Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretischer Rahmen
2.1. Definition von Populismus
2.1.1. Schwierigkeiten
2.1.2. Zentrale Aspekte von Populismus
2.2. Populismus in Westeuropa
2.3. Rechts- und Linkspopulismus in Frankreich
2.4. Kontext: Präsidentschaftswahl 2012 in Frankreich
3. Methodische Vorgehensweise
4. Analyse
4.1. Rede von Marine Le Pen am 5. Januar 2012 ‚Vœux à la presse‘
4.2. Rede von Jean-Luc Mélenchon am 4. Januar 2012 ‚Vœux 2012 de Jean-Luc Mélenchon, candidat du Front de Gauche‘
4.3. Vergleich der Reden
5. Fazit und Ausblick
Bibliografie
Résumé
Le populisme constitue un phénomène clé dans la vie politique de l’Europe occidentale. Quand même, il apparaît difficile de proposer une seule définition de ce terme. Dans la littérature scientifique existent néanmoins des caractéristiques du discours et de l’idéologie populiste étant l’antielitisme, la focalisation sur ‘le peuple’, l’immigration, la régionalisation, la corruption et l’euroscepticisme. Mais il ne semble pas évident comment les populistes de droite se distinguent des populistes de gauche. La populiste de droite Marine Le Pen (Front national, FN) et le populiste de gauche Jean-Luc Mélenchon (Front de Gauche, FG) se portaient candidat.e.s à l’élection présidentielle de 2012 et sont très présent.e.s dans les médias dès aujourd’hui. Au moyen d’une analyse de contenu, la question doit être répondue, dans quelle mesure le discours des populistes de droite se distingue de celui des populistes de gauche en France. Les discours ont été comparés concernant les caractéristiques du discours et de l’idéologie. L’analyse et la comparaison montrent qu’il y a des similitudes considérables dans le discours de Le Pen (2012) et Mélenchon (2012), bien sûr qu’il existe aussi des différences dans l’idéologie et dans le discours.
1. Einleitung
Im Jahr 2002 schrieb die renommierte Populismusforscherin Margaret Canovan noch, dass eine sporadische Zunahme populistischer Bewegungen in vielen etablierten Demokratien festzustellen sei (vgl. Canovan 2002, S. 27). 19 Jahre später sind rechts- wie linkspopulistische Parteien und Bewegungen in Europa omnipräsent geworden. Es gilt als Konsens, dass Populismus sich in liberalen Demokratien verbreitet und die Erklärungen dafür mannigfaltig sind (vgl. Canovan 2005, S. 67). Taggart (2017, S. 248) zufolge ist die starke Zunahme an rechtspopulistischen Parteien zu einer zentralen Eigenschaft gegenwärtiger europäischer Parteienpolitik geworden.
Die Fragestellung, der in der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden soll, lautet, inwiefern es Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen rechts- und linkspopulistischen Diskursen in Frankreich gibt. Untersucht werden jeweils eine Rede von Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon aus dem Präsidentschaftswahlkampf 2012. Die Fragestellung erscheint relevant, weil der rechtspopulistische FN regelmäßig elektorale Erfolge feiert und Le Pen medial sehr präsent ist. Die mediale Präsenz gilt auch für Mélenchon. In der Forschungsliteratur werden eine Reihe von Charakteristika und Kernthemen von Populist*innen erläutert. In der vorliegenden Arbeit soll herausgestellt werden, ob und wenn ja, in welchem Maße sich rechts- und linkspopulistische Diskurse in Frankreich ähneln bzw. voneinander unterscheiden.
Neben Canovan (1999, 2002, 2004, 2005), die sich ausführlich mit dem Verhältnis von Populismus und Demokratie beschäftigt, gelten Mudde (2016) und Mudde/Rovira Kaltwasser (2012a, 2012b) als Standardautor*innen in der Populismusforschung. Mudde/Rovira Kaltwasser (2012a) beschäftigen sich mit den Effekten populistischer Akteur*innen auf liberale Demokratien und mit den Bedingungen, unter denen diese ein Korrektiv oder eine Gefahr für liberale Demokratien darstellen können. Mudde (2016) und Taggart (2017) unternehmen Versuche, eine Ideologie des Populismus herauszuarbeiten. Über die Ursprünge populistischer Bewegungen im französischen Parteiensystem schreibt Surel (2002). Die Problematik der Operationalisierung von Populismus ist weit verbreitet. Rooduijn/Pauwels (2011) stellen dar, wie mittels der klassischen und der computerbasierten Inhaltsanalyse Populismus gemessen werden kann.
Dass es nicht einfach ist, den Begriff des Populismus zu definieren, wird in 2.1. erläutert. Auf die spezielle Situation des Populismus in Westeuropa wird in 2.2. eingegangen. Weil in der vorliegenden Arbeit Fälle aus Frankreich untersucht werden, wird in 2.3. dargestellt, wie die Situation des Rechts- und Linkspopulismus ebendort ist. In 2.4. erfolgt eine kurze kontextuelle Einordnung der Analyse. Wie diese methodisch erfolgen soll, wird in 3. erklärt. In 4.1. wird anhand der in 3. beschriebenen Vorgehensweise die Rede von Le Pen (2012) analysiert. Dasselbe erfolgt in 4.2. für Mélenchons (2012) Rede, woraufhin in 4.3. ein Vergleich der Reden im Hinblick auf Charakteristika von Populismus erfolgt. In 5. wird die Fragestellung beantwortet.
‚Das Volk‘ wird in der Arbeit in einfache Anführungszeichen gesetzt, da es aufgrund der Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Regime negative Assoziationen wecken kann.
2. Theoretischer Rahmen
2.1. Definition von Populismus
2.1.1. Schwierigkeiten
In der Forschungsliteratur besteht der Konsens, dass Populismus einer der am meisten (aus-)genutzten Begriffe im akademischen wie nicht-akademischen Bereich ist (vgl. Mudde/Rovira Kaltwasser 2012a, S. 1). Er hat Canovan (2005, S. 79) zufolge keine einheitliche Geschichte, kein einheitliches Programm und keine einheitliche soziale Grundlage. Ihm sei eine „awkward conceptual slipperiness“ (Taggart 2000, S. 1) eigen. Demnach gibt es verschiedene Möglichkeiten, den Begriff des Populismus zu verstehen und zu gebrauchen, da er breit und vage angelegt sei (vgl. Canovan 1999, S. 3; Mudde/Rovira Kaltwasser 2012a, S. 3).
Auch in linguistischer Hinsicht bereitet der Begriff Schwierigkeiten. Mudde (2016, S. 295) beschreibt, dass ‚populist radical right‘ sowohl im Sinne von ‚rechtsextrem‘, als auch ‚rechtsradikal‘ und ‚rechtspopulistisch‘ gebraucht wird. Weiterhin gibt es Schwierigkeiten mit dem Volksbegriff, der als eines der zentralen Konzepte im Populismus gilt. So gibt es linguistische Unterschiede zwischen dem französischen peuple, dem deutschen ‚Volk‘ und dem englischen people (vgl. Mény/Surel 2000, zitiert nach Canovan 2005, S. 79). The people sind zudem verschiedene Bedeutungen eigen, die zum Teil inkompatibel miteinander sind. Zum einen kann ‚das Volk‘ als Souverän gemeint sein. Zweitens kann der Begriff auf Völker (peoples) als Nationen verweisen und drittens kann es für die Konzeption ‚des Volks‘ im Gegensatz zur herrschenden Elite stehen (‚gewöhnliche Leute‘). Sind dies alles Konzeptionen kollektiver politischer Identitäten, sind die Kollektive, auf die sie sich beziehen, verschieden und mit jeweils eigenen Herausforderungen (vgl. Canovan 2005, S. 2). Die Autorin (2005, S. 3) sieht weiterhin Unklarheiten darin, wie ein ‚Volk‘ von einem anderen unterschieden werden kann. Ist ‚das Volk‘ ein Teil oder das Ganze der politischen Gemeinschaft? Weiterhin stellt sich die Frage, ob die Autorität des souveränen ‚Volks‘ eine solidere Basis hat als Mythen. Aufgrund der Vagheit des Volksbegriffs beanspruchen verschiedenste Gruppen für sich, ‚das Volk‘ zu repräsentieren oder in seinem Namen zu sprechen (vgl. Canovan 2005, S. 1 f.). Die Vagheit des Begriffs birgt politischen Nutzen, indem er so ausgelegt werden kann, dass er verschiedenen politischen Vorhaben dienlich sein kann (vgl. Canovan 2005, S. 3).
In der Forschungsliteratur herrscht der Konsens, dass Populismus im negativen wie im positiven Sinn gebraucht wird (vgl. Lazar 1997, S. 121). Canovan (1999, S. 12 f.) zufolge wird er oft als eine Karikatur von Demokratie angesehen, die das gesamte demokratische System gefährden kann. Damit einhergehend ist bei Mudde (2016, S. 295) zu lesen, dass Populismus zentrale Werte der liberalen Demokratie herausfordert. Das negative Bild ist laut Canovan (2004, S. 241) in der Forschung verbreitet, in dem Populismus oft als pathologisches Symptom einer gesellschaftlichen Krankheit angesehen wird. Vielmehr gilt es ihr zufolge jedoch, populistische Bewegungen in etablierten demokratischen Systemen zu verstehen und sich mit ihrem Anspruch auf demokratische Legitimität auseinanderzusetzen (vgl. Canovan 1999, S. 6 f.). Sie kritisiert aber das monolithische Volksverständnis von Populist*innen, die ‚das Volk‘ in der Mehrheit der Bevölkerung verorten (vgl. Canovan 2002, S. 37), wodurch der hohe Wert des Mehrheitsprinzips für Populist*innen deutlich wird. In der Geschichte der liberalen Demokratie mag zudem die Mobilisierung der ‚gewöhnlichen Leute‘ eine entscheidende Rolle gespielt haben, sie wird aber auch mit revolutionärer Gewalt und der Schaffung populistischer Diktaturen assoziiert (vgl. Canovan 2005, S. 66), wodurch der Kritik, Populismus sei antidemokratisch, eine gewisse Berechtigung zugestanden werden kann.
Zusammengefasst lassen sich folgende positive Effekte von Populismus auf liberale Demokratien identifizieren: Populist*innen geben marginalisierten Gruppen nicht nur eine Stimme, sie mobilisieren sie und erheben den Anspruch darauf, sie zu repräsentieren, wodurch sie der demokratischen Rechenschaftspflicht nachkommen. Weiterhin bieten sie eine ideologische Brücke an, wodurch sie zur Weiterentwicklung des Parteiensystems und politischer Repräsentation beitragen, und bringen die konfliktuelle Dimension von Politik zurück, die die öffentliche Meinung und soziale Bewegungen revitalisieren (vgl. Mudde/Rovira Kaltwasser 2012a, S. 20 f.). So wie Populismus gesellschaftliche Gruppen inkludieren und ihnen zu mehr Sichtbarkeit in der Politik verhelfen kann, kann er genauso gut auf Grundlage des monolithischen Volkskonzepts gesellschaftliche Gruppen marginalisieren, auf Grundlage des Konzepts der Volkssouveränität politische Institutionen wie ‚checks and balances‘ und die Gewaltenteilung schwächen und so insgesamt zur Unterminierung von Minderheitenrechten und -schutz beitragen. Weiterhin kann die Etablierung neuer politischer Konfliktlinien (Populist*innen gegen Nicht-Populist*innen) stabile politische Koalitionen verhindern, genauso wie die Moralisierung von Politik (‚gute‘ Repräsentant*innen gegen ‚schlechte‘ Repräsentant*innen) begünstigen. Die Macht politischer Institutionen wie Parteien und Parlamente sowie nicht-gewählter Institutionen wie Zentralbanken kann durch eine plebiszitäre Transformation von Politik unterminiert werden. Schließlich kann der effektive demokratische Raum durch die Öffnung des politischen Lebens für Nicht-Angehörige der ‚Eliten‘, sowie durch das Mehrheitsprinzip und Antielitismus verkleinert werden (vgl. Mudde/Rovira Kaltwasser 2012a, S. 21 f.).
2.1.2. Zentrale Aspekte von Populismus
Sich selbst sehen Populist*innen als „true democrats“ (Canovan 1999, S. 2), die die von der Regierung, den etablierten Parteien und den Medien ignorierten Beschwerden und Meinungen ‚des Volks‘ aussprechen (vgl. Canovan 1999, S. 4). Sie beanspruchen, ‚das Volk‘ als den demokratischen Souverän und nicht Partikularinteressen zu repräsentieren (vgl. ebd.). Ihrem Selbstverständnis zufolge sind sie nicht populistisch und viele von ihnen lehnen die links-rechts-Unterscheidung ab, wie beispielsweise der FN, der erklärt, weder links noch rechts, sondern französisch zu sein (vgl. Mudde 2016, S. 295 f.). Damit geht Taggarts (2000) Konzept des New Populism einher, dem zufolge sich Parteien wie der FN, vor allem unter der Führung von Jean-Marie Le Pen, durch einen konfrontativen Stil und den Anspruch auszeichnen, ‚das Volk‘ als die rechtmäßige Quelle legitimer Macht zu repräsentieren, dessen Interessen und Wünsche von eigennützigen Politiker*innen und politisch korrekten Intellektuellen übergangen werden (vgl. Canovan 2004, S. 242; 2005, S. 74 f., 76). Canovan (2002, S. 26) sieht einen Widerspruch zwischen der Ideologie und Praxis von Demokratien: Die Ideologie von Demokratien, die sich durch Inklusivität und Verständlichkeit für die Massen auszeichnet und ‚das Volk‘ mit der Politik verbinden soll, repräsentiert nicht die Weise, auf die Politik in Demokratien funktioniert. Oft erscheint den Bürger*innen der Weg von den Inputs zu den Outcomes intransparent (vgl. Canovan 2002, S. 39), womit ein zentrales Problem parlamentarischer Demokratien beschrieben wird. Dies bietet ein Einfallstor für Populist*innen, zu behaupten, die Demokratie werde betrogen und die Unzufriedenen unter dem Banner zu mobilisieren, ‚dem Volk‘ die politische Macht zu geben (vgl. Canovan 2002, S. 26). Die Ideologie des Populismus schließt die Lücke zwischen ‚dem Volk‘ und der Politik, indem sie die intransparenten Komplexitäten in ein greifbares Bild überträgt (vgl. Canovan 2002, S. 30, 34).
Taggart (2000) weist Populismus eine vielrezipierte „thin-centered nature“ zu (siehe auch Mudde/Rovira Kaltwasser 2012a, S. 9; Rooduijn/Pauwels 2011, S. 1273). Dies bedeutet, dass Populismus sich mit anderen Ideologien wie Liberalismus, Sozialismus und Nationalismus verbinden kann (vgl. Mudde/Rovira Kaltwasser 2012a, S. 9). Weiterhin hat es eine „chameleonic nature“, deren Eigenschaften vom Umfeld bestimmt werden (vgl. ebd.; Taggart 2017, S. 249). Volkszentriertheit und Antielitismus gelten als Hauptkomponenten von Populismus (vgl. Rooduijn/Pauwels 2011, S. 1273). Aus populistischer Sicht schränken liberaldemokratische Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit und ‚checks and balances‘ die Handlungsmöglichkeiten ‚des Volks‘ ein, kollektive Macht auszuüben, wodurch deren Unzufriedenheit mit dem politischen System wächst. Deshalb ist in der Forschungsliteratur oft zu lesen, dass Populist*innen direktdemokratische Partizipationsformen favorisieren, die aus deren Sicht ‚dem Volk‘ die politische Macht zurückgeben und die Lücke zwischen den Regierten und den Regierenden schließen (vgl. Mudde/Rovira Kaltwasser 2012b, S. 207 f.). Insgesamt bevorzugen Populist*innen die Opposition gegenüber der Regierungstätigkeit (vgl. Canovan 2005, S. 76; Mudde 2016, S. 300).
In seiner Essenz ist Populismus nach Mudde/Rovira Kaltwasser (2012a, S. 8) eine Form moralischer Politik, da die Unterscheidung zwischen ‚der Elite‘ und ‚dem Volk‘ in erster Linie eine moralische ist, in der ‚die Elite‘ als korrupt und ‚das Volk‘ als rein charakterisiert werden. Die meisten Konzepte von Populismus teilen die Idee der Existenz einer machtvollen Minderheit, die den Willen ‚des Volks‘ übergeht (vgl. ebd.).
2.2. Populismus in Westeuropa
Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts findet Populismus in Westeuropa vermehrte Verbreitung (vgl. Mudde/Rovira Kaltwasser 2012a, S. 4), populistische Parteien aus dem linken wie rechten Spektrum sind vertreten (vgl. Mudde/Rovira Kaltwasser 2012a, S. 2; Taggart 2017, S. 248). Einige von ihnen haben sich zu festen Bestandteilen der Parteiemsysteme mancher Länder etabliert (vgl. Taggart 2017, S. 248), was auf den FN in Frankreich, der im Juni 2018 in Rassemblement national umbenannt wurde, zutrifft. Mudde/Rovira Kaltwasser (2012b, S. 222) zufolge haben es populistische Parteien in konsensuellen Demokratien einfacher, politische Macht zu erringen, als in majoritären Demokratien wie Großbritannien. Genauere Ergebnisse können allerdings nur Regionen und Zeit übergreifende Analysen liefern. Populistische Parteien in Westeuropa legen zudem einen hohen Wert auf markante Führungspersonen (vgl. Mudde/Rovira Kaltwasser 2012b, S. 219).
Taggart (2017, S. 248) stellt vier Kernthemen von populistischen Parteien in Westeuropa vor: Immigration, Regionalismus, Korruption und Euroskeptizismus. Diese Themen sind nicht per se populistisch, werden aber von Populist*innen politisiert und so ausgelegt, dass sie Angriffe auf die liberaldemokratischen Prinzipien Westeuropas darstellen. Oft stehen diese Themen miteinander in Verbindung (vgl. Taggart 2017, S. 257). Populistische Parteien thematisieren sie jedoch auf unterschiedliche Weisen (vgl. Taggart 2017, S. 257 f.). Auch kann sich der Fokus auf Themen ändern, was als natürlicher Entwicklungsprozess von Parteien angesehen wird, die auf Veränderungen im politischen Kontext reagieren (vgl. Taggart 2017, S. 258).
Immigration ist dem Autor (2017, S. 250) zufolge am meisten unter populistischen Parteien in Westeuropa verbreitet. Hierbei wird ‚das Volk‘ als homogene Einheit betont, die Weisheit und Tugend verkörpere. Diese Eigenschaften werden durch Immigration jedoch unterminiert, insbesondere dann, wenn diese als ein von ‚der Elite‘ betriebenes Projekt angesehen wird, um Multikulturalismus zu verbreiten. Der Fokus auf Immigration führe dazu, dass Populismus in Westeuropa in erster Linie als Rechtspopulismus charakterisiert wird. In der Tat befinden sich die meisten dieser Parteien im rechten Spektrum (vgl. Taggart 2017, S. 252).
Für den Regionalismus ist charakteristisch, dass eine subnationale Gemeinschaft den Zentralstaat kritisiert und unter dem Licht der Ablehnung ‚der Elite‘ und politischer Spielregeln regionale Autonomie fordert. Vertreter*innen des Regionalismus sind der Auffassung, dass die Rufe nach Unabhängigkeit vom Zentralstaat vom tugendhaften ‚Volk‘ kommen, ‚die Elite‘ ihnen dies jedoch verwehrt (vgl. Taggart 2017, S. 250, 253).
Beim Thema Korruption, das die Nutzung eines öffentlichen Amts zur privaten Bereicherung meint (vgl. Taggart 2017, S. 254), zeigt sich deutlich die Tendenz zum Moralismus. Sie seien davon überzeugt, dass eine korrupte ‚Elite‘ existiere. Einerseits wird Politik als notwendig angesehen, andererseits ist Korruption in dieser fast endemisch und eine unvermeidliche Konsequenz (vgl. ebd.). Es bestehe der Verdacht, dass politische Aktivitäten die Tugend des ‚gewöhnlichen Volks‘ korrumpieren (vgl. Taggart 2017, S. 250). Dadurch werden Politiker*innen unrepräsentativ und entfremden sich von den Belangen ihrer Wähler*innenschaft (vgl. Taggart 2017, S. 255). Dieser Vorwurf sei besonders bei Rechtspopulist*innen prominent (vgl. Taggart 2017, S. 260). Linkspopulist*innen unterstellen der wohlhabenden Elite mächtige Verbindungen zur Finanzwelt (vgl. ebd.).
Euroskeptizismus kennzeichnet eine Antipathie gegen die Europäische Union (EU) (vgl. Taggart 2017, S. 250). Sie werde als ein Projekt ‚der Elite‘ angesehen, das bestenfalls kompliziert und fern erscheine und schlechtestenfalls demokratisch defizitär sei (vgl. Taggart 2017, S. 257). Zwei Entwicklungen haben die Bedeutung des Euroskeptizismus für Populist*innen in Westeuropa verstärkt: Die steigende Politisierung des Themas Europa in der einheimischen Politik der Mitgliedstaaten habe zu der Annahme beigetragen, dass der Integrationsprozess von ‚der Elite‘ forciert werde, die annahm, dass es in der Bevölkerung einen breiten Konsens zugunsten der Europäischen Integration gebe. Die zweite Entwicklung bezeichnet Krisen wie die Wirtschaftskrise und insbesondere die Eurokrise ab 2009, die Flüchtlingskrise ab 2015 und das Votum für den Brexit in Großbritannien 2016 (vgl. Taggart 2017, S. 256).
Laut Mudde (2016, S. 298) ist die rechtspopulistische Parteienfamilie die erfolgreichste im Europa der Nachkriegszeit und es herrscht ihm zufolge der breite Konsens vor, dass sie die zentrale Herausforderung für die gegenwärtigen europäischen Demokratien darstellt (vgl. Mudde 2016, S. 300). Allgemein gesprochen ist bei Rechtspopulist*innen eine Ablehnung liberaldemokratischer Prinzipien wie Pluralismus und Minderheitenschutz festzustellen. Volkssouveränität und das Mehrheitsprinzip nehmen zentrale Rollen ein (vgl. Mudde 2016, S. 303). ‚Das Volk‘ sei ethnisch und moralisch homogen, Pluralismus unterminiere den homogenen Volkswillen und schütze Partikularinteressen wie etwa Minderheitenrechte (vgl. Mudde 2016, S. 297). Ein starker Fokus liegt zudem auf der Kriminalität von Immigrant*innen (vgl. ebd.). Taggart (2017, S. 260) zufolge mobilisieren Rechtspopulist*innen Verlierer*innen der Globalisierung durch die Verteidigung des Nationalstaats und der nationalen Gemeinschaft. Elektoral erfolgreiche rechtspopulistische Parteien zeichnen sich durch eine*n ansprechende*n Anführer*in, eine gut funktionierende Organisation und professionelle Propaganda aus (vgl. Mudde 2016, S. 299 f.). Insgesamt wurden sie bisher von größerem politischen Erfolg durch resiliente Koalitionen von Oppositionsparteien, der Zivilgesellschaft und insbesondere von Gerichten zurückgehalten (vgl. Mudde 2016, S. 302). Wie sozialdemokratische Parteien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und grüne Parteien in den 1990ern können sich jedoch auch rechtspopulistische Parteien von erfolgreichen Oppositionsparteien zu effektiven Regierungsparteien transformieren (vgl. Mudde 2016, S. 303).
2.3. Rechts- und Linkspopulismus in Frankreich
In Frankreich wird Populismus in erster Linie als diffamierender Begriff verwendet und auf politische Akteur*innen mit einer demagogischen Rhetorik angewandt, die die traditionellen politischen Eliten kritisieren (vgl. Surel 2002, S. 139). Die Quelle populistischer Politik in Frankreich wird im Kollaps des parlamentarischen Systems während der Vierten Republik (1946-1958) gesehen. Die Logik des Parlamentarismus und die Dysfunktionalitäten des Parteiensystems werden für die Instabilität und Ineffizienz von Regierungen verantwortlich gemacht. Einen Gegensatz dazu stellte Charles de Gaulle dar, der von 1959 bis 1969 Präsident der Fünften Republik war und beanspruchte, eine unmittelbare und genuine Verbindung zum ‚Volk‘ zu haben (vgl. Surel 2002, S. 140). Auf seine Präsidentschaft ist die besondere Rolle des Präsidenten zurückzuführen, der über die politischen Institutionen wacht und die Nation repräsentiert, wodurch er eine besondere Beziehung zum ‚Volk‘ hat, das ihn legitimiert (vgl. Surel 2002, S. 141). De Gaulles Regierungsweise hinterließ bleibende Spuren im politischen Leben Frankreichs, insbesondere aufgrund des Einsatzes von Referenden, die der Überzeugung entsprangen, dass das souveräne ‚Volk‘ in letzter Instanz über politische Belange entscheiden müsse (vgl. Surel 2002, S. 140 f.). Vier Entwicklungen begünstigen dem Autor (2002, S. 141) zufolge den Erfolg des Populismus in Frankreich: Verschiebungen in den ideologischen und Parteienbindungen, die Krise traditioneller politischer Gruppierungen, die steigende Personalisierung des öffentlichen Lebens und die wichtiger werdende Rolle der Medien in der Politik.
In den frühen 1980er Jahren erzielte der FN seine ersten Wahlerfolge mit dem Ruf, genuin demokratische Mechanismen wiederzubeleben, um ‚das Volk‘ als konstitutives Prinzip des politischen Systems zu manifestieren (vgl. Surel 2002, S. 143). Er ist entscheidend verantwortlich für die Transformation der Cleavages zwischen Parteien und Parteienbindungen (vgl. Lipset/Rokkan 1967) in Frankreich (vgl. Surel 2002, S. 146). Die zentralen Ideen des FN beruhen auf der Kluft zwischen politischen Akteur*innen und Institutionen, auf der Volkssouveränität und der Republik als Grundlagen der Demokratie in Frankreich, auf der Bevorzugung direkter Demokratie und auf dem inversen Inegalitarismus, dem zufolge ‚das Volk‘ den Regierenden nicht gleichstellt, sondern moralisch besser als diese sei (vgl. Surel 2002, S. 147). Der FN nimmt eine präexistierende Konzeption ‚des Volks‘ vor, das in Blut, Geschichte und Sprache vereint sei. ‚Volk‘ wird also im nationalen Sinne verstanden und Populismus diene als Vehikel für Ansprüche, die in erster Linie nationalistischen Charakters sind (vgl. Surel 2002, S. 149). Wie Le Pen ‚das Volk‘ konzipiert, wird in 4.1. erläutert. Aufgrund der von Surel beschriebenen Volkskonzeption gilt der FN daher zuallererst als nationalistische Einthemenpartei aufgrund seines Fokus auf Immigration (vgl. Surel 2002, S. 148). Die wichtigste Eigenschaft des Populismus des FN ist nach Surel (ebd.) das Ideal der Ähnlichkeit, womit Repräsentation möglichst distanzlos in geografischer, sozialer und ethnischer Hinsicht stattfinden sollte. Politische Repräsentation wird also nicht kategorisch abgelehnt. Vielmehr etabliert sie die Legitimität der Parteiführer*innen des FN und ihren Anspruch, authentische Repräsentant*innen ‚des Volks‘ nach ihrem Verständnis zu sein.
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