Antisemitische Einstellungen in Deutschland. Eine Explorationsstudie.


Diploma Thesis, 2004

163 Pages, Grade: Sehr gut


Excerpt


Inhalt

I. Einleitung

II. Theoretischer Teil
II.1. Historische Wurzeln der Judenfeindschaft
II.1.1. Judenfeindschaft von der Antike bis zum deutschen Kaiserreich
II.1.2. Der moderne Antisemitismus
II.1.3. Antisemitismus seit 1945
II.2. Definition des Antisemitismus
II.3. Psychologische Erklärungsansätze negativer Vorurteile
II.3.1. Die klassische Vorurteilsforschung
II.3.1.1. Die Theorie der Autoritären Persönlichkeit
II.3.1.2. Exkurs: Der Right-wing Autoritarianism
II.3.1.3. Die Frustrations-Aggression-Hypothese
II.3.1.4. Die Theorie der Relativen Deprivation
II.3.2. Moderne europäische Denktradition
Der Social Identity Approach
II.3.3. Moderne amerikanische Denktradition
Exkurs: Die Social Dominance Theorie
II.3.4. Autoritarismus und Soziale Dominanzorientierung im Vergleich
II.3.5. Ansätze der Antisemitismus- und Rechtsextremismusforschung
II.3.5.1. Der Ansatz von Bergmann und Erb
II.3.5.2. Der Dreikomponentenansatz antisemitischer Einstellungen
II.3.6. Ein heuristisches Modell zur Zusammenhangsanalyse
II.4. Ansatzübergreifende empirische Ergebnisse der Antisemitismusforschung
II.4.1. Sind die Deutschen Antisemiten?
II.4.2. Soziodemographische Bestimmungsfaktoren des Antisemitismus
II.5. Zusammenfassende Betrachtung zu Kapitel II

III. Empirischer Teil
III.1. Forschungsgegenstand und Hypothesen
III.2. Untersuchungsdesign und Erhebungsdurchführung.
III.3. Beschreibung der Stichprobe
III.4. Die verwandten Skalen
III.4.1. Die Antisemitismusskalen
III.4.2. Die Autoritarismusskale
III.4.3. Die Skale zur Sozialen Dominanzorientierung
III.5. Itemanalysen der Skalen.
III.5.1. Itemanalyse der Antisemitismusskale/Stereotypenliste
III.5.2. Itemanalyse der RWA3D-Skale
III.5.3. Itemanalyse der Skale zur Sozialen Dominanzorientierung
III.6. Die Testung der Hypothesen
III.6.1. Die Testung der Antisemitismusstruktur.
III.6.2. Das Ausmaß der Kommunikationslatenz bei Antisemiten und Nichtantisemiten
III.6.3. Die Zuschreibung von Stereotypen bei Christen, Juden und Muslimen
III.6.4. RWA und SDO als Prädiktoren des Antisemitismus
III.6.5. Der Zusammenhang zwischen soziostruktuellen Variablen und Antisemitismus
III.7. Zusammenfassung und Diskussion der empirischen Ergebnisse
III.8. Fazit und Ausblick

IV. Literatur

V. Anhang

I. Einleitung

Nachdem der nunmehr ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann in seiner anlässlich des 3. Oktobers 2003 gehaltenen Rede schlussfolgerte, dass mit gleicher Berechti- gung nicht nur die Deutschen, sondern auch die Juden als „Tätervolk“ bezeichnet werden könnten, entbrannte erneut eine kontroverse Diskussion über den Antisemitismus in Deutsch- land. Die einen fanden nichts Anrüchiges in Hohmanns Äußerungen, andere verstanden seine Worte als perfide antisemitische Argumentation. Tatsächlich enthält Hohmann Rede nichts rechtlich Angreifbares – er spricht über die Geschichte, über Entschädigungszahlungen und über die Verantwortung der deutschen Bevölkerung hinsichtlich der Verbrechen des NS- Regimes. Aber, nachdem er feststellt, dass es viele leid sind sich weiterhin mit der Schuld auseinandersetzen zu müssen, vermutet er die Gefahr einer Instrumentalisierung der Vergan- genheit und befürchtet die psychische Schädigung Deutscher infolge der fortwährenden The- matisierung. Im Anschluss daran stellt er die „Täterfrage“ und vergleicht jüdische Bolschewi- ki mit deutschen Nationalsozialisten. Schließlich gelangt er zu der Erkenntnis, dass die Juden nicht nur Opfer waren. Derartige Argumentationsformen werden oft von Antisemiten heran- gezogen und zielen darauf ab den Holocaust zu relativieren, die Schuld zu verharmlosen und der Verantwortung zu widersprechen. Dennoch ist Hohmann eine antisemitische Intention nicht eindeutig nachzuweisen und er selbst sieht sich schlussendlich als Opfer politischer Inte- ressen. Das Beispiel verdeutlicht, dass der Antisemitismus kein leicht zu erfassendes gesell- schaftliches Phänomen darstellt: Die direkte öffentliche Äußerung unterliegt dem Tabu und deshalb werden Antisemiten ihre Meinungen nur hintergründig kundtun. Auch müssen bei der Erforschung antisemitischer Einstellung der spezifische historische Kontext und die politische Nachkriegsentwicklung Deutschlands berücksichtigt werden.

Ziel der vorliegenden Arbeit ist die empirische Ergründung der strukturellen Beschaffenheit des Antisemitismus, seiner Ausdrucksformen und möglicher Einflussfaktoren. Im Vorfeld der Ergebnispräsentation wird der Theorieteil nach Besprechung der Historie des Antisemitismus ausgewählte Theorien der psychologischen Vorurteilsforschung vorstellen. Dadurch sollen die Entwicklungslinien der Forschung aufgezeigt und die konzeptuelle Eingruppierung der untersuchten Prädiktoren in die entsprechenden Denktraditionen verdeutlicht werden. Im An- schluss daran erfolgt die Besprechung zweier soziologisch bzw. sozialpsychologisch- konstruktivistisch orientierter Ansätze der Antisemitismusforschung, die das theoretische Fundament der Untersuchung bilden.

II. Theoretischer Teil

Weist uns aus jeder Heimat, stellt uns überall unter Ausnahmegesetze aus Furcht vor unserem Geist,

aus Scham vor unserer Seele, entwürdigt, demütigt, kränkt, beleidigt. Aber denkt auch an eure eigene Seele. Aus der werdet ihr uns nie los,

denn dank dieser Not unseres Lebens sind wir der tiefere Teil eurer selbst. Richtet uns, richtet euch selbst. (Gotthold Ephraim Lessing)

II.1. Historische Wurzeln der Judenfeindschaft

Die Juden? „Die haben doch den Herrn Jesu ermordet“; „die sind so reich, weil sie jeden über den Tisch ziehen“; „die erkennt man an ihrem Aussehen“; „mit denen sollte man lieber nichts zu tun haben“ und … „die gehören nicht zu uns.“

So oder so ähnlich dachten und denken auch heute noch manche Deutsche über die jüdische Minderheit. Doch wie kam es dazu, wieso können diese tradierten Vorurteile so hartnäckig über die Jahrhunderte fortbestehen? Um diese Fragen zu klären, soll im folgenden Abschnitt die Historie des Antisemitismus, deren Inhalte, Quellen und Hintergründe skizziert werden.

Wie so oft bei Themen mit erheblicher Komplexität sind bei der geschichtlichen Betrachtung der Judenfeindschaft Einschränkungen unumgänglich. Zum Zwecke der Übersichtlichkeit wurde eine chronologische Form des historischen Abriss gewählt, der inhaltlich nur ein schemenhafter, auf das Wesentliche reduzierter, sein kann. Einige Aspekte, beispielsweise die Reaktionen der jüdischen Gemeinden auf judenfeindliche Handlungen und die Entwicklung des Judentums außerhalb Deutschlands, können daher nicht besprochen werden.

II.1.1. Judenfeindschaft von der Antike bis zum deutschen Kaiserreich

Als historischer Ursprung der religiös motivierten Judenfeindschaft und des daraus resultie- renden Antisemitismus der neuesten Zeit wird die im ersten Jahrhundert n. Chr. beginnende Abspaltung der frühen Christen vom Judentum angesehen. Der daraus entstandene religiös motivierte Konflikt zwischen Christen und Juden fußt zum einen in unterschiedlichen Glau- bensvorstellungen, andererseits in der fundamentalen Bedeutung des Judentums für die christ- liche Religion. Nach jüdischem Selbstverständnis steht der Mensch am Ende seiner Zeit Gott direkt gegenüber und muss sich für sein irdisches Tun verantworten. Damit lehnt die jüdische Religion eine Mittlerschaft zwischen Gott und den Menschen und daraus folgend den klerika- len Sündenerlass durch den Ablass oder die Beichte ab. Wie auch im Christentum ist der Glaube an den Messias eine Grundlage der jüdischen Religion. So beschreibt der Prophet Je- saja in der hebräischen, wie auch in der christlichen, Bibel die Erwartung des Gesandten Got- tes:

Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn. (Die Bibel, Jesaja 11.2-11.3)

Nur, und darin offenbart sich der wohl größte religiöse Widerspruch beider Konfessionen, ist die messianische Bedeutung Jesu Teil der christlichen, nicht der jüdischen Religion.[1] Die

„Verkennung des Heilands“ war für die Christen umso demütigender, da, wie schon oben erwähnt, das Christentum seine Wurzeln in der mosaischen Glaubenslehre hat. Eine Abkehr von dieser hätte faktisch das Ende der christlichen Religion bedeutet.

Die zunehmende Erstarkung des Christentums und die Übernahme seiner Glaubensgrundsätze als Staatsreligion am Ende des 4. Jahrhunderts müssen für die Juden als verhängnisvolle Wende begriffen werden. Schon im frühen Mittelalter kam es, ausgelöst durch die christliche antijüdische Agitation, zu religiös motivierten Übergriffen, Diskriminierungen und Verboten gegenüber Juden.[2] Im Hochmittelalter verschärfte sich die gesellschaftliche Situation der Ju- den, sie „waren als Anhänger einer verworfenen Religion bestenfalls geduldet“ und wurden durch die Beschlüsse des 4. Lateranischen Konzils gesellschaftlich ausgegrenzt (Bergmann, 2002, S. 10). Sie durften keinen Landbesitz mehr erwerben, keine öffentlichen Ämter beglei- ten, mit dem Ausschluss aus den Zünften war ihnen der Handel und die Ausübung des Hand- werks nur noch sehr eingeschränkt möglich, lediglich der den Christen verwehrte Geldverleih gegen Zins blieb den Juden allein vorbehalten.

Massaker an Juden sind seit den Kreuzzügen historisch belegt und wohl auf den „religiösen Taumel“ der Bevölkerung West– und Mitteleuropas zurückzuführen (Ortag, 1995, S. 79). Doch nicht nur religiöse Motive waren die Ursache der Judenpogrome. Der Antijudaismus wurde durch die weltlichen und geistlichen Eliten dieser Zeit gezielt als Ventil benutzt, um insbesondere den unteren Schichten eine für Staat oder Kirche ungefährliche Möglichkeit zu geben, die aus gesellschaftlichen Missständen und Schicksalsschlägen wie Hungersnöte oder Pestwellen resultierenden Unzufriedenheit auszuleben. Bergmann (2002, S. 12) sieht in der

„ökonomischen Spezialisierung, die ihnen den Vorwurf des Wuchers eintrug und sie zu loh- nenden Opfern von politischen Konflikten machte“ einen weiteren Hintergrund der Übergriffe gegen Juden.[3] Da sie in der christlichen Tradition seit Jahrhunderten als das Fremde, das Böse schlechthin identifiziert wurden, war es nicht schwierig, geeignete Vorwände für Gewalttaten zu finden. Dahmer (1993, S. 80) schreibt hierzu:

Der Ablauf dieser judophoben Aktionen, ihre „Anlässe“ und „Rechtfertigungen“, die gewöhnlich der Gru- selkammer christlichen Aberglaubens entnommen waren, ehe sie im vergangenen Jahrhundert rassistisch überformt wurden, sind von erschreckender Gleichförmigkeit.

Doch welche Rechtfertigungen lassen sich finden, die, da von „erschreckender Gleichförmig- keit“, so gehaltvoll sein müssten, dass sie die Jahrhunderte überdauern konnten? Neben den neutestamentarisch niedergeschriebenen Beschuldigungen des Christusmordes und der Stig- matisierung als Teufelssöhne durch den Klerus lassen sich zwei weitere religiös motivierte Anschuldigungen anführen: Der Hostienfrevel, also die Zerstörung oder Durchstechung der Hostie, und die Ritualmord-Legende. Die Hostienschändung kam im christlichen Verständnis der nochmaligen Ermordung Jesu durch die Juden gleich, da sich bei der Eucharistie Brot und Wein in Leib und Blut Christi umwandeln. Die Legende vom Ritualmord an Christenknaben zur Osterzeit mit dem Zwecke, diese zu kreuzigen oder zu schlachten, um deren Blut zu kon- sumieren, war ein sehr mächtiges Werkzeug der Judenfeinde.[4] „Fälle“ von Ritualmorden lös- ten massive Judenpogrome aus.[5] Die Pestwellen des 14. Jahrhunderts schufen eine eher welt- liche Variante der Anschuldigungen: Angebliche Brunnenvergiftungen durch Juden ziele auf die Vernichtung der Christen des Landes. Sämtliche jüdischen Gemeinden waren im An-

schluss an die Vergiftungsbeschuldigungen Drangsalierungen, Mord und Vertreibung ausge- setzt.

Nur sehr wenigen jüdischen Händlern und Kaufleuten gelang im späten Mittelalter bzw. zur Reformationszeit der Aufstieg zu Lieferanten der Fürstenhöfe. Die überwiegende Mehrheit der jüdischen Bevölkerung lebte weiterhin eher schlecht als recht vom Hausier- und Trödel- handel bzw. von der Pfandleihe am Rande der Gesellschaft.

Mit dem Ende des 30jährigen Krieges und dem Beginn der kapitalistischen Entwicklung ver- loren Handel und Kreditgeschäfte ihren anrüchigen Charakter. Den vormals gesellschaftlich ausgesonderten (zumeist jüdischen) Geldverleihern war es möglich, aufgrund der ansteigen- den Nachfrage an Kapital, Vermögen zu schaffen. Ähnliches trifft auch auf die Hausier- und Trödelhändler zu.

Freitag (2001, S. 126) sieht in der überdurchschnittlichen, religiös tradierten Bildung eine weitere Komponente des Erfolges jüdischer Kaufleute. So

spielte auch eine Rolle, dass Bildung, die Vermittlung von Kulturtechniken wie Schreiben und Lesen […] bei den Juden bereits viele Jahrhunderte vorher eine viel wichtigere Rolle als bei den christlichen Mehr- heitsgesellschaften gespielt hat.

Doch wo Licht ist, da ist auch Schatten: Der Aufstieg der jüdischen Kaufleute ließ Konkur- renzen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Händlern entstehen und gebar ein weiteres antijüdisches Vorurteil, das, des jüdischen Kaufmanns, dessen trickreiches, unredliches und geldgieriges Geschäftsgebaren Ursprung des ökonomischen Erfolges war.[6]

Dennoch, obwohl nur zögerlich und von Rückschlägen begleitet, kann das 17. und 18. Jahr- hundert als Zeitalter der Aufklärung und der Französischen Revolution als entscheidender Wendepunkt für die jüdische Geschichte verstanden werden. Die rechtliche Stellung der jüdi- schen Bevölkerung besserte sich erheblich, allmählich konnten die Juden am gesellschaftli- chen Leben wieder teilhaben, vornehmlich wohl auch deshalb, weil sie wichtige Funktionen erfüllten. Hinweise hierfür finden sich in der von Friedrich II. vorgenommenen Klassifizie- rung der Juden nach ihrer ökonomischen Nützlichkeit.

Nur ein Jahrhundert später kam es in Verbindung mit dem überschäumenden Nationalismus der deutschen Nationalbewegung zu erneuten, massiven und flächendeckenden Ausschreitun- gen (Hep-Hep-Pogrome) gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Größen des deutschen Geis- tes, wie Fichte und von Kleist, Romantiker wie Arndt und Brentano oder Turnvater Jahn be- reiteten den Nährboden für eine der verabscheuungswürdigsten Formen der Judenfeindschaft

- die rassisch-biologisch begründete.[7]

Trotz der immer wiederkehrenden Anfeindungen und des gefährlichen, rassisch fundierten Bodensatzes antijüdischer Agitation waren die Integrationsbestrebungen der jüdischen Bevöl- kerung aber durchaus erfolgreich. Juden sahen sich als Teil des deutschen Vaterlandes, der zeitgeistige Patriotismus, das staatsbürgerliche Bewusstsein und Wunsch nach der Herstellung der deutschen Einheit unterschied sich nicht von der politischen Denkweise der christlichen Bevölkerung. Insbesondere nach 1848 trugen Parlamentarier jüdischer Herkunft wesentlich zur politischen Entwicklung und Gestaltung des deutschen Kaiserreichs bei.

II.1.2. Der moderne Antisemitismus

Nur wenige Jahre nach der Reichsgründung kam es zur Krise der deutschen Wirtschaft, die in der Geschichte auch als „Gründerkrach“ einging. In dieser Phase der wirtschaftlichen Depres- sion erschienen reihenweise antisemitische Artikel, die das Judenbild vieler Deutscher beein- flussten, unter anderem in der damals sehr populären Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“. Heid (2000, S.40) zitiert aus einer Ausgabe von 1876 den konservativen Journalisten Glagau:

Die ganze Weltgeschichte kennt kein zweites Beispiel, dass ein heimatloses Volk, eine physisch wie psy- chisch entschieden degenerierte Rasse bloß durch List und Schlauheit, durch Wucher und Schacher über den Erdkreis gebietet!

Als Begründer der modernen antisemitischen Bewegung werden der protestantische Prediger Adolf Stoecker und der Historiker Heinrich von Treitschke angesehen. Ursprünglich wollte Stoecker mit Gründung seiner „Christlich-sozialen Arbeiterpartei“ der Arbeiterschaft eine parteipolitische Alternative zur Sozialdemokratie bieten, was ihm aufgrund seiner frühen Par- teiprogrammatik aber misslang. Die in den 70er Jahren ausgelöste Debatte über die Stellung der Juden im deutschen Kaiserreich nutzte Stoecker aus und gebrauchte antisemitische Äuße- rungen zur politischen Agitation. Durch von Treitschke unterstützt, gelang eine Umbildung des „Radauantisemitismus“ zum verwissenschaftlichten „gutbürgerlichen Antisemitismus.“ Dazu Bergmann (2002, S. 45):

Das Neue des Antisemitismus lag in seinem Charakter als soziale und kulturelle Bewegung, in der Berufung auf den Volkswillen, in der Rhetorik von der Befreiung des Judentums als Lösung aller Probleme und in der Legitimation durch „wissenschaftliche“ Theorien und „historische“ Argumente. Mit der Verknüpfung nati- onaler und christlicher Vorstellungen entwickelte sich der Antisemitismus zu einer allgemeinen Weltan- schauung, die die Juden als „Symbol der Zeit“ (Theodor Barth) benutzte, das für die als bedrohlich erlebten Züge der Modernität insgesamt stand […] Mit dieser Generalisierung der „Judenfrage“ wurden politische, soziale und ökonomische Interessengegensätze aus ihrem Kontext gelöst und zu einem prinzipiellen Gegen- satz von Deutsch-/Germanentum vs. Judentum gemacht.

Die besondere Brisanz der Umdeutung bestand also in der Universalität des modernen Anti- semitismus. Damit wurde eine einfache und brauchbare Ideologie geschaffen, mittels derer man sämtliche ökonomische, politische und soziale Schwierigkeiten auf die seit Jahrhunder- ten ungeliebte jüdische Minderheit abwälzen konnte.

Die „Antisemitenliga“ um Willhelm Marr bildete einen spezifischen völkischen Antisemitis- mus aus und definierte die religiöse oder soziale „Judenfrage“ primär in eine „Rassenfrage“ um. Der Ansatz der „Antisemitenliga“ wird als Vorläufer des ideologischen Rassenantisemi- tismus angesehen, fand zunächst aber wenig Zustimmung in der Bevölkerung.

Bis zur Jahrhundertwende gründeten sich zahlreiche antisemitische Vereine unterschiedlichs- ter Couleur. Auch die deutsche Studentenschaft äußerte sich zunehmend antisemitischer. Bei- spielsweise übernahm der „Kyffhäuserverband“ judenfeindliche Inhalte in seine politische Programmatik und hat dadurch nicht unwesentlich zur antisemitischen Prägung der nach- wachsenden geistigen Elite des Kaiserreichs beigetragen.

Die Nöte der Bevölkerung während und nach dem ersten Weltkrieg gaben den antisemiti- schen Agitatoren weitere Nahrung. Schuld an den gesellschaftlichen Veränderungen, an der

Kriegsniederlage waren für weite Teile der Gesellschaft die Juden, obwohl diese ebenso an der Front kämpften und Entbehrungen erleiden mussten.

Die rechtsextremen Organisationen der Weimarer Republik bedienten sich einer gewaltigen rassisch-antisemitischen Propaganda. In zeitlich kurzer Folge erschienen Unmengen Handzet- tel, Flugblätter, Broschüren und Bücher mit antisemitischen Inhalten.[8] Waren in den letzten Jahrzehnten judenfeindliche Aktionen in der Hauptsache auf Wort und Schrift beschränkt, kam es in den 20er Jahren zu gewalttätigen Handlungen gegen Juden, vornehmlich durch Mitglieder der NSDAP und Anhänger der im „Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund“ organisierten antisemitischen Verbände.[9]

Mit der Wahl Hitlers zum Reichskanzler wurden endgültig alle Hoffnungen der Juden zunich- te gemacht, dass die demokratische Weimarer Republik die verbreiteten antijüdischen Res- sentiments eindämmen und die Integrationsbestrebungen der jüdischen Bevölkerung unter- stützen könne.

Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 und dem Aufstieg der NSDAP zur Regierungspartei wurde das dunkelste Kapitel in der Geschichte des Judentums aufgeschlagen. Hitlers „Anti- semitismus der Vernunft“, ein pseudowissenschaftliches Konglomerat aus Sozialdarwinis- mus, Rassenutopie und radikaler Elemente des rassisch-völkischen Antisemitismus wurde zum Heilmittel der innenpolitischen Schwierigkeiten Deutschlands verklärt und zur Staats- doktrin erhoben. Nicht mehr allein Diskriminierung und Entrechtung der jüdischen Bevölke- rung, sondern die Entfernung der Juden aus der Gesellschaft war der Zweck antisemitischer Propaganda.

In den dreißiger Jahren wurden zahlreiche administrative Verordnungen gegen Juden erlassen. Mit den „Nürnberger Gesetzen“ wurden ihnen wesentliche Bürgerrechte aberkannt, weitere besonders gehässige Regelungen, bspw. die Eintragung von Zwangsvornamen in den Perso- naldokumenten folgten. Massenpogrome, wie die „Reichskristallnacht“ 1938, veranlassten tausende von Juden, das Land zu verlassen.

Mit der Wannsee-Konferenz und der anschließenden Massendeportation begann die letzte Phase der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik, die in der systematischen, millionenfa- chen Ermordung der Juden endete.

An dieser Stelle sei eine Abkehr von der vorgesehenen Gliederung gestattet. Die Frage, die sich bei der historischen Analyse des nationalsozialistischen Antisemitismus immer wieder stellt, ist: Wie konnte die Shoa geschehen? Wie war es möglich, dass „ganz normale Deut- sche“ zu Bestien mutierten? Ist es denkbar, dass sich das „Volk der Dichter und Denker“ zu Hitlers „willfährigen Vollstreckern“ gleichschalten lies? Hat keiner etwas gewusst oder jeder nur etwas geahnt, vielleicht einfach nur geschwiegen?

Nun, wir kennen verschiedene historische Quellen der Judenfeindschaft und des Antisemitis- mus, die psychologische Vorurteilsforschung verfügt über verschiedene Erklärungsansätze, auf die später noch genauer eingegangen wird. Dennoch, die Unfassbarkeit des Geschehenen bleibt im Kern bestehen, erschwert die Aufarbeitung und begünstigt die Verdrängung, Relati- vierung oder Verleugnung der Schuldfrage.

II.1.3. Antisemitismus seit 1945

Die Stunde Null. Mit der Niederlage des Hitlerregimes wurde deren Ideologie die Legitimati- on entzogen, damit spielte auch der Antisemitismus in der Öffentlichkeit keine Rolle mehr. Die Alliierten unternahmen, zumindest in den ersten Nachkriegsjahren, große Anstrengungen der Entnazifizierung und Demokratisierung Deutschlands. Der Bevölkerung wurde unmiss- verständlich klar gemacht, dass rassistische und antisemitische Politik nicht mehr im Nach- kriegsdeutschland möglich ist.

War die deutsche Bevölkerung, beschämt durch die Konfrontation mit dem Massenmord der Nationalsozialisten, im ersten Nachkriegsjahr den gegenüber Juden eher freundlich einge- stellt, lebten nur wenig später antisemitische Ressentiments wieder auf. Als Grundlage hierfür werden primär die Konkurrenz mit den jüdischen DP’s um die knappen Ressourcen von Nah- rungsmitteln und Wohnraum, aber auch Ängste vor Restitutionsansprüchen angesehen.[10]

Auch waren die seit Jahrzehnten verfestigten antijüdischen Vorurteile in der Bevölkerung trotz der Umerziehungsbemühungen durch die Alliierten nicht ohne weiteres „aus den Köpfen zu löschen“.

Die Stabilisierung und der erfolgreiche Wiederaufbau Deutschlands, die Einführung rechts- staatlicher und demokratischer Prinzipien in beiden deutschen Staaten trugen zum Rückgang des Antisemitismus bei. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass judenfeindliche Einstel- lungen immer noch auf einem vergleichsweise hohen Niveau fortlebten, in der Bundesrepu- blik kam es z.B. 1959/60 zu einer Welle antisemitischer Schmierereien.

Im Bemühen, die nationalsozialistische Vergangenheit zu bewältigen, wurden in der Bundes- republik die Beteiligung und die moralische Mitschuld der Deutschen an der Shoa, wie auch die Frage der Wiedergutmachungszahlungen für das den Juden zugefügte Leid öffentlich und auf parlamentarischer Ebene thematisiert. In Konsequenz verabschiedete die Bundesregierung mehrere Gesetze, die die Entschädigungsleistungen regelten.[11] Weite Teile der Bevölkerung waren mit diesen Zahlungen jedoch nicht einverstanden, einerseits aus ökonomischen Moti- ven, andererseits waren sie nicht bereit das Schulderbe der Nationalsozialisten anzutreten.

Dies ist insofern bemerkenswert, da die Vorwürfe der viel zu hohen Entschädigung und das Bild des auf Deutschlands Kosten lebenden (israelischen) Juden noch in den heutigen antise- mitischen Überzeugungen von zentraler Bedeutung sind.

Die beiden deutschen Nachfolgestaaten vertraten aufgrund unterschiedlicher politischer Grundausrichtungen und Bündniszugehörigkeiten divergente Einstellungen zum Staate Israel. Während die bundesrepublikanische Haltung betont israelfreundlich war, formierte sich in der Deutschen Demokratischen Republik eine staatlich propagierte kritisch-delegitimierende Ein- stellung zum Staate Israel, die zumindest in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten antise- mitisch unterfüttert wurde. Inwieweit man den Antizionismus der späteren DDR als latente Form des Antisemitismus auffassen kann, ist historisch strittig und wird auch heute noch kon- trovers diskutiert (Mertens, 1995; dagegen: Herzog, 1999).

Der Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 spaltete die westdeutsche Bevölkerung hinsichtlich ihrer politischen Stellung zu Israel. Auf der einen Seite bewunderte die Mehrheit der Deutschen die erreichte enorme Aufbauleistung und den Kampf eines Davids gegen den Goliath, im Sinne des kleinen Israels gegen die arabische nachbarstaatliche Übermacht. Die politische Linke aber betrachtete andererseits die kapitalistische Entwicklung bzw. die israelische Innen- und Außenpolitik zunehmend skeptisch und übernahm später antizionistische Positionen. Die lin- ke Radikale vertrat einen Antizionismus auch mit antisemitischen Inhalten, derart, dass den Juden faschistoide Praktiken im Umgang mit den Palästinensern unterstellt wurden (vgl. Hau- ry, 1992, S. 130f.).

Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss der 68er Studentenbewegung auf das politische Klima dieser Zeit, da sie die nur zögerliche Aufarbeitung der Nazivergangenheit nochmals themati- sierten, damit die Schuldfrage den Vätern und Großvätern erneut stellten. Freytag (2000, S.

56) zur Bedeutung dieses Diskurses:

Mögen manche Vorwürfe der 68er auch eher emotional engagiert denn theoretisch fundiert gewesen sein, so bleibt ihnen dennoch der Verdienst, die Beschäftigung mit dem alltäglichen Faschismus und Antisemitis- mus der „kleinen Leute“ erstmals einer breiten gesellschaftlichen Diskussion zugeführt zu haben.

Waren die siebziger Jahre im Wesentlichen frei von antisemitischen Vorfällen, lösten die neu gegründeten rechtsextremen Organisationen bis in die heutige Zeit hinein heftige Diskussio- nen hinsichtlich der Asyl- und Ausländerpolitik aus. Im Zuge dieser xenophoben Propaganda häuften sich ausländerfeindliche und antisemitische Straftaten. Neben der Verwendung ver- fassungsfeindlicher Symbole, der Schändung jüdischer Friedhöfe und antisemitischer Schmie- rereien, dem Propagieren revisionistischer Ansichten, wie der Auschwitzlüge, kam es in den achtziger und neunziger Jahren zu massiven gewalttätigen Ausschreitungen und Brandan- schlägen, vornehmlich gegen Asylbewerber und Ausländer. Verbale Entgleisungen deutscher Politiker und antisemitische Äußerungen von in der Öffentlichkeit stehenden Personen sind sicherlich noch in Erinnerung.

Inhaltlich ist der Antisemitismus unserer Zeit dem der vergangenen drei Jahrzehnte recht ähn- lich, bevorzugt wurden allerdings einzelne, dem Zentralrat der Juden angehörende Personen verbal angegriffen, bedroht und beleidigt. Das Bundesministerium des Innern (BMI) präsen- tierte im Verfassungsschutzbericht 2002 beispielhafte Inhalte moderner antisemitischer Agita- tion:

Die NPD verbreitete weiterhin antisemitische Propaganda […] In der Juli-Ausgabe der .Deutschen Stimme. hetzte das Redaktionsmitglied Waldemar Maier […] gegen den Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, dem er vorwarf, sich bewusst als .Ärgernis für nationalbewusste Deutsche. zu inszenieren und dabei selbst den Antisemitismus - oder das, was er dafür hält zu provozieren. (BMI, 2003, S. 63)

Die DVU zeigt […] einen für Rechtsextremisten typischen Antisemitismus. […] Sie suggerierten, das deut- sche Volk werde besonders durch die Juden daran gehindert, einen Schlussstrich unter die NS- Vergangenheit zu ziehen […]. In den Beiträgen wurde eine Überpräsenz von Personen jüdischen Glaubens oder jüdischer Abstammung in Politik, Wirtschaft und Medien behauptet, jüdische Organisationen diskredi- tiert, deutsche Wiedergutmachungsleistungen verurteilt und Vorgänge in Israel und Palästina polemisch kommentiert. (BMI, 2003, S. 77)

Anhand dieser Beispiele ist ersichtlich, dass auch der heutige Antisemitismus - wurzelnd in der Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Hinterlassenschaften - in seinen In- halten die Schlussstrichdebatte, die angebliche jüdische Unterwanderung von Politik, Wirt- schaft bzw. Medien und die Entschädigungszahlungen thematisiert, aber verstärkt eine geziel- te personenspezifische Täter-Opfer-Umkehr vornimmt. Die Umkehr basiert auf der Unterstel- lung, dass diejenigen, die an die Vergangenheit erinnern, dies zum Zwecke der Instrumentali- sierung missbrauchen, also gegen Deutschland einsetzen. Damit werden die (jüdischen) Erin- nerer zu Beschuldigten und die Relativierer sehen sich als Opfer. Diese Argumentationsstra- tegie verfolgt ein politisches Ziel: Für die Verbreitung nationalistischen Gedankengutes ist eine möglichst positive Darstellung der deutschen Historie notwendig, deshalb sollen die NS- Verbrechen aus dem öffentlichen Bewusstsein abgedrängt werden.

II.2. Definition des Antisemitismus

Bisher wurden die historischen Hintergründe des Antisemitismus besprochen, eine Definition steht aber noch aus. Zunächst eine populärwissenschaftliche begriffliche Bestimmung aus dem Brockhaus (1996, S. 676):

Antisemitismus […] bezeichnet sowohl die Abneigung oder Feindseligkeit gegen Juden als auch (nationa- list.) Bewegungen mit ausgeprägten judenfeindl. Tendenzen; heute v. a. als Sammelbegriff zur Kennzeich- nung unterschiedlich motivierter individueller und kollektiver antijüd. Einstellungen und Handlungen ver- wendet. Von dem Publizisten Wilhelm Marr […] geprägt und gebraucht.

Inhaltlich zusammengefasst sehen die Antisemiten demnach in den Juden eine Minderheit, die, unfähig zur nationalen und kulturellen Einbürgerung, moralisch in ihrem Wesen minder- wertig und daher für das Volk gefährlich, gesellschaftlich auszugrenzen oder zu bekämpfen seien. Viele Antisemitismusdefinitionen, so beklagt Silbermann (1982, S. 12f.), bewegen sich auf dieser groben Ebene der Begriffserklärung - für eine soziologisch-psychologische Heran- gehensweise sind sie zu ungenau.

Der Terminus selbst knüpft sprach- und sachlogisch an den Begriff Semitismus an und basiert auf der alttestamentarischen Völkertafel (Die Bibel, Ms 1, 10). Als Semiten werden heteroge- ne Völkergruppen (u. a. Elamiter, Assyrer, Babylonier und Aramäer) bezeichnet, deren Ge- meinsamkeit darin besteht, dass ihre Schrift ohne Vokalbezeichnung auskommt. Da die oben genannten Völker keine geschlossene Gruppe im Sinne der Völkerkunde bilden, ist der Be- griff ethnographisch ungeeignet. In der Literatur wird gern darauf hingewiesen, dass auch Araber Semiten sind und daraus folgend der Begriff Antisemitismus im Sinne der Judenfeind- schaft eigentlich unsinnig ist.

Hinsichtlich der Wortschöpfung selbst verweisen die Quellen fälschlicherweise zumeist auf Wilhelm Marr, einem Ende des neunzehnten Jahrhunderts lebenden antisemitischen Agitator und Publizisten. Marr wird im Biographisch-Bibliographischem Kirchenlexikon (1993) als ehrgeizig und geltungssüchtig, mit einer wechselvollen ideologischen Entwicklung beschrie- ben. Als gesichert gilt, dass er den Antisemitismus um 1879 als politisches Schlagwort ein- führte. Dennoch wurde der Ausdruck bereits 1860 von Moritz Steinschneider, einem Orienta-

listen und hebräischen Bibliographen, verwandt.[12]

Nach dem sozialpsychologischen Verständnis basiert der Antisemitismus auf Vorurteilen und rassistischen Einstellungen.[13] Vorurteile werden in der sozialpsychologischen Forschung nach Zick (1997, S. 49) wie folgt definiert:

Vorurteile […] sind individuelle Einstellungen, Affekte, Verhaltensweisen etc., die ein Individuum auf der Basis seiner Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen (Ingroup) gegenüber anderen sozialen (meist ethnischen) Minderheiten äußert. [14]

Zick setzt bei Vorurteilen also einen Schwerpunkt auf Prozesse der „Ingroup-Identifikation und der Outgroup-Abwertung“ die von ihm als „die wesentlichen (individuellen) Mechanis- men zur Ausbildung und/oder Aufrecherhaltung dieser Phänomene“ angesehen werden (Zick, 1997, S. 49).

Diese Definition erscheint mir im Kontext der modernen Antisemitismusforschung als noch zu allgemein. Differenzierter und deshalb für vorliegende Arbeit geeigneter ist die begriffli- che Bestimmung von Bergmann und Erb: In ihrem Verständnis sind (negative) Vorurteile zunächst gegen Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit und Gleichheit verstoßende Einstellungen.

Letztere betrachten die Autoren

als Bestandteil des Wertesystems und des kollektiven Wissens einer Gruppe, die im Sozialisationsprozess gelernt werden. Diese Einstellungen bilden dann Schemata, die die soziale Wahrnehmung der Gruppenmit- glieder steuern. (Bergmann & Erb, 1991a, S. 113)

Die Mehrdimensionalität des Vorurteils wird für die Erfassung des Antisemitismus als we- sentlich erachtet. Folglich ist die alleinige Betrachtung der kognitiven Dimension (Stereotype) nicht ausreichend, zusätzlich müssen affektive (emotionale Einstellungen, soziale Distanz) und konative (im Sinne von mit den Einstellungen verknüpfte Handlungs- und Diskriminie- rungsbereitschaften) Elemente des Vorurteils beachtet werden.

Die Besonderheiten des deutschen Nachkriegsantisemitismus erfordern weitere Überlegun- gen: Bergmann und Erb charakterisieren die emotionale und soziale Ablehnung der Juden als Teil eines generellen Einstellungskomplexes, der Fremdenfeindlichkeit. Von letzterer ist die Ausländerfeindlichkeit zu unterscheiden. Diese beruht auf gegenwärtigen sozialen Konflikten zwischen bestimmten Gruppen und wird von den Autoren deshalb situationsgebundener und weniger allgemein verstanden. Antisemitismus ist aber nicht nur eine Variante fremdenfeind- licher Einstellungen, sondern bildet zusätzlich einen eigenständigen Einstellungskomplex, der im Wesentlichen auf die Folgen nationalsozialistischer Verbrechen zurückzuführen ist.

Bei der Erforschung des deutschen Nachkriegsantisemitismus müssen dementsprechend zwei Aspekte berücksichtigt werden: Durch den spezifischen historischen und gesellschaftlichen Kontext ist Antisemitismus einerseits ein als singulär zu betrachtendes Diskriminierungsphä- nomen zu verstehen, andererseits ist er aber auch als Dimension der Fremdenfeindlichkeit einzuordnen. Damit erklärt sich die Relevanz der weiter unten beschriebenen Vorurteilstheo- rien, es wird aber deutlich, dass bei der Analyse antisemitischer Einstellungen deren soziale Gegebenheiten (z.B. durch öffentliche Tabuisierung entstandene Kommunikationslatenz) mit eingehen müssen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Dimensionen des Rechtsextremismus (nach Neumann & Frindte, 2001).

Andere Gelehrte sehen den Antisemitismus der heutigen Zeit inhaltlich als Dimension des Rechtsextremismus und verstehen ihn damit als ein Grundelement der Ungleichwertigkeits- ideologien in Verbindung mit Ausgrenzungstendenzen (Heitmeyer et al., 1992; Benz, 1994; Frindte et al. (2001) Vernooij, 2001).[15] Dies widerspricht nicht der Sichtweise von Bergmann und Erb: Das Modell des Rechtsextremismus, als Konglomerat aus Ungleichwertigkeitsideo- logien und Gewaltbereitschaft, kann deren Antisemitismusdefinition leicht integrieren. Abbil- dung 1 verdeutlicht die postulierte Struktur des Rechtsextremismus.

Als Arbeitsdefinition soll in dieser Arbeit die Auslegung von Frindte, Funke und Jakob ver- wendet werden. Die Autoren beschreiben Antisemitismus als

jene falschen Projektionen […] mit denen Nichtjuden die Juden als Juden zu diffamieren versuchen. Und die falschen Projektionen funktionieren, weil sie sich auf einen Mythos stützen, dessen Entstehung– und Wirkmechanismen […] als Rituale der Zivilisation […] so alt wie die Zivilisation selbst sind. (Frindte, Fun- ke & Jakob, 1999, S. 120)

In ihrem Verständnis entspricht der beschriebene Mythos sozialen Konstruktionen, also ge- sellschaftlich geteilten, tradierten sozialen Deutungsmustern, die sich primär auf die Existenz der Juden und ihre Geschichte stützen. Sekundäre soziale Konstruktionen schaffen neue oder aktualisierte Zerrbilder, Geschichten mit dem Zwecke, das Fremdartige und Bedrohliche „des Juden“ darzustellen, um sie zu Sündenböcken zu machen (vgl. Frindte et al.,1999a, S. 120).

Die Stärke dieser Definition liegt darin, dass sie die funktionellen Wandlungen des Antisemi- tismus berücksichtigt und damit auf der von Bergmann und Erb (1991a) vorgenommenen begrifflichen Bestimmung antisemitischer Einstellungen aufbauen kann.

II.3. Psychologische Erklärungsansätze negativer Vorurteile

Die sozialpsychologische Vorurteilsforschung hat zahlreiche Denkansätze zu Fremdenfeind- lichkeit, Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus hervorgebracht. Es gibt unter- schiedliche Herangehensweisen, diese zu systematisieren und einzuordnen. Die Übersicht von Zick (1997) klassifiziert hunderte Theorien und Ansätze hierarchisch nach individuellen, so- zialen, anthropologischen, phänomenverwandten, den öffentlichen Meinungsaustausch betref- fenden und historischen Diskursbereichen.

Nachfolgend sollen ausgewählte Denktraditionen und deren Ansätze beispielsweise vorge- stellt werden. Besondere Beachtung finden dabei die Autoritarismus-These (Altemeyer, 1981; 1988; Funke 1999; 2002a), die Soziale Dominanztheorie (Sidanius & Pratto, 1999), der An- satz von Bergmann und Erb (1986; 1991a) und der Dreikomponentenansatz antisemitischer Einstellungen von Frindte et al. (1999a), da diese die theoretische Basis für die vorliegende Untersuchung bilden. Die hier verwandte Gliederung lehnt sich an die oben beschriebene Diskursklassifikation von Zick (1997) an.

II.3.1. Die klassische Vorurteilsforschung

Neben der Frustrations-Aggressions-Hypothese (Dollard et al., 1939), der daraus entwickelten Sündenbocktheorie (Berkowitz (1962), dem Dogmatismusansatz (Rokeach, 1954), der These der Relativen Deprivation (Runciman, 1966) und dem Realistic Group Conflict (Sherif et al., 1961) sei hier besonders auf die Theorie der Autoritären Persönlichkeit von Adorno et al. (1950) hingewiesen. Diese Theorien haben die Denkansätze der späteren Jahrzehnte nachhal- tig geprägt und gelten als Standardtheorien der psychologischen Vorurteilsforschung.[16]

Nachfolgend sollen die Theorie der Autoritären Persönlichkeit und deren Modifikationen durch Altemeyers Right-wing Authoritarianism (Altemeyer, 1981; 1988; 1996), die Frustrati- ons-Aggressions-Hypothese und die These der Relativen Deprivation skizziert werden.[17]

II.3.1.1. Die Theorie der Autoritären Persönlichkeit

Die Theorie der Autoritären Persönlichkeit (TAP) von Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson und Sanford (Adorno et al., 1950) hat wie kaum eine andere die psychologische Vorurteils- forschung beeinflusst. Besonders die Ansätze zur Genese des Autoritarismus basieren auf den Überlegungen der TAP (Altemeyer, 1981; 1988; auch Oesterreich, 1993).

Nach Zerschlagung des Nationalsozialismus fiel es schwer, die Ursachen der faschistischen Massenbewegung ausschließlich durch ökonomische und gesellschaftliche Bedingungen zu erklären. In Konsequenz suchte man nach innerpsychischen Prozessen, die die „faschistische Persönlichkeit“ determinieren und für die Ausbildung von Vorurteilen bedeutsam sind.

Ausgehend von bis in die dreißiger Jahre zurückreichenden Vorarbeiten und Projekten in den USA formulierten Adorno et al. Anfang der fünfziger Jahre ihre Thesen zur „Authoritarian Personality“. Ausgangspunkt für ihre Studien zur „autoritären Persönlichkeit“ ist die Annah- me

that the political, economic, and social convictions of an individual often form a broad and coherent pattern, as if bound together by a ‘mentality’ or ‘spirit’ and that this pattern is an expression of deep-lying trends in his personality. (Adorno et al., 1950; zit. nach Ganter, 1997, S. 17)

Im Sinne der Autoren sind politische und gesellschaftliche Überzeugungen des Individuums demnach Ausdruck einer zugrunde liegenden psychischen Struktur. An psychoanalytische Vorstellungen anknüpfend, wird diese als Ergebnis bestimmter Konstellationen zwischen Es, Ich und Über-Ich betrachtet, deren Entstehung primär auf elterliche Erziehungspraktiken in der frühen Kindheit zurückzuführen ist. Die autoritäre (männliche) Charakterstruktur resul- tiert, stark vereinfacht, aus der sado-masochistischen Auflösung des ödipalen Komplexes. In deren Folge entwickelt sich eine „Ich-Schwache-Persönlichkeit“, die einerseits dazu neigt, sich sozialen Autoritäten zu unterwerfen und zum anderen durch aggressives, feindseliges Verhalten gegenüber Fremdgruppen gekennzeichnet ist (vgl. Ganter, 1997, S 12).

Um diese Grundannahmen empirisch zu untermauern, entwickelten Adorno et al. (1950) die Faschismus-Skale.[18] Ihre neun Subskalen verdeutlichen, was die Autoren unter einer autoritä- ren Persönlichkeit verstehen, nämlich eine Person, die starr an konventionellen bürgerlichen Wertvorstellungen festhält (Konventionalismus), sich Autoritäten bereitwillig und unkritisch unterordnet (autoritäre Unterwürfigkeit) und dazu tendiert, Werteverletzer abzulehnen, zu verurteilen oder zu bestrafen (autoritäre Aggression). Für die spätere Autoritarismusforschung weniger relevante Subdimensionen erfassen anti-intrazeptive, abergläubige, vorurteilsvolle,

macht-orientierte, destruktive, übertrieben sexuell-orientierte und projektive Persönlichkeits- merkmale.

Die empirische Auswertung des umfangreichen Datenmaterials bestätigten zunächst die Vali- dität der F-Skale und deren Zusammenhang mit den Ethnozentrismus- und Konventionalis- musskalen. Aber, die theoretischen Konzeptionen der TAP, wie auch die durch Adorno et al. gestalteten Untersuchungssettings wurden massiv kritisiert. Entsprechend lang ist die Liste der aufgeführten Mängel. Wesentliche Einwände richteten sich beispielsweise gegen den psy- chodynamischen Ursprung der autoritären Charakterbildung, die selektive Probandenauswahl,

die niedrigen Item-Interkorrelationen und die durchweg positive Polung der Items (vgl. z.B. Ganter, 1997; Weiss, 1983).[19]

Trotz aller Kritik haben Adorno et al. Pionierarbeit für die sozialpsychologische Forschung geleistet. Modifizierte Teile der F-Skale spielen in der aktuellen Autoritarismus- und Antise- mitismusforschung weiterhin eine wichtige Rolle.

II.3.1.2. Exkurs: Der Right-wing Autoritarianism

Die Forschungsarbeiten von Altemeyer (1981, 1988) knüpfen inhaltlich direkt an die TAP von Adorno et al. (1950) an und werden, auch wenn sie eigentlich nicht der klassischen Vor- urteilsforschung zuzuordnen sind, deshalb in diesem Kapitel als Exkurs besprochen. Diese Gliederungsfolge steht in Übereinstimmung zu Zick (1997). Die dort aufgestellte Diskurs- klassifikation sieht Altemeyers Autoritarismusforschung in Nachfolge zu den Arbeiten von Adorno et al. Eine Einordnung in einen eigenständigen/anderen Diskursbereich wird von Zick (1997) nicht vorgenommen.

Ausgehend von der Kritik an der TAP verzichtet Altemeyer auf psychodymamische Erklä- rungsansätze des Autoritarismus und greift für deren Entstehung Elemente der Sozial- Kognitiven Lerntheorie (Bandura, 1979) auf: Autoritäre Grundstrukturen formen sich dem- nach schon in der frühen Kindheit durch Beobachtung, Identifikation und Nachahmung von bzw. mit geeigneten, also als kompetent, sympathisch und vertrauenswürdig, eingeschätzten Modellen. Aggressive Verhaltensmuster realer Personen (Eltern, Peers), Spielfilm- und Co- michelden werden folglich vorzugsweise von unsicheren Charakteren übernommen und ver- festigen sich im Laufe der weiteren Entwicklung.

Die eigentliche autoritäre Persönlichkeit, unter anderem beeinflusst von individuellen Dispo- sitionen, dem gesellschaftlichen Kontext und den Lebenserfahrungen, bildet sich aber erst im frühen Erwachsenenalter aus und kann sich im weiteren Lebensverlauf wandeln (Altemeyer, 1988; Oerter & Montada, 1995).

Altemeyer definiert den Right-wing Authoritarianism (RWA) als individuellen Faktor, als Persönlichkeitsvariable, „a ’trait’ if you like“ (Altemeyer, 1988, S. 3) der sich über drei Einstellungscluster manifestiert: Autoritäre Submissivität, autoritäre Aggressivität und Kon- ventionalismus.[20] Offensichtlich ist die Nähe zur TAP, schon Adorno et al. (1950) formulier- ten diese drei Subdimensionen zur Kennzeichnung autoritärer Einstellungen. Inhaltlich wer- den sie von Altemeyer aber etwas anders interpretiert:

By ‘right-wing authoritarianism’ I mean the combination of the following three attitudinal clusters in a per- son:

1. Authoritarian submission– a high degree of submission to the authorities who are perceived to be estab- lished and legitimate in the society in which one lives.
2. Authoritarian aggression - a general aggressiveness, directed against various persons, that is perceived to be sanctioned by established authorities.
3. Conventionalism - a high degree of adherence to the social conventions that are perceived to be endorsed by society and its established authorities. (Altemeyer, 1988, S. 2)

Im Unterschied zu den Vorstellungen von Adorno et al. (1950) richtet sich die autoritäre Ag- gression nicht ausschließlich gegen Fremdgruppen oder „soziale Abweichler“. Zum Ziel ag- gressiver Einstellungen/Handlungen kann im Verständnis Altemeyers zunächst jede (als sank- tioniert wahrgenommene) Person werden, doch dienen abweichende Minderheiten bevorzugt als Aggressionsobjekte. Der Schlüssel dafür liegt in der Vorstellung Autoritärer, dass Feind- seligkeiten gegenüber Opponenten im Sinne der Autoritäten sind und diese die Verteidigung konventioneller Werte billigen. Im Widerspruch dazu stehen Gewalttätigkeiten sanktionieren- de Gesetze moderner Gesellschaften, die offene aggressive Handlungen eindämmen.

[Authoritarian] aggression does not mean that the right-wing authoritarian will always act aggressively when opportunities arise. […] There are also prominent legal and social prohibitions against aggression in our culture. This is why the perception of authoritative sanction is important. Its disinhibits the aggressive impulse. (Altemeyer, 1988, S.5)

Die bereitwillige Subordination unter Autoritäten funktioniert bei autoritären Charakteren keineswegs automatisch oder blind. Auch Autoritäre können vorsätzlich gegen Regeln ver- stoßen oder Gesetze verletzen. In diesem Zusammenhang steht vielmehr die Frage: Wie viel situativen Druck benötigen Menschen, um sich Autoritäten unterzuordnen, um sich konventi- onellen Normen anzupassen oder um - ihren Interessen gegensätzliche- Anweisungen - zu befolgen? Und genau darin, so wird von Altemeyer angenommen, unterscheiden sich autoritä- re Persönlichkeiten von nicht autoritären:

Some persons need very little situational pressure to (say) submit to authority, while others often require significantly more. (Altemeyer, 1988, S.3)

Doch welche Normen, welche sozialen Werte werden von Autoritären als so wichtig erachtet, dass sie verteidigungswürdig erscheinen? Zunächst erst einmal sind es die, die von den etab- lierten Autoritäten geprägt und anerkannt werden.[21] Dies schafft Sicherheit. Da sich die ge- sellschaftlichen Machtverhältnisse in modernen Kulturen selten drastisch verändern, bleiben Normen im Wesentlichen über lange Zeit bestehen. Das bedeutet nicht, dass sie keinem Ver- änderungsprozess unterliegen, ein fundamentaler gesellschaftlicher Wertewandel findet je- doch immer über einen langen Zeitraum hinweg statt. Somit werden Normen und Werte über- liefert und sind Teil sozialer Tradition. Altemeyer zufolge beharren Autoritäre auf diesen ü- berlieferten, eben konventionellen, Grundsätzen wie bspw. patriarchalischen Familienstruktu- ren, religiösen Moralvorstellungen, bürgerlichen Umgangsformen und einem konservativen Politikverständnis:

There is a strong belief that ‘our customs and national heritage are the things that have made us great’ and that everyone ought to be made to show respect for them […] The right-wing authoritarian’s conventional- ism is a code of how people ought to act, not how they do. (Altemeyer, 1988, S. 6)

Ein detailliertes theoretisches Fundament wird von Altemeyer nicht bereitgestellt, vielmehr leitet sich sein Autoritarismusansatz aus der Empirie ab und erklärt sich über die Kovariation der drei oben genannten Einstellungscluster: Mittels umfangreicher Itemanalysen und zahlrei- chen anschließenden Validierungsstudien entwickelte Altemeyer eine 30 Items umfassende und hinsichtlich der Merkmalsrichtung ihrer Items ausbalancierten Skale zur Erfassung des RWA (vollständig bei Altemeyer, 1996).

Andere Dimensionen der F-Skale leisten nach Ansicht Altemeyers keinen wesentlichen Erklä- rungsbeitrag zur Entstehung des autoritären Charakters, da die in empirischen Studien gefun- denen korrelativen Zusammenhänge mit der RWA-Skale nur gering waren und deshalb eine Hinzunahme weiterer Subskalen zu seinem Autoritarismuskonstrukt nicht rechtfertigten (vgl.

z.B. Altemeyer, 1988, S. 12).

Trotz der sparsamen theoretischen Konzeptionen zur Entstehung des Autoritarismus gilt die RWA-Skale als „ das Standardinstrument der modernen (quantitativen) Autoritarismusfor- schung“ (Funke, 2002a, S.50, Hervorhebung im Original). Christie (1991) zufolge ist die RWA-Skale das zurzeit beste zur Verfügung stehende Fragebogeninstrument zur Messung dessen, was die Autoren der „Autoritären Persönlichkeit“ suchten (vgl. Funke, 2002b, S. 2).

Nach einer Vielzahl verschiedener Studien an mehr als 20000, vornehmlich studentischen, Versuchspersonen berichtet Altemeyer (1988; 1996) von sehr zufrieden stellenden Reliabilitä- ten der RWA-Skale. Die mit Cronbachs Alpha gemessene innere Konsistenz der 30 Items umfassenden Skale liegt nicht unter α =.80, in der Mehrzahl der Untersuchungen zwischen α = .85 und α = .90. In seiner Publikation „Enemies of freedom“ bezieht sich Altemeyer (1988, S. 14) auf Reliabilitätsanalysen der RWA-Skale anderer Gelehrter:

J. H. Duckitt […] sent me similar evidence of a .93 Alpha obtained for the 30-item scale […] Heaven (1984) reported an Alpha of .81 […]. And finally, Ray (1985) reported an Alpha of .89.

Im deutschsprachigen Raum ließen sich ähnliche Alpha-Werte für adaptierte RWA-Skalen finden (bspw. Schneider, 1997; Six, Wolfradt & Zick, 2001; Funke, 2002a).

Obwohl Altemeyer die Struktur des Right-wing Authoritarianism als gemeinsames Auftreten dreier Einstellungscluster definiert, beschreibt er die RWA-Skale als eindimensional:

I have a definite hypothesis about the factor structure of the RWA Scale, namely, that it is essentially unidimensional” (Altemeyer, 1996, S. 53)

Altemeyer begründet die Eindimensionalität der Skale durch Ergebnisse zahlreicher Fakto- renanalysen, in denen immer wieder eine bzw. zwei hoch korrelierende Komponenten extra- hiert wurden. Die Zweifaktorlösung stellt die postulierte Unidimensionalität nach Ansicht des Autors jedoch nicht in Frage und ist vielmehr Resultat der Merkmalsrichtung der Items (Al- temeyer, 1988; 1996; auch Tarr & Lorr, 1991; Petzel, et al., 1997).

Für eine dreidimensionale Struktur spricht sich Funke (2002a) aus. Seinen Untersuchungen zufolge variieren die RWA-Facetten („autoritäre Aggression“, „autoritäre Submissivität“ und

„Konventionalismus“) in Abhängigkeit des Untersuchungsgegenstandes in ihrer Aufklä- rungskraft. Die von ihm entwickelte, auf Altemeyers Messinstrument aufbauende und bezüg- lich der drei Subdimensionen ausbalancierte RWA3D-Skale, erwies sich als zufrieden stellend reliabel und ermöglicht eine differenziertere Betrachtung des Autoritarismus.

Einige demographische Variablen werden mit Autoritarismus in Verbindung gebracht: So sind bspw. hoch Autoritäre häufig gekennzeichnet durch ein niedrigeres Bildungsniveau und einen geringeren sozioökonomischen Status (Meloen et al., 1996; Lüscher, 1997; McCourt et al, 1999). Vielfach verweisen die Forschungsergebnisse auf Zusammenhänge zwischen dem Lebensalter und der Ausprägung autoritäre Einstellungen (z. B. Feather, 1993; McFarland & Adelson, 1996; Duriez & van Hiel, 2002). Strittig ist die in jüngster Zeit aufgestellte These der regionalen Unterschiedlichkeit autoritärer Einstellungsneigungen. So berichten bspw. Rippl und Seipel (1998) von höheren Autoritarismuswerten bei der ostdeutschen Bevölke- rung, anderen Studien zufolge lassen sich aber nur sehr geringe, daher vernachlässigbare bzw. keine Unterschiede finden (Lederer et al., 1991; Oesterreich, 1993; Frindte, Funke & Jakob, 1997; Schmidt & Heyder, 2000).

Zahlreiche Studien dokumentieren die Nähe des Autoritarismus zu persönlichkeitsrelevanten Merkmalen.[22] So stehen insbesondere die Subdimensionen des NEO-FFI Offenheit und Ge- wissenhaftigkeit in Korrelation mit dem RWA (Trapnell, 1994; Lippa & Arad, 1999; Butler, 2000; Heaven & Bucci, 2001). Funke (2002a) und Zachariae (2002) können diese Ergebnisse für deutsche Stichproben bestätigen: Offenheit korreliert moderat negativ, Gewissenhaftigkeit leicht positiv mit Autoritarismus.

Religiosität und Konservatismus werden gelegentlich in enge Beziehungen zu Autoritarismus gestellt. Untersuchungen auf korrelativer Basis zeigen starke Zusammenhänge (r= >.70) zwi- schen religiösen Fundamentalismus (Altemeyer, 1988; 1998) und RWA auf. Heaven und Connors (2001), Saucier (2000) und Altemeyer (1988) berichten von mittleren Korrelationen (r zwischen .25 und .51) bezüglich RWA und Religiosität. Funke (2002a) verweist auf aktuel- le Untersuchungen von Altemeyer und Hunsberger (1992), Hunsberger (1996) bzw. Duck und Hunsberger (1999), in denen Beziehungen zwischen christlicher Religiosität und Konventio- nalismus als Facette des RWA gefunden wurden. Studien von Altemeyer (1988), Meloen et al (1996) und Lüscher (1997) zufolge sind autoritäre Personen religiöser als Nichtautoritäre. Eine Interpretation der Unterschiedlichkeit bietet Lüscher (1997, S.27):

Autoritäre Personen scheinen ein gewisses Bedürfnis nach strikten Regeln und Konventionen zu haben. Re- ligion kann, muss aber nicht, eine Quelle von solchen Regeln sein. Dies ließe darauf schließen, dass autori- täre Personen stärker religiös sind.

Die Abgrenzung des Autoritarismus zu Konservatismus fällt nicht leicht. Für Ray (1985) ist die RWA-Skale nur ein weiteres Instrument zur Messung des Letzteren. Altemeyer entgegnet, dass zwar eine Facette des RWA, der Konventionalismus, dem Konservatismus inhaltlich ähnelt, Autoritarismus aber zusätzlich durch Submissivität und Aggressivität gegenüber sank- tionierten Gruppen gekennzeichnet ist - „hardly the same thing as conservatism“ (Altemeyer, 1988, S.8). Oesterreich (1996, S. 121) stellt in diesem Zusammenhang eine interessante Über- legung an:

Autoritäre Persönlichkeiten sind jedoch nicht notwendigerweise konservativ, wie dies oft unterstellt wird. […] Allerdings spricht […] einiges dafür, dass die konventionelle Orientierung häufig zugleich auch eine konservative ist. Der Grund dafür ist, dass in der bestehenden Gesellschaftsordnung die Schutzfunktion ge- sellschaftlich konservativer Kreise in der Regel größer ist, als die liberaler: Sie repräsentieren in stärkerem Maße gesellschaftliche Macht.

Aufwendigen, auf dem lexikalischen Ansatz beruhenden faktoranalytischen Untersuchungen von Saucier (2000) folgend, laden Autoritarismus, Konservatismus und Religiosität auf einen gemeinsamen, als „Alphaism“ benannten Faktor. Die ersten beiden Skalen korrelieren mit einem r =.77 recht hoch miteinander. Dennoch grenzt Saucier Autoritarismus und Konserva- tismus voneinander ab: RWA ist demnach mehr politisch (im Sinne rechter politischer Ideo- logien), ethnozentristisch und militaristisch orientiert, währenddessen der Konservatismus eher mit religiösen Themen in Verbindung steht.

Es erscheint plausibel, dass die von Altemeyer beschriebenen „Feinde der Freiheit“ (mit ihrer Tendenz auf abweichende und als sanktioniert wahrgenommene Fremdgruppen bzw. Minder- heiten feindselig zu reagieren) in besonderem Maße für fremdenfeindliche Einstellungen an- fällig sind. Faktisch konstruierte schon die Berkeley-Gruppe ihre F-Skale mit dem Ziel, fa- schistische, antidemokratische Merkmale des autoritären Charakters empirisch zu erfassen. Der Zusammenhang zwischen Autoritarismus und Fremdenfeindlichkeit bzw. Minderheiten- diskriminierung, Antisemitismus ist in der Literatur vielfach dokumentiert. So verweist Alte- meyer (1988; 1998) auf substantielle Zusammenhänge zwischen RWA und, mittels der „ Ma- nitoba Ethnocentrism Scale“ gemessenen, diskriminierenden Einstellungen gegenüber Ara- bern, Asiaten, bzw. Afroamerikanern. Von ihm durchgeführte Studien bestätigen außerdem moderate Beziehungen (r um .40) zwischen Antisemitismus und RWA. Frindte, Funke, Jakob und Carmil (1999) berichten nach regressionsanalytisch gestützten Auswertungen ihrer Ju- gendstudie von einer nicht unerheblichen prädiktiven Bedeutung des RWA für manifesten Antisemitismus (β =.38). Ein geringer, aber signifikanter Zusammenhang (r =.33) zwischen beiden Konstrukten wurde ebenfalls von Erös und Fábián (1994) an einer repräsentativen un- garischen Stichprobe ermittelt (vgl. Frindte, Carmil & Funke, 1999). Untersuchungen anderer Forscher kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Withley, 1999; McFarland und Adelson, 1996; Duriez und van Hiel, 2002; Lippa und Arad, 1999; Zachariae, 2002; wie auch Zakrisson und Löfstrand (2002) und van Hiel, Pandelaere und Duriez, (2003) können die vorurteilsvollen, rassistischen oder fremdenfeindlichen Wesenszüge Autoritärer beispielsweise belegen. Den von Six, Wolfradt und Zick (2001) durchgeführten multiplen Regressionsanalysen ist zu ent- nehmen, dass hoch ausgeprägte autoritäre Einstellungsmuster zur Vorhersage offener Formen der Fremdenfeindlichkeit dienlich sind (β =.27).

Funke (2002a) betont den unterschiedlichen Aufklärungswert der einzelnen Subdimensionen des RWA auf Ausländerfeindlichkeit. Die nach seiner Erhebung errechneten standardisierten Betagewichte verdeutlichen einen mittleren Effekt von autoritärer Aggressivität und Submis- sivität (β =.36 bzw. β =.29). Der Einfluss von Konventionalismus wird dagegen nicht signifi- kant.

Nach einer Interviewstudie an 2000 österreichischen Probanden resümiert Rathner (2001a):

Die Analyse der Ursachen von Fremdenfeindlichkeit ergab, dass Autoritarismus eindeutig als wichtigste Ursache von Fremdenfeindlichkeit zu nennen ist. Es folgen Antisemitismus, höheres Alter der Befragten, große persönliche Verunsicherung sowie die politische Selbsteinstufung „eher rechts bis rechts“.

II.3.1.3. Die Frustrations-Aggression-Hypothese

In ihrer allgemeinen Form besagt die Frustrations-Aggressions-Hypothese (FAH), dass Ag- gressionen grundsätzlich als Folgen von Frustrationen auftreten. Nach Dollard et al. (1939) ruft das alltägliche soziale Leben Frustration hervor, die leicht in Aggressionen übergehen können. Falls dem Subjekt die eigentlichen Verursacher der Frustrationen ungeeignet für ag- gressive Verhaltensweisen erscheinen oder unbekannt sind, kann die Aggression auf ein ande- res Ziel (z.B. Mitgliedern von Minderheiten oder Außengruppen) mittels Verschiebung über- tragen werden. Eine Rechtfertigung der Feindseligkeiten erfolgt über Beschuldigungen und Stereotypisierungen (vgl. Zick, 1997, S. 82f.).

Die Attraktivität der FAH liegt in ihrer Einfachheit, doch genau dies ist die Ursache dafür, dass sie als theoretische Basis für empirische Analysen komplexer Vorurteilsmuster nur sehr eingeschränkt geeignet ist. Die Grundannahme der Theorie, Frustration führt zwangsläufig zu Aggression, ist schon auf phänomenologischer Ebene falsifizierbar. Kritisch wurde weiterhin angemerkt, dass gesellschaftliche Rahmenbedingungen innerhalb der FAH keine Berücksich- tigung finden.

Aufgrund dieser Kritik erweiterte Berkowitz (1962) die FAH zur Frustrations-Aggressions- Theorie intergruppaler Prozesse, in der Literatur auch als Sündenbock-Theorie bekannt.

Berkowitz spezifizierte die Eigenschaften der zur Aggressionsverschiebung geeigneten Ziel- gruppen und definierte diejenigen Affekte, die der Übertragung von aversiven Ereignissen auf die „Sündenböcke“ als Mediatoren dienlich sind.[23] Wesentlicher Bestandteil der Theorie ist die Annahme, dass bei der Analyse von intergruppalen Prozessen die intrapersonale Ebene einbezogen wird, damit Persönlichkeitsunterschiede die Projektion auf andere determinieren.

Vor dem Hintergrund dieser Arbeit ist Berkowitz’ Erklärung der theoretischen Annahmen am Beispiel des amerikanischen Antisemitismus von Interesse:

Der Antisemitismus [ist] in der Arbeiterschaft verbreitet, weil Arbeiter, die frustriert über ihre soziale Lage sind, ihre Frustration auf Sündenböcke verschieben, welche ähnliche Eigenschaften wie die Frustrations- quelle aufweisen. Sind die Arbeitgeber die Quelle der Frustration, ist es für die Arbeiter kaum möglich, ge- gen diese ihre Aggressionen zu richten […]. Dann werden die Aggressionen verschoben, und zwar wahr- scheinlich auf Juden, weil mit diesen Merkmale verbunden werden, die sie den Arbeitgebern ähnlich macht. (Berkowitz, 1962, zit. nach Zick, 1997, S. 85)

Die Erklärung von Vorurteilen auf einer personspezifischen, dispositionellen Ebene und die Berücksichtigung situationaler Einflüsse zwischen den Vorurteilsträgern, frustrierender Er- lebnisse und den Sündenböcken machen diesen Ansatz durchaus interessant. Er kann aber nicht erklären, wie individuelle Aggression in kollektive Aggression transformiert wird. Er zeigt weiterhin nicht befriedigend auf, weshalb ganz bestimmte und möglicherweise in der Öffentlichkeit gar nicht präsente Minderheiten Opfer von Vorurteilen sind.

II.3.1.4. Die Theorie der Relativen Deprivation

In der psychologischen Forschung existieren eine Reihe von Ansätzen zur Erklärung von Vorurteilen, die die (subjektiven) Wahrnehmungen der sozialen Benachteiligung bzw. eines empfundenen Mangels gegenüber einer Minderheit als Vergleichsgruppe thematisieren. Die Formen der Deprivation werden in den Theorien jedoch unterschiedlich akzentuiert, auch gibt es Divergenzen hinsichtlich der Bedeutung intragruppaler vs. individueller Erklärungsebenen.

Im Zentrum der Theorie der Relativen Deprivation (RD) von Runciman (1966) steht ebenfalls die Annahme, dass ein subjektiv wahrgenommenes Missverhältnis zwischen erwarteten und tatsächlich erreichten Zielen zu Unzufriedenheit und Frustration führt und es daraus folgend zu Feindseligkeiten gegenüber einer Minderheit kommen kann.

Runciman unterscheidet zwei Arten relativer Deprivationen. Die relative „egoistische“ Depri- vation vergleicht auf individueller Ebene, währenddessen die „fraternalistische“ relative De- privation auf sozialen Vergleichsprozessen in Intergruppenbeziehungen beruht.[24] Die indivi- duelle Deprivation beschreibt also das subjektive Mangelerleben einer Person im Vergleich mit Mitgliedern der Eigengruppe, in dessen Folge es zu individuellen Kompensationsstrate- gien kommt (Wechsel des Arbeitsplatzes etc.). Für die Ausbildung von Vorurteilen bedeut- samer ist die zweite Deprivationsform, die fraternalistische, da sie auf gruppaler Ebene ver- gleicht und die anschließend wahrgenommenen Missverhältnisse im Sinne der RD zu einer Fremdgruppenabwertung führen können (vgl. Ganter, 1997; S. 7ff.).

Die Nähe der RD zur Frustrations-Aggressions-Hypothese bzw. zur Sündenbocktheorie ist offensichtlich, da ihre Grundannahmen nahezu identisch sind: Stereotype und Vorurteile er- scheinen primär als Resultate der Bemühungen um eine Legitimierung der durch Frustration oder Deprivation erzeugten feindseligen Haltungen gegenüber Fremdgruppen. Dennoch gibt es einen zentralen Unterschied: Die FAH wie auch die Sündenbocktheorie beinhalten mit der Annahme der Aggressionsverschiebung und der Projektion auf Fremde psychodynamische Konzepte, während die Theorie der Relativen Deprivation eher auf soziologischen Überle- gungen gründet.

Empirisch wurde der Zusammenhang zwischen relativer Deprivation und der Ausprägung von Vorurteilen gegenüber sozialen Gruppen durch verschiedene Untersuchungen bestätigt. Ent- sprechend dem Ansatz korreliert die fraternalistische stärker als die individuelle Deprivation mit der Abwertung von Minderheiten. Adäquate Ergebnisse finden sich auch in der aktuellen Rechtsextremismusforschung:

In diesem Zusammenhang [gemeint sind die Beziehungen zwischen fraternaler Deprivation und Vorurtei- len, S.P.] sind auch aktuelle Studien relevant, die zeigen, dass rechtsextrem orientierte Jugendliche ein ho- hes Ausmaß an fraternaler Deprivation aufweisen […]. In dem prominentesten Ansatz der Rechtsextremis- musforschung von Heitmeyer (1987) gehört die ‘Ideologie der Benachteiligung’, die als RD definiert wer- den kann, zum Kern rechtsextremer Orientierungen. (Zick, 1997, S. 102)

Studien von Bergmann und Erb (1991a, S. 226) stehen im Einklang mit oben Genanntem: Antisemiten und Fremdenfeinde äußern häufiger ein „ein diffuses Gefühl von Unzufrieden- heit und Benachteiligung“, dass aber nicht der objektiven sozialen Lage entsprechen muss. Daher ist eine einfache Kausalbeziehung zwischen Arbeitslosigkeit, daraus folgendem subjek- tiven Mangelerleben und der sich anschließenden Ausprägung antisemitischer bzw. fremden- feindlicher Einstellungen nicht haltbar. Nach Ansicht der Autoren erscheinen zusätzliche Fak- toren, wie Lebenseinstellung oder „Lebenslust“, als relevant. Inwieweit diese als Disposition verstanden werden können bzw. wie sich deren Einfluss auf Antisemitismus und Ausländer- feindlichkeit nun genau gestaltet, wird nicht verdeutlicht.

Kritisch wurde zur Theorie der Relativen Deprivation außerdem angemerkt, dass sie gewalttä- tige Handlungen nicht erklären kann. Vorurteile können zwar durch Deprivationserlebnisse entstehen, der Schritt bis zur Gewaltintention bleibt aber unklar. Des Weiteren bleibt die Fra- ge unbeantwortet, ob Deprivation konzeptuell als Einstellung oder als Emotion zu verstehen ist. Wie auch bei den vorher beschriebenen Ansätzen liefert die TRD keine Aussagen zu in- tergruppalen Differenzierungsprozessen.

Weil nach modernem Forschungsstand subjektive Deprivationserlebnisse die Ausprägung von rechtsextremen Orientierungen beeinflussen, kann die Theorie der Relativen Deprivation den- noch innerhalb eines komplexeren Modells zur Erklärung von Vorurteilen dennoch durchaus dienlich sein.

II.3.2. Moderne europäische Denktradition

Die chronische Vernachlässigung sozialstruktureller und situationaler Bedingungsfaktoren bei der Entstehung von Vorurteilen durch die oben beschriebenen Ansätze veranlasste die nach- folgende Forschung, verstärkt intergruppale Differenzierungs- und Vergleichsprozesse in ih- ren Theorien zu betrachten.

Analog zu der beschriebenen Diskursklassifikation von Zick (1997) skizziert dieses Kapitel die beiden wichtigsten Ansätze der modernen Vorurteilsforschung europäischer Tradition, die Social Identity Theory von Tajfel und Turner (1979) und die darauf aufbauende Self- Categorization Theory (Turner et al., 1987). Die sozialpsychologische Literatur fasst beide Ansätze auch unter dem Terminus „Social Identity Approach“ zusammen.

Der Social Identity Approach

Anknüpfend an die „Summer Camp Studies“ und die im Anschluss von Sherif et al. (1961) entwickelte Realistic Group Conflict Theory (RCT) formulierten Tajfel und Turner (1979) die

Social Identity Theory (SIT), da die RCT einige Unzulänglichkeiten aufwies. Sherifs Kern- these, dass Diskriminierungen von Fremdgruppen oder Minderheiten auf realen intergruppa- len Interessenkonflikten basieren, konnte in ihrer Allgemeingültigkeit nicht aufrechterhalten werden. Den von Tajfel und Turner durchgeführten Experimenten zu den Minimalbedingun- gen der Intergruppendiskriminierung zufolge, ist weder der reale Wettbewerb zwischen den Gruppen noch eine unmittelbare intragruppale Interaktion für die Ausbildung von Fremd- gruppendiskriminierung notwendig. Allein die soziale Kategorisierung des Individuums rei- che aus, um die Eigengruppe auf- bzw. die Fremdgruppe abzuwerten. Die SIT stellt einen Ansatz dar, diesen Prozess der sozialen Kategorisierung zu erklären (vgl. Ganter, 1997, S. 46ff.).

Tajfel und Turner zufolge werden soziale Kategorisierungen verstanden als

cognitive tools that segment, classify, and order the social envionments, and thus enable the individuals to untertake many forms of social actions. (Tajfel & Turner, 1986; zit. nach Ganter, 1997, S. 48)

Neben der kognitiven Gliederung der sozialen Umwelt ermöglichen diese Kategorisierungs- prozesse die soziale Einordnung der Person selbst in entsprechende Kategorien. Damit schafft sie sich eine soziale Identität, die sich auf dem subjektiven Wissen um die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe gründet. Die soziale Gruppenidentifikation basiert dabei auf sozia- len Vergleichen, bei denen Eigengruppe und Fremdgruppen hinsichtlich ihrer Ähnlichkeit relational beurteilt werden. In einem Satz zusammengefasst, besagen die theoretischen Kern- elemente der SIT - also soziale Kategorisierung, soziale Identität und soziale Vergleiche - dass sich eine Person letztlich über ihre Gruppenzugehörigkeit definiert.

Auf diesen theoretischen Grundlagen aufbauend, formulierten Tajfel undTurner (1986) drei zentrale Grundannahmen:

1 Alle Individuen sind bestrebt, eine positive soziale Identität zu erreichen und diese zu er- halten.
2 Positive soziale Identität beruht wesentlich auf vorteilhaften Vergleichen zwischen der Eigen- und einigen relevanten Fremdgruppen. Die Eigengruppe muss als positiv unter- scheidbar oder distinkt wahrgenommen werden.
3 Falls die Individuen ihre soziale Identität als unbefriedigend wahrnehmen, versuchen sie entweder die Gruppe zu verlassen, in eine andere positive distinkte Gruppe überzuwech- seln oder die Bewertungen ihrer Gruppe zu ändern (vgl. Ganter, 1997, S. 49).[25]

Diese Überlegungen implizieren den Autoren zufolge eine Basishypothese:

The basis hypothesis, then, is that pressures to evaluate one’s own group positively through in-group/out- group comparisons lead social groups to attempt to differentiate from each other. (Taifel & Turner, 1986; zit. nach Zick, 1997, S. 128)

Bei Betrachtung des theoretischen Fundaments wird deutlich, dass die SIT keine reine Vorur- teilstheorie darstellt, sondern für sich zunächst beansprucht, die Entstehung und Differenzie- rung von Gruppen im Allgemeinen zu erklären. Im Sinne der SIT können Vorurteile nur im Kontext der sozialen Beziehungen zwischen Gruppen verstanden werden. Demnach entstehen Vorurteile oder auch manifeste Diskriminierungen immer dann, wenn der Status der Eigen- gruppe und daraus folgend die eigene soziale Identität als ungewiss oder gefährdet angesehen wird. Damit wird im Umkehrschluss die funktionale Bedeutung von Vorurteilen deutlich: Sie dienen zur Stabilisierung und Aufrechterhaltung der positiven sozialen Identität, indem sie Erklärungen für gesellschaftliche Missverhältnisse bieten (soziale Kausalität), die intergrup- palen Differenzen erklären und akzentuieren (soziale Differenzierung) sowie diskriminierende Behandlungen und negative Beurteilung anderer Gruppen rechtfertigen (soziale Rechtferti- gung).

Da die SIT die soziale Kategorisierung als ein entscheidendes Moment bei der Ausbildung von Gruppenzugehörigkeit annimmt, aber die zugrunde liegenden Prozesse nicht erklärt, for- mulierten Turner et al. (1987) mit der Self Categorization Theory (SCT) Hypothesen über den Prozess der Kategorisierung in eine soziale Gruppe. Die SCT entspricht also einer Erweite- rung der Theorie der sozialen Identität.

[...]


[1] Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass im Neuen Testament nur an zwei Stellen Jesu als Messias direkt erwähnt wird (Die Bibel, Joh 1,41; Joh 4,25). Die jüdische Einstellung der neuesten Zeit zu Jesus Christus be- schreibt Ortag (1995, S. 78) wie folgt: „das moderne Judentum [nimmt] zu einem nennenswerten Teil eine eher positive Haltung gegenüber dem Nazarener ein. So wird er im liberalen Judentum als ‘Bruder Jesu’ (Ben Chorin) anerkannt.“

[2] In den Evangelien, aber auch in den Paulusbriefen des Neuen Testamentes lassen sich verschiedene antijüdi- sche Aussagen finden, die ihre beabsichtigte Wirkung wohl nicht verfehlt haben (Die Bibel, Mt 27,25; Mk 15, 6- 15; Joh 8, 37-47 und 1 Thess 2, 15). Aber, insbesondere die Paulusbriefe sind widersprüchlich (bspw. Die Bibel, Röm 11,1-32).

[3] Der jüdische Geldverleiher des Hochmittelalters ist hinsichtlich seiner ökonomischen und sozialen Stellung nicht vergleichbar mit dem (jüdischen) Kreditgeber späterer Epochen.

[4] Die Boshaftigkeit dieser Beschuldigung wird schon dadurch deutlich, dass Juden jeglicher Genuss von Blut durch ihre Religion untersagt ist.

[5] Bemerkenswert ist, dass es selbst im 19. und im frühen 20. Jahrhundert noch zu Vorwürfen dieser Art kam.

[6] Der Stereotyp des geldgierigen, raffsüchtigen und auf unlautere Weise zu wirtschaftlichen Erfolg gekommenen Juden hat sich, wie später noch gezeigt wird, bis in das 20. Jahrhundert hinein gehalten.

[7] Heid (2000, S. 24) nimmt u. a. Bezug zu den antisemitischen Äußerungen Fichtes und schreibt dazu wie folgt: „Fichte lehnte die Emanzipation der Juden mit dem Hinweis auf die angeblich unausrottbare Verderbtheit des jüdischen Charakters ab und schrieb ihnen […] kollektive und unveränderbare negative Eigenschaften zu.“

[8] Als bekannteste Hetzschrift dieser Zeit können wohl „ Die Protokolle der Weisen von Zion“ angesehen werden, eine auf Fälschungen basierte Veröffentlichung der zaristischen Ochrana, dessen Essenz in der Erkenntnis liegt, dass das „Weltjudentum“ hinter der Weltwirtschaftskrise stehe. Inhaltlich behandelten die Handzettel und Bro- schüren der NSDAP und des DTSB primär die vermeintlichen physiologischen und habituellen Besonderheiten der Juden.

[9] Obwohl der Antisemitismus in den zwanziger Jahren stark verbreitet war, wird dennoch die Ansicht vertreten, dass die Politik der Weimarer Republik, insbesondere in ihrer späten Phase, der Emanzipation und Integration der jüdischen Bevölkerung dienlich war.

[10] Als DP’s („displaced persons“) bezeichnete man Flüchtlinge, die während des 3. Reiches in Arbeits- und Ver- nichtungslager verschleppt wurden und nach dem Krieg wieder in ihre Heimat bzw. nach Deutschland zurück- kamen.

[11] In diesem Zusammenhang ist interessant, dass selbst führende Politiker des Nachkriegsdeutschlands eine Ent- schädigungszahlung zwar akzeptierten und unterstützten, die Schuldfrage der Deutschen aber sehr vorsichtig behandelten (siehe bspw. die Rede Konrad Adenauers im Bundestag vom 27.09.1951, url: http://www.jerusalem-schalom.de/konrad.htm, [16.09.2003].

[12] Steinschneider (1860) bezieht sich auf einen Artikel von Ernest Renan, einem nach 1945 umstrittenen Religi- onswissenschaftler und Orientalisten und kritisiert dessen „antisemitischen Vorurtheile.“ Renans Antisemitismus ist aber nicht explizit judenfeindlich im Sinne von Marr, sondern drückt sich in einer generellen Feindseligkeit gegenüber den Semiten aus (vgl. url: http://www.phdn.org/antisem/antisemitismelemot.html, [18.09.2003].

[13] Silbermann (1982, S.72) zufolge basiert der Antisemitismus hauptsächlich auf „tradierten antisemitischen Einstellungsinhalten.“ Diese Einstellungsinhalte einsprechen im Silbermannschen Sinne Vorurteilen.

[14] Zu beachten ist, dass Zick hier eine ansatzunspezifische, allgemeine Definition von Vorurteilen vorstellt, er spricht von einer Arbeitsdefinition (vgl. Zick, 1997, S.49).

[15] Zur Diskussion um die inhaltliche Begrifflichkeit des Rechtsextremismus siehe auch Neumann und Frindte (2001).

[16] Die Bezeichnung als klassisch rührt daher, dass diese Theorien die Forschung bis in die siebziger Jahre domi- nierten und im Anschluss daran erweitert bzw. reformuliert wurden oder zur Entwicklung neuerer Theorien anregten.

[17] Auf eine Darstellung des Dogmatismus und des Realistic-Group-Conflict (RCT) wird verzichtet, da meines Erachtens der Dogmatismusansatz erhebliche konzeptionell-theoretische Unzulänglichkeiten aufweist und der RCT als Vorläufer der modernen europäischen Vorurteilsforschung gilt, die im nächsten Kapitel gesondert be- handelt wird. Die Beschreibung der oben aufgeführten Theorien erfolgt in chronologischer Abfolge, mit dem Ziel die Entwicklungslinie der Forschung aufzuzeigen.

[18] Ursprünglich wurden vier Skalen entwickelt um Ethnozentrismus, politisch-ökonomischen Konservativismus, Antisemitismus (indirekt) und antidemokratisch-autoritäre Persönlichkeitsstrukturen zu messen. Die E-Skale, die AS-Skale und die PEC-Skale hatten aber keinen nennenswerten Einfluss auf die spätere Forschung.

[19] Eine ausführliche Darstellung der Kritik an der TAP findet sich bei Zick (1997, S. 69f.).

[20] Unter Right-wing Authoritarianism versteht Altemeyer den Autoritarismus des Establishments. Diese definito- rische Eingrenzung gründet sich in der politisch motivierten Kontroverse einiger Gelehrter und Politiker der McCarthy-Ära um das Vorhandensein und deren strukturelle (Un)ähnlichkeiten linker vs. rechter Autoritärer. Altemeyer hat sich nach empirischen Prüfungen deutlich gegen die Existenz eines linken (kommunistischen) Autoritarismus ausgesprochen Die Bezeichnung R WA trägt also eher der politischen Historie als einem dahinter stehenden politisch-theoretischen Pendant - im Sinne eines L WA - Rechnung (Altemeyer, 1988; Hopf, 1997; Stone & Smith, 1993).

[21] Beziehungsweise die von autoritären Personen subjektiv als solche wahrgenommen werden.

[22] Als geeignetes Erhebungsinstrument für den deutschen Sprachraum wird das Neo-Fünf-Faktoren Inventar (NEO-FFI) von Borkenau & Ostendorf (1993) angesehen.

[23] Geeignete Zielgruppen, -personen, Minderheiten und Außenstehende werden von Berkowitz als Sündenböcke bezeichnet (Zick, 1997).

[24] Im Sinne von brüderlich, intergruppal.

[25] Zu diesen Grundannahmen wurden von Tajfel und Turner weitere Zusatzbedingungen formuliert: Damit über- haupt ein Vergleich zwischen Eigen- und Fremdgruppe zustande kommt, muss das Wissen um die eigene Grup- penzugehörigkeit zunächst erst einmal vorausgesetzt werden. Des Weiteren werden Intergruppen- Differenzierungen insbesondere bei Bedrohung der sozialen Identität und bei realen Gruppenkonflikten im Sinne der RCT verstärkt vorgenommen, wobei die Reaktionen auf eine Bedrohung der sozialen Identität von der Legi- timität und den Statusrelationen der Gruppen abhängt. Ebenso ist die Abgeschlossenheit oder Durchlässigkeit der Gruppen(grenzen) relevant für die Handlungsstrategien der Gruppenmitglieder.

Excerpt out of 163 pages

Details

Title
Antisemitische Einstellungen in Deutschland. Eine Explorationsstudie.
College
http://www.uni-jena.de/
Grade
Sehr gut
Author
Year
2004
Pages
163
Catalog Number
V110633
ISBN (eBook)
9783640087969
File size
1315 KB
Language
German
Notes
Die Diplomarbeit wurde am 30.01.2004 zur Erlangung des Diploms am Institut für Psychologie der FSU Jena eingereicht. Die Arbeit wurde von beiden Gutachtern mit der Note 1 bewertet. Die darin enthaltene Studie war Grundlage für verschiedene, auch internationale Vorträge und Veröffentlichungen. Ich stelle die Arbeit kostenlos zur Verfügung. Alle Rechte bleiben beim Autor.
Keywords
Antisemitische, Einstellungen, Deutschland, Eine, Explorationsstudie
Quote paper
Diplom - Psychologe Sebastian Petzold (Author), 2004, Antisemitische Einstellungen in Deutschland. Eine Explorationsstudie., Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110633

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