Lavaters Wissenschaftsverständnis im Kontext der Anthropologie des 18. Jahrhunderts


Trabajo Escrito, 2007

24 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


INHALT

1 Einleitung

2 Zur Anthropologie im 18. Jahrhundert
2.1 Der Begriff der Physiognomik
2.2 Lavater und die Physiognomik

3 Lavaters Werk
3.1 Die „Physiognomischen Fragmente“
3.2 Lavaters Wissenschaftsverständnis
3.3 Lavater und Lichtenberg: Der Physiognomik-Streit

4 Kritik an Lavater
4.1 Publikum und Wirkungsgeschichte der „Fragmente“
4.2 Befürworter und Kritiker Lavaters
4.3 Lavaters Physiognomik in Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts

5 Zusammenfassung

6 Literaturverzeichnis

7 Erklärung

1 Einleitung

Dass eine hohe Stirn mit hoher Intelligenz gleichgesetzt wird, hat jeder schon einmal gehört. Auch dass Schönheit und Attraktivität in positiver Relation zum Karriereerfolg stehen, kann man heutzutage in einschlägigen Zeitschriften lesen. Doch kann man diesen Klischees Glauben schenken? Ist es wirklich so einfach, seinen Mitmenschen einzuschätzen und sich ein Bild von diesem zu machen? Ob man jemanden sympathisch findet oder nicht, entscheidet sich demnach in den ersten 30 Sekunden des Kennenlernens. Doch Sympathie darf hier nicht mit den geistigen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften eines Menschen verwechselt werden. Fraglich ist darüber hinaus, ob bestimmte Körpermerkmale wirklich einen Rückschluss auf den Menschen zulassen – ist der Körper wirklich der Spiegel der Seele?

Diese Fragestellung beschäftigt – in einem abgewandelten Verständnis natürlich – auch noch die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Doch diese Thematik hat ihre Ursprünge bereits in der Antike und fand ihren Höhepunkt wohl im 18. Jahrhundert, als Johann Caspar Lavater (1741-1801) diese Problematik in seinen „Physiognomischen Fragmenten, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe“ (1775-1778) aufgriff und damit wiederum eine kontroverse Diskussion eröffnete, die die damaligen Zeitgenossen zu recht in Aufruhr versetzte.

In der vorliegenden Arbeit soll Lavaters Wissenschaftsverständnis im Kontext der Anthropologie des 18. Jahrhunderts untersucht werden, um dessen (Nach-) Wirkungen und Nutzen für die damalige Zeit und die darauf folgenden Jahrhunderte herauszukristallisieren. Um die Physiognomik Lavaters in ihrer Gänze verstehen zu können, soll deshalb zuallererst das Bild der Anthropologie im 18. Jahrhundert gezeichnet werden. Dies wird durch die Klärung des Begriffs der „Physiognomik“ sowie durch die Konkretisierung des Physiognomik-Begriffs im Verständnis Lavaters geschehen. Anschließend soll das Werk Lavaters näher erklärt werden. Denn dies dient als Basis zur Erläuterung seines Wissenschaftsverständnisses, das einen zentralen Punkt dieser Arbeit darstellt. Dieses bildet wiederum die Grundlage des so genannten Physiognomik-Streits zwischen Lichtenberg und Lavater, der exemplarisch die Situation der Wissenschaft im 18. Jahrhundert widerspiegelt.

Daran schließt sich die Kritik an Lavater und seinen Theorien an, die von zahlreichen Zeitgenossen geäußert wurde. Der Kritik allerdings vorangestellt sind das Publikum, das Lavater mit seinem Werk angesprochen hat, sowie die Wirkungsgeschichte seiner „Fragmente“. Außerdem sollen nicht nur kritische Stimmen Beachtung finden, sondern auch auf die Position der Lavater-Befürworter eingegangen werden. Als abschließender Punkt erfolgt die Darlegung der Wirkungsgeschichte der Physiognomik in Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts sowie ein Ausblick auf die weitere Tragfähigkeit seiner Physiognomik in der Zeitgeschichte.

Schließlich sollen in der finalen Zusammenfassung die Ergebnisse der einzelnen Untersuchungsaspekte gegenübergestellt und aufeinander bezogen werden, um die der Arbeit zugrunde liegende Fragestellung zu klären: Was bedeutet die Physiognomik Lavaters für das 18. Jahrhundert, wie sieht sein Verständnis von Wissenschaft aus und ist dies ein tragfähiger Ansatz für die Gesellschaft der damaligen Zeit?

2 Zur Anthropologie im 18. Jahrhundert

2.1 Der Begriff der Physiognomik

Um den Begriff der Physiognomik im Wandel der Zeit adäquat erklären zu können, bedarf es einer kurzen Erläuterung des Begriffs der Anthropologie im 18. Jahrhundert. Denn die Physiognomik ist als Nebenzweig der Anthropologie zu sehen.1 So ist festzustellen, dass mit Anbruch des 18. Jahrhunderts eine neue Wissenschaft entsteht: die Anthropologie. Diese wiederum beinhaltet ein wichtiges Forschungsgebiet: die Erfahrungswissenschaft oder auch Erfahrungsseelenkunde. Diese Definition rührt unter anderem von den Einflüssen des Pietismus her, der in diesem Zeitraum sehr stark im damaligen Deutschland vertreten war. Namen wie Karl Philipp Moritz („Anton Reiser“) sind hier zu nennen, aber auch Jean-Jacques Rousseau („Les Confessions“) und damit Frankreich sind von Bedeutung.

Die Quelle dieser Erfahrungswissenschaft bildet damit in erster Linie die Selbstbeobachtung und die Selbstdarstellung als Autobiographie.2

Anthropologie meint aber auch die Lehre vom Menschen im Allgemeinen, die wiederum aus der Naturgeschichte entstanden ist. Mit dem Begriff der Anthropologie wird im 18. Jahrhundert eine Disziplin benannt, die sich mit dem Wesen des Menschen befasst. Dies schließt unterschiedliche wissenschaftliche Richtungen mit ein, so z.B. die Biologie, Medizin oder Ethnologie. Bedeutende Persönlichkeiten, die einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung einer Anthropologie im 18. Jahrhundert geleistet haben, sind Linné, Buffon und Blumenbach. Ernst Platner hat darüber hinaus mit seiner Schrift „Anthropologie für Ärzte und Weltweise“ (1772) die Anthropologie neu definiert, denn er stellt die Frage nach der Beziehung zwischen Körper und Seele und eröffnet damit gewissermaßen die Anthropologie-Debatte im 18. Jahrhundert.3

Physiognomik im Kontext der Anthropologie-Debatte meint wiederum Johann Caspar Lavater zufolge Folgendes:

[…] was ich darunter verstehe: Nämlich – die Fertigkeit durch das Aeußerliche eines Menschen sein Innres zu erkennen […] Im weitesten Verstand ist mir menschliche Physiognomie – das Aeußere, die Oberfläche des Menschen in Ruhe und Bewegung, sey’s nun im Urbild oder irgend einem Nachbilde. Physiognomik, das Wissen, die Kenntnisse des Verhältnisses des Aeußern mit dem Innern; der sichtbaren Oberfläche mit dem unsichtbaren Inhalt.4

Konträr dazu äußert sich Georg Christoph Lichtenberg wie folgt:

Jetzt sind es Zeichen an der Stirne die man deuten will, ehmals waren es Zeichen am Himmel; Ich wollte endlich zeigen, daß man, durch ein paar armselige Beispiele von Hunden, Pferden, Dreigroschen-Stücken und Obst, die man allenfalls noch, (nicht immer), aus dem Äußern beurteilt, verleitet, noch nicht vom Leib auf ein Wesen schließen könne, dessen Verbindungsart mit ihm uns unbekannt ist, und überhaupt nicht auf den Menschen schließen kann […]. Was für ein unermesslicher Sprung von der Oberfläche des Leibes zum Innern der Seele!5

Durch diese beiden Zitate zweier herausragender Vertreter der Physiognomik wird die Schnittstelle offensichtlich, an der eine weit reichende Kontroverse einsetzt, die die Anthropologie im ideengeschichtlichen Kontext des 18. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusst.

2.2 Lavater und die Physiognomik

Wie das obige Zitat Lavaters bereits andeutet, beinhalten die Lavaterschen Gesetze Beziehungen zwischen der äußeren Erscheinung und den psychologischen Charakteristiken des Einzelnen. Die Physiognomik ist dabei allerdings keine „Erfindung“ von Lavater, sondern es gibt bereits erste überlieferte Beobachtungen über die Beziehungen zwischen Gesicht und Charakter in der aristotelischen Epoche. Die Physiognomik ist daher von der Antike über das Mittelalter bis in die Renaissance gelangt, wo sie erneut viel Aufmerksamkeit erlangen sollte und schließlich in der Zeit der Aufklärung in einen regelrechten Physiognomik-Streit mündet.6 Die Philosophie der Aufklärung verkündet dabei einen gleichförmigen Universalismus, dem Lavater allerdings nicht zuzurechnen ist. Vielmehr ist er der Renaissance und der französischen Romantik verhaftet, die eine Verherrlichung der Individualität sowie Ich-Bezogenheit propagieren.

Die Untersuchungen der zeitgenössischen Physiologen beziehen sich einerseits auf körperliche Übertragungs- und Prägungsmechanismen, die von Empfindungen ausgelöst würden, und andererseits auf den Bereich der Selbsterfahrung, die bereits angesprochen wurde. Dabei stellt sich die Frage, was der missgestaltete eigene Körper über den Zustand der „Seele“ aussagen kann. Dieser Aspekt zielt im Kontext der Kontroverse vor allem auch auf Lavaters Gegner Lichtenberg, der – mit einem Buckel physisch deformiert – von der Lavaterischen Heilslehre ausgeschlossen wird.

Lavater ist darüber hinaus überzeugt, dass der Charakter des Menschen eine ursprüngliche Prägeleistung Gottes ist. „Seine Physiognomik steht im Dienst seiner christlichen Metaphysik: Der Mensch ist das herrlichste und vollkommenste Geschöpf des Allmächtigen und sein aufrechter Gang das Symbol seiner göttlichen Abstammung.“7

Damit steht Lavater am Schnittpunkt mehrerer Traditionen. Er wendet sich von der Phantasie ab und stützt sich dabei in erster Linie auf die Beobachtung, wobei er eine echte Wissenschaft begründen will. Ihn interessieren deshalb vor allem unveränderliche Kennzeichen: Denn das „Knochensystem“ ist Lavater zufolge das „Fundament der Physiognomik“ (dabei ist Lavaters besondere Fixierung auf die Nase zu betonen).

Seine Physiognomik ist eine grundsätzlich statische und nicht dynamische Wissenschaft, und er unterscheidet genau zwischen der Pathognomik oder Wissenschaft von den bewegten Gesichtern und der eigentlichen Physiognomik, die die Grundstrukturen der Facies untersucht.8

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2

„Kleine Nasenlöcher beinahe ein sicheres Zeichen ununternehmender Furchtsamkeit. Sichtbar athmende, offene Nasenflügel ein sicheres Zeichen feiner Empfindsamkeit, die leicht in Sinnlichkeit und Wohllust ausarten kann.“ (Essai III, 304)9

Dies hat er an zahlreichen Silhouetten prominenter und weniger prominenter Köpfe nachzuweisen versucht. Lavater betrachtet seine Studien zwar als vorläufige Versuche, erwartet jedoch, dass sich die Physiognomik im Laufe der Zeit als empirische Wissenschaft etabliert.

Dabei geht Lavater von einer Analogie aus, die sich darin manifestiert, dass die sichtbaren Zeichen zur Entdeckung des Unsichtbaren dienen: eine Poetik der Innerlichkeit. In anderen Worten lässt sich vom Menschen als Studienobjekt sprechen, das den Menschen als Vertreter des Ganzen und das menschliche Gesicht als Ausdruck der Gesamtheit seines Wesens und als Spiegel seiner Seele sieht.10

3 Lavaters Werk

3.1 Die „Physiognomischen Fragmente“

Lavaters anthropologisches Werk „Physiognomische Fragmente. Zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe“ (erschienen in vier Bänden 1775, 1776, 1777 sowie 1778) ist wohl die bekannteste Schrift des Autors, der ansonsten in Vergessenheit geraten zu sein scheint.11

Von besonderer Bedeutung ist natürlich Lavaters Intention, die er mit seinen „Fragmenten“ verfolgte. Denn es ging Lavater nicht in erster Linie darum, (neue) Erkenntnisse über den Menschen zu erhalten, sondern vielmehr darum, mit Hilfe der Physiognomik im Menschen (als Ebenbild Gottes) Spuren des Göttlichen aufzudecken und damit letztlich Transzendenz greif- und erfahrbar zu machen.

Die vier Bände der „Fragmente“ besitzen demzufolge gewisse Schwerpunkte, auch wenn von einer durchdachten Gesamtkonzeption Lavaters wohl nicht gesprochen werden kann. Der erste Band handelt von der physiognomischen Analyse bekannter Persönlichkeiten der Geschichte. Im zweiten Band geht es um die Physiognomie der Tiere. Der dritte Band behandelt in erster Linie physiognomische Deutungen über menschliche Körperteile (z.B. Hände und Ohren). Im vierten Band werden schließlich als ein Hauptaspekt Christusbilder und deren physiognomische Analysen thematisiert.12 Denn die Figur „Christi“ konnte sich Lavater nur als „den Inbegriff aller Schönheit vorstellen“.13

Auf diese spezielle These Lavaters rekurriert eines der umstrittensten Gesetze der Physiognomik, nämlich dass Tugend schön und Laster hässlich mache, der Schönheit des Gesichts entspreche die Schönheit der Seele, Hässlichkeit wiederum zeige die Defizite eines Wesens an, sofern nicht durch Unfall oder Krankheit verursacht. Problematisch bei dieser Aussage ist jedoch, dass die Kunst und die Künstler seit jeher dazu tendieren, ein Porträt zu idealisieren. Basierend auf der Abhängigkeit der Physiognomik von Silhouetten, Porträts und Schattenrissen stellt sich dies als eklatantes Problem dar.14

Lavaters „Physiognomische Fragmente“ lösten dennoch eine Art Mode aus, „die an die heutige Lust von Laien erinnert, ihre Beurteilungen von Menschen mit Kategorien aus der Psychoanalyse anzureichern […].15

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Abb. 416

3.2 Lavaters Wissenschaftsverständnis

Lavaters grundlegendes Wissenschaftsverständnis wurde bereits angesprochen (vgl. 2.2 Lavater und die Physiognomik). Bemerkenswert hierbei ist, dass sich Lavater eine Rhetorik aneignete, die zwar die wissenschaftlichen Ansprüche seiner Physiognomik glaubwürdig erscheinen lassen sollte, aber nichtsdestotrotz gerade über einen Mangel dieser nicht hinwegtäuschen konnte.17

Lavater unternimmt in seinen „Fragmenten“ einen Versuch, sein Vorgehen wissenschaftstheoretisch zu beschreiben. Er möchte dabei die Wahrheit der menschlichen Gesichtsbildung beweisen – mittels Beobachtung und Erfahrung. Dies erweckt durchaus den Anschein von wissenschaftlicher Genauigkeit und empirischer Exaktheit. Denn Lavater geht es vor allem darum, dem Leser der „Fragmente“ ein möglichst zeitgemäßes Verständnis von Wissenschaftlichkeit zu suggerieren.18

Die Frage nach Lavaters Wissenschaftsverständnis muss allerdings unter dem Aspekt betrachtet werden, dass im 18. Jahrhundert die Kriterien der Wissenschaftlichkeit, wie sie heute bekannt sind, erst entstanden. Das wissenschaftliche Denken in der damaligen Zeit bewegt sich einerseits zwischen der Feststellung empirischer Tatsachen und andererseits metaphysisch-theologischen Erklärungen.19

Lavaters problematisches Wissenschaftsverständnis erklärt sich unter anderem aber auch aus dessen Glauben, dass Wissenschaft und Theologie vereinbar seien. Mit dieser Haltung steht Lavater durchwegs nicht alleine da. Denn die Geltung der jüdisch-christlichen These von der Schöpfung bleibt bis zur Jahrhundertwende bestehen, und nicht nur Lavater gilt als einer ihrer Vertreter, sondern auch andere Gelehrte wie Linné oder Charles Bonnet.20

Für die Begründung der Wissenschaften im 18. Jahrhundert war somit der Übergang von metaphysischer Spekulation zu empirischer Beobachtung von Bedeutung, der sich allerdings in den „Fragmenten“ nicht konsequent durchgesetzt hat. Denn obwohl Lavater darauf bedacht ist, ein empirisches Vorgehen zu präsentieren, steht im Mittelpunkt seines Werkes der Nachweis, wie sehr alles Äußerliche Verkörperung und Analogie eines Inneren, Geistigen und auch Göttlichen sei.21

Physiognomik in diesem Sinn entspringt der weder lehr- noch lernbaren Intuition und äußert sich in den „Fragmenten“ in dem Lichtenberg so verhaßten Stil enthusiastischen Gestammels. Andererseits jedoch hat Lavater den Ehrgeiz, der Physiognomik durch Klassifizierung und Regeln wissenschaftliche Geltung und Anwendbarkeit zu verschaffen, was den Protest seines Kritikers [Lichtenberg] ebenso herausfordern mußte wie der theologische Idealismus Lavaters.22

Lavater äußert sich in einem Brief an seinen Freund Johann Georg Zimmermann23, Leibarzt und Popularphilosoph aus Hannover, wie folgt:

Daß Talente u: Geistesgaaben sich nicht in den festen Theilen des Kopfes zeigen. Diesen seinen Hauptsatz wird er [Lichtenberg] zuwiederholen sich wohl in acht nehmen – und noch mehr, ihn zubeweisen. Alles wird er thun, seinen Lesern Staub in die Augen zuwerfen, um sie vergeßen zumachen, daß ich gegen diesen Unsinnigen Schandplatz eine Reihe Fakta gesezt habe […].24

Dieses Zitat Lavaters erweckt den Eindruck, dass sich Lavater seines kritisch zu sehenden Wissenschaftsverständnisses nicht bewusst und durchwegs der Meinung ist, wissenschaftlich korrekte und empirische Forschung zu betreiben.

Es wird zunehmend deutlich, dass Physiognomik als Wissenschaft nicht legitimierbar erscheint. In diesem Kontext ist die Kontroverse zwischen Lichtenberg und Lavater von Bedeutung, in der sich Lichtenberg gegen die Vereinfachungen Lavaters ausspricht.25

3.3 Lavater und Lichtenberg: Der Physiognomik-Streit

Der so genannte Physiognomik-Streit (1777/78), der sich sozusagen repräsentativ und exemplarisch zwischen Lichtenberg und Lavater abspielte, basiert auf der scharfen Kritik Lichtenbergs an Lavater. Demzufolge wirft dieser Lavater vor, dass dessen Ausführungen zur Physiognomik der wissenschaftlichen Begründung entbehren. Bedeutend ist in diesem Zusammenhang Lichtenbergs Abhandlung „Über Physiognomik. Wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis“ (1777/78).

Lichtenbergs Position ist dabei, dass physiognomische Urteile über Personen auf Analogiebildungen in der Erinnerung beruhen: man hat Assoziationen zu ähnlich aussehenden Menschen, die man kennt; diese Annahme beruht auf Lichtenbergs Kenntnis des Assoziationspsychologen David Hartley und dessen Annahme einer „Theory of human Mind“. Dieser Ansatz wurde allerdings nur von wenigen gewürdigt.26

Für seine Freunde verfasste Lichtenberg 1777 eine Parodie auf Lavaters Physiognomik, das so genannte „Fragment von Schwänzen“. In diesem geht Lichtenberg in überspitzter Form auf die Physiognomik von Schwänzen aller Art ein.

Die Unterschiede zwischen Lichtenbergs und Lavaters Physiognomik-Begriff zeigen sich darüber hinaus auch in der Auffassung Lichtenbergs, dass es eine Dynamik eines, sich stets in dem Prozess der Veränderung befindlichen und ihn ausdrückenden Lebens gebe. Lavater hingegen geht von einem System einfacher Entsprechungen von Sichtbarem und Verborgenem aus, einem System statischer Zuordnungen aus statischen Knochenstrukturen. Dieser Annahme folgend, gestaltet sich die Seele ihren Körper nach ihrer Beschaffenheit. Dagegen spricht Lichtenberg zufolge, dass der Unflexibilität des Körperskeletts nicht die Bewegungen des Seelenkörpers entsprechen.27

Das Telos der Lavaterschen Physiognomik tritt gerade in dieser Kontroverse deutlich hervor: Einerseits stellen die Kupferstiche seiner „Fragmente“ durchaus ein ästhetisches Vergnügen dar, andererseits ist an dieser Stelle zu beobachten, dass sich der Diskurs auseinander entwickelt. Auf der einen Seite steht Lichtenberg und ein neues Verständnis von Naturwissenschaft, dem später wissenschaftliche Gütekriterien und eine empirische Vorgehensweise zugrunde liegen werden; auf der anderen Seite steht ein pseudo-wissenschaftliches Verfahren sowie ein Diskurs, der vor allem das ästhetische Vergnügen eines breiten Publikums befriedigt.

4 Kritik an Lavater

4.1 Publikum und Wirkungsgeschichte der „Fragmente“

Die Physiognomik hat ähnlich den naturgeschichtlichen Auseinandersetzungen der Aufklärung das Bestreben, wissenschaftliche Probleme einem breiteren Publikum zu eröffnen. Interessant ist hierbei die Diskrepanz in der Rezeption von Lavaters Werk. Bekannte Aufklärungswissenschaftler wie Camper, Blumenbach und Lichtenberg nahmen seine „Physiognomischen Fragmente“ nicht ernst bzw. übten reichlich Kritik. Die Öffentlichkeit und Allgemeinheit aber sah dessen Theorien durchaus als ernstzunehmende wissenschaftliche Modelle.28 Wie die Naturgeschichte profitiert auch die Physiognomik von einem wachsenden Interesse des Bildungsbürgertums an naturwissenschaftlichen Themen. Dabei ist ein Hauptkritikpunkt an Lavater dessen Art und Weise, „Wissenschaft“ der Öffentlichkeit zu vermitteln. Besonders Lichtenberg kritisierte dies.

Konkret missfällt ihm Lavaters extravaganter Stil und dessen elitäre Haltung, die sich in der Aussage, sein Werk sei „durchaus nicht für den großen Haufen geschrieben“29, äußert. Lichtenberg ist demnach der Meinung, dass sowohl Lavaters Stil als auch seine Wirkungsabsichten dem Anliegen von Wissenschaft diametral gegenüber stehen.30

Trotzdem darf die große Wirkungsgeschichte der „Fragmente“ im 18. Jahrhundert nicht vergessen werden. Neun Jahre nach dem Tod Lavaters gab es 16 deutsche, 15 französische, zwei amerikanische, zwei russische, eine holländische, eine italienische und 20 englische Ausgaben seines Werkes. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die „Physiognomischen Fragmente“ damals vielfach auf Begeisterung gestoßen sind. Um Näheres über den Charakter von Freunden, Bekannten und Bediensteten zu erfahren, wurden bevorzugt die „Fragmente“ herangezogen bzw. schriftliche Anfragen an Lavater gestellt. So suchte selbst Kaiser Joseph II. Rat bei Lavater.31

Lavater ist demzufolge sehr erfolgreich in ganz Europa. Sein Werk findet fast überall außerordentliche Beachtung. Es dient nicht nur zum Lesen, sondern gerade auch zum Nachschlagen, um sich Rat in zwischenmenschlichen Fragen zu holen.32

Zusammenfassend sagt Weigelt aber, […] daß Lavaters Nachwirkungen wesentlich geringer gewesen sind, als man gemeinhin zunächst anzunehmen geneigt ist, wenn man von dem großen Bekanntheitsgrad während seines Lebens ausgeht. Begründet ist das darin, daß es nicht so sehr der Reichtum seiner Ideen, als vielmehr die Faszination seiner Persönlichkeit gewesen ist, weshalb er zu seinen Lebzeiten in fast ganz Europa eine so große Resonanz gefunden hat.33

Eine nicht zu vernachlässigende Errungenschaft Lavaters ist seine neue Kunst des Porträtierens. Denn in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts gelangt die Porträtkunst zu einer neuen Blütezeit. Kunstakademien empfehlen das Studium des damals sehr bekannten Lavater. Denn dieser liefert den Künstlern nicht nur eine Beobachtungs- und Beurteilungsmethode, sondern auch ein großes Repertoire an Bildern. Die Regeln der Physiognomik lehren den Künstler dabei, Merkmale oberflächlicher oder auch tiefer Emotionen, Zeichen für deren Existenz oder Wechsel in der Mimik zu lesen und zu dechiffrieren.

Die Bedeutung dieser ästhetischen Prinzipien können als Grundlage des späteren Expressionismus gewertet werden.

Dabei führt Lavater mit den wesentlichen Gesichtszügen, der reinen Linie der Silhouette und einer gewissen Entstellung zur Erfassung des Wesentlichen auf eine Kunstform hin, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Bedeutung werden sollte: der Karikatur.34

Die Porträts erhalten dabei in einer zunehmend bildnishungrigen Zeit eine bedeutende Rolle, was die seit der Jahrhundertmitte rasend schnell wachsende Nachfrage nach eben diesen bezeugt und damit die „Verbürgerlichung“ der Künste verdeutlicht.35

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Abb. 3

Herstellung eines Schattenrisses, nach der Erfindung von Etienne Silhouette. Rechts die Lichtquelle: Eine Kerze (oder direktes Sonnenlicht). Die Frau sitzt auf einem besonders eingerichteten Stuhl, der eine ruhige Haltung ermöglicht. Ihr Schatten wird auf ein Glas projiziert, an dessen Rückseite ein „zartgeöltes und wohlgetrocknetes Papier“ befestigt ist, auf dem der Zeichner das Profil festhalten kann.36

4.2 Befürworter und Kritiker Lavaters

Wie bereits erwähnt (vgl. Kap. 2.2 Lavater und die Physiognomik), vertritt Lavater das Prinzip der größtmöglichen Individualität. Dieser Aspekt trägt allerdings dazu bei, die Anerkennung des wissenschaftlichen Wertes seiner Theorie maßgeblich einzuschränken. Denn aufgrund dessen stellt sich folgende Frage: „Wenn sich die Menschheit tatsächlich aus voneinander verschiedenen Individuen zusammensetzt, wie kann man dann Gesetze aufstellen? Und wie Klassifizierungen vornehmen?“37 Lavater entgegnet auf diese Kritik das Gesetz von der Homogenität. Diesem zufolge strebt alles in der Natur nach Einheit und Harmonie. Dabei sind die Elemente des Gesamten genau so wie das Ganze selbst denselben Gesetzen unterworfen. Dementsprechend ist der Aufbau der Gesichter durch das Prinzip der Harmonie oder der Homogenität bestimmt.

Des Weiteren kritisiert Lichtenberg, dass Lavaters Lehre auch dazu tendiere, das Aufklärungsideal der Bildsamkeit und Erziehbarkeit des Menschen zu leugnen: „Wenn die Physiognomie das wird, was Lavater von ihr erwartet, so wird man die Kinder aufhängen, ehe sie die Thaten gethan haben, die den Galgen verdienen…“.38

Darüber hinaus wird die Diskussion, angeregt durch Lichtenbergs Kritik, weitergeführt, als seine Verweise auf feudale und koloniale Herrschaft die Physiognomik in historische und soziale Kontexte einbetten und Lichtenberg damit auf die Gefahr einer rassistischen Richtung dieses Gedankenguts verweist.39

Auch Schiller zählt zu Lavaters Kritikern. So hat Schiller in seiner Dissertation „Ueber den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“ danach gefragt, ob es wirklich möglich sei, aus einzelnen Körperteilen und deren Gestalt feste Regeln abzuleiten.40

In diesem Kontext ist auch Matthias Claudius zu nennen, der allerdings ein moderates Maß an Kritik übte. Seiner Meinung nach sei die Natur wesentlich komplexer und lasse sich nicht einfach so in starre Regeln fassen, wie es Lavater anstrebe.41

Trotz der zahlreichen Übersetzungen in andere Sprachen und der damit verbunden Bekanntheit seines Werkes in verschiedenen europäischen Ländern, wurden Lavaters „Fragmente“ auch nicht vor Kritik außerhalb des deutschen Sprachraums verschont.

So sind weitere Kritiker Buffon und Diderot. Buffon stellt die Frage, ob ein Mensch geistreicher sei, weil er kleine Augen und eine wohlgeformte Nase habe. Diderot wandte sich mit der Gegenfrage an ihn, nämlich ob es viele geistreiche Leute mit einem kegelförmigen Kopf, einem engen Schädel und stumpfen Blick gebe.42

Der deutsche Arzt Franz Joseph Gall wendet sich ebenfalls von Lavaters Lehren ab: er vertritt nicht den spiritualistischen Grundzug von Lavaters Physiognomik, sondern wirft Lavater vielmehr vor, seine Physiognomik auf Phantasie gestützt zu haben.43

Hegel bezeichnet die Physiognomik als „Wissenschaft des Meinens“ und als eine rein phantastische Psychologie. Dieser Aussage schließt sich sogar Napoleon an: es gehe um den Unterschied zwischen dem, was die Natur aus dem Menschen macht, und dem, was er selbst aus sich mache.44

In diesem Sinne bleibt Lavater im Kreuzfeuer der Kritik. So gesteht Lavater selbst, dass das Studium des Gesichts nicht einfach sei. Der stets präsente Vorwurf bleibt aber trotz dieses Geständnisses bestehen: Ist es nichts als Phantasterei, wenn man von dem Äußeren auf die Wirklichkeit eines Wesens schließt?45

Dennoch darf trotz aller Kritik nicht vergessen werden, dass Lavaters „Physiognomische Fragmente“ durchaus auch Anklang bei bekannten Persönlichkeiten des 18. Jahrhunderts gefunden haben. So gab es Übereinstimmungen Lavaters mit Herder, Lenz und dem jungen Goethe, der auch einige Beiträge zu den „Fragmenten“ verfasste, und sich erst in späteren Jahren von Lavater distanzierte. So äußert sich Goethe über den ehemaligen Freund – bezeichnenderweise in seiner Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ – wie folgt: „Die ‚Physiognomik’ lag mit allen ihren Gebilden und Unbilden dem trefflichen Manne mit immer sich vermehrenden Lasten auf den Schultern“.46

So sagt Goethe später auch, dass die Seele eines Menschen sich vielleicht von seinem Äußeren ablesen lasse, aber nur, wenn sich durch Krankheit oder Schicksal Spuren auf seinem Körper abgezeichnet hätten. Deshalb müssten die Kleidung, die Wohnungseinrichtung oder der Habitus eines Menschen in die Beobachtungen einfließen. Dies entspricht der Pathognomik, die nicht von den unveränderlichen Eigenschaften der Knochenstruktur ausgeht, sondern vielmehr von den Spuren, die Emotionen, Lebensweise und sozialer Status am Körper hinterlassen. Mit dieser Aussage nähert sich Goethe der Position Lichtenbergs, der in den Sudelbüchern die Abhängigkeit sowohl von der Natur als auch vom sozial-kulturellen Bildungsprozess nahe legt.47

4.3 Lavaters Physiognomik in Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts

Nicht unbedingt zu erwarten sind die durchaus bemerkenswerten Nachwirkungen der „Fragmente“ in Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts. So sind diese zwar weniger in der deutschen, aber dafür umso stärker in der europäischen Literatur zu finden. Im Zuge der „Fragmente“ sind beispielsweise zahlreiche Figuren aus Romanen und Novellen nach Lavaters physiognomischen Regeln konzipiert worden.

Dies tritt besonders in der französischen Literatur zutage. Beispiele für bekannte Schriftsteller, die physiognomische Regeln in ihren Werken umgesetzt haben, sind Chateaubriand, Stendhal, George Sand, Baudelaire und auch Balzac. „Denn eben im französischen Roman und in seiner Entwicklung zum ‚Realismus’, wie ihn das 19. Jahrhundert benannte, macht sich der Einfluß der Physiognomik am nachhaltigsten bemerkbar.“48

In der deutschen Literatur scheint die Rezeption weniger stark – dennoch ist bekannt, dass E. T. A. Hoffmann Lavaters Werk eingehend studiert und verarbeitet hat.

Darüber hinaus ist Lavaters Einfluss auf die bildende Kunst, insbesondere die Historienmalerei des 19. Jahrhunderts, zu nennen. Dabei wurden nicht nur deutsche Künstler, wie Johann Heinrich Tischbein oder Wilhelm von Kaulbach, von den physiognomischen Ansätzen Lavaters beeinflusst, sondern auch englische und französische Künstler.49

„[…] Lavater bietet vor allem eine ‚Psychologie’, die Kant als ‚Charakterologie’ bezeichnet und deren Erbe nicht so sehr auf die Wissenschaft als vielmehr auf Kunst und Literatur übergehen sollte […].“50

Im ideengeschichtlichen Kontext der Zeit schlägt Lavater allerdings eine bereits damals schon kritisch gesehene Richtung ein. Lavater geht davon aus, dass es von Natur aus Toren und Genies gibt. Dabei steht Lavater auch der Theorie Rousseaus diametral gegenüber, deren Grundprinzip er nicht verfolgt: der Mensch werde Lavater zufolge nicht mit ausgezeichneten Anlagen geboren und der Mensch werde nicht durch die Gesellschaft verdorben. Damit widerspricht Lavater der Erziehungs- und Milieutheorie, die im 19. und auch 20. Jahrhundert durchaus erfolgreich sein wird. Demzufolge sieht Lavater in der sozialen und politischen Ungleichheit die Folge der ungleichen Anlagen und Befähigungen des Menschen. Der Mensch gelangt nur bis zu einem gewissen Punkt, und über diesen hinaus kann er nicht mehr erreichen. Um Lavaters These zu verdeutlichen, ließe sich folgendes altbekannte Sprichwort anmerken: „Schuster, bleib’ bei deinen Leisten!“. Der Mensch soll bleiben, was er ist und darüber hinaus nichts anstreben. Eine prekäre Forderung in Zeiten der Französischen Revolution. Die Haltung Lavaters ist als politisch konservativ zu bezeichnen und als Resultat seines Christentums und Glaubens zu sehen. Damit steht Lavater auch der Demokratie feindlich gegenüber. Denn diese ist nicht vereinbar mit dem Glauben an die Vorherbestimmung, an Determination (wie sie Lavater zufolge im Gesicht zum Ausdruck kommt) und der Auffassung, dass der Mensch zwar einen Willen habe, dieser aber nur in den Grenzen seiner ursprünglichen Veranlagung sei.51

5 Zusammenfassung

Wie wir gesehen haben, gründet sich die gesamte Theorie Lavaters auf die der ganzen Theosophie des 18. Jahrhunderts eigene Idee, daß das Universum, dessen Vertreter der Mensch ist, und das sein Gesicht zusammenfaßt, von engen Korrespondenzen zwischen Äußerem und Innerem regiert wird.52

Die „Anwendbarkeit“ der Physiognomik, wie sie nun von Lavater bekannt ist, scheint heutzutage äußerst fraglich. Dennoch eröffnet Lavater mit seiner Wiederbelebung dieses Themenkomplexes verschiedene Fragestellungen und Diskurse, ohne die Wissenschaft und Forschung wohl nicht vorangekommen wären. Die Physiognomik scheint in diesem Sinne den Bereich der Anthropologie-Forschung in ein neues Licht gerückt zu haben. So wurde aufgrund von Lavaters Bemühungen in diesem Bereich nicht nur die Diskussion der Frage, wie Leib und Seele zueinander in Beziehung stehen, angeregt, sondern es hat auch die Frage nach menschlicher Determination und freiem Willen Eingang in den ideengeschichtlichen Kontext des 18. Jahrhunderts gefunden. Darüber hinaus gab Lavaters Physiognomik den Anstoß, das Konzept der Wissenschaft im Sinne wissenschaftlicher Gütekriterien und empirischer Vorgehensweise zu überdenken und damit der aufkeimenden Naturwissenschaft eine größere Beachtung zu schenken.

Um diese Fragestellungen letztlich voneinander abzugrenzen, bedarf es der kritisch zu sehenden „Physiognomischen Fragmente“. Denn in Lavaters Bemühen mittels seines Werkes auf dessen Wissenschaftlichkeit zu pochen, werden die Zeitgenossen gewissermaßen auf die Unzulänglichkeiten seiner Theorie aufmerksam und sind darüber hinaus gezwungen, alternative Ansätze zu entwickeln. Was Lavaters Wissenschaftsverständnis in gewissem Sinne untergräbt, ist sein Vorhaben, Wissenschaft und Theologie verbinden zu wollen. Dass dieses nur von geringem Erfolg gekrönt wird, zeigt sich schließlich auch in der scharfen Kritik einiger seiner Zeitgenossen. Die Skepsis seinen „Fragmenten“ gegenüber gipfelt in dem so genannten Physiognomik-Streit, der zwischen Lavater und Lichtenberg ausgetragen wird und in dem Lichtenberg deutlich größere Zustimmung findet.

Dennoch darf die Wirkungsgeschichte, die die „Fragmente“ trotz aller Kritik hatten, nicht im Schatten dieser verschwinden. Eine Errungenschaft Lavaters ist – obwohl er sich der breiten Masse gegenüber negativ äußert – dass er sein Werk an genau diese richtet und damit Wissenschaft dem Bürgertum nahe zu bringen versucht. Seine „Fragmente“ gelten als Leitfaden und Ratgeber für Entscheidungen im Umgang mit dem Menschen. Lavater verhilft zudem der Silhouette, dem Kupferstich und dem Porträt zu einer neuen Blütezeit. Die Kunst profitiert von Lavaters präzisen physiognomischen Schilderungen, die schließlich in der Kunstform der Karikatur ihren Zenit erreichen.

Wie bereits erwähnt, ist die Zahl seiner Kritiker beachtlich – und so, wie Lavater Zeichnungen von prominenten Köpfen anfertigen lässt – befinden sich auch unter seinen Gegnern zahlreiche bekannte Namen. Angefangen bei Lichtenberg, Matthias Claudius und Napoleon bis hin zu Schiller, um einige zu nennen.

Einer seiner bekanntesten Anhänger, Johann Wolfgang von Goethe, hat sich schließlich in späteren Jahren von Lavaters Lehren distanziert.

Die Kritik und Distanzierung, die Lavater erfahren hat, ist aber wohl weniger in seiner Person zu begründen als vielmehr in seinem, bereits im Vergleich zu damaligen Verhältnissen nicht angemessenen Wissenschaftsverständnis, das letztlich verschwindend geringen Konsens findet.

Es bleibt also zu sagen, dass Lavaters Werk weniger Eindruck in der Wissenschaft und damit auch Anthropologie, damals und vor allem heute, hinterlassen hat -, dafür ist die Bedeutung, die die „Fragmente“ in Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts erfahren haben, umso beachtlicher. Als Quintessenz muss Lavaters Werk wohl eher eine ästhetische als wissenschaftliche Bedeutung eingeräumt werden, die vor allem in der Malerei und französischen Romankunst zu finden ist – im Gegensatz zu den Ansätzen Lichtenbergs, die im Verbindung mit der Naturwissenschaft durchaus bedeutend für die Psychologie des 20. Jahrhunderts wurden.

6 Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Goethe, Johann Wolfgang: Dichtung und Wahrheit , (Frankfurt 1975).

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Erster Versuch. (Leipzig und Winterthur 1775).

Lichtenberg, Georg Christoph Lichtenberg: Über Physiognomik; wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis, in: „Georg Christoph Lichtenberg. Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Promies, Band III, (München 1972).

Sekundärliteratur

Baasner, Rainer: Lichtenberg als Wissenschaftler, in: R. B.: Georg Christoph Lichtenberg, (Darmstadt 1992), 130–168.

Engelhardt, Wolf von: Georg Christoph Lichtenberg und die Naturwissenschaft seiner Zeit, in: Lichtenberg. Streifzüge der Phantasie, hg. von Jörg Zimmermann, (Hamburg 1988), 132–156.

Jaton, Anne-Marie: Johann Caspar Lavater. Philosoph – Gottesmann, Schöpfer der Physiognomik. Eine Bildbiographie, (Zürich 1988).

Kindlers Neues Literatur Lexikon, Bd. 10, La-Ma, (München 1990), 61.

Kleisner, Friederike: Körper und Seele bei Georg Christoph Lichtenberg, (Würzburg 1998).

Mog, Paul: Georg Christoph Lichtenberg. Die Psychologie des „Selbstdenkers“, in: Wegbereiter der Psychologie. Der geisteswissenschaftliche Zugang. Von Leibniz bis Foucault, hg. Von Gerd Jüttemann, 2. Auflage, (Weinheim 1995), 41-47.

Neumann, Gerhard: „Rede, damit ich dich sehe“. Das neuzeitliche Ich und der physiognomische Blick, in: Das neuzeitliche Ich in der Literatur des 18. und des 20. Jahrhunderts. Zur Dialektik der Moderne, hg. von Ulrich Fülleborn und Manfred Engel, (München 1988), 71–108.

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Ohage, August: Aus der Korrespondenz Johann Georg Zimmermanns mit Lavater, in: Lichtenberg-Jahrbuch 1995, 257-262.

Ohage, August: Lichtenberg in der Korrespondenz zwischen Johann Caspar Lavater und Johann Georg Zimmermann. II, in: Lichtenberg-Jahrbuch 2001, 139-149.

Pfotenhauer, Helmut: Sich selber schreiben. Lichtenbergs fragmentarisches Ich, wieder in: H. Pf.: Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik, (Tübingen 1991), 5–26 [erstmals 1988].

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Voigt, Gerhard: Über die charakterisierende Personenbeschreibung und Lavaters Physiognomik, in: „Praxis Deutsch, 12, (1985).

Weigelt, Horst: J. K. Lavater. Leben, Werk und Wirkung, (Göttingen 1991).

Internetquelle

Bildnachweis:

Abb. 1: <http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:Lavater.jpg> (aufgerufen am 23.09.2007)

7 Erklärung

Die Unterzeichnende versichert, dass sie die vorliegende schriftliche Hauptseminararbeit selbstständig verfasst und keine anderen als die von ihr angegebenen Hilfsmittel benutzt hat. Die Stellen der Arbeit, die anderen Werken dem Wortlaut oder dem Sinne nach entnommen sind, wurden in jedem Fall unter Angabe der Quellen (einschließlich des World Wide Web und anderer elektronischer Text- und Datensammlungen) kenntlich gemacht. Dies gilt auch für beigegebene Zeichnungen, bildliche Darstellungen, Skizzen und dergleichen.

München, 02. Oktober 2007

_________________________

Gina Saiko

[...]


1 Vgl. Anne-Marie Jaton, Johann Caspar Lavater. Philosoph – Gottesmann, Schöpfer der Physiognomik. Eine Bildbiographie, (Zürich 1988), 83.

2 Vgl. Helmut Pfotenhauer, Sich selber schreiben. Lichtenbergs fragmentarisches Ich, in: „Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik“, (Tübingen 1991), 11.

3 Vgl. Carl Niekerk, Zwischen Naturgeschichte und Anthropologie. Lichtenberg im Kontext der Spätaufklärung, (Tübingen 2005), 30 ff.

4 Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Erster Versuch. (Leipzig und Winterthur 1775), 13.

5 Georg Christoph Lichtenberg, Über Physiognomik; wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis, in: „Georg Christoph Lichtenberg. Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Promies, Band III, (München 1972), 258.

6 Vgl. Anne-Marie Jaton, a. a. O., 63.

7 Ebd., 69.

8 Ebd.

9 Abb. 2: ebd., 113.

10 Vgl. ebd., 70f.

11 Vgl. Kindlers Neues Literatur Lexikon, Bd. 10, La-Ma, (München 1990), 61.

12 Vgl. Horst Weigelt, J. K. Lavater. Leben, Werk und Wirkung, (Göttingen 1991), 97f.

13 ebd., 98.

14 Vgl. Anne-Marie Jaton, a. a. O., 74.

15 Gerhard Voigt, Über die charakterisierende Personenbeschreibung und Lavaters Physiognomik, in: „Praxis Deutsch, 12, (1985), 66.

16 Abb. 4: Anne-Marie Jaton, a. a. O., 101.

17 Vgl. Carl Niekerk, Zwischen Naturgeschichte und Anthropologie. Lichtenberg im Kontext der Spätaufklärung, (Tübingen 2005), 142.

18 Vgl. ebd., 145.

19 Vgl. Anne-Marie Jaton, a. a. O., 82.

20 Vgl. ebd., 84.

21 Vgl. Paul Mog, Georg Christoph Lichtenberg. Die Psychologie des „Selbstdenkers“, in: „Wegbereiter der Psychologie. Der geisteswissenschaftliche Zugang. Von Leibniz bis Foucault“, hg. Von Gerd Jüttemann, (Weinheim 1995), 42.

22 Ebd.

23 Zimmermann hat die Kontroverse zwischen Lavater und Lichtenberg durch seine unsachliche Einmischung stark vorangetrieben und verschärft.

24 August Ohage, Lichtenberg in der Korrespondenz zwischen Johann Caspar Lavater und Johann Georg Zimmermann. II, in: „Lichtenberg-Jahrbuch“ (2001), 146.

25 Vgl. Gerhard Neumann, „Rede, damit ich dich sehe“. Das neuzeitliche Ich und der physiognomische Blick, in: „Das neuzeitliche Ich in der Literatur des 18. und des 20. Jahrhunderts. Zur Dialektik der Moderne“, hg. von Ulrich Fülleborn und Manfred Engel, (München 1988), 88f.

26 Vgl. Smail Rapic, Die Psychologie als Nachfolgerin der Philosophie. Methodischer Anspruch und pädagogische Konsequenzen der „Observations on Man“ David Hartleys, in: „Lichtenberg-Jahrbuch“ (2001), 84-99 und vgl. Helmut Pfotenhauer, a. a. O., 13f.

27 Vgl. Friederike Kleisner, Körper und Seele bei Georg Christoph Lichtenberg, (Würzburg 1998), 120ff.

28 Vgl. Carl Niekerk, a. a. O., 142.

29 Lavater, a. a. O., Vorrede, ohne Seitenangaben [S. 4 der <Vorrede>].

30 Vgl. Carl Niekerk, a. a. O., 144f.

31 Vgl. Horst Weigelt, a. a. O., 99f.

32 Vgl. Anne-Marie Jaton, a. a. O., 104.

33 Horst Weigelt, a. a. O., 119.

34 Vgl. Anne-Marie Jaton, a. a. O., 100f.

35 Vgl. August Ohage, Lichtenberg als Beiträger zu Lavaters „Physiognomischen Fragmenten", in: „Lich­tenberg-Jahrbuch“ (1990), 30ff.

36 Abb. 3: Anne-Marie Jaton, a. a. O., 77.

37 Anne-Marie Jaton, a. a. O., 73.

38 Sudelbücher, Heft F, Nr. 521, in: W. Promies (Hg.), G. Ch. Lichtenberg, Schriften und Briefe, Bd. 1, (München 1972), 532.

39 Vgl. Gerhard Voigt, a. a. O., 66.

40 Vgl. Horst Weigelt, a. a. O., 100.

41 Vgl. ebd., 101.

42 Vgl. Anne-Marie Jaton, a. a. O., 76.

43 Vgl. ebd., 86.

44 Vgl. ebd., 99.

45 Vgl. ebd., 97.

46 Johann Wolfgang Goethe, Dichtung und Wahrheit, (Frankfurt 1975), 831.

47 Vgl. Paul Mog, a. a. O., 46.

48 Anne-Marie Jaton, a. a. O., 106.

49 Vgl. Horst Weigelt, a. a. O., 115 ff.

50 Anne-Marie Jaton, a. a. O., 89.

51 Vgl. Anne-Marie Jaton, a. a. O., 94ff.

52 Ebd., 114.

Final del extracto de 24 páginas

Detalles

Título
Lavaters Wissenschaftsverständnis im Kontext der Anthropologie des 18. Jahrhunderts
Universidad
LMU Munich  (Institut für deutsche Philologie)
Curso
Hauptseminar Literatur und Anthropologie in der Spätaufklärung: Lichtenberg und Schiller
Calificación
1,0
Autor
Año
2007
Páginas
24
No. de catálogo
V111129
ISBN (Ebook)
9783640092253
ISBN (Libro)
9783640124817
Tamaño de fichero
1036 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Lavaters, Wissenschaftsverständnis, Kontext, Anthropologie, Jahrhunderts, Hauptseminar, Literatur, Anthropologie, Spätaufklärung, Lichtenberg, Schiller
Citar trabajo
Gina Saiko (Autor), 2007, Lavaters Wissenschaftsverständnis im Kontext der Anthropologie des 18. Jahrhunderts, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/111129

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