Zum Verhältnis von Marx' Emanzipations- und Arendts Freiheitsbegriff


Essay, 2020

12 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Hannah Arendt behandelt in ihrem Essay „Die Freiheit, frei zu sein“ nicht nur die Entwicklung der Revolution als Begriff im Laufe des 18. Jahrhunderts bis hin zu ihrer Zeit, sondern auch deren Ziele und Anfänge. Das Ziel einer Revolution muss mit ihrem Ergebnis nicht übereinstimmen. Darin ist sich auch Marx sicher, der die Revolution in seiner Schrift „Zur Judenfrage“ ebenfalls thematisiert und sich, hinsichtlich der Frage, ob Menschen jüdischen Glaubens von einem christlichen Staat emanzipiert werden können, auf Bruno Bauers Schriften „Die Judenfrage“ und „Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden“ bezieht. Beide gestehen der Freiheit eine gewisse rechtlich festgelegte Rolle zu. Arendt behandelt dieses Recht auf Freiheit eher als Naturrecht, Marx zitiert dagegen die Déclaration des droits de l'homme et du citoyen 1791 und 1793 aus Frankreich, um einen Beleg für die Freiheit als Menschenrecht anzuführen.

In der vorliegenden Arbeit werden die beiden marxschen Begriffe politische und menschliche Emanzipation ausgelegt*, um mithilfe dieser eine Parallele zu Arendts Verständnis der Unterscheidung zwischen Befreiung und Freiheit zu ziehen. Anhand dieses Leitfadens soll ausgemacht werden, inwieweit sich die Vorstellungen Marx' und Arendts decken bzw. unterscheiden und ob Arendt einige Wahrnehmungen Marx' kritisiert haben könnte. Es wird mit Arendts Kritik über die Eröffnung revolutionärer Aufstände begonnen, um daraufhin auf das Ergebnis solcher Ereignisse zu sprechen zu kommen. Bevor eine genaue Antwort darauf gefunden werden kann, wird besprochen werden, inwieweit der Staat im Dienste des Menschen steht. Daran anknüpfend ist es wichtig zu behandeln, durch wen dieser Zweck verwirklicht werden sollte und was dazu nötig sei.

Arendt bringt offensichtlich eine Kritik gegenüber dem generell herrschenden Konsens über die Anfänge von Revolutionen vor, indem sie darlegt, dass Revolutionen zwar vom Volk aus gehen, jedoch durch die Bedingungen eines geschwächten Staates mit Leichtigkeit gelängen. Der Grund dafür sei, „dass diejenigen, die angeblich eine Revolution »machen«, die Macht nicht »übernehmen«, sondern sie von der Straße aufsammeln“1. Arendts Blickpunkt zeigt, dass der Staat sich vor einer Revolution bereits in einem Auflösungsprozess befunden haben muss und erst dadurch anfällig für die Machtübernahme von unten wird:

„Überall dort, wo sich diese Auflösungsprozesse – üblicherweise über einen längeren Zeitraum – ungehindert vollziehen konnten, kann es zu Revolutionen kommen, vorausgesetzt, es gibt eine ausreichend große Bevölkerung, die bereit ist für den Zusammenbruch eines Regimes und gewillt, die Macht zu übernehmen.“2

Bei Marx hingegen ist der Staat ein stabiler, der erst durch Gewalt instabil wird, d.h. gestürzt werden muss.3 Diese Vorstellung steht mit der Ansicht Marx', „daß ein solches Volk die Berechtigung des egoistischen, vom Mitmenschen und vom Gemeinwesen abgesonderten Menschen feierlich proklamiert“4 in Konflikt, obwohl in einem derartigen Szenario eher Sicherheit (durch Instabilität des Staates) und Egoismus (durch das Bilden einer Gemeinschaft) aufgegeben werden müssten. Arendt hingegen, behauptet genau das Gegenteil. Die politische Situation muss zuvor unsicher gewesen sein, wodurch die Bürger die Notwendigkeit und auch die Möglichkeit sehen einzugreifen. Dieses Handeln zeugt von Egoismus, denn die revolutionierende Masse möchte ihre eigene Situation verbessern. Das Leid Anderer wird von Zeit zu Zeit in Kauf genommen.

Hannah Arendt beschreibt die Veränderung der Bedeutung des Begriffs der Revolution und auch, was genau das Ziel einer solchen war. „Erst nach dem Februar 1848 […] notiert Marx, dass Revolutionen nunmehr »Umwälzung der bürgerlichen Gesellschaft [bedeutet], während es vor dem Februar bedeutet hat: Umwälzung der Staatsform«.“5 Marx geht in seinem Text mehrfach darauf ein, was er unter einer Art Politisierung der bürgerlichen Gesellschaft versteht. Nämlich seien die „Elemente des bürgerlichen Lebens […] zu Elementen des Staatslebens erhoben“6 und durch die politische Revolution würde nicht nur die Herrschermacht gestürzt, sondern auch der politische Charakter der bürgerlichen Gesellschaft aufgehoben.7 Über Arendts Aussage könnte gesagt werden, dass sie in dieser Sache nur teilweise richtig liegt. Zwar löst die politische Revolution die Verantwortung des bürgerlichen Lebens von seiner Staatlichkeit ab, allerdings wird die Ordnung der Gesellschaft nicht völlig neu entworfen, bzw. in Marx' Wortlaut: „Die politische Revolution löst das bürgerliche Leben in seine Bestandtheile auf, ohne diese Bestandtheile selbst zu revolutionieren und der Kritik zu unterwerfen.“8 Es geht Marx zu diesem Zeitpunkt zwar auch noch um das Stürzen der Obrigkeit, jedoch lässt er die Veränderung des politischen Charakters der bürgerlichen Gesellschaft nicht unter den Tisch fallen, sondern behandelt diesen schon vor 1848.

Eine Revolution ist dann berechtigt, wenn der Staat seinen Zweck nicht mehr erfüllt. Marx entnimmt diese Zwecke aus der Déclaration des droits de l'homme et du citoyen 1791. Dort heißt es laut Marx in Artikel 2: „ Le but de toute association politique est la conservation des droits naturels et imprescriptibles de l'homme9. Daher erklärt auch er „das politische Leben für ein bloßes Mittel, dessen Zweck das Leben der bürgerlichen Gesellschaft ist“10. Der Staat ist also nur dazu berechtigt zu existieren, wenn er die Menschenrechte (mithilfe der Bürgerrechte) garantieren kann. Tut er dies nicht liegt eine Revolution sicher nicht mehr fern. Um eine Übereinstimmung der „bürgerlichen Gesellschaft“ und des „politischen Staats“ (Marx) gewährleisten zu können, seien „Stabilität“, „Integrität“ und „Autorität und Vertrauen in die Regierung“ wichtige Aspekte, die erfüllt sein müssen.11

Den Begriff der Integrität möchte ich hier besonders hervor heben. Sie kann nur bestehen, wenn die Werte der Bevölkerung und des Staates eine gewisse Konsistenz aufweisen. Dazu ist politisches Engagement der Bevölkerung unumgänglich, denn nur, wenn Vorstellungen geäußert werden, kann über deren Realisierung debattiert werden.

Hannah Arendt bringt in ihrer Schrift einen Gedanken des Politikers Louis Antoine de Saint-Just, eines Politikers der Zeit der Französischen Revolution hervor, um auf die Veränderung des Freiheitsbegriffs um diese Zeit und eine damit einhergehende Richtungsänderung der Revolution zu verdeutlichen. Implizit macht sie dadurch auch auf die Voraussetzung politischen Engagements aufmerksam. Denn Saint-Just bezieht sich in seiner Aussage auf die Befreiung von Not und setzt Glück zur Realisierung politischer Tugenden, nämlich Leidenschaft, voraus. Ähnlich formuliert es Arendt selbst einige Seiten zuvor: „Nur diejenigen, die die Freiheit von Not kennen, wissen die Freiheit von Furcht in ihrer vollen Bedeutung zu schätzen, und nur diejenigen, die von beidem frei sind, von Not wie von Furcht, sind in der Lage, eine Leidenschaft für die öffentliche Freiheit zu empfinden“12.

Arendts Assoziation von politischem Engagement beschränkt sich nicht nur auf die Freiheit von Not und Furcht, sondern auch auf empfundenen Stolz gemeinsamen Eigentums, der den Antrieb für dieses Engagement geben soll: „Diese Straßen, diese Gebäude, diese Plätze, das gehört alles euch, das ist euer Besitz und damit auch euer Stolz.“13

Während Marx' Arbeit mit der Déclaration des droits de l'homme et du citoyen von 1791 und 1793, die er hervorbringt, um die Verankerung der Menschenrechte in Form von Gesetzen eines damalig außergewöhnlich freiheitlichen Staates dar zu legen, zeigt er außerdem dass die Religionsfreiheit unweigerlich durch die Menschenrechte vertreten sein muss. Denn Artikel 2 der Déclaration 1793 legt Freiheit als eines der Menschenrechte fest: „Ces droits sont l'égalité, la liberté, la sûreté, la propriété“. Diese wird näher dadurch bestimmt, dass alles getan werden darf, was keine andere Person einschränkt. Diese Definition bestimmt bereits folgenden Artikel 7 der Déclaration des droits de l'homme et du citoyen von 1793, wodurch Freiheit Religionsfreiheit garantiert:

„Le droit de manifester sa pensée et ses opinions, soit par la vole de la presse, soit de toute autre manière, le droit de s'assembler paisiblement, le libre exercice des cultes, ne peuvent être interdits. La nécessité d'énoncer ces droits suppose ou la présence ou le souvenir récent du despotisme.“

Durch die Existenz einer Staatsreligion werden deren Traditionen zu bürgerlichen Pflichten erklärt, was jeden, der dieser nicht angehört zwangsläufig nicht nur in der Ausübung seiner eigenen Religion, sondern auch an der Beteiligung des politischen Lebens eingeschränkt. Daraus kann geschlossen werden, dass Religionsfreiheit nur praktisch existieren kann, wenn es keine Staatsreligion gibt. Es darf keinen Widerspruch zwischen der Verfassung und allen denkbaren Religionen geben.

„Wenn der Jude vom christlichen Staat emancipiert sein will, so verlangt er, daß der christliche Staat sein religiöses Vorurtheil aufgebe. Gibt er, der Jude, sein religiöses Vorurtheil auf? Hat er also das Recht, von einem anderen diese Abdankung der Religion zu verlangen?“14

In diesen Worten Bauers wird der Staat gewissermaßen vermenschlicht. Er darf sich nicht durch Unterschiede, die auch zwischen Menschen festgestellt werden können konstituieren, sondern nur dadurch, was allen gemein ist.

„Der Staat hebt den Unterschied der Geburt, des Standes, der Bildung, der Beschäftigung in seiner Weise auf, wenn er Geburt, Stand, Bildung, Beschäftigung für unpolitische Unterschiede erklärt, wenn er ohne Rücksicht auf diese Unterschiede jedes Glied des Volkes zum gleichmäßigen Theilnehmer der Volkssouveränität ausruft.“15

Ein Staat darf eben nur als Hilfe genutzt werden, um diese Unterschiede zwischen Menschen „unschädlich zu machen“.

Andersherum gewährt Bauer Menschen jüdischen Glaubens keine Menschenrechte. Seiner Theorie nach ist das nur möglich, wenn sich das menschliche Wesen über das religiöse eines Menschen stellt.

Laut Bauer haben also alle religiösen Menschen keine Möglichkeit, die Menschenrechte in Gebrauch zu nehmen, da sie sich durch die religiöse Gemeinschaft definieren, zu der sie gehören und sich von allen Anderen „absondern“. Die Problematik seines Denkens liegt darin, dass er überhaupt verschiedene und auch verschiedenwertige Wesen einer Person artikuliert. Er vermischt hier die Sphären des Politischen und Gesellschaftlichen.

„Aber das Menschenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen von dem Menschen. Es ist das Recht dieser Absonderung, das Recht des beschränkten auf sich beschränkten Individuums.“16

Es liegt nahe, Bauer eine Verwechslung des Menschen mit dem Staatsbürger zu unterstellen. Ggf. glaubt er, die Pflichten eines Staatsbürgers seien die Pflichten eines Menschen. Würden diese Pflichten nicht eingehalten werden, so könnten diese Rechte auch nicht erhalten bleiben. Von folgendem Fall könnte sein Gedanke abgeleitet worden sein: Ein Mensch, der seine staatsbürgerlichen Pflichten nicht erfüllt, verdient seine staatsbürgerlichen Rechte nicht. Wie allerdings auch in diesem Satz werden Pflichten und Rechte hier näher durch die Staatsbürgerlichkeit bestimmt. Genauso könnte gesagt werden: Ein Mensch, der seine menschlichen Pflichten nicht erfüllt, verdient seine menschlichen Rechte nicht. Bauer vermischt wohl staatsbürgerliche und menschliche Rechte und Pflichten. Diese Fragen hier noch näher zu zerlegen würde den Umfang dieser Arbeit übersteigen. Jedoch ist schon allein durch die Darstellung dieser beiden Fragen klar, dass menschliche und staatsbürgerliche Rechte, sowie menschliche und staatsbürgerliche Pflichten nicht gleich gesetzt werden und sich nicht kreuzweise gegenseitig in irgendeiner Weise bedingen können. Das Ausüben oder nicht Ausüben staatsbürgerlicher Pflichten kann also keinen Einfluss auf den Erhalt von Menschenrechten haben.

Weil demnach jeder Mensch, egal ob und wenn ja egal welcher Religion dieser angehörig ist, ein Mensch bleibt und weil „der Theorie nach das politische Leben nur die Garantie der Menschenrechte, der Rechte des individuellen Menschen“ sei und es aufgegeben werden müsse, „sobald es diesem Zwecke, diesen Menschenrechten widerspricht“17, ist jeder, auch Menschen jüdischen Glaubens dazu berechtigt, von einem Staat mit einer Staatsreligion, „diese Abdankung der Religion zu verlangen“18.

[...]


* Hauptsächlich aus „I. Bruno Bauer: »Die Judenfrage« Braunschweig 1843“

1 Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein. Übersetzt von Andreas Wirthenson, dtv Literatur, 2018, S. 18.

2 Arendt, Die Freiheit, frei zu sein, S. 18.

3 Vgl. Karl Marx (1843): Zur Judenfrage. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Hg. v. d. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 43 Bände, Band 1, Berlin: Dietz-Verlag, 1956, S. 367+368.

4 Marx, Zur Judenfrage, S. 366.

5 Arendt, Die Freiheit, frei zu sein, S. 28.

6 Marx, Zur Judenfrage, S. 368.

7 Marx, Zur Judenfrage, S. 368.

8 Marx, Zur Judenfrage, S. 369.

9 Marx, Zur Judenfrage, S. 366.

10 Marx, Zur Judenfrage, S. 367.

11 Vgl. Arendt, Die Freiheit, frei zu sein, S. 8+9.

12 Arendt, Die Freiheit, frei zu sein, S. 26.

13 Arendt, Die Freiheit, frei zu sein, S. 10.

14 Marx, Zur Judenfrage, S. 347.

15 Marx, Zur Judenfrage, S. 354.

16 Marx, Zur Judenfrage, S. 364.

17 Marx, Zur Judenfrage, S. 367.

18 Marx, Zur Judenfrage, S. 347.

Excerpt out of 12 pages

Details

Title
Zum Verhältnis von Marx' Emanzipations- und Arendts Freiheitsbegriff
College
University of Freiburg  (Philosophisches Seminar)
Course
Freiheitsphilosophien des 18. und 19. Jahrhunderts
Grade
1,0
Author
Year
2020
Pages
12
Catalog Number
V1118653
ISBN (eBook)
9783346486479
ISBN (Book)
9783346486486
Language
German
Keywords
Marx, Arendt, Freiheit, Emanzipation
Quote paper
Johanna Hufnagel (Author), 2020, Zum Verhältnis von Marx' Emanzipations- und Arendts Freiheitsbegriff, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1118653

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