Ökokritische Analyse von Christa Wolfs "Störfall. Nachrichten eines Tages"


Seminararbeit, 2018

11 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Pro und Contra des technischen Fortschritts
2.1 Fortschritt als Bedrohung
2.2 Fortschritt als Chance
2.3 Heiligt der Zweck die Mittel?

3 Conclusio

4 Quellenverzeichnis

1 Einleitung

Mit der Erzählung Störfall. Nachrichten eines Tages schuf die Autorin Christa Wolf 1987 ein Werk, das sich thematisch sehr gut mit dem Proseminarthema des Ecocriticism verbinden lässt. Die deutsche Literaturwissenschaftlerin Ursula Heise beschreibt Ecocriticism als interdisziplinäre Forschungsrichtung, die sich beispielsweise mit dem Zusammenhang von Mensch und Natur, etwa in Bezug auf das Verhältnis von konkreten Naturräumen zu abstrakten Räumen, wie zum Beispiel Staatsgebieten, beschäftigt, oder den Konflikt zwischen realistischem und konstruktivistischem Naturverständnis diskutiert.1 Christa Wolfs Störfall handelt vom Tag nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl, an dem auch der Bruder der Erzählerin am Gehirn operiert wird. Die gesamte Erzählung findet in diesem Spannungsfeld statt, dass sich zwischen der lebensrettenden und der lebensbedrohenden Komponente des technologischen Fortschritts aufspannt. Allgemein werden die Entwicklung der Menschheit, die Idee des Fortschritts und das Ideal der Humanität thematisiert.2

In dieser Proseminararbeit soll eine ökokritische Analyse basierend auf Close-Reading durchgeführt werden. Primär wird hierzu Christa Wolfs Erzählung selbst als Quelle verwendet, wobei auch einschlägige Sekundärliteratur mit einbezogen wird. Das Hauptaugenmerk liegt bei dieser Analyse auf dem, in der Erzählung beschriebenen, technischen Fortschritt und der Frage, welche Opfer man bereit ist, für diesen Fortschritt zu erbringen. Anhand ausgewählter Textstellen soll die Ambivalenz deutlich werden, die diese technologische Weiterentwicklung mit sich bringt und eine Tendenz erkennbar gemacht werden, ob in diesem Werk die Vor- oder die Nachteile von ebendieser Entwicklung im Vordergrund stehen.

Als Hypothese gilt die Vermutung, dass im Sinne der Ökokritik die Nachteile überwiegen und der auf den Planeten bezogene „Störfaktor Mensch“ sich durch seine Entwicklung auf lange Sicht selbst vernichtet. Diese widersprüchliche Betrachtung macht das Werk zu einem nicht rein und plakativ ökokritischen Text, sondern zu einem komplexen Werk das zur Reflexion und zu selbstständigem Hinterfragen der Prozesse anregt, die in einer modernen Gesellschaft vor sich gehen. Auch die nüchterne Erzählweise - nach Gerard Genette liegt eine interne Fokalisierung vor, da die Erzählerin nicht mehr weiß als die Figur selbst - soll kognitive und keine emotionalen Vorgänge in der Rezipientin beziehungsweise dem Rezipienten hervorrufen. Die Unwissenheit der Erzählerin, Mutmaßungen und Hoffnungen, aber auch die teilweise düstere Hoffnungslosigkeit sind sinnbildlich für Unklarheit und die ambivalente Betrachtung der Ereignisse in diesem Werk.

2 Pro und Contra des technologischen Fortschritts

In den folgenden beiden Unterkapiteln wird die ambivalente Betrachtung des technologischen Fortschritts in Störfall näher beleuchtet. Die Betrachtung der Bedrohung bezieht sich ganz klar auf die physische Bedrohung durch den Reaktorunfall und darüber hinaus auf die Entmenschlichung, die in den Gedanken der Hauptfigur eine große Rolle spielen. Die positive Seite des Fortschritts wird mit der Gehimoperation ihres Bruders thematisiert, welcher ohne die Weiterentwicklung in der Wissenschaft keine Überlebenschance hätte. Ein weiterer wichtiger Punkt ist außerdem die Frage, welche Opfer man bereit ist, für den Fortschritt zu erbringen und welche Risiken man gewillt ist für ihn einzugehen.

„[Die Gedanken der Hauptfigur] erörtern das Thema wissenschaftlicher Fortschritt aus diametral entgegengesetzten Perspektiven und in all seiner Widersprüchlichkeit als Lebensbedrohung und Lebenshilfe, als Fluch und Segen.“3

2.1 Fortschritt als Bedrohung

„Die Verbindungzwischen Töten und Erfinden hat uns nie verlassen. Beide entstammen dem Ackerbau und der Zivilisation“4

Bereits im Prolog des Buchs wird mit dem Zitat des US-amerikanischen Astronomen Carl Sagan die negative Komponente des Fortschritts in den Vordergrund gestellt. In diesem Unterkapitel sollen die Textstellen des Buches hervorgehoben und interpretiert werden, welche Kritik an der technologischen Weiterentwicklung deutlich machen. Konkret geht es um die Erforschung der Kernspaltung und die damit verbundene Energiegewinnung in Kernkraftwerken. Die Vorteile dieser liegen auf der Hand: saubere und günstige Energie.

Diese Utopie von genugEnergiefür alle und auf ewig' ließ die Wissenschaft immer weiterforschen. Die Wissenschaft, der neue Gott5 6 7 sollte die Probleme der Menschheit lösen. Die Risiken die damit in Verbindung stehen stellenjedochjeden Nutzen in Frage.

,, Was 'will derMensch. [...] Der Mensch 'will starke Gefühle erleben, und er 'will geliebt werden. Punktum. Insgeheim weiß dasjeder, und wenn es ihm nicht gegeben ist [...] dann schaffen wir uns Ersatzbefriedigung und hängen uns an ein Ersatzleben, Lebensersatz, die ganze atemlos expandierende ungeheure technische SchöpfungErsatzfür Liebe. Alles was sie Fortschritt nennen [...], nichts als Hilfsmittel, um starke Gefühle auszulosen."'

In dieser Textpassage wird der technische Fortschritt als Ersatz für Gefühle dargestellt, also geht die Technologisierung mit einer Art Entmenschlichung einher. Hier wird die Bedrohung durch einen Wandel der Gesellschaft dargestellt.8 9 Diese Entmenschlichung wird auch in weiteren Textstellen thematisiert, etwa wenn die Menschen, die für den Fortschritt kämpfen Monster' bezeichnet werden oder wenn es im zweiten Zitat nach dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz im Prolog heißt: „Das langgesuchte Zwischenglied zwischen dem Tier und dem 'wahrhaft humanenMenschen sind wir “10

Die Bedrohung durch die Entmenschlichung steht deshalb so stark im Fokus der Erzählung, da sie dem Menschen die Vernunft abspricht. Der Fortschritt wird zum höchsten Ziel und mögliche Folgen und Auswirkungen spielen vorerst keine Rolle. In der folgenden Textstelle wird das Erfinden mit dem Lustgefühl in Verbindung gebracht, ein Gefühl das ebenso nicht mit Vernunft und rationaler Einschätzung von Folgen konnotiert wird.

,, Wenn einer einmal angefangen habe, etwas zu erfinden. Oder zu entdecken. Oder zu entwickeln: Dann könne der eben nicht mehr damit aufhören. Wer dem spaltbaren Atom auf der Spur sei, als Beispiel, der könne seine Versuche einfach nicht mehr abbrechen. - Wie die Ratten sagte ich, welche unaufhörlich die »Lusttaste« drücken.“11

Die Angst vor diesem unkontrollierbaren Drang nach dem Fortschritt der Menschheit, wird in der Folgenden Textpassage deutlich, in der die Hauptfigur die Verantwortung für die Vorgänge auf der Erde nicht bei einem höheren Wesen sucht, sondern bei sich und somit den Menschen selbst.

„Nicht ihn habe ich gefürchtet, den Gegengott. Ichfürchtete die Abgründe in mir selbst - was heißt: unter meiner Schädeldecke -, aus denen ein solches Unwesen aufsteigen könnte.“12

Zu Beginn dieses Unterkapitels wurde bereits das Zitat von Carl Sagan angeführt, welches die Verbindung von Töten und Erfinden thematisiert. Dazu wird die biblische Erzählung von Kain und Abel ergänzt, in der Kain seinenjüngeren Bruder Abel aus Missgunst ermordet.. Jener Kain gilt auch als Ackerbauer und Erfinder, somit als Begründer der Zivilisation.13 Von diesem Brudermord lässt sich Gleichnis zur Selbstzerstörung der Menschheit im Allgemeinen ziehen, da in der Bibel ein jeder Mensch als Kind Gottes und somit geschwisterlich betrachtet wird. Dass einejede und ein jeder auch Verantwortung trägt und zur Rechenschaft gezogen werden kann (zumindest vom eigenen Gewissen) wird hier deutlich:

„Ich konnte den ganzen Text nichtfinden, weil sich immer wieder eine Frage in den Vordergrund meiner Gedanken schob: Wo ist dein Bruder Abel? - Wer fragt? Wer stellt sich, auf meiner inneren Bühne, dieser Leib und Lebensfrage? Wer wagt die Gegenfrage: Soll ich meines Bruders Hüter sein? Wie angewurzelt habe ich mitten in der Küche gestanden, und zum erstenmal habe ich begriffen, daß der zweite, der Gegenfrager, sich nicht verstellt“14

In der folgenden Textpassage wird dem Menschen nicht nur erneut seine Menschlichkeit abgesprochen, indem er ah Konigder Tiere bezeichnet wird, es wird auch die Selbstzerstörung angeprangert, die sich aus dem Kontext des Buches ganz klar auf den technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt und als dessen Folge die Kernspaltung bezieht.

„Jene Mutanten, deren Aggressionen sich ungehemmtgegen Artgenossen richteten (bei den meisten Tierarten als ungünstig selektiertßführen beim »König der Tiere<< - durch seine Intelligenz anderen Feinden relativ überlegen - zur weiteren Evolution? Tötung innerhalb der eigenen Artzur Vermeidung von Überpopulation? Begrenzte Tötung biologisch tragbar? So wurde sich derMensch selbst zum Feind?“15 16

Dass diese Tötung innerhalb der eigenen Art mit der kompletten Selbstauslöschung der Menschheit endet, dass der Drang zur fortschreitenden Technologisierung also gar den Untergang des Menschen herbeiführt, kommt in der nächsten Textstelle zur Sprache. Die folgende Aussage wird zwar wie viele kritischen Aussagen in dem Werk Störfall als Frage, oder sehr vage formuliert, wobei sie dennoch als klare Kritik verstanden werden kann.

„Einige Abzweigungen am Stammbaum der Wirbeltiere führten in Sackgassen. Ob derjenige Zweig, der zumMenschenführte, ebenfalls in einer Sackgasse enden wird, kann man noch nicht beurteilen. [...] Der intelligente Mensch schafft sich die Mittel zur Unterwerfung der Natur und seiner Artgenossen. Die Regeln und Normen, die er sich selbst auferlegt hat, sucht er, und sei es um den Preis der Selbstvernichtung, unter Anwendung von offener oder versteckter Gewalt zu durchbrechen.“115

Diese letzte ist die zugleich härteste Kritik am technischen Fortschritt, da laut ihr nicht das gute Gewissen, die Menschlichkeit oder das Leben einzelner in Gefahr zu sein scheint, sondern der Fortbestand der gesamten Menschheit in Frage gestellt wird. Aus ökokritischer Sicht ist dies eine sehr wichtige Textpassage, worauf im zusammenfassenden letzten Kapitel dieser Proseminararbeit noch näher eingegangen wird.

2.2 Fortschritt als Chance

Dass der technologische und wissenschaftliche Fortschritt nicht nur, wie im vorhergegangenen Unterkapitel erläutert, als Bedrohung und Gefahr zu sehen ist, sondern auch als Chance, darauf konzentriert sich dieser Teil der Arbeit. Konkret wird im Werk Störfall die Chance auf überleben thematisiert, da sich der Bruder der Hauptfigur einer riskanten Operation am Gehirn unterzieht, und sein Leben so von der Technik abhängt, die ohne Fortschritt diesen Stand nie erreicht hätte. Die Souveränität und Perfektion dieser Technik wird beispielsweise in den folgenden beiden Passagen deutlich:

[...]


1 Vgl. Ursula Heise: Ecocriticism/Ökokritik. In: Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Stuttgart u. Weimar: Metzler 2008, S. 146f.

2 Vgl. Andrea Geier (2013): Natürliche und Soziale Katastrophen. Eine Poetologie ökologischer Literatur am Beispiel von Christa Wolfs „Störfall“ und Volker Brauns „Bodenloser Satz“. Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit (14). S. 371-377.

3 Loreto Vilar: Fortschritt und Fortschrittsgläubigkeit. In: Carola Hilmes & Ilse Nagelschmidt (Hrsg.): Christa Wolf Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: Metzler 2016, S. 201.

4 Christa Wolf: Störfall. Nachrichten eines Tages. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 7. Im Folgenden zitiert als: Wolf, Störfall.

5 Ebda., S. 39.

6 Ebda., S. 40.

7 Wolf, Störfall,S.42.

8 Vgl. Yvonne Delhey: Schwarze Orchideen und andere blaue Blumen. Reformsozialismus und Literatur in der DDR. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 142.

9 Wolf, Störfall,S.4O.

10 Ebda., S. 7.

11 Ebda., S. 59.

12 Wolf, Störfall, S. 50.

13 Vgl. Ebda., S.74.

14 Ebda., S. 65.

15 Wolf, Störfall, S.75.

16 Ebda., S. 56f.

Ende der Leseprobe aus 11 Seiten

Details

Titel
Ökokritische Analyse von Christa Wolfs "Störfall. Nachrichten eines Tages"
Hochschule
Pädagogische Hochschule Oberösterreich
Note
1,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
11
Katalognummer
V1119219
ISBN (eBook)
9783346484284
Sprache
Deutsch
Schlagworte
ökokritische, analyse, christa, wolfs, störfall, nachrichten, tages
Arbeit zitieren
Simon Haas (Autor:in), 2018, Ökokritische Analyse von Christa Wolfs "Störfall. Nachrichten eines Tages", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1119219

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