Re-Traumatisierung vermeiden durch Achtsamkeit und Psychoedukation

Konzepterweiterung in einer psychiatrischen Frauen-Tagesstätte


Term Paper, 2007

59 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Gliederung

1. Einleitung

2 Tagesstätte EigenSinn
2.1 Frauenspezifisches Konzept
2.2 Die Besucherinnen: Struktur, Krankheitsbilder und Traumata
2.3 Die symptomatischen Verhaltensweisen der Besucherinnen

3 Frühe und schwere Traumatisierung
3.1 Störungsbilder
3.2 Interventionsformen

4. Traumasensible Interventionsformen für ein offenes, niedrigschwelliges Gruppensetting
4.1 Regeln und Grundhaltungen für unser Team
4.2 Gemeinschafts-Regeln und soziales Miteinander
4.3 Psychoedukation
4.3.1 Unterschiedliche Ansätze psychoedukativer Gruppen
4.3.2 Umsetzung von Psychoedukation im EigenSinn
4.3 Achtsamkeits-Praxis zum Wohlbefinden und zu seelischer Gesundheit
4.3.1 Theoretischer Hintergrund von Achtsamkeit
4.3.2 Achtsamkeitsübungen und Achtsamkeitstraining in der Tagesstätte

5. Fazit

Literatur

Anhang

1. Einleitung

In der Sozialen Arbeit im komplementären psychiatrischen Bereich ist das Wissen über die Zusammenhänge von Traumatisierung unerlässlich. Psychotraumatologie ist ein Quer- schnittsfach. Viele KlientInnen in der ambulanten psychiatrischen Versorgung haben eine Vielzahl von Diagnosen, doch die oftmals dahinter liegende traumatische Erfahrung wird nicht immer erkannt. Dies birgt die Gefahr von unangemessener Behandlung (Seidler et al. 2003, 7).

Diese Studienarbeit beschäftigt sich mit dem Beziehungsgefüge in einer psychiatrischen Frauen Tagesstätte und wie wir dieses mit Psychoedukationselementen und Achtsamkeit positiv beeinflussen können. Da unser Arbeitskontext in einer psychiatrischen Frauentages- stätte überwiegend in niederschwelliger tagesstrukturierender Gruppenarbeit mit Krisenin- tervention besteht und wir keine langfristigen Beratungen/Betreuungen machen, möchten wir unsere sozialpädagogische Arbeit mit den Besucherinnen der Tagesstätte auf seine traumasensiblen Konzeptbausteine hin überprüfen.

Wir wollen die Studienarbeit nutzen, um das frauenspezifische Konzept der Tagesstätte Ei- genSinn mit psychotraumatologisch relevanten Thematiken theoretisch zu bereichern, denn dazu gibt es bisher nichts schriftlich Ausgearbeitetes in der Einrichtung. Aus unseren Ge- sprächen mit den Besucherinnen wissen wir, dass viele von ihnen frühe und schwere Trau- matisierungen erlebt haben (die sich häufig auch in den Diagnosen niederschlagen) und wir müssen in der alltagspraktischen Arbeit in einem niederschwelligen Gruppenkontext damit umgehen. D.h. wir möchten einzelne, aus unserer Erfahrung oder aus der Theorie als wich- tig für diesen Kontext erachteten Interventionen – wie Strukturkomponenten der Arbeit/des Settings, Psychoedukation, Achtsamkeit – auf seine Nützlichkeit für ein traumasensibles Konzept hin reflektieren, überprüfen und ggf. erweitern.

2 Tagesstätte EigenSinn

Die Tagesstätte EigenSinn ist eine Münchner Einrichtung der gemeindenahen psychiatri- schen Versorgung für psychiatrieerfahrene Frauen, die einer Tagesstruktur bedürfen. Die Tagesstätte für Frauen ist ein Teilbereich des bereits seit 1978 bestehenden FrauenThera- pieZentrums (FTZ) München e.V.[1], der vor 11 Jahren entstanden ist, wobei das Konzept sich insbesondere durch den frauenspezifischen Ansatz auszeichnet. Tagesstätten für psy- chisch kranke und behinderte Menschen sind im 2. Bayerischen Psychiatrieplan (1990) als ambulante Betreuungsstellen zur sozialen Rehabilitation beschrieben. Vor allem für chro- nisch psychisch kranke Menschen braucht es ein niederschwelliges arbeits- und beschäfti- gungstherapeutisches Angebot (tagesstrukturierende Maßnahmen), dass zur Stabilisierung und Besserung des Gesundheitszustandes beiträgt, zu dem die Betroffenen ohne Hilfe von außen nicht in der Lage sind (Jungwirth 2000, 1). Die Ziele werden folgendermaßen be- schrieben:

Beschäftigungsangebote zur sinnvollen Tagesgestaltung; Stabilisierung der vorhandenen Fähigkeiten und Ausbau im Sinne einer wirkungsvollen Hilfe zur Selbsthilfe; Entwicklung und Erprobung von tragfähigen Sozialkontakten sowie Eingliederung in das soziale Umfeld. Wesentliche Strukturmerk- male der Tagesstättenarbeit sind Freiwilligkeit und ein partizipativer Ansatz. (Jungwirth 2000, 1f)

Entscheidend dafür und in deutlicher Abweichung von quasi allen anderen Maßnahmen, verzichtet der Bezirk Oberbayern als überörtlicher Sozialhilfeträger auf die Prüfung von Einkommen und Vermögen der HilfeempfängerInnen und deren unterhaltspflichtige Ange- hörige, um den Erfolg der Hilfe sicherzustellen und vor allem die Niederschwelligkeit zu gewährleisten (Jungwirth 2000, 3).

Laut dem darauf aufbauenden Konzept richtet sich das Angebot der Tagesstätte EigenSinn an v.a. chronisch psychisch kranke Frauen, die in ihrer Teilhabe am Leben in der Gesell- schaft beeinträchtigt sind. Dies sind insbesondere psychiatrie-erfahrene und psychisch ge- fährdete Frauen u.a. mit folgenden Diagnosen und psychischen Beeinträchtigungen: Psycho- sen aus dem schizophrenen Formenkreis, schwere Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, Angststörungen, Dissoziative Störungen, Doppeldiagnosen z.B. mit zusätzlicher Suchter- krankung sowie Frauen, deren innere Lebensgrundlagen verunsichert, verwirrt oder bedroht ist und auch Frauen mit Erfahrungen von sexualisierter Gewalt. Frauen mit jedem Erwerbs- und Familienstatus, kulturellem Hintergrund, sexueller und religiöser Orientierung oder auch Migrantinnen mit geringen Deutschkenntnissen können die Tagesstätte besuchen (FTZ 2005, 20).

2.1 Frauenspezifisches Konzept

Das Konzept der Tagesstätte EigenSinn verbindet Niederschwelligkeit und Struktur, Anfor- derungen und Freiräume. Es besteht eine frauenspezifische, emanzipatorische Grundhaltung in allen Bereichen und Handlungsdimensionen (FTZ 2005, 4).

Frauen erfahren als Heranwachsende und Erwachsene andere Verletzungen ihrer inneren Lebensgrundlagen als Männer. Bedeutungsvoll ist z.B., dass ein sehr großer Teil der Frau- en, die psychiatrisch erkranken, sexuell, körperlich und verbal misshandelt wurde. Gewalt ist ein Strukturmerkmal weiblicher Sozialisation und gehört zur Alltagserfahrung von Frau- en. Sie ist ein gesellschaftliches Problem und ein Angriff auf körperliche und seelische Integ- rität, unter Ausdruck von Machtverhältnissen und polarisierten Geschlechterrollen (Freytag 1992, 12ff). Viele Frauen haben einschneidende, oft sehr frühe und vielfältige Verluste und Vernachlässigung sowie emotionale Vernachlässigung, Misshandlung und Verwirrung be- wältigen müssen. Viele leben oder lebten in einseitigen Abhängigkeits- und Gewaltbezie- hungen. Manchen wurde das Sorgerecht für die Kinder entzogen oder diese leben nicht bei ihnen, was für Mütter fast immer mit starken Schuld- und Versagensgefühlen verbunden ist. Diese gesellschaftlichen Verhältnisse und Rollenbilder zu thematisieren bzw. sie im Blick zu haben, ist Teil des Konzepts der Tagesstätte.

Von besonderer Bedeutung ist der Frauenraum als Schutz vor Gewalt und Übergriffen durch Männer. Bezüglich der Bedrohung oder Gewalttätigkeit anderer Frauen[2] besteht ein Regelsystem für die Besucherinnen, das verbindlich zur Hausordnung gehört. Das Eigen- Sinn ist ein offenes Angebot zur Tagesstrukturierung, es bietet den Frauen einen geschütz- ten Ort, an dem sie sich tagsüber aufhalten, auf den sie sich beziehen und an dem sie sich über Themen, Tätigkeiten und Kontakte weiterentwickeln können[3]. Die Teilnahme an allen Angebote ist freiwillig. Wir beziehen alle Besucherinnen, die das wünschen, in unsere Ange- bote aktiv mit ein[4].

In diesem Raum, in dem Frauen Bereiche ihres Lebens selbst gestalten, können sie Gemeinsamkeiten in ihren Lebensrealitäten leichter entdecken, ihre eigene Situation besser verstehen und positive Ver- änderung erleben. Der Frauenraum ermöglicht so auch die Auseinandersetzung mit Identität und „Weiblichkeit“ und fördert Unterstützungsbeziehungen und Bindungen unter Frauen. (FTZ 2005, 5)

Die Arbeitsweise der Tagesstätte ist ausgerichtet auf die besonderen Bedürfnisse und Erfor- dernisse von psychiatrieerfahrenen und psychisch kranken Frauen. Frauen werden darin un- terstützt, sich verstärkt als Subjekt zu erleben: Wahrnehmung und Verwirklichung der eige- nen Bedürfnisse, Wünsche und Ziele im Zusammenwirken mit anderen und dabei die eige- nen Grenzen wie auch die anderer kennen zu lernen und sensibel damit umzugehen.

In diesem Kontext richtet Ressourcenorientierung den Blick in erster Linie auf positive Po- tenziale und in zweiter Linie auf die durch die Erkrankung entstandenen Defizite. Psychiatri- sche Symptome werden als Überlebens- und Bewältigungsstrategie gesehen, in ihrem für die Entwicklung in traumatischem Geschehen notwendigen Sinn. Dieser positive Sinn wird ge- nauso beachtet wie die Be]hinderung und Gefährdung die z.B. psychotisches Erleben oder Selbstverletzung darstellen. Im gemeinsamen Handeln und Austausch sollen neue Bewälti- gungs- und Lebensstrategien entwickelt werden (FTZ 2005, 6).

Sowohl durch die verschiedenen Misshandlungserfahrungen als auch durch die Erziehung von Frauen zu ‚Beziehungsarbeiterinnen‘ wird die Möglichkeit von betroffenen Frauen, sich als Subjekt zu erleben, erschwert. Subjektsein heißt, eigene Bedürfnisse, Wünsche und Ziele im Zusammenwirken mit anderen wahrzunehmen und zu verwirklichen, anstatt sich einseitig für die Bedürfnisse anderer Menschen zu funktionalisieren oder sich mit Gegebenheiten, Weisungen und Definitionen anderer abzufinden. Die Angebote im EigenSinn unterstützen Frauen in doppelter Weise darin, sich als Subjekt zu erleben: zum einen durch eine starke Betonung von Selbstwahrnehmung und Selbstbestimmung, durch offene Angebote zum Tä- tigsein, sensiblen Umgang mit Grenzen bezüglich Kontakt- und Leistungsfähigkeit und zum zweiten auch durch konkretes Handeln und Übernahme von Verantwortung.

Und schließlich stellen die Strukturen und Regeln eine grundlegende Voraussetzung von Orientierung und Klarheit dar. Dies ist Vorbedingung dafür, ein selbstbestimmtes Verhältnis zu Zielen und Aufgaben im Rahmen der eigenen Fähigkeiten und Störungen zu gewinnen.

2.2 Die Besucherinnen: Struktur, Krankheitsbilder und Traumata

Die Niederschwelligkeit der Einrichtung zeigt sich u.a. darin, dass die Besucherinnen selbst entscheiden können, wie oft sie kommen und zu welchen Angeboten. Daher verbirgt sich hinter der vom Bezirk Oberbayern finanzierten Platzzahl von 20 eine wesentlich größere Anzahl von Frauen[5]. Im Jahr 2006 waren von Januar bis August durchschnittlich während eines Öffnungstages 17,5 Besucherinnen anwesend[6], die sich im Monatsmittel auf 48 Perso- nen mit insgesamt 381 Monatskontakten aufteilen (ca. 22 Öffnungstage pro Monat).

KontaktfrequenzderBesucherinneninderTagesstätteim Jahr 2005 25

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Mal im Monat, d.h. quasi jeden 2. Öffnungstag, teilweise auch täglich); eine weitere Gruppe besucht die Tagesstätte mit einer selteneren Häufigkeit (5-9 Mal im Monat, d.h. ca. 1-2 Mal die Woche) und über das Jahr gesehen entweder mit großer Regelmäßigkeit (fast jeden Mo- nat) oder mit einer selektiven mittleren Frequenz (ca. die Hälfte des Jahres); die dritte Gruppe zeichnet sich durch seltene Besuche in der Tagesstätte aus (1-4 Mal im Monat), die jedoch durchaus konstant wiederkehrend (fast jeden Monat) oder sequenziell stattfinden (ca. die Hälfte des Jahres).

Das Durchschnittsalter der Tagesstätten-Besucherinnen liegt bei 41 Jahren (mit einer Band- breite von 19-69 Jahre). Ca 10% der Tagesstättenbesucherinnen sind nicht-deutscher Her- kunft. 37% der Tagesstätten-Besucherinnen arbeiten (von Vollzeit-Erwerbstätigkeit bis

‚1-€-Job‘), sind in einer Ausbildungsmaßnahme (Schule, Studium oder BFZ-Kurs) oder er- ziehen ihre Kinder.

Die diagnostizierten bzw. uns mitgeteilten Erkrankungen der Besucherinnen sind mit ca. 30% Persönlichkeitsstörungen (fast ausschließlich Borderline-Persönlichkeitsstörungen), 40% Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis, 15% PTBS und (manchmal) Dis- soziative Störungen, 40% Depressionen oder Angststörungen und 15% haben eine zusätzli- che Suchterkrankung, wobei insgesamt 33% der Besucherinnen an mehr als einer Erkran- kung leiden. Depressionen und Angststörungen haben eine hohe Komorbidität mit den an- deren Diagnosen, so dass sich die Zahlen verändern, wenn nur die (vermutete) Hauptdiag- nose genommen wird (vgl. Abbildung*).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Bekanntermaßen haben die Symptome der PTBS eine große Überschneidung mit anderen psychischen Störungen, insbesondere „mit der Gruppe der dissoziativen Störungen ... und vor allem der so genannten Borderline-Persönlichkeitsstörung“ (Butollo et al. 1998, 82), d.h., es finden sich bei vielen dieser Menschen traumatische Erfahrungen in der Vergangen- heit (Butollo et al. 1998, 82f). So wird davon ausgegangen, dass bei dem Störungsbild der Borderline-Persönlichkeitsstörung bei ca. 70% eine Gewalterfahrung in der Kindheit vor- liegt, häufig traumatisierende sexuelle Missbrauchserfahrungen (Bohus/Reicherzer 2006, 9ff). Und umgekehrt gilt, dass Menschen mit einer PTBS in sehr hoher Zahl auch noch die Kriterien für eine oder mehrere Persönlichkeitsstörungen zeigen, was zu Fehldiagnosen füh- ren kann (Fiedler 2003, 55f). Auch wenn wir es nicht mit diagnostischen Tests belegen kön- nen, gehen wir in unserer konkreten Arbeit davon aus, dass die Mehrzahl der Besucherinnen mit der Diagnose (Borderline-)Persönlichkeitsstörung traumatisiert sind.

Auch wissen wir von den Besucherinnen der Tagesstätte, die eine Psychoseerfahrung haben, von traumatischen Erlebnissen, die manchmal mit der Psychiatrie in Verbindung stehen (z.B. Gewalt durch Zwangseinweisungen, Fixierungen etc.) oder sich auch in der Vorgeschichte abgespielt haben können. Schizophreniekranke werden im Vergleich zu anderen KlientIn- nengruppen überdurchschnittlich oft gegen ihren Willen behandelt. Für die jeweilige Klient- In stellt die Zwangseinweisung einen schweren Eingriff in die Freiheit dar. Ganz besonders gilt dies dann, wenn am Anfang der Behandlung Zwangsmaßnahmen, wie z.B. mechanische Fixierungen gegen den körperlichen Widerstand der KlientIn, nötig sind. Diese Zwangsfixie- rungen werden von KlientInnen als besonders bedrohlich und erniedrigend empfunden (Lu- derer 2004, 278ff). Psychosen können, je nach dem wie bedrohlich der Inhalt ist, auch selbst erneut traumatisierende Auswirkungen haben, was wir nach den Aussagen unserer Besuche- rinnen häufig bestätigt bekommen.

Darüber hinaus wurde bei psychotischen sowie auch bei schizophrenen und schizoaffektiven Störungen oft ein Zusammenhang mit Traumata in der Vorgeschichte gefunden, insbesonde- re gilt dies für schwere und früh durch andere Menschen erlittene Traumatisierungen (Düm- pelmann 2003, 2f; Dümpelmann 2002, 66). Neurobiologische und psychologische Untersu- chungsbefunde zeigen, dass die Entwicklung psychischer Funktionen, welche für Psychosen wesentlich sind, durch Traumatisierungen ernsthaft gestört werden. Die zu Psychosen prä- disponierende Vulnerabilität wird oft wegen traumatischer Erfahrungen entwickelt und Traumatisierungen sind nicht nur das Resultat genetisch oder konstitutionell höherer Vune- rabilität[8]. Bei einem Teil der Gruppe der psychotisch beschriebenen Krankheitsbilder findet man bei frühen Traumata einen hoch wirksamen, entwicklungspsychologisch greifbaren Ri- sikofaktor (Dümpelmann 2003, 9).

Diese diagnostischen Argumentationslinien legen nahe, dass viele unserer Besucherinnen traumatische Erfahrungen gemacht haben bzw. traumatisiert sind, was wir im folgenden Ab- schnitt vertieft belegen möchten.

2.3 Die symptomatischen Verhaltensweisen der Besucherinnen

Wenn wir nun versuchen, die Hauptphänomene des Verhaltens der Besucherinnen der Tagesstätte zu beschreiben, dann zeigt sich eine große Ähnlichkeit zu Phänomenen nach Traumatisierungen. Für uns in der Tagesstätte ist die Diagnose nicht ausschlaggebend, dennoch orientieren wir uns am psychischen Befund[9], wobei wir beachten, dass psychopathologische Symptome keinesfalls nur krankhaft sind, sondern auch beim Gesunden auftreten können, z.B. Wahrnehmungsstörungen wegen Übermüdung (Brunn- huber/Lieb 2000, 8, 40). Phänomenologische, zur Diagnostik dienende Beschreibungen sind wichtig, um Begleiterscheinungen feststellen zu können (vgl. Butollo et al. 1998, 207ff), denn wir möchten keine Symptome wegen Nichtwissen übersehen. Eine spezielle Diagnostik ist in unserem niederschwelligen Rahmen nicht nötig und auch nicht möglich. Wir beobachten jedoch die Besucherinnen mit ihren dysfunktionalen Verhaltensweisen v.a. beim Kontakt in der Gruppe genauso wie ihre Bewältigungsstrategien.

Wir wissen aus den Berichten der Besucherinnen von sehr verschiedenen, oft lange zurück- liegenden traumatisierenden Ereignissen. Traumatische Ereignisse bewirken tiefgreifende und langfristige Veränderungen der im Lauf der Entwicklung aufgebauten Überzeugungen von Sicherheit. Wir sehen Reaktionen auf traumatische Ereignisse zunächst als Bewälti- gungsstrategie und Schutzmechanismus an. Bei den Besucherinnen der Tagesstätte fallen einige typische Symptome auf wie:

a) intrusive Gedanken und Vorstellungen; b) erhöhte Dauernervosität und Schreckhaftigkeit, ver- bunden mit Schlafstörungen; c) aktives Vermeiden von Gedanken, Vorstellungen und realen Situati- onen, die an das Erlebnis erinnern; d) Gefühlsverarmung, reduzierte Körperwahrnehmung (Butollo et al. 1998, 89).

Rückzugs- und Vermeidungsstrategien[10] sind eine wesentliche Form der Anpassung nach Traumatisierung. Diese psychische Verengung betrifft alle Lebensbereiche und führt zu ei- ner Verarmung der psychischen Fähigkeiten, insbesondere der sozialen Fertigkeiten.

Die Diagnosekriterien der PTB legen zu wenig Wert auf die zwischenmenschliche Bedeutung der einzelnen symptomatischen Verhaltensweisen, vor allem aus den Bereichen Vermeidung und Über- erregung. Welchen Einfluss haben diese Symptome auf die Fähigkeit, zwischenmenschliche Res- sourcen mobilisieren und nützen zu können? Wo gelingt den Betroffenen Kontakt, wo vermeiden sie ihn? (Butollo et al. 1998, 214f)

Wir merken die Verarmung der psychischen Fähigkeiten in der Tagesstätte v.a. darin, dass bei vielen dieKontaktfähigkeitstark eingeschränkt ist; letztendlich sind die meisten von ihnen Einzelgängerinnen, die kaum tragfähige Sozialkontakte haben und denen es auch oft schwer fällt, überhaupt ein nicht nur einseitiges Gespräch zu führen. Frühe Traumatisierun- gen wirken sich auf die Bindungsfähigkeit aus, so dass zwischenmenschliche Beziehungen häufig zwischen intensiver Zuneigung und verängstigtem Rückzug schwanken (Huber 2005a, 87ff). Dieses Verhalten zeigen oft – aber nicht nur – die Frauen mit Borderline- Diagnosen.

StarkeDissoziationensind eher selten, dagegen beobachten wir häufig dissoziatives Ver- halten wie ‚weggetreten sein‘ oder ‚durch einen hindurchschauen‘, letzteres ist oft verbun- den mit – i.d.R. kürzeren – Gedächtnislücken und/oder Konzentrationsschwierigkeiten, was zusammengenommen ein relativ sicherer Hinweis darauf ist, dass ein Trauma vorliegt (Red- demann 2006a, 299). Viele Besucherinnen berichten davon, dass sie häufig stark Grübeln, und wesentlich weniger Zeit, als sie selbst oft wahrnehmen, gar nicht wirklich anwesend sind. Das schränkt natürlich ihre Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit stark ein.

Einige Besucherinnen zeigen häufig einen sehr gespannten Zustand, sind sehr erregt, laut, hektisch und oft in ihrem Redefluss nicht zu stoppen. Hohe Erregungs- oder Spannungszu- stände beeinflussen das Gruppengeschehen negativ und, da frühe und schwere Traumatisie- rung nicht nur zuHyperarousalsondern auch zu einer geringeren Stresstoleranz führen kann (Reddemann/Dehner-Rau 2004, 30f), müssen wir zum Schutz der Frauen deswegen oft intervenieren, da viele bei Stress schnell irritierbar sind.

Traumatisierungen beeinträchtigen das Sicherheitsgefühl stark und die Welt und die Men- schen werden oft als bedrohlich wahrgenommen (Butollo et al. 1998, 227ff, Reddemann 2006a, 298). Viele der Besucherinnen des EigenSinn haben ein mehr oder weniger ausge- prägtes inneresSicherheits-undKontrollbedürfnis, d.h. sie handeln oft wenig spontan, möchten fast jedes Detail im voraus wissen und Veränderungen – und seien es auch nur Kleinigkeiten – verunsichern sie.

Eine Folgewirkung von Traumatisierung kann auch geringes Selbstvertrauen und eineer- schütterte Selbsteinschätzungsein (Butollo et al. 1998, 227ff; Reddemann 2006a, 299). Das ist kennzeichnend für die meisten Besucherinnen der Tagesstätte; häufig sind Gedanken oder Sätze wie: „Das kann ich nicht, „Ich schaffe es nicht“ oder „Ich bin nichts wert“ etc.. Das Gefühl nichts bewirken oder erreichen zu können, ständig auf der Verliererseite zu ste- hen und immer das Opfer von Umständen zu werden, kennzeichnet überwiegend ihr Erleben oder Verhalten, weshalb es auch so wichtig ist, auf der Ressourcenseite anzusetzen.

Manche der Besucherinnen des EigenSinn haben häufig Wutausbrüche oder negative Ge- fühle wie Hass und Verzweiflung. In der Literatur sindStörungen der Affekt- und Im- pulskontrolleals mögliche Auswirkung einer frühen und schweren Traumatisierung aufge- zeigt (Huber 2005a, 116ff). Im Zuge der Täter-Opfer-Spaltung nach Traumatisierung (Hu- ber 2005a, 159f; Huber 2005b, 129ff) haben wir es zumeist mit Besucherinnen zu tun, die wie oben schon beschrieben, sich eine weitgehende Opferidentität zugelegt haben. Bei eini- gen wenigen zeigen sich jedoch auch hin und wieder Anteile, die täteridentifiziert sind und anderen gegenüber gewalttätiges bzw. aggressives Verhalten an den Tag legen (wie verbale Gewalt z.B. in Form von Abwertungen oder Provokationen, Bestechungen und Erpressun- gen, emotionales oder ökonomisches Ausnutzen, regelmäßiges Aushöhlen der Regeln, Ma- nipulationen wie lügen, verschleiern etc.).

Suizidgedankenoder -impulse sind oft eine Begleiterscheinung bei schwerer und früher Traumatisierung (Huber 2005a, 149ff). Viele der Frauen, die die Tagesstätte besuchen, ha- ben immer wieder damit zu kämpfen und Suizid ist ein häufiges Thema bei den Kriseninter- ventionen.

Was Traumatherapeuten immer wieder feststellen, spürt das Opfer nach der erlittenen Gewalt: eine intuitive Tendenz, selbst das auszuführen bzw. zu Ende zu bringen, was die Tat suggerierte, nämlich eine Suizidhandlung. (Bauer 2007, 115f)

Traumafolgestörungen haben häufig ein Phänomen zur Folge, dastraumatischer Stressgenannt wird und auf physiologischen Reaktionen des Körpers beruht. Anzeichen dafür im Verhalten können eine geringere Stresstoleranz, starkes Kontrollbedürfnis, leichte Erreg- barkeit, häufiger Ärgern etc. sein (Reddemann/Dehner-Rau 2004, 30f, Reddemann 2006a, 297f). Die Stressreaktionen können sich auf der körperlichen Ebene (z.B. Erschöpfungsge- fühl, erhöhte Muskelspannung, Kopfschmerzen, Probleme mit der Verdauung, Schlafprob-

leme etc.), auf der Verhaltensebene (Nervosität, Reizbarkeit, Betäubungsverhalten u.a. mittels Essen und Trinken) und auf der Ebene der Gedanken und Gefühle (Unzufriedenheit, Ärger, Denkblockaden, Grübeln, Missstimmungen) zeigen (Benkert 2005, 24ff; Reddemann 2006b, 117ff; van der Kolk 2000, 171). Bei einigen Besucherinnen sind vor allem Sympto- me auf der Verhaltensebene sichtbar, wie hastigen Sprechen, keine Muße beim Essen oder Unterhalten und ein insgesamt ruheloser und angespannter Eindruck. Auffällig sind auch manchmalSucht-Stresssymptome[11] wie unkontrolliertes Essen und Rauchen oder übermä- ßiger Kaffeegenuss. In Phasen oder auch mal für längere Zeit zeigen einige der Frauen eher gefühls- und gedankenmäßige Stressanzeichen, wie Selbstvorwürfe, Minderwertigkeits- und Versagensgefühle, sie sind weinerlich und sorgengeplagt, fühlen sich fast ständig unter Druck und gehetzt von Terminen oder Behördenschreiben beispielsweise.

Wir können beobachten, wie sehr die Besucherinnen mit den auftretenden Symptomen zu kämpfen haben, auch wenn einige der Symptome sicherlich als Bewältigungsstrategien eine Rolle spielen. Die Frauen sind durch ihre Symptome in ihrem täglichen Leben so beein- trächtigt, dass sie unsere Tagesstrukturierung benötigen, um eine Teilhabe am gesellschaftli- chen Leben und v.a. Sozialkontakte zu erfahren.

[...]


[1] Mittlerweile beschäftigt der feministische Verein in derzeit 8 Einrichtungen ca. 85 hauptamtliche Mitar- beiterinnen, rd. 15 Praktikantinnen sowie zahlreiche Aushilfen.

[2] Auch bei Frauen kann es zu einer Verringerung von Empathie kommen, die so weit führen kann, dass empathisches Erleben dauerhaft abgespalten wird, sodass im Extremfall aus Opfern Täter werden können (Butollo et al. 2002, 109f). Deswegen wurde das Konzept seit seiner Entstehung erweitert und angepasst. Dieser Prozess ist noch nicht vollständig abgeschlossen.

[2] Auch bei Frauen kann es zu einer Verringerung von Empathie kommen, die so weit führen kann, dass empathisches Erleben dauerhaft abgespalten wird, sodass im Extremfall aus Opfern Täter werden können (Butollo et al. 2002, 109f). Deswegen wurde das Konzept seit seiner Entstehung erweitert und angepasst. Dieser Prozess ist noch nicht vollständig abgeschlossen.

[3] Die Angebote des EigenSinn finden regelmäßig von Montag bis Freitag zwischen 11.00 Uhr und 16.00 oder 19.00 Uhr statt. Zentral und den Ablauf strukturierend ist das tägliche Mittagessen, an dessen Umset- zung sich die Besucherinnen beteiligen; gemeinsam wird für ca. 15-20 Frauen gekocht. Weiterhin gibt es Sport- und Bewegungs-Aktivitäten, Angebote aus dem kreativen Bereich in der geräumigen Werkstatt (Tiffany, Töpfern, Holzwerkstatt und vieles mehr). Spielenachmittage, Improvisationstheater oder Kommu- nikationstraining, Ausflüge und Feste feiern etc. runden das Angebot ab. Die gemeinsamen Aktivitäten die- nen auch dem Spaß, der Gruppenfindung und des Zusammenhalts, manchmal auch der Selbstdarstellung (10-Jahres-Fest, EigenSinn-Film). Im Anhang findet sich der Flyer der sich an potentiell Interessierte rich- tet sowie das Programm von März 2007.

[4] In ganz seltenen Fällen können wegen einer akuten Phase der Erkrankung oder nach einem akuten Trau- ma einzelne Besucherinnen nicht am gesamten Programm teilnehmen.

[5] Seit 01.03.2007 ist eine Platzzahlaufstockung auf 25 Plätze gewährt worden und damit auch eine ½-Stelle mehr, so dass wir nun mehr als nur 4 Kolleginnen auf 2-Vollzeitstellen sein werden.

[6] Die Auswertung der Jahresstatistik 2006 des EigenSinn ist zur Zeit noch nicht erfolgt, so dass wir hier auf die Zwischenauswertung zurückgreifen. Da sich aufgrund von Aufnahmestopp bzw. Warteliste die Besuche- rinnen-Anzahl und -Struktur in der Tagesstätte kaum verändert hat, gehen wir davon aus, dass die Daten der Jahresstatistik sich von den dargestellten kaum abweichen werden.

[7] Diese Daten stammen ebenso wie die folgenden aus dem Jahresbericht 2005 der Tagesstätte EigenSinn und wurden für diesen Zweck aufbereitet.

* Die Prozentangaben beziehen sich auf 94 Besucherinnen der Tagesstätte im Jahr 2005, die fehlenden Pro- zent sind keine Angaben (6%).

[8] Das bio-psycho-soziale-Modell der Erklärung von Psychosen nennt als einen Entstehungsfaktor (Vulnera- bilität) hohen Stress oder Belastungen, die in anderen Zusammenhängen als traumatogen bezeichnet wer- den. Dieselbe Diskussion gibt es übrigens auch bei Borderline-Störungen, also dass eine Borderline- Erkrankung wesentliche durch eine Traumatisierung ausgelöst wird oder – als Gegenpol – durch innere biologische oder psychogene Eigenschaften hervorgerufen sei (Dümplemann 2002, 67ff). Im letzteren Fall überwiegt jedoch die Tendenz aufgrund von Vorgaben tradierter diagnostischer Vorgehensweisen diese als überwiegend „exogen“ zu begreifen, während bei psychotischen Erkrankungen theoriegeleitet eine „endo- gene“ Exogenese angenommen wird, was dazu führt, dass Trauma und psychotische Störungen als getrennt wahrzunehmen (Dümpelmann 2002, 70).

[9] Dazu gehört u.a. auch äußeres Erscheinungsbild, Verhalten in der Situation, Bewusstseinslage und Orien- tierung, Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnis, formales und inhaltliches Denken, Wahrneh- mungsstörungen, Ich-Störungen, Antrieb und Psychomotorik, Affektivität, Suizidalität und Fremdgefähr- lichkeit (vgl. Brunnhuber/Lieb 2000, 8f)

[10] Wir als Team müssen uns selbst beobachten, wie viel Zeit wir im Büro verbringen, denn es gibt wegen Organisationsstrukturen und Verwaltung viele wichtige Gründe sich im Büro zu beschäftigen. Möglich kann aber auch sein, dass wir Pause brauchen oder Schutzmechanismen suchen, weil wir die Beziehungen zu den Klientinnen als zu intensiv empfinden, dass also eine Pause vom permanenten vielfältigen Kontakt für unsere Psychohygiene nötig ist. Wir finden es wichtig, dies bewusst zu reflektieren, um uns nicht vom Rückzugsverhalten der Besucherinnen ‚anstecken‘ zu lassen.

[11] Einige unserer Besucherinnen schliddern auch regelmäßig in Medikamentenabhängigkeit von Beruhi- gungsmitteln, die sie dann durch Klinikaufenthalte meist wieder in den Griff bekommen. Alkohol und an- dere nicht-legale Drogen werden von einigen wenigen mit gewisser Regelmäßigkeit als Selbstmedikamen- tation konsumiert.

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Details

Title
Re-Traumatisierung vermeiden durch Achtsamkeit und Psychoedukation
Subtitle
Konzepterweiterung in einer psychiatrischen Frauen-Tagesstätte
College
Munich University of Applied Sciences  (Pasing)
Grade
1,0
Authors
Year
2007
Pages
59
Catalog Number
V110954
ISBN (eBook)
9783640156733
ISBN (Book)
9783640157976
File size
1587 KB
Language
German
Keywords
Re-Traumatisierung, Achtsamkeit, Psychoedukation
Quote paper
Ruth Weizel (Author)Ellen Puchstein (Author), 2007, Re-Traumatisierung vermeiden durch Achtsamkeit und Psychoedukation, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110954

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