Das Nicht-lesen-können als Metapher für eine vorurteilsfreie Weltanschauung


Hausarbeit, 2019

12 Seiten, Note: 1,5

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Darstellung des Fremden und Unbekannten

3 Das Nicht-lesen-können als Metapher

4 Conclusio

5 Quellenverzeichnis

Anhang

1 Einleitung

Nach der ersten Lektüre des Textes schien es schwierig, ihn mit dem Seminarthema der Anerkennung und deren Fehlen, also der Missachtung, in Verbindung zu bringen. Nach genauerer Lektüre lässt sich aus Yoko Tawadas Essayjedoch sehr wohl ein Bezug dazu herstellen, wie ich in dieser folgenden Proseminararbeit versuchen möchte. Im 1992 erschienenen Werk liegt nach Gerard Genette eine interne Fokalisierung vor, wobei nicht klar hervorgeht, ob die Erzählinstanz männlich oder weiblich ist.

Meiner Auffassung nach beschäftigt sich Tawadas kurzer Text in seinem zweiten Teil - also dem Epilog - sehr stark mit dem Thema der Missachtung von Normen, welche zu Vorurteilen führen und damit einhergehend mit der Anerkennung von Menschen als solche. Das Nicht-lesen-Können ist eine Metapher dafür, dass die Figuren in dem Werk den Menschen sehen wie er ist, und nicht so, wie sie es erklärt bekamen und lernten. Das Bilden von Vorurteilen dient einer Vereinfachung des Weltbildes und ist ein natürlicher Vorgang. Man lernt Muster kennen und wendet diese auf alles an, was ähnlich erscheint.1 So funktioniert es auch beim Lesen lernen. Kennt man bestimmte Wortmuster, sieht man nur noch sie und nicht mehr die einzelnen Buchstaben darin. Die Missachtung dieser vorgebildeten Denkmuster und der damit verbundene vorurteilsfreie - also anerkennende - Umgang mit der Umwelt sind die zentralen Themen dieser Arbeit. Im Anhang ist ein bekanntes Beispiel für das Erkennen von Mustern zu finden, um die Metaphorik besser zu veranschaulichen.

In dieser Proseminararbeit soll eine Interpretation des Werks basierend auf Close-Reading durchgeführt werden. Primär wird hierzu Yoko Tawadas Essay selbst als Quelle verwendet, wobei auch einschlägige Sekundärliteratur mit einbezogen wird. Anhand ausgewählter Textstellen soll die These untermauert werden, dass in dem behandelten Text das Lesen als Sinnbild für eine voreingenommene Weltanschauung voller Vorurteile steht. Nach dieser kurzen Einleitung widmet sich das nächste Kapitel hauptsächlich dem ersten Teil des Essays, also dem Prolog und geht näher auf die Darstellung des Fremden in diesem ein. Der darauffolgende Abschnitt dieser Arbeit ist der gründlichen Behandlung der aufgestellten These gewidmet und auch der Bezug zum Seminarthema soll hier noch verdeutlicht werden. Abschließend wird in der Conclusio das behandelte Thema zusammengefasst und die Arbeit somit abgeschlossen.

2 Darstellung des Fremden und Unbekannten

Im Prolog der Erzählung wird der Kontext des Fremdseins und der Fremdheit etabliert. Durch Beobachtungen der Erzählfigur wird verdeutlicht, dass diese sich in ihrer Umgebung als fremd fühlt und mit den Gepflogenheiten des neuen Umfeld noch nicht vertraut ist, wie in der folgenden Textpassage beschrieben wird.

„Die Stadt scheint mir auf den ersten Blick nicht so gefährlich zu sein. Warum tragen dann aber so viele Frauen einen Talisman auf den Straßen? Allerdings ist es manchmal unheimlich, alleine in der Stadt unterwegs zu sein. Es gibt einfach zu wenigeMenschen, die in der Stadt wohnen" '

Die Fähigkeit des Erzählenden-Ich, sich staunend und offen auf diese fremde Welt einzulassen, die unbefangene, fast kindlich anmutende Betrachtung des Unbekannten markiert eine kreative und offene Wellhallung. Diese Weltoffenheit stellt eine Grundbedingung und einen Ausgangspunkt für die im Essay beschriebenen Vorgänge der Anerkennung dar.2 3 4 5

Die Verbindung von Fremdheit und Sprache ist ein Kemthema in Yoko Tawadas Erzählung.

Während im Epilog das Lesen und die Sprache inhaltlich stark präsent sind, kommt es am Ende des von Beobachtungen und Bestaunen des Fremden geprägten Prologs ebenfalls zu einer diesbezüglich interessanten Textstelle. Diese ist eingebettet in den Kontext, des Sich-selbst-fremd- werdens, indem die Nachbarin der Erzählfigur „ihr eigenesFleisch nicht Heben [konnte], weit sie in ihrem Fleisch einfremdes Element spürte.“ 4 Das Erzähler-Ich äußert sich wie folgt zu der Verfemdung seinerNachbarin:

„Ich verschluckte die 'Worte, die ich ihr sagen 'wollte, denn sie erschien mirplötzHch wie eine Fremde, die mich - obwohl ich in ihrer Sprache lebte - nicht 'versteht.“5

3 Das Nicht-lesen-können als Metapher

Wie in der Einleitung bereits angekündigt, beschäftigt sich diese Seminararbeit mit der Missachtung von vorgeprägten Zeichen und Mustern, wie sie in uns allen vorhanden sind. Diese abgespeicherten Muster, die uns helfen Menschen und Dinge und prinzipiell alle Phänomene in unserer Umwelt zu vereinfachen und zu kategorisieren, sind im allgemeinen Sprachgebrauch als Vorurteile bekannt. Ziel dieses zentralen Kapitels der Arbeit ist es nun, die Parallelen aufzuzeigen, die zwischen der Fähigkeit zu lesen und der Anwendung von Vorurteilen gegenüber dem Fremden bestehen, und so Yoko Tawadas Essay hinsichtlich dieser These zu interpretieren. Erst durch eine unvoreingenommene Betrachtung von etwas oderjemand fremdem wird demnach Anerkennung desselben möglich.

Die Metaphorik besteht zwischen dem Lesen können (und wollen) und dem bewussten oder unbewussten Anwenden von Vorurteilen. Als Tertium Comparationis gilt die sehr ähnliche Vorgehensweise, die bei diesen Tätigkeiten vorliegt. Beim Lesen werden nicht die einzelnen Buchstaben gesehen, sondern das Wort wird als Muster erkannt und auch als solches behandelt. Ein einmal gespeichertes Muster wird also auf alles übertragen, was dem Bekannten annähernd gleicht. Ähnlich fungieren Vorurteile. Sieht manjemanden oder etwas zum ersten mal, versucht das Gehirn zu kategorisieren und zu vereinfachen, indem es Ähnlichkeiten zu Bekanntem oder zumindest Gelerntem erkennt und aufgrund dieses bekannten Musters eine zurechtgelegte und vielleicht bewährte Haltung dazu einnimmt.

„Es gibt injeder Stadt eine erstaunlich große Anzahl vonMenschen, die nicht lesen können. Einige von ihnen sind noch zu jung dafür, andere lehnen es ab, die Schriftzeichen zu lernen. Es gibt auch viele Touristen und Arbeiter aus anderen Ländern, die mit anderen Schriftzeichen leben. In ihren Augen scheint das Bild der Stadt wie verrälsell oder verschleiert.“6

Diese Textpassage ist der Beginn des Epilogs der Erzählung. Bereits hier lässt sich durch die metaphorische Lesart des Textes auf die Doppeldeutigkeit des Inhalts schließen. Wie hier beschrieben wird, sind es Kinder, Menschen aus fremden Ländern und solche, die es bewusst ablehnen zu lesen. Stellt man eine Analogie zu den Vorurteilen her sind es dieselben Gruppen, die ohne sie durch die Welt gehen. Einem Kleinkind beispielsweise ist es egal, welche Hautfarbe sein Spielgefährte oder seine Spielgefährtin hat. Nach einer stärkeren Prägung und Sozialisation durch sein Umfeld, kann diese Unvoreingenommenheit bereits verdrängt worden sein.7 8 Auch die Formulierung, dass in den Augen dieser Menschen ..das Bild der Stadt wie verrälsell oder verschleiert“ erscheint, lässt sich eins zu eins in die Ebene der Metapher übertragen, da eine Welt ohne Vorurteile ebenfalls ungemein komplexer und schwerer zu durchblicken ist, als eine mit. In einer weiteren charakteristischen Textstelle beschreibt die Erzählfigur eine Frau, mit der sie Bekanntschaft machte und welche nicht lesen konnte.

„Ich wußte sofort daß sie nicht lesen konnte. Sie blickte michjedesMal an, aenn sie mich sah, intensiv und interessiert, aber sie versuchte dabei niemals, etwas aus meinem Gesicht herauszulesen'"

Diese Bekanntschaft - Sascha - ist Analphabetin und versucht zugleich nicht, etwas aus dem Gesicht des aus dem asiatischen Raum stammenden Erzähl-Ich herauszulesen, wie es die meisten anderen Menschen zu tun pflegen. „Sie 'wollte nichts "lesen", sondern alles genau beobachten“9. Diese genaue Beobachtung, also das bewusste Erkennen, steht dafür, sich selbst ein Bild von jemandem oder etwas zu machen und nicht auf Vorurteile oder Wissen aus zweiter Hand zurückzugreifen. Durch dieses selbstständige Erfahren erkennt man sein Gegenüber als das an, was er oder sie wirklich ist. Das Erkennen wird auch vom deutschen Sozialphilosophen Axel Honneth als Prozess der Anerkennung beschrieben.10

Ein anderes Beispiel dafür, dass die Analphabetin Sascha und ihre Freundin Sonja, welche „außer lesen und schreiben alles konnten, was sie im Leben brauchten“11 12, ihren Mitmenschen auf eine Weise begegnen, die frei von kulturellen Stigmata ist, ist folgendes. Sie konfrontieren die Erzählfigur nicht, wie es die meisten anderen Leute tun, mit Fragen wie „Stimmt es, dass die Japaner“ oder „Ist es in Japan auch so, daß...“ 111 Dem Erzähler-Ich war es nach solchen Fragen nicht möglich, dieselben zu beantworten. Vielmehr löste es etwas anderes in ihm aus, wie auf der nächsten Seite ausführlicher erläutert wird.

„Jeder Versuch, den Unterschied zwischen zwei Kulturen zu beschreiben, mißlang mir: Der Unterschied wurde direkt auf meine Haut aufgetragen wie eine fremde Schrift, die ich zwar spüren, aber nicht lesen konnte.“13 14

Hier wird deutlich, dass die Fremdheit etwas ist, das von außen, also vom Gegenüber und dessen Verhalten, aufgetragen wird. Erst durch eine Trennung vom Eigenen zum Fremden, entsteht Zweiteres. Diese Fremdheit wirkt sich danach auf den oder die Betroffene aus, wie hier und auch in den darauffolgenden Textstellen beschrieben wird:

„Jederfremde Klang, jederfremde Blick undjederfremde Geschmack wirkten unangenehm auf den Körper, so lange, bis der Körper sich veränderte"''

Anhand diesem kurzen Auszug aus Yoko Tawadas Essay lässt sich gut erkennen, wie die Konfrontation mit der Fremdheit sich negativ auf die Erzählfigur auswirkt. Dies kann nun hier auf unterschiedliche Weise interpretiert werden. Einerseits kann das unangenehme Gefühl auf die Betrachtung und Behandlung von außen zurückgeführt werden, die einen, wie bereits im vorigen Absatz erwähnt, sich erst fremd fühlen lässt. Einen anderen oder auch ergänzenden Ansatz verfolgt die Interpretation, dass ein internes Sich-fremd-werden sich zu Beginn unangenehm auf einen auswirkt. Dies kann sich wie hier zum einen physisch auf den Körper niederschlagen:

„Die Ö-Laute zum Beispiel drängten sich zu tief in meine Ohren und die R-Laute kratzten in meinem Hals. Es gab auch Redewendungen, bei denen ich eine Gänsehaut bekam, wie zum Beispiel "auf die Nerven gehen", "die Nase voll haben", oder "in die Hose gehen". “15

Zum anderen bringt dieser innere Verfremdungsprozess mit sich, dass sich die Wahrnehmung eines selbst und seiner bisherigen Gewohnheiten verändert und es dadurch zu neuen Erkenntnissen über vermeintlich bekannte, aber meist nur unreflektiert gelebte Muster kommt.

[...]


1 Vgl. Hillmann, Karl-Heinz: Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart: Alfred Kroner Verlag 1994, S.914.

2 Tawada, Yoko: Das Fremde aus der Dose. Graz: Droscht Verlag 1992, S.5.Im Folgenden zitiert als: Tawada, Das Fremde aus der Dose.

3 Vgl. Kanz, Christine: Auf Augenhöhe? Literatur als Inkubator neuen Wissens über Anerkennung und Verkennung: Yade Kara, Doron Rabinovici Yoko Tawada und Thomas Hettche. In: Kanz, C. & Stamm, U. (Hrsg.) Anerkennung undDiversität.Würzburg: Königshausen undNeumann, 2018, S. 151-182. S.170f.

4 Tawada, Das Fremde aus der Dose, S.10.

5 Ebda., S.ll.

6 Tawada, Das Fremde aus der Dose, S.12.

7 Vgl. Ali-Tani, Caroline (07.2017): Wie Kinder Vielfalt wahmehmen: Vorurteile in der frühen Kindheit und die pädagogischen Konsequenzen. Verfügbar unter: https://www.kita-fachtexte.de/texte-finden/detail/data/wie-kinder- vielfalt-wahmehmen-vorurteile-in-der-fruehen-kindheit-und-die-paedagogischen-konsequenz/ Letzter Zugriff am 22.12.2018

8 Tawada, Das Fremde aus derDose, S.13.

9 Ebda.,S.13.

10 Vgl. Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S.317.

11 Tawada, Das Fremde aus derDose, S.14.

12 Ebda., S.14.

13 Tawada, Das Fremde aus derDose, S.14.

14 Ebda., S.14f.

15 Ebda., S.15.

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Das Nicht-lesen-können als Metapher für eine vorurteilsfreie Weltanschauung
Hochschule
Pädagogische Hochschule Oberösterreich
Note
1,5
Jahr
2019
Seiten
12
Katalognummer
V1119223
ISBN (eBook)
9783346482129
ISBN (Buch)
9783346482136
Sprache
Deutsch
Schlagworte
nicht-lesen-können, metapher, weltanschauung
Arbeit zitieren
Anonym, 2019, Das Nicht-lesen-können als Metapher für eine vorurteilsfreie Weltanschauung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1119223

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