um dies noch zu fokussieren, zum Bruch zwischen ihm und dem Duo Éluard und Aragon kam es hauptsächlich durch ihre unterschiedlichen Vorstellungen über die Art und Wirkungsweise von Poesie. Natürlich war sich Breton des Dilemmas bewusst, welches sich den Repräsentanten des Surrealismus stellte, die zumindest in der Theorie versuchten, das Konzept der unabhängigen Individualität, Postulat des Surrealismus, mit einer revolutionären Aktion zu verbinden. Er äußert sich dazu folgendermaßen:

»Ou il faut renoncer à interpréter et à traduire le monde selon leurs moyens dont chacun d'eux trouve en lui-même et en lui seul le secret - c'est sa chance même de durer qui est en jeu- ou renoncer à collaborer sur le plan de l'action pratique à la transformation de ce monde.[37] «

Schließlich entscheidet er sich für die Idee der persönlichen Wahrheit und für eine Revolution, die formell und theoretisch bleiben sollte, während Aragon, Éluard und andere für das soziale Engagement und eine militantere, aggressivere und aufgeweckte Schreibweise Partei ergreifen. Bretons Sichtweise der Kunst entfernt sich hier von ihnen, sie besagt vielmehr:

» Sa qualité [de l'art] réside dans l'imagination seule, indépendamment de l'objet extérieur qui lui a donné sa naissance. A savoir que tout dépend de la liberté avec laquelle cette imagination parvient à se mettre en scène et à ne mettre en scène qu'elle-même… « Und an anderer Stelle: » L'œuvre d'art, sous peine de cesser d'être elle-même, doit demeurer déliée de toute espèce de but pratique.[38] «

Eine andere, dieser fast komplementär gegenüberstehende Kunst – Konzeption finden wir bei Éluard, wenn wir uns seine Aussagen (hier abgedruckt unter Kapitel 5.1., Seite 18) ins Gedächtnis rufen: Kunst soll eine Verbindung zwischen Leben und Welt sein. Trotzdem existiert zwischen der surrealistischen Poesie und der Résistance Verbindungen formellen Charakters und der Ideale, auch durch die personellen Parallelen, die nicht zu leugnen sind: nur aufgrund der einschneidenden politischen Ereignisse und der gesellschaftlichen Veränderungen entscheiden sich Aragon und Éluard der Résistance zu dienen und passen ihren Stil, ihre Art zu schreiben diesen Wandlungen auf angemessene Weise an. Der surrealistische Gebrauch, der nicht auf den ersten Blick verstehbaren Metaphern, der antithetischen Stilkonstruktionen und der freien Verse, gehen ein in eine traditionellere poetische Form (wie die der Ballade, der Ode, des Gesangs oder des Sonetts) und er hat dabei den Reim für die moderne Dichtung wieder fruchtbar gemacht. Nach der Befreiung und dem Kriegsende fasste Tristan Tzara, Antipode des Dada die Situation noch einmal zusammen und wendet sich auch gegen die fundamentalistischen Surrealisten, die ihre doktrinären Strukturen niemals aufgeben wollten und alle anderen, die sich mit der Zeit bewegten als Verräter anklagten:

»Aprés ces événements récents dont l’incotestable portée n’a pas atteint le Surréalisme, qui hors de ce monde cherchait une justification á son demi-sommeil béat, je ne vois pas sur quoi celui-ci serait fondé pour reprendre son rôle dans le circuit es idées, au point où il le laissa, comme si cette cette guerre et ce qui s’ensuivit ne fût qu’un rêve vite oublié.[39] «

Man kann den Surrealismus und erst recht die Dichtung der Résistance nicht völlig losgelöst von der allgemeinen Entwicklung der Literatur, der Philosophie und der Politik sehen, er konstruiert sich vielmehr auf dieser Basis des Geistes der Revolution, der Dada-Bewegung, den Konzepten Freuds, den Überresten des romantischen und symbolischen 19. Jahrhunderts, dem hegelianischen Materialismus und eben jenen politischen Ereignissen. Beide Strömungen sind also charakteristisch für ihre Zeit, wurden beeinflusst von den oben genannten Strömungen und liefern ihnen ihrerseits neues theoretisches Material und neue Praktiken. Nicht die Individualisierung des freien Menschen ist nach Einbruch des Krieges noch die wichtige Aufgabe der Poeten, sondern die Vereinigung aller Kräfte gegen die Unterdrücker, die "Beschwörung der Einheit"[40] ist die neue Devise, nach der sich vor allem unsere beiden hier behandelten Autoren richten. So hat sich die Poesie der Surrealisten, die durch den Ausdruck der inneren, tiefen Wahrheiten vor allem das Persönliche befreien wollte auf ihre Zeit eingestellt und will nun ein ganzes Land, die Nation Frankreich befreien.

7 Literaturverzeichnis

7.1 Primärliteratur

Aragon, Louis (1974 - 1979) : L’ Œ uvre poétique. Bd.I –X. Bibliothèque de la Pléiade, Gallimard : Paris.

- Aragon, Louis (1983,1) [1935] : Pour un réalisme socialiste. Gallimard/ Collection L'Imaginaire: Paris.

- Aragon, Louis (1983,2) [1928] : Traité du style. Gallimard/L'Imaginaire : Paris.

- Aragon, Louis (1994) : Le mouvement perpétuel. [1925] Précédé de Feu de joie. [1920] Et suivi de: Écriture automatiques [1970] . Éditions Gallimard : Paris.

- Aragon, Louis (1995) : Le Crève-c œ ur [1946] et Le Nouveau Crève-c œ ur [1948]

Breton, André (1991) : Position politique du surréalisme. Le livre de poche: Paris.

Breton, André (1985)[1924,1930,1932] : Manifestes du surréalisme. Gallimard, Folio Essays: Paris.

- Breton, André / Éluard, Paul (1969) : Dictionnaire abrégé du surréalisme. Édition Corti : Paris.

Éluard, Paul (1968) : Œuvre complètes, 2 Bde. Bibliothèque de la Pléiade, Gallimard: Paris.

Série Archives du surréalisme (1988) (publiées sous l’égide d’actual), 4 Volumes parus, Gallimard : Paris

1. Bureau de recherches surréalistes (Cahier de la permanence 1924-1925)
2. Vers l’action politique (1925-1926)
3. Adhérer au parti communiste ? (1926)
4. Recherches sur la sexualité (1928-1932)

7.2 Sekundärliteratur

Bancquart, Marie - Claire (1996) : La poésie en France du surréalisme à nos jours. Ellipses: Paris.

Béhar, Henri/Carassou, Michel (1984) : Le surréalisme. Textes et débats. Paris

Berranger, Marie - Paule (1997) : Le Surréalisme. Panorama de la Littérature Fran ç aise. Hachette Supérieur : Paris.

Bürger, Peter (1996) : Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen Literatur. Suhrkamp Taschenbuch : Frankfurt a. M.

Clancier, Georges-Emmanuel (1959) : De Rimbaud au surréalisme. Panorama critique. Collection Melior, La poésie française : Paris.

Eglin, Heinrich (1965) : Liebe und Inspiration im Werk von Paul Éluard. Bern/München.

Girault, Jacques/ Lecherbonnier, Bernard (1997) : Les engagements d'Aragon. Réalisé à l'initiative du Conseil général de la Seine - Saint - Denis. Itinéraires & Contacts de cultures, L'Harmattan : Paris.

Jäckel, Eberhard (1996) : Frankreich in Hitlers Europa. Die deutsche Frankreichpolitik im Zweiten Weltkrieg. Stuttgart.

Kohut, Karl (Hrsg.)(1982, 1) : Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich. Geschichte und Wirkung I (1930 – 1939). Athenaion + Gunther Narr Verlag : Wiesbaden, Tübingen.

- Ebd. (1982, 2) : Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich. Geschichte und Wirkung II (1940 – 1950). Athenaion + Gunther Narr Verlag : Wiesbaden, Tübingen.

- Ebd. (1982, 3) : Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich.Texte und Interpretationen. Athenaion + Gunther Narr Verlag : Wiesbaden, Tübingen.

Lindner - Wirsching, Almut (2004) : Französische Schriftsteller und ihre Nation im ersten Weltkrieg. Niemeyer : Tübingen.

Nadeau, Maurice (1964) : Histoire du surréalisme, suivi de Documents surréalistes. Seuil : Paris.

Naville, Pierre (1977) : Le Temps du surréel. Galilée : Paris.

Raible, Wolfgang (1972) : Moderne Lyrik in Frankreich. Darstellung und Interpretation. Kohlhammer: Stuttgart/Berlin/u.a.

Roux, Jean Pierre (1990) (Hrsg.) : La vie culturelle sous Vichy. Edition complexe : Bruxelles.

Selle, Irene (1983) : France de mon coeur – allégories féminines dans la poésie de la Résistance. In: Actes du colloques internationale de romanistique. Liblice/Prague. p. 295-310.

→ Seller, Irene (1987)(Hrsg.) : Frankreich meines Herzens. Die Résistance in Gedicht und Essay. Lepzig.

Schlenstedt, Silvia (1984) : Gespräch mit Stephan Hermlin. In: Weimarer Beiträge, Bd.2.

Striedter, Jurij (Hrsg.)(1969) : Texte der russischen Formalisten, Bd.1. München

8 Anhang

8.1 Aragon : La route de la révolte

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

8.2 Aragon: Magnitogorsk 1932

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

8.3 Éluard : L’U.R.S.S. Seule promesse

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

8.4 Éluard : Joseph Staline

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]


[1] Raible (1972): p. 57.

[2] Vgl. Hierzu ebd. : p.60, die hier nur auf Aragon angewandte Idee von Kunst trifft m.E. auch auf Éluard zu.

[3] Zitiert nach Kohut (1984): p.57.

[4] Siehe in Kapitel 3 die Ausführungen zu „La main à plume“.

[5] Nadeau (19 64 ): Titel der « deuxième partie », p.47.

[6] nach Bürger (1996): p.29f.

[7] Déclaration du 27 janvier 1925. In : Archives du surréalisme (1988) .Eine Übersetzung ins Deutsche findet man bei : Karlheinz Barck (Hg.), Surrealismus in Paris 1919-1939. Ein Lesebuch. Leipzig, 2. Aufl. 1990, S. 134-137.

[8] s. Hans T. Siepe: Surrealismus, in R. Grimminger, J. Murasov, J. Stückrath: Literarische Moderne, S. 352f.

[9] Zitiert aus dem Eintrag in der freien Enzyklopädie des Wissens Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Sozialistischer_Realismus

[10] Vgl. Jäckel (1966), p. 11.

[11] Grimm (1999): p.322.

[12] Engler (2000): p.369.

[13] Grimm (1999): p.327.

[14] Kohut (1984): p.21.

[15] Schlenstedt (1984): p.1885.

[16] Vgl. hierzu: Engler (2000): p.372 f.

[17] Bürgers Einleitung in: Wege der Forschung: Surrealismus: p.10.

[18] Bürger, Einleitung, p. 2

[19] s. hierzu: Aragon (1935): Pour un réalisme socialiste.

[20] Aragon (1928):Traîté du Style

[21] Aragon: La rime en 1940. Zitiert nach Aragon: 1979, IX p.164.

[22] in Aragon (1994): p.19f.

[23] Šklovskijs Aufsatz mit dem Titel „Die Kunst als Verfahren“ beschäftigte sich u.a. mit einer Erzählung Leo Tolstojs, der ebenfalls die Sicht eines Pferdes als Verfremdungsmittel benutzte. In: Striedter (1969), p. 2-35.

[24] S. Raible (1972): p.123.

[25] Aragon: La rime en 1940 in: Crève-cœur (1995): p. 67.

[26] Aragon (1946 – 1948): p.40. Vers 12.

[27] Et vous bouquets de la retraite roses tendres/ Couleur de l’incendie au loin roses d’Anjou. Ebd. Vers 31f.

[28] Zitiert aus: http://www.paul-eluard.com/bio/bio3.html

[29] Èluard zitiert nach Béhar/ Carassou (1992): p.80f.

[30] Vgl. Heinrich Eglin: Liebe und Inspiration im Werk von Paul Éluard, Bern/München 1965.

[31] S. Raible (1972): p.115, der wiederum auf Eglin (1965) und Clancier (1959) p.351 verweist.

[32] In: Paris, Gallimard 1964.

[33] Gfrereis, Heike (Hrsg.): Grundbegriffe der Literaturwissenschaft: Anapher (gr. Rückbeziehung, Wiederaufnahme), Wiederholung eines Worts/Wortgruppe am Anfang aufeinander folgender Sätze/Satzteile/Verse/Strophen;…Mittel der syntaktischen Gliederung und des rhetorischen Nachdrucks

[34] Veröffentlicht in der „L’Humanité“, der kommunistischen Tageszeitung Frankreichs .

[35] Sie hat zwei Traditionslinien: 1. griechische: Einzelsänger: Alkaios, Sappho, Asklepiades, Archilochos; sowie Pindar Lobpreis der Sieger in den großen Wettkämpfen, enthusiastischer Ton; 2. römische: Horaz (greift die alkäische, asklepiadeische und sapphische Form auf): Lebensgenuss, Städtepreis, Lob des Landlebens

[36] Formaler Gedichtaufbau: 2 Einleitungsverse stehen vor vier 5 versigen Strophen, kein einheitliches Reimschema, auch wenn in der zweiten Strophe die Form a b b a c auftaucht; keine gleich bleibende Metrik.

[37] Breton (1971): p.52.

[38] Breton (1971): p.25f und p.52.

[39] Tzara zitiert nach Béhar/Carassou (1992): p.67-88.

[40] Kohut (1984): p.19.

Excerpt out of 40 pages

Details

Title
Der lyrische Kompromiss - Louis Aragon und Paul Éluard als Surrealisten, Résistancedichter und sozialistische Realisten
College
University of Potsdam
Course
Hauptseminar: Lyrik des Surrealismus und der Résistance
Grade
2,0
Author
Year
2006
Pages
40
Catalog Number
V110611
ISBN (eBook)
9783640087747
File size
773 KB
Language
German
Keywords
Kompromiss, Louis, Aragon, Paul, Surrealisten, Résistancedichter, Realisten, Hauptseminar, Lyrik, Surrealismus, Résistance
Quote paper
Saskia Schneider (Author), 2006, Der lyrische Kompromiss - Louis Aragon und Paul Éluard als Surrealisten, Résistancedichter und sozialistische Realisten, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110611

Comments

  • No comments yet.
Look inside the ebook
Title: Der lyrische Kompromiss - Louis Aragon und Paul Éluard als Surrealisten, Résistancedichter und sozialistische Realisten



Upload papers

Your term paper / thesis:

- Publication as eBook and book
- High royalties for the sales
- Completely free - with ISBN
- It only takes five minutes
- Every paper finds readers

Publish now - it's free