Die Theorie des Selbstbewusstseins bei Hector-Neri Castañeda


Magisterarbeit, 1996

114 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Biographie

2. Allgemeine Grundlagen

3. Die Theorie der Gestaltungen

4. Der ontologische Aufbau des Ich
4.1. Ich denke hier und jetzt
4.2. Ich, Hier, Jetzt
4.3. Das Ich und die Welt
4.4. Das Selbst
4.5. Das Subjekt und die multiplen Selbste
4.6. Der Körper
4.7. Schlussbemerkung

5. Die Bezugnahmen des Ich
5.1. Noch einmal individuelle Gestaltungen
5.2. Propositionen
5.3. Bewusstsein
5.4. Indikatoren - cogito ergo sum
5.5. Quasi-Indikatoren - cogito ergo est
5.6. Die Hierarchie des Bewusstseins
5.7. Selbstbewusstsein und Selbstbezug

6. Castañedas Stellung innerhalb der Diskussion um Selbstzuschreibungen

Schluß

Literatur

Einleitung

Fällt der Name Castañeda, so wird dieser in den meisten Fällen mit Carlos Castañeda in Verbindung gebracht, der, wie Helmut Pape ihn beschreibt, das Idol einer deutschen und amerikanischen Subkultur ist.1 Mir erging es ähnlich, als der Name Castañeda im Zusammenhang mit meinem Studium auftauchte. Doch handelte es sich damals um Hector-Neri Castañeda, der mir gänzlich unbekannt war. Um diesen Zustand zu ändern, begann ich mit der Recherche zu Leben und Werk dieses Philosophen. Das Resultat meiner Suche möchte ich in der nun folgenden Arbeit vorstellen.

Die Tatsache, daß Castañeda außerhalb der philosophy of mind ein eher unbekannter Philosoph ist, der nur wenig Aufmerksamkeit erlangt hat, veranlaßte mich dazu, seine Biographie ausführlicher zu gestalten, als dies in einem solchen Rahmen üblich ist. Anhand der einzelnen Stationen seines Lebens werde ich vereinzelt versuchen, auf die verschiedenen Einflüsse zu verweisen, die sein philosophisches Arbeiten, aber auch seine Einstellung zu Gott und der christlichen Religion geprägt haben. Anhand einiger Beispiele aus dem Alten Testament wird deutlich, wie es zu der Spannung zwischen Gerechtigkeit und Moral kam, die Castañeda als Jugendlichen stets beschäftigte und auf der er seinen Entschluss begründete, Agnostiker zu werden, der die offizielle Stellung Kants, im Verhältnis zu Gott, für sich beanspruchte. Aber auch andere Denker begleiteten ihn auf seinem Weg. Schon in sehr jungen Jahren beschäftigte sich Castañeda mit Bertrand Russels Werk Problems of Philosophie, das ihn zu seinen Arbeiten an der Theorie der Gestaltungen inspirierte, der er, ganz im Sinne Platonischen Philosophierens, die Formen, als Letztkomponenten der Welt, zugrunde legte.

Im Anschluß an die Biographie beschäftigt sich der zweite Teil meiner Arbeit mit den allgemeinen Grundlagen, die Castañedas Denken, seine methodologische Vorgehensweise und seine Ziele verdeutlichen sollen. Des weiteren wird die enorme Tragweite der Strukturen, die Sprache, Denken und Realität gemeinsam sind, innerhalb seiner Erkenntnistheorie dargestellt. Der dritte Teil wird sich mit der erwähnten Theorie der Gestaltungen beschäftigen, innerhalb derer ich versuchen werde, einen kurzen Einblick zu vermitteln, wie Castañeda sich den Aufbau der Welt und ihrer Objekte vorstellt. Im Anschluß daran wird der ontologische Aufbau des Ichs und dessen Stellung innerhalb der Welt der Erfahrungen mein Thema sein. Ferner werden in diesem Abschnitt die Erweiterung des Kantschen Ich denke durch ein Hier und Jetzt und das cogito Descartes dargestellt, wie dieses durch Castañeda von einer Position außerhalb der Welt der Erfahrungen wieder in diese Welt geholt wird, womit er den ontologischen Dualismus Descartes in einen Monismus ableitet.

Im vierten Teil, über die Bezugnahmen des Ich, wird die sprachanalytische Komponente des Selbstbewusstseins betrachtet, und wie selbiges innerhalb der Indikatoren und Quasi-Indikatoren, die in den 60ern für Furore sorgten, auf sprachlicher Ebene zum Ausdruck kommt. Ferner beschäftigt sich dieser Teil mit der Theorie der Attribut-Selbstzuschreibung, wie diese zu einem durch Ich- Stränge erweiterten Aufbau des Ichs beiträgt und zu einer Hierarchie des Bewusstseins geführt hat, auf der er ein anti-Fichtesches Argument stützt, daß nicht alles Bewusstsein Selbstbewusstsein einschließt. Ein weiteres Argument, das er gegen Fichte in die Diskussion bringt, beruht auf der strikten Trennung von Selbstbewusstsein und Selbstbezug, anhand deren er das erfahrend-sich-erfahrende Selbst Fichtes analysiert und ihm eine Vermischung beider Ebenen vorwirft.2 Im letzten Teil der Arbeit ist die Stellung von Castañeda innerhalb der Diskussion um die propositionale Wissbarkeit von Selbstbewusstsein kurz dargestellt, die er ebenfalls benötigt, um sein anti-Fichtesches Argument zu unterstützen.

Castañedas Philosophie beruht in erster Linie auf der Erfahrung und den Sinnen. Das Subjekt der Erfahrung stellt sich als Scheidewand zwischen Vorstellung und Realität dar. Die Sinne liefern dem Subjekt die empirischen Daten der Realität, die das Subjekt im Erkennen zu einem Konzept des Erfahrenen zusammensetzt. Durch diesen Schritt vollzieht Castañda zusätzlich eine Verbindung zwischen wissenschaftlichem Realismus, der empirische Daten liefert, und einer Philosophie des Geistes, die auf introspektiven Erkenntnissen und der daraus folgenden Begriffsanalyse beruht. Peter Bieri sieht diese Verbindung in seinem Reader Analytische Philosophie des Geistes als notwendigen Schritt zu einem modernen Philosophieren an. Durch die zusätzlichen Informationen aus den empirischen Wissenschaften erhält die Begriffsanalyse der traditionellen Philosophie des Geistes einen neuen Anreiz, der einen wissenschaftlich fundierten Bedeutungswandel der Begriffe hervorruft.3

In meiner Darstellung der Theorie des Selbstbewusstseins werde ich mich nicht immer an die chronologische Reihenfolge von Castañedas Arbeiten halten können, da einige von seinen späteren Arbeiten auf frühere aufbauen und es daher für meine Darstellung erhellender ist, wenn ich eine zeitunabhängige Verbindung schaffe, wie dies sowohl im Abschnitt über den ontologischen Aufbau des Ichs als auch in dem Abschnitt über die Bezugnahmen des Ichs geschehen ist.4

1. Biographie

Castañeda beschreibt5 in seiner Biographie San Vicente als ein kleines, isoliertes Dorf in Guatemala, eines wie viele andere in der Region von Cabañas, die zur Provinz Zacapa gehört. In diesem und in den anderen Dörfern führten die Bauern ein ärmliches Leben, das vom Kampf ums tägliche Überleben geprägt war. Er erinnert sich an eine sehr heiße und karge Region; an dessen Lebensader dem San-Vicente-Fluß (San Vincente River), wurde das Wasser zum Kochen und Trinken geholt und die Wäsche gewaschen.

Es gab keine staatlichen Einrichtungen in San Vicente, die öffentlichen Angelegenheiten wurden von den Großgrundbesitzern geregelt. Die einzige staatliche Präsenz bildete eine Art Statthalter, der sich um die Bewässerung der Flussregionen kümmerte. Zwar gab es eine Schule, doch wurde dort kein regelmäßiger Unterricht gehalten. Die meiste Zeit stand das Haus mit nur einem Raum leer, wenn doch unterrichtet wurde, dann von mangelhaft ausgebildeten Lehrkräften, denen nur wenige Bücher zur Verfügung standen.

Wie die meisten dieser Dörfer gehörte auch San Vincente dem Katholizismus an, doch eine Kirche besaß es nicht, die Armut der Bauern reichte nicht aus, um ein Gotteshaus zu bauen. Daher war es nur einigen wenigen Familien vorbehalten, ihre Religion auszuüben. Hierfür mußten diese jedoch in die nächstgrößere Stadt reiten, in der sich eine Kirche befand.6

Die politische Labilität Guatemalas am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts führte zu Revolutionen und ständiger Angst vor Gewaltakten der Regierungstruppen. Das Leben dort läßt sich als hart und entbehrungsreich beschreiben. Elektrizität bedeutete eine Zukunftsvision und Radio ein Fremdwort. In diesen Tagen, im Dezember 1924, wurde Hector-Neri Castañeda geboren.7

Castañeda beschreibt die Geschichte seiner Familie folgendermaßen. Mercedes Paz de Calderon verlor durch einen Mord ihren Gatten und infolgedessen die Farm und den geringen Reichtum, der ihr und ihren Kindern geblieben war. Ihr blieb lediglich eine Schachtel mit Büchern. Drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes tauchte 1923 Ezequiel Castañeda, der sich mit seinem Bruder auf der Flucht befand, in San Vicente auf, und Mercedes sah in ihm einen neuen Beschützer der Familie. Sie gab ihm ihre älteste Tochter zur Frau. Sara Belamina Calderon, gerade einmal fünfzehn Jahre alt, mußte Ezequiel Castañeda heiraten. Sie verzieh es ihrer Mutter nie, gegen ihren Willen verheiratet worden zu sein. Neun Monate später schenkte sie einem Sohn das Leben, Hector-Neri Castañeda. Die Ehe brachte vier Kinder hervor. Fünf Jahre später verließ seine Mutter ihren Mann und folgte ihrer Mutter nach Chiquimula, kehrte für kurze Zeit nach San Vicente zu ihrem Mann zurück, um ihn dann endgültig zu verlassen. Danach folgte sie mit ihren drei Kindern der Mutter nach Guatemala City.8

Nachdem die Familie San Vicente verlassen hatte, wurden für Hector-Neri seine beiden Onkel zu Vaterpersonen. Als Lehrer inspirierten sie Hector-Neri, ebenfalls Grundschullehrer zu werden, um den Unterricht in San Vicente zu leiten.9 Nach einigen familiären und örtlichen Veränderungen bewohnte Hector-Neri mit seiner Familie ein kleines Haus in einem Elendsviertel von Guatemala City. Damals arbeitete seine Mutter in einer Schneiderei, um den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen. Bevor sie in dieses Haus zogen, lebten sie in einem Wohnblock, in dem auch eine presbyterianische Familie wohnte. Dies sollte die erste Begegnung Hector-Neris mit einer anderen Religion sein. Seine Mutter, die ebenfalls nur die katholische Religion kannte, ,jedoch in der Ausübung selbiger keine Erfahrung hatte, ließ sich und die Kinder zu einem Gottesdienst einladen. Von diesem Tag an begann für Hector-Neri und seinen Bruder die Zeit der Sonntagsschule, die er vom sechsten bis zum dreizehnten Lebensjahr besuchte. Für Hector-Neri bedeutete es Liebe auf den ersten Blick10, er mochte es, zur Sonntagsschule zu gehen, ihm gefielen die schöne Kleidung, die er hierfür trug, und die gutgekleideten Menschen, die er dort traf. Er las und interpretierte die Bibel und hatte seine ersten Erfahrungen mit der Musik und dem Gesang, eine Vorliebe, die ihn den Rest seines Lebens nicht verließ. Im Alter von acht Jahren besuchte er zusätzlich den Nachmittagsunterricht der Sonntagsschule. Zusammen mit den anderen Schülern dieser Einrichtung riefen sie eine Jugendgruppe (social-religious club) ins Leben, in deren Vorstand er später, aufgrund seines Einsatzes für diese Gruppe, gewählt wurde. In dieser Zeit überlegte er sich, Minister zu werden, und ob es wohl möglich sei, beides zu sein, Grundschullehrer und Minister. In der Sonntagsschule wurde er auch das erste Mal mit dem Kontrast zwischen moralischem Handeln und Wahrheit konfrontiert. Die Gruppe las gerade das Buch Genesis, und es überraschte Hector-Neri sehr, daß Gott Adam und Eva aus dem Paradies vertrieb, nur weil sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten. Für ihn gab es nichts Wichtigeres als Wissen und Wahrheit. 11 Er konnte das Handeln Gottes nicht verstehen, da zum damaligen Zeitpunkt für ihn Wahrheit und Wissen Hand in Hand gingen. Seine rebellische Natur und seine kindliche Arroganz12 veranlaßten ihn dazu, seinem Lehrer aufklärerische Fragen zu stellen. Dennoch blieb dies nicht das einzige Ereignis dieser Art, das sich in der Sonntagsschule zutrug. Einige Zeit später, als sie die Geschichte von Kain und Abel lasen, verdeutlichte sich ihm die Funktion der Intuition als Basis von Handlungen. Ausschlaggebend hierfür war, daß Gott Kain tadelte, warum dieser ihm denn keine Tieropfer brachte, wie es Abel tat. Die Tatsache, daß Kain als Bauer, der Gemüse anbaute, und Abel als Schafhirte lebte, der Schafe schlachten konnte, und beide ihr Möglichstes taten, um Gott zu ehren, ließ in Hector-Neri die Meinung aufkommen, daß Gott unfair handelte, da doch beide dieselbe Intuition hatten. Hector-Neri glaubte damals, daß alle Intuitionen und Gedanken rein und wahr sein müßten13. So ist es auch nicht verwunderlich, daß die Geschichte von Abraham und Sarah ihm Kopfzerbrechen bereitete. Beide logen dem König von Abimelech vor, Geschwister zu sein, um Abraham das Leben zu retten, da der König vorhatte, Sarah nachts zu besuchen. Für Hector-Neri brach eine Welt zusammen, als Gott den König für sein unmoralisches Handeln als Ehebrecher bestrafte, während er Abraham und Sarah für eine Lüge mit Geschenken und Rindern belohnte. Gott bedeutete für ihn die Verkörperung alles Guten, so verstand er es nicht, daß dieser eine Lüge guthieß. In der Sonntagsschule wurde ihm beigebracht, daß gut sein und die Wahrheit sagen zu den Grundtugenden gehörten14. Selbst sein Lehrer vermochte es nicht, seine Zweifel aus der Welt zu schaffen, als dieser ihm erzählte, daß Sarah Abrahams Halbschwester sei. Für Hector-Neri bestand ein großer Unterschied darin, ob es sich um eine Schwester oder eine Halbschwester handelte. Aus dieser ersten analytischen Auseinandersetzung mit Sprache kristallisierte Hector-Neri die Strukturen heraus, die er hinter den holistisch aufgebauten Geschichten sah. Aus seinen Überlegungen zu diesem Thema folgerte er, daß Gott nicht bestimmen könne, was gut und was schlecht sei.15

Parallel zur Sonntagsschule besuchte Hector-Neri die öffentliche Schule. Ein Jahr lang besuchten er und sein Bruder Ramiro eine Klosterschule, in der sie von Nonnen unterrichtet wurden. Dort empfing Hector-Neri auch seine erste Kommunion, was ihn ein wenig verwirrte, da er zu dieser Zeit beide Erziehungen genoß, in der Sonntagsschule die presbyterianische und in der Klosterschule die katholische. Zeitweise hielt er es für eine Sünde, beiden Glaubensrichtungen anzugehören.

Das Klassenziel der vierten Klasse erreichte er nicht. Von diesem Vorfall schockiert, begann er, ein strebsamer Schüler zu sein. Er kannte zwar die Nationalbücherei, doch jetzt wurde er einer ihrer häufigsten Besucher. Eine Krankheit, die es ihm verbot, Sport zu treiben, und sein mangelhaftes Talent für solche Aktivitäten unterstützten diese Vorliebe. Mit zehn Jahren erreichte er das Klassenziel und rückte weiter. Als er in die Pubertät kam, mußte er feststellen, daß es eine paradoxe Situation ist, mit sündigen Gedanken in der Sonntagsschule zu sitzen, aber es bot ihm und seinesgleichen die einzige Möglichkeit, mit Mädchen in Kontakt zu kommen, sich mit ihnen zu unterhalten und neben ihnen zu sitzen.16

In der Grundschule war er ständig den Repressalien seiner Mitschüler ausgesetzt. Als Presbyterianer gehörte er zur protestantischen Minderheit in Guatemala. Diese Sonderposition einzunehmen störte ihn nicht, er verglich sie immer mit der Position der Christen im alten Rom und dachte, wenn die Christen die Löwen des alten Roms überdauerten, so könne er auch diese Meute überstehen. Meistens riefen sie ihm Evangelista ! Evangelista ! 17 hinterher und hielten ihn dabei für einen Juden. Bei solchen Gelegenheiten verwickelte er sie für gewöhnlich in Diskussionen und verteidigte sich mit seinen Argumenten, was die anderen Kinder aber nicht davon abhielt, ihn dennoch zu schlagen18. Jahre später empfand er diese Zeit als eine gute Schule, die ihn lehrte, auch unpopuläre Meinungen gegen äußeren Druck zu verteidigen.19

Mit dreizehn beendete er die Grundschule, legte eine Zusatzprüfung ab, in der er das beste Ergebnis von Guatemala erreichte, und ging in die Normal School for Boys, eine Kombination aus einer Highschool und einem Teachers` college. Nach einem Jahr wurde aus dieser Schule eine Militärschule für Knaben (Military Normal School for Boys)20. Für Hector-Neri bedeutete dies ein Stipendium, stupide Disziplin und Wochenendarreste. Dies hatte zur Folge, daß er als einziger Junge seiner Nachbarschaft, der auf eine höhere Schule ging, gänzlich den Kontakt zu den anderen Kindern verlor.21

Was sein Verhältnis zur Bibel anbelangt, so entwickelte sich damals bei ihm die Überzeugung, daß die Bibel nicht von Gott inspiriert sei und daß die ganze Idee von Gott eine Erfindung ist, was eine totale Befreiung von Kirche, Religion, Jesus, Maria und dem Apostel Paulus bedeutete22. Daraufhin zog er sich aus dem Kirchenleben zurück. Jedoch beschäftigten ihn weiterhin zwei Dinge. Zum einen fragte er sich, warum so viele intelligente Menschen an Jesus und die unbefleckte Empfängnis glaubten, und zum anderen, ob man ohne Gott moralisch handeln kann. Er wollte einen Gott der völligen Liebe, der Gott, den er kennengelernt hatte, wie ihn das Alte Testament beschrieb, handelte unmoralisch, obwohl dieser immer gerecht sein sollte. Er beschloß, daß Religion und Gott nicht notwendig sind, um moralisch gut zu handeln23. Die Spannung zwischen Gerechtigkeit und Moralität, wie sie ihm im Alten Testament offenbart wurde, veranlaßten ihn, mit dem Christentum zu brechen. Er wurde zu einem Atheisten, der sich selbst aber eher als Agnostiker bezeichnete. Seine Position beschreibt er als die offizielle Position Kants, die er wie folgt zusammenfaßt:

My position is Kants`s official, not personal Position: belief in God, when it does not conflict with justice and moral bahavior in general, is a personal choice.24

Auch in Guatemala änderte sich einiges. Jorge Ubico, der von 1931 bis 1944 in Guatemala als Diktator herrschte, verwaltete Guatemala wie seine eigene, persönliche Farm. Bauern, die ihre Steuern nicht bezahlen konnten, wurden zu unbezahltem Straßenbau verpflichtet. Aber auch wenn man seine Steuern bezahlen konnte, nützte das nichts, denn Ubico brauchte billige Arbeiter. Am schlimmsten traf es die Tagelöhner und Indianer. Ein Jahr nachdem Hector-Neri in die Normal School for Boys eintrat, erließ Ubico ein Gesetz, das alle Grund- und höheren Schulen in Guatemala verbot, bis auf die eine in Guatemala City. Als Eliteschule sollten in dieser seine Offiziere ausgebildet werden.

Der Besuch einer Eliteschule verlangte von jedem Schüler ein hohes Maß an Ausdauer und Hartnäckigkeit, ebenso für Hector-Neri. Militärischer Drill, der Unterricht in Militärgesetzen und Sport bildeten den Stundenplan, während harte Strafen die pädagogische Vorgehensweise der Ausbilder charakterisierten. Als angehende Reserveoffiziere durften die Schüler nicht geschlagen oder verletzt werden. Dies veranlaßte die Vorgesetzten dazu, Strafen zu entwickeln, bei denen die Schüler nicht geschlagen wurden25. Eine dieser Strafen hieß Plantón. Eine sehr einfache, aber wirkungsvolle Strafe. Der zu Bestrafende hatte sich mit geschlossenen Augen bewegungslos hinzustellen und in dieser Stellung mindestens eine Stunde zu verweilen. Eine kleine Bewegung mit dem Finger oder ein kurzes Vor- oder Zurücklehnen bedeutete die Ausdehnung der Bestrafung bis zu zwanzig Stunden. Die Bewacher wußten um die menschlichen Schwächen, also beobachteten sie einen über die Dauer der gesamten Bestrafung, um sicherzugehen, daß ihnen keine noch so kleine Bewegung entging26. Als Hector-Neri die Schule verlassen mußte, hatte er insgesamt zwei Monate Arrest und sechzig Stunden Plantón hinter sich.

Seine Leistungen in Mathematik waren auffällig überdurchschnittlich, was dazu führte, daß er eines Tages in Galauniform in das Büro des Schulleiters gerufen wurde, um Präsident Ubico vorgestellt zu werden. Dieser eröffnete ihm, daß er in den Vereinigten Staaten ein Maschinenbaustudium absolvieren würde. Doch es sollte anders kommen.

Da die Schüler als angehende Offiziere nicht geschlagen werden durften, gab es zwei Möglichkeiten für die Vorgesetzten, diese Regel zu umgehen. Zum einen schlugen sie die Schüler nicht als Soldaten, sondern als Privatleute innerhalb der Baracken, und zum anderen befahlen sie die Schüler zum Boxtraining. Hierzu erstellten die Offiziere Listen, auf denen die Namen derer standen, die sie bestrafen wollten. Als Gegner wurden meist Freiwillige gewählt. Die Freiwilligen bestanden ausschließlich aus Mitgliedern der Boxstaffel. Mit einem Offizier als Schiedsrichter wurden die Auserwählten dann im Ring ihrem Schicksal übergeben. In der Regel dominierte eine freie Wahl der Sportart, doch ein Platz auf der Liste zählte mehr.27

Eines Tages entdeckte ein Freund Hector-Neris eine Möglichkeit, den Sportunterricht zu umgehen. Wer ein musikalisches Interesse hatte, erhielt eine Befreiung vom Sport und konnte ein Instrument erlernen. Hector-Neri und sein Freund nutzten die Gelegenheit und meldeten sich freiwillig zum Musikunterricht. Zwar konnte keiner von beiden ein Instrument spielen, doch sie hofften darauf, daß dies unerkannt blieb. Die sehr kurze Liste der Instrumente beherbergte unter anderem ein Bandoneon (bandore), für das sich Hector-Neri entschied. Hierbei handelte es sich um eine Handharmonika, mit Knöpfen an den Seiten zum Spielen. Hector-Neri hatte noch nie ein Bandoneon gesehen. Da er es für ein seltenes Instrument hielt, ging er davon aus, daß der Musiklehrer selbst nicht gut darauf spielen konnte und somit ihre mangelnde Begabung nicht bemerkte. Sie hatten noch mehr Glück, denn die Schule hatte gar keine Bandoneons, jedoch mußten sie auf eine Violine umsteigen. Nachdem sie sich zwei Monate lang um die Violine gekümmert hatten, wurde Hector-Neri zum Vizepräsidenten der Schule gerufen. Als er bei ihm ankam, fungierte dieser als Schiedsrichter. Er befand sich mit einem Schüler im Boxring. Hector-Neri kannte den Schüler schon aus früheren Bestrafungen, die dieser an ihm vorgenommen hatte. Als er diesen sah, wußte er, was nun kommen würde. Er wurde auch sofort aufgefordert, sich umzuziehen und die Boxhandschuhe anzulegen. Dies tat er mit betonter Ruhe und Gelassenheit, was dem Offizier nicht sehr gefiel. In diesem Moment schwor sich Hector-Neri, diese Schule zu verlassen. Im Ring angelangt, begann der andere sofort mit seinen Aktionen und tänzelte um ihn herum. Doch Hector-Neri nahm die Plantón-Grundstellung ein und wartete ab. Sein Gegner traf ihn zweimal, um dann völlig verwirrt den Offizier anzusehen. Erbost schickte dieser Hector-Neri aus dem Ring. Dieses Vorkommnis beendete Hector-Neris Karriere an dieser Bildungsanstalt. Am anderen Morgen bekam er seinen Hinauswurf. Zusammen mit zwei anderen Schülern wurde er in das Büro des Rektors gerufen. Dort wurde ihnen eröffnet, daß sie bis um 10 Uhr die Schule zu verlassen hätten.28

Als Sechzehnjähriger wollte Hector-Neri seiner Familie keine finanzielle Last sein, daher ging er auf Arbeitssuche. Letztendlich löste eine Anstellung als Mathematiklehrer in der Privatschule seines Onkels Saul dieses Problem. Seiner Großmutter bedeutete er einmal, daß er eine Arbeit suche, bei der er fürs Studieren bezahlt würde. Worauf die Großmutter seinen Sinn für Humor bewunderte.29

Während der Zeit, in der er nicht unterrichtete, hielt er sich pausenlos in der Nationalbibliothek auf und las so viele verschiedene Bücher wie möglich. Dort begegnete er auch Bertrand Russells Werk Problems of Philosophie. Ein Werk zu lesen, in dem die Fragen gestellt wurden, die er sich stellte, und das mit einer Rationalität, die er sich wünschte, beeindruckte ihn sehr. Er schloß seine Augen und versuchte, sich das Problem bildlich vorzustellen. Nach ein paar Minuten rief er aus, daß es wohl ein großer Triumph sei, eine Theorie aufzustellen über Physikalische Objekte.30 Russell beeindruckte ihn sehr, doch konnte er ihn nicht komplett akzeptieren, er glaubte, daß dort noch viel mehr Arbeit zu tun wäre, und bekam dies bestätigt, als er Descartes Meditationes und Berkleys Dialogues laß. Er vergaß dieses Erlebnis, bis er 1972 den ersten Entwurf von Thinking and the Structure of the World verfaßte. Später benannte er diese in Guise Theorie um.31

Hector-Neri spazierte durch die Straßen von Guatemala City, als er bemerkte, daß er sich vor dem Konsulat Costa Ricas befand. Für ihn bedeutete Costa Rica ein Modellbeispiel der Demokratie und das einzige Land, von dem er annahm, daß es sich lohne, dort zu studieren. Kurzerhand trat er ein. Im Inneren des Konsulats wurde er vom Konsul persönlich empfangen. Hector-Neri fragte ihn nach einem Stipendium für Ausländer in Costa Rica. Dieser überlegte und antwortete ihm, daß es solche Stipendien gebe, aber nicht für Guatemalteken, jedoch sei es einen Versuch wert, dieses Potential auszuschöpfen. Er schrieb nach Costa Rica, bekam positiven Bescheid und ein Stipendium von 100 Colones ( ca. 17,77 $ damals) im Monat, was beträchtlich über den Stipendien einheimischer Studenten lag. Hector-Neri mußte einige Monate arbeiten und sich Geld erfragen, um die Reise nach Costa Rica bezahlen zu können. Seine Bemühungen und das Wohlwollen einiger Freunde und Verwandter ermöglichten ihm die Reise nach Heredia in Costa Rica.32

Costa Rica

Hector-Neri genoß die Erfahrung, in einem demokratisches Bildungswesen ausgebildet zu werden. Er bekam die Möglichkeit, seine fehlenden Abschlüsse nachzuholen, und ging dann zur Universität, um Lehramt zu studieren.

Er empfand diese Zeit als glücklich und lehrreich.33 Die offene und freundliche Bevölkerung begeisterte ihn. Niemand hatte Angst vor Fremden oder Polizeiuniformen. Unbeschwert wie alle anderen Jugendlichen in seinem Alter erholte er sich von den Erlebnissen in Guatemala. Das offene politische Leben in Costa Rica ließ ihn an einen Traum glauben. Es gab freie Wahlen und freie Diskussionen über Politiker und Politik sowohl in den Medien als auch auf der Straße. Costa Rica bedeutete für ihn die absolute Gegenposition zu Guatemala. Unterkunft und Verpflegung erhielt er bei Verwandten seiner Großmutter, die vor Ubico geflohen waren.

Während eines Ausflugs 1942 hatte er ein einschneidendes Erlebnis, welches seine Bildung um einiges bereicherte. Damals lernte er ein Mädchen kennen, die ihm eröffnete, Marxistin und Jüdin zu sein. Hector-Neri hatte noch nie zuvor einen Juden kennengelernt. Diese kannte er bisher nur aus der Bibel. Sie unterhielten sich sehr lange, und Hector-Neri hörte viel über die Geschichte der Juden und deren Vertreibungen. Auch daß in ihm, als einem Nachkommen spanischer Auswanderer, jüdisches Blut fließen könnte, aufgrund der Juden, die sich in Spanien niedergelassen hatten und zum Katholizismus konvertierten.

Er erzählte ihr, daß er sich überlege, Philosoph zu werden, worauf sie erwiderte, daß ein Staatsmann viel mehr für sein Volk tun könne. Dessen Werk überdauerte sein Leben, jedoch ein philosophisches Werk erreiche höchstens zehn Jahre Aufmerksamkeit. Die Vorstellung, nur zehn Jahre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, frustrierte Hector-Neri nicht sonderlich. Für ihn bedeutete dies eine lange Zeitspanne. Jahre später mußte er feststellen, daß ein philosophisches Werk auch wesentlich kürzere Zeit beachtet werden kann34.

Sein erstes produktives Arbeiten begann ein Jahr später in Costa Rica. Er arbeitete neben dem Studium in der Bücherei und hatte dadurch ständigen Kontakt zu den Büchern, die er über alles liebte. Selbst an den Wochenenden ging er in die Bücherei, um zu lesen. Seine Gier nach Wissen trug bald Früchte. Neben seinem Studium der Grammatik hatte er begonnen, sich über eine einheitlichere Grammatik des Spanischen Gedanken zu machen. Hierzu las er mehrere Grammatiken aus den verschiedensten Ecken Südamerikas, und stellte fest, daß es derer zu viele verschiedene gab. Dem sehr theoretischen Grammatikunterricht, den er in Guatemala genossen hatte, ging es weniger um das Lesen als um die Lehre der Syntax. In Costa Rica hingegen wurde sehr viel gelesen und geschrieben, und man vernachlässigte die Syntax. Aus diesem Hintergrund heraus ging er an die Ausarbeitung einer neuen Grammatik heran. In dieser unterstützte er eine Methodologie, innerhalb derer er eine neue Art der Kategorisierung forderte. Er ging davon aus, daß kein Wort und kein Ausdruck per se zu einer Kategorie gehört, sondern vom Kontext des Satzes bestimmt ist. Diese Voraussetzung bildete den Grundstein zu seiner strukturalistischen philosophisch-linguistischen Methodologie (structual philosophico-linguistic methodologie), die auch seine erste Arbeit war, die Beachtung fand35.

Hector-Neri wechselte zur Philosophie, und sein Stipendium konnte die Lebenshaltungskosten nicht mehr decken. Dies zwang ihn, eine Arbeit anzunehmen. Von morgens 8 Uhr bis mittags 12 Uhr arbeitete er. Die Schule für Philosophie besuchte er von 13 Uhr bis 16 Uhr. Und von 17 Uhr bis 20 Uhr ging er in die Veranstaltungen der Fakultät für Wirtschaft. An den Wochenenden gab er zusätzlichen Privatunterricht für Mathematik. Er wußte, daß er dieses Leben nicht lange führen konnte. Glücklicherweise veränderte sich zu dieser Zeit in Guatemala einiges. 1944 wurde General Ubico gestürzt, und das Land sollte im Dezember desselben Jahres wählen. Als Kandidat wurde Dr. Juan José Arevalo benannt, ein Philosophieprofessor, der im argentinischen Exil lebte. Eine erfreuliche Nachricht für Hector-Neri, und am meisten freute er sich darüber, daß ein Mann der Bildung Präsident werden sollte. All diese Veränderungen in seiner Heimat machten ihn stolz darauf, aus Guatemala zu stammen. In einer kleinen Zeitung berichteten er, zusammen mit einigen anderen Studenten aus Guatemala, über die politischen Vorgänge in ihrer Heimat. Doch Hector-Neri hielt es nicht länger in Costa Rica, das er in so kurzer Zeit als seine neue Heimat angenommen hatte. Er verließ nicht ohne Trauer Costa Rica. In Guatemala angekommen, gab er seine Stimme für Arevalo ab, der schließlich Präsident wurde.36

Zurück in Guatemala

Zurückgekehrt nach Guatemala, erhielt er eine Anstellung als Spanischlehrer an der Normal School for Girls, beendete seine Arbeiten zur Grammatik und studierte an der Universität von San Carlos. Im Frühjahr 1945 wurde Guatemala City von einer Typhusepedimie heimgesucht, bei der er seinen Stiefvater verlor. Als Oberhaupt der Familie, einer sehr kleinen Familie, sie bestand lediglich aus seiner Mutter, seiner Schwester und seinem kleinen Halbbruder, der nach dem Tod seines Vaters geboren wurde, und ihm selbst, hatte er mit seinem Gehalt ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Hector-Neri nahm seine Arbeit in der Schule und sein theoretisches Interesse an der Grammatik sehr ernst. Er wollte eine revolutionäre Veränderung des Sprachunterrichts in Guatemala. Darüber sprach er mit einigen Freunden, die er für diese Idee begeistern konnte. Mit der Unterstützung des zuständigen Ministers gründeten sie am 6. Januar 1945 das Philological Center Andres Bello. S chlecht ausgerüstet, aber mit ihrem Enthusiasmus als Basis, und der Ablehnung der etablierten Institutionen, die eine Veränderung des Sprachunterrichts und der Grammatik nicht für nötig hielten, starteten sie ihr Vorhaben. Aufgrund der Ablehnung, die offen in der Presse gezeigt wurde, erhielten sie einen großen Bekanntheitsgrad, der ihrer Sache sehr förderlich war.37

Durch seine Arbeit an der Schule lernte er Miriam Mendez kennen. Sie kam aus einer bürgerlichen Familie und studierte an seiner Schule. Ihre Großmutter besaß eine Privatschule des gehobenen Niveaus und mit guter Klientel. Trotz seiner schlechten finanziellen Situation entschloß er sich, sie zu heiraten. Beide wurden am 24. Dezember 1946 vermählt. Am 10. Februar 1948 kam ihr erstes Kind zur Welt, eine Tochter, die sie Xmucane nannten.38

Die Jahre zwischen 1945 und 1948 waren sehr arbeitsintensiv. Seine Freunde und er beschäftigten sich damit, das Institut aufrechtzuerhalten, Familienväter zu sein und zu studieren. Die angestrebten Ziele des Instituts rückten in immer weitere Ferne, auch aufgrund der schlechten, inflationär bedingten finanziellen Situation.39

Seine Namensverwandtschaft mit dem Minister für Bildung half ihm wohl aus dieser Misere heraus. Im Frühling 1948 bestellte ihn der Minister, Ricardo Castañeda-Paganini, zu sich ins Büro. Sie unterhielten sich ein wenig über belanglose Dinge, und der Minister meinte, daß er seine Arbeiten zur Grammatik gelesen habe und sie ihm gefielen. Stolz darauf, da die Castañedas in Guatemala alle irgendwie verwandt seien - da machte es keinen Unterschied, daß er aus einer reichen Familie aus dem Westen stammte und Hector-Neri aus einer armen Familie aus dem Osten40 - unterbreitete er Hector-Neri das Angebot, in den USA Philologie zu studieren. Er willigte ein, obwohl er wußte, daß er nicht mit dem Minister verwandt war und das ganze Angebot einen vetternwirtschaftlichen Charakter hatte. Mit einem Stipendium in Höhe von 300 US Dollar plus Fahrkostenausgleich reiste er zusammen mit seiner Familie nach Minnesota, um an der University of Minnesota bei einem befreundeten Professor, Thomas Irving, zu studieren.41

Sein erster Aufenthalt in den Vereinigten Staaten

Nach anfänglichen Schwierigkeiten mit der englischen Sprache, entschloß er sich, an der Universität Veranstaltungen über Philosophie zu besuchen, um sich in die Terminologie einzuarbeiten. Zwei Jahre später bot ihm Wilfried Sellars eine Stellung als Assistent an, was anfänglich bei seinen Kollegen auf Mißfallen stieß.42 Die Ansprüche an den amerikanischen Universitäten, die Sprache ihrer Lehrkräfte betreffend, sind sehr hoch, da sie ihren Studenten eine gute Ausbildung zukommen lassen wollen. Trotz seines schlechten Englisch - er sprach sehr schnell, hatte einen spanischen Akzent und eine falsche Betonung - konnte Sellars ihm 1951 zu einer Anstellung verhelfen43. Mit dem zweiten Einkommen kam die Familie besser zurecht, da Hector-Neri seiner Mutter in Guatemala noch Geld schickte. Es verband ihn aber noch ein anderes, ein moralisches Problem mit seiner Heimat. Er wurde nach Amerika geschickt, um Philologie zu studieren, und stand kurz vor einem Abschluss in Philosophie. Nach langem Hin und Her kam er zu der Überzeugung, daß ihm dies kein Problem bereiten sollte. Eine guter Abschluss in Philosophie würde sowohl ihm als auch seinen Landsleuten mehr bringen als ein Abschluss in Philologie, den er nicht aus Überzeugung ablegte. Noch dazu interessierte es in Guatemala niemanden, welche beruflichen Qualifikation er anstrebte. So entschied er sich, weiterhin Philosophie zu studieren und abzuschließen. Sein Studium der Philosophie war sehr beeinflußt von Sellars' Arbeiten, einige von diesen Arbeiten übersetzten Hector-Neri und ein Freund aus Guatemala, Rogoberto Juarez-Paz, ins Spanische.44 Die Zusammenarbeit mit Sellars' hat Hector-Neri sehr geprägt. Viele Denkansätze Sellars übernahm Hector-Neri für seine späteren philosophischen Arbeiten.45

Er arbeitete mit Sellars und versuchte, soviel wie möglich über andere Philosophen zu lernen. Schließlich entschloß er sich zu promovieren, doch dazu brauchte er einen Abschluss als M.A. Für ihn bedeutete dies ein großes Problem, da er noch keine Ahnung hatte, welches Thema er für seine Magisterarbeit wählen sollte. In dieser Zeit kamen zwei ihrer Söhne zur Welt, am 16. Juli 1950 Kicab und am 17. September 1951 Hector-Neri II.

Die finanzielle Versorgung während der Promotion war gewährleistet, als die Regierung von Guatemala einer Verlängerung seines Stipendiums um zwei Jahre zustimmte und Hector-Neri an der Universität, durch den Einsatz Sellars', ein weiteres Jahr als Assistent arbeiten konnte. Im Herbst 1951 hatte er seine erste philosophische Entdeckung. Er stellte fest, daß deontische Operatoren wie "sollen", "falsch", "zulässig" usw. vermischte Modalitäten sind, die zum einen praktische Gedanken (practical thought contents) als Argumente und zum anderen Propositionen als Werte haben.46 Ferner entdeckte er, daß ein Versprechen eine Art parlamentarischer Erlaß für ein deontisches System ist. Ein jedes Versprechen konstituiert so etwas wie eine Mini-Institution innerhalb dieses Systems. Diese Entdeckungen führten ihn zum Inhalt seiner Magisterarbeit, sie befaßte sich mit der Logik von Befehlen und deontischen Urteilen. Im Sommer 1952 wurde ihm der Titel M.A. zuerkannt.47

Finanziell gut abgesichert, wurde ihm eröffnet, daß er nur zwei Jahre Assistent sein könne, und sein Stipendium sich dem Ende zuneige. Er bat um eine Verlängerung des Stipendiums um anderthalb Jahre, doch wurden ihm nur sechs Monate zugestanden. Zutiefst frustriert ging er zu Wilfried Sellars und berichtete ihm von seinen Schwierigkeiten und daß er deshalb seine Mathematikprüfung verschieben wolle. Sellars verlangte jedoch von ihm einen termingerechten Abschluss Dies verärgerte Hector-Neri, doch er entsprach Sellars' Wünschen und legte die Prüfung ab. Als Sellars davon erfuhr, ließ er ihn in sein Büro rufen und zeigte ihm eine Liste, auf der sich sein Name befand, und sagte, daß er als Teilzeitlehrkraft an der Universität arbeiten werde. Hocherfreut über diese Wendung, fand Hector-Neri auch ein Thema für seine Doktorarbeit. In ihr behandelt er die logische Struktur von moralischen Urteilen.48 Im Juni 1954 gingen seine beiden Einkommen zu Ende, und er erhielt seinen Doktortitel am 12. Juni 1954.49

Aus den USA zurück nach Guatemala

Am 18. Juni 1954 verließ Castañeda mit seiner Familie Minneapolis in Richtung Guatemala. Sie kauften sich auf Kredit einen Chevrolet und fuhren über kleine Straßen nach Memphis. Die großen Interstate Highways, die heute durch die Vereinigten Staaten führen, gab es noch nicht. Nach drei Tagen erreichten sie Memphis, Tennessee. Die schwangere Miriam sollte mit den Kindern von New Orleans aus per Flugzeug nach Guatemala fliegen, während er mit dem Auto durch Mittelamerika weiterreisen wollte. In Memphis kauften sie sich die erste Zeitung nach ihrer Abreise und stellten mit Entsetzen fest, daß am Tag ihrer Abreise Carlos Castillo Armas von Honduras aus seine Invasion gegen Guatemala gestartet hatte, um es von den Kommunisten zu befreien.

Sie mußten ihre Pläne ändern, und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zusammen mit dem Wagen den beschwerlichen und gefährlichen Weg nach Guatemala fortzusetzen. In Mexico City warteten sie auf die Öffnung der Grenze, um die Reise durch Südmexiko nach Guatemala fortzusetzen. Seine Frau überstand die Reise unbeschadet und brachte am 6. September ihren dritten Sohn, Omar, zur Welt.50

Unter einer ruhigen Oberfläche herrschten Aufregung und Unsicherheit innerhalb der Bevölkerung Guatemalas.51 Jeder war dazu angehalten, politisch Farbe zu bekennen. Ebenso verhielt es sich an der School of Humanities, von den Professoren wurde erwartet, daß sie ihre politische Überzeugung in den Klassen preisgaben. Für Castañeda, der dort eine Anstellung gefunden hatte, bedeutete dies ein großes Problem, da er sich politisch neutral verhalten wollte. Um keine politische Richtung zu unterstützen, hatte er sich eine Technik zurechtgelegt, mit der er niemandem zu nahe trat. Er gab bei seinen Logik-Veranstaltungen zu jedem Fall zwei Beispiele, das eine Beispiel unterstützte die Marxisten unter den Studenten und das andere die Befürworter des neuen Präsidenten.52 Die Studenten lernten, ihn als eine politisch neutrale Konstante innerhalb des Lehrkörpers zu akzeptieren. Außerhalb der Universität versuchte er ebenfalls, so neutral wie möglich zu sein. Er unterstützte zwar die Errungenschaften der Revolution von 1944, die dem Land Gewerkschaften, Elektrizität, politische Freiheiten und einiges mehr gebracht hatte, aber nach außen blieb er neutral. Er mußte sich entscheiden, ob er ein Guatemalteke oder ein Philosoph sei.53 Er liebte sein Land, aber auch seinen Beruf. Gelegentlich bedauerte er es, kein praktisches Fach wie Medizin oder Maschinenbau studiert zu haben, mit dem er den Menschen in seinem Land hätte helfen können und das ihm ein geregeltes Einkommen gesichert hätte.54 Solche Zweifel durfte er in der Öffentlichkeit nicht aufkommen lassen, da er befürchtete, den gleichen Repressalien ausgesetzt zu werden wie unter Präsident Ubico, bei dem es gang und gäbe war, den Menschen ihre Pässe abzunehmen. So entschloß er sich, ein Philosoph zu sein und als solcher zu wirken. In dieser Zeit begann er an seinem vorläufigen Textbuch zur elementaren Logik zu schreiben.55

Doch die Situation in Guatemala wurde für ihn unerträglich. Präsident Armas hatte sein Revolutionskomitee außer Kraft gesetzt und die Alleinherrschaft an sich gerissen. Er ordnete einen Volksentscheid an, zu dem die Wähler mit Bussen gekarrt wurden, um im Wahlbüro gefragt zu werden, ob sie Castillo Armas zum Präsidenten wählen wollten. Denjenigen, die nicht zur Wahl gingen, wurde der Paß entzogen. Wer ein Ausreisevisum wollte, mußte seine Identifizierungskarte vorzeigen, in der eingetragen wurde, ob er oder sie gewählt hatten, falls nicht, erteilte man ihnen keines. Nach langem Hin und Her entschied sich Castañeda dafür, nicht zu wählen. Das wiederum eröffnete ihm ein unumgehbares Problem, in Guatemala konnte er nicht bleiben. Mit der Ausbildung, die er in den USA genossen hatte, konnte er nur in den USA unterrichten. Doch wer in den USA wollte einen Lehrer für Philosophie, der gerade einmal seinen Doktortitel erlangt hatte. Seine Lage schien aussichtslos, als er sich entschloß, Sellars und Feigl zu schreiben, um sie um Hilfe zu bitten. Sie versprachen ihm, zu helfen, doch er hatte nicht viel Hoffnung. Da kam es, daß in der Zeitung berichtet wurde, daß Großbritannien eine vorläufige Botschaft in Guatemala einrichtete und diese Botschaft einige Stipendien für Studien in Großbritannien anbot. Für Castañeda stand fest, daß eines dieser Stipendien das seine werden würde. Er schrieb Sellars und Feigl um Referenzen, und bewarb sich. Er erhielt das Stipendium und bereitete sich auf Oxford vor.56

Ein Jahr in Oxford

Castañeda verließ Guatemala allein und besuchte zusammen mit anderen Philosophen im September 1955 in Brasenose College, Oxford57, ein Kolloquium für zeitgenössische britische Philosophie, um die Arbeit Sellars' zu untersuchen. Die Trennung von seiner Familie setzte ihm sehr zu, dennoch genoß er den Aufenthalt. Die Art und Weise des britischen Philosophierens gefiel ihm sehr, vor allem die Klarheit der Gedankengänge und der Beispiele, die Vielfalt der aufgestellten Thesen und die freundliche Atmosphäre in einem schier unendlich scheinenden Strom von Sherry58. Er traf dort viele Philosophen, unter ihnen Gilbert Ryle, Elisabeth Anscombe, Strawson, Hare und viele mehr. Er lernte viel von ihnen und genoß es, den jungen Philosophen bei ihrer Argumentation gegen die älteren zuzuhören. Jeden Mittwochabend traf er sich mit Richard M. Hare, um mit ihm dessen Werk Language of Morals und seine eigene Dissertation zu diskutieren.59

Doch es dauerte nicht lange, da kamen ihm Zweifel an der Art, wie in England philosophiert wurde. Er vermißte eine generelle Struktur in diesem Arbeiten, es wurden ständig Einzelprobleme behandelt, es fehlte ein Gesamtkonzept. Ferner störte es ihn, daß man symbolische und formale Logik vernachlässigte. Einige Philosophen vertraten die Meinung, daß alles, was man an Logik wissen müsse, in Strawsons Introduction to Logical Theorie behandelt werde.60 Die Konzentration auf einzelne Beispiele und kleine Teilbereiche der Sprache bedeutete für Castañeda die Negation der formalen Logik. Diese bildete für ihn jedoch das Gerüst zu einem großen System der Logik. Die Tabuisierung der Metaphysik störte ihn, und schließlich konnte er auch nichts mit der Untersuchung der Umgangssprache anfangen. Hier wurden Wörter aus dem Zusammenhang gerissen und deren Bedeutung und Betonung diskutiert. Für Castañeda stand fest, daß die Bedeutung eines Wortes nur im Zusammenhang mit dem Satz, in dem es auftaucht, erkannt werden könne. Dieser Schritt sollte in England jedoch erst in den 70ern durch Prior, Dummet und Scott vollzogen werden.61 Castañeda wollte ein semantisch-syntaktisches System erstellen, an dem er zu arbeiten begann, das er aber nie als Gesamtwerk veröffentlichte. Auf den Rat einiger befreundeter Philosophen entschloß er sich, das Werk in kleinere Aufsätze zu spalten, die er 1973 in The Struktur of Morality veröffentlichte. Zwei Jahre später wurden diese Aufsätze von Kieth Lehrer, als Nummer 7 seiner Serie Philosophical Studies, veröffentlicht, sie erschienen unter dem Titel Thinking and Doing: The Philosophical Foundation of Institutions. 62

Im Frühjahr 1956 bot ihm die britische Regierung an, ein zweites Jahr in Oxford zu verbringen. Die Trennung von seiner Familie belastete ihn zu sehr, als daß er diesem Angebot nachkommen wollte. Jedoch brauchte er eine Anstellung als Lehrkraft oder eine andere Möglichkeit, um seinen Weg fortzusetzen. Aber auch hier war ihm das Glück treu. Sellars wurde nach London eingeladen, wo er auf Castañeda traf, der ihm seine Situation schilderte. Sellars setzte sich für ihn ein, und am Ende seines Aufenthalts in Oxford erreichte ihn eine Nachricht von Charles Baylis von der Duke University, der ihm die Vertretung für Roger Buck anbot.63 Castañeda antwortete ihm sofort und erhielt die Vertretungsstelle für ein Jahr.

Im Juli 1956 reiste er noch durch Frankreich und Deutschland, um danach von Spanien aus nach Havanna abzureisen. Dort traf er sich mit seiner Frau, mit der er nach Costa Rica flog, um Klassenkameraden zu besuchen. Danach kehrten sie nach Guatemala zurück, um die Auswanderung zu beantragen. Daraufhin brachen schwierige Zeiten für sie an, da sie ihren Auswanderungswunsch nicht mehr verheimlichen konnten. Während dieser Tage ging er seiner Tätigkeit in der School of Humanities und der Universität von San Carlos nach. Im September 1956 konnte er mit seiner Familie und 900 $ in die Vereinigten Staaten ausreisen.64

Sein philosophisches Wirken in den Vereinigten Staaten

Die Anstellung brachte ihn nach Durham, North Carolina. Er zweifelte daran, einige seiner Arbeiten zu veröffentlichen. Der Wunsch nach einer festen Anstellung genoß damals Priorität, da sich sein Aufenthalt an der Duke Universität auf ein Jahr beschränkte. Einer seiner Freunde unterrichtete im Technologial Institut of Georgia und unterbreitete ihm den Vorschlag, dort Spanisch zu unterrichten. Jedoch mußte er hierfür ein Photo an das Institut senden, welches zeigen sollte, daß er nicht der farbigen Minderheit angehörte. Er ließ einige Photos erstellen, schickte diese jedoch nicht ab.65 Als er von einem Kongress der American Philosophical Association aus Philadelphia zurückkehrte, glaubte er vorschnell gehandelt zu haben und bedauerte sein bravouröses Benehmen.

Auf dem Kongress hoffte er einige Beziehungen knüpfen zu können, aber der einzige, der sich mit ihm unterhielt, war George Nakhinikian. Da er ebenfalls nicht aus den Vereinigten Staaten stammte, hatte dieser keine Schwierigkeiten mit Castañedas Akzent. Diese Unterhaltung, die einzige, die er auf dem Kongress hatte, veranlaßte Nakhinikian dazu, ihm eine Stellung als assistant professor anzubieten.66 Er nahm an und ging im Sommer 1957 mit seiner Familie nach Detroit. Dort wurde am 8. Februar 1961 Quetzil geboren.

Dort begann er zu veröffentlichen. Seine erste Arbeit war Arithmetic and Reality. 67 Es wurde auch sein erster großer Erfolg. Alan Stout, der Herausgeber von Austral-asian Journal of Philosophie, beglückwünschte ihn zu seinem Artikel und legte einen Brief von Gasking bei, den Castañeda kritisiert hatte. Dieser bedankte sich für die Kritik, die ihm die Augen geöffnet hatte. Castañeda hoffte für die Zukunft, daß er mit Kritik an ihm ebenfalls auf diese Weise umgehen werde.68

In Wayne State lernte er Edmund Gettier kennen. Zusammen mit Nakhinikian bildeten sie drei Antipoden, die verschiedene philosophische Ausbildungen genossen und deshalb verschiedene Meinungen vertraten. So verwunderte es nicht, daß sie öfter aneinandergerieten. Diese Auseinandersetzungen hatten einen hohen pädagogischen Stellenwert in der philosophischen Karriere Castañedas. In dieser Zeit lernte er, auf seinen Argumenten zu beharren, auch wenn er kritisiert wurde, und er lernte seine Argumente zu überdenken, wenn es an der Zeit dafür war.69 Bis auf einen kurzen Zeitraum von einem Jahr (1962-1963), den er in Austin, Texas, verbrachte, blieb er zwölf Jahre in Wayne State. Dort gestaltete sich sein Leben wenig abwechslungsreich, er pendelte zwischen der Universität, der Bibliothek und seinem Zuhause. Doch das störte ihn nicht, denn er hatte den Elfenbeinturm erklommen und arbeitete als Philosoph, was er sich schon immer gewünscht hatte. Von 1965 bis 1966 übernahm er den Vorsitz der Fakultät. In dieser Zeit gründete er die Fakultätsbibliothek, die später seinen Namen erhielt. 1966 wurde ihm von der Universität von Pennsylvania die Leitung der Philosophischen Fakultät angeboten. Er besprach dieses Angebot mit seinem Vorgesetzten, doch dieser riet ihm ab und fragte ihn, ob er nicht daran interessiert sei, ein philosophisches Journal herauszugeben. Dies begeisterte Castañeda derart, daß er den Grundstein für das Journal Noûs legte, deren Herausgeber er wurde70. Die Herausgabe wurde begleitet von einem Wandel in der englischsprachigen Philosophie. Die Tabus der 50er Jahre wurden fallengelassen, ordinary language philosophie wandelte sich von lexikalischen hin zu mehr syntaktischen Argumenten. Linguistische Arbeiten wurden mit in die Philosophie einbezogen, europäische Philosophen wurden diskutiert, und Marx war nicht länger verboten. Noûs spiegelte diese Entwicklung wieder. Die Herausgeber strebten danach, so viele und verschiedene Probleme wie möglich zu behandeln und ebenso viele und verschiedene Autoren zu Wort kommen zu lassen.71

1969 verließ er Wayne State und wechselte zur Universität von Indiana, die er nur für ein Jahr verließ, als er von 1981 bis 1982 nach Standford, Californien ging. Dort veröffentlichte er einige Aufsätze, die in Tomberlins Werk Agent, Language and the Struktur of World diskutiert werden. In den langen Jahren des Aufenthalts im Elfenbeinturm hatte er sich von seiner Frau Miriam derart entfremdet, daß dies zur Scheidung im Jahre 1982 führte. Ein Jahr später entschloß er sich, mit der salvadorianischen Philosophin Rhina Toruno zusammenzuleben.72

Castañeda interessierte die Campuspolitik nicht, er hielt sich im Elfenbeinturm auf. Doch dies sollte sich in Indiana ändern. Ihm wurde die Leitung des Büros für lateinamerikanische Belange angeboten. Zuerst lehnte er ab, doch nach reiflicher Überlegung stimmte er zu, da er glaubte, durch diese Tätigkeit sehr viel Gutes für seine Mitmenschen erreichen zu können.

Am 15. August 1978 erhielt er die Leitung des Büros für lateinamerikanische Belange (Dean of Latino Affairs).73 Er gründete ein Gemeinschaftshaus, das er zusammen mit den lateinamerikanischen Studenten renovierte. Es hatte den Status eines Gemeindehauses, in dem sich die Studenten treffen konnten, um Parties zu feiern, aber auch um Kurse in Spanisch oder Englisch abzuhalten. Es hatte die Aufgabe, die spanische Kultur zu pflegen und den Studenten einen Ruhepol zu geben, an dem sie als Minderheit, die sie auf dem Campus waren, unter sich seien konnten. Neben dieser Einrichtung gab es ebenfalls Einrichtungen für die farbigen Studenten und die weiblichen Studentinnen, die nach dem Vorbild Castañedas eingerichtet wurden. Diese Art des multikulturellen Zusammenlebens wurde von allen Beteiligten befürwortet.

Castañeda mußte bald merken, daß es einen großen Unterschied zwischen politischer Hochschultätigkeit und der Lehre gab.74 Einen Aufsatz zu kritisieren verursachte weitaus weniger Schwierigkeiten als eine Idee, die das Zusammenleben verschiedener Minderheiten innerhalb einer Mehrheit zu regeln versucht. Der Umgang mit solchen Belangen erforderte mehr Fingerspitzengefühl als der mit Systemen oder Theorien.

Seine Arbeit innerhalb dieser Gruppen hatte zum Ziel, die Sprache der Studenten auszubilden, um ihnen das Studieren zu vereinfachen. Er veranstaltete Englischkurse für die spanischsprachigen Studenten und Spanischkurse, um ihnen ihre Muttersprache näher zu bringen. Seine Arbeit um die Basiskenntnisse der englischen Sprache aller Studenten fand große Anerkennung innerhalb der Universität. Er entwickelte eine Variante des Englischen, die er Germlish nannte. Dies war eine Kombination aus einem englischen Wortstamm und deutschen Endungen. Das Verb loven wurde folgendermaßen gebeugt: I love [ das "e" ist betont wie im deutschen "liebe"] ; you lovest; he, she, it lovet; we loven; you lovet; they loven; 75 Germlish bildete eine Art Werkzeug, um den Studenten das Erlernen einer fremden Sprache zu vereinfachen. Noch Jahre später wurde Germlish an der Universität unterrichtet und von den Studenten dankbar aufgenommen.76

Im Herbst 1981 sollten die Bereiche für lateinamerikanische, weibliche und farbige Studenten aufgelöst werden, um sie in einem einzigen Bereich zusammenzufassen. Dies mißfiel Castañeda, da er die spanische Minderheit nun als eine Minderheit innerhalb einer Minderheit sah. Er konsultierte die Leiterin des Büros für Frauenangelegenheiten und stellte sich zusammen mit ihr gegen diesen Vorschlag, den der Leiter des Büros für afro-amerikanische Angelegenheiten und gleichzeitige Vizepräsident der Universität angeregt hatte. Das Glück war ihnen hold, doch der auf ihn ausgeübte politische Druck ließ Castañeda 1983 sein Amt niederlegen. Acht Jahre der Lehre verblieben ihm noch in Indiana, wo er am 07.09.1991 starb.

2. Allgemeine Grundlagen

Castañeda steht als Schüler Sellars' in der Tradition der Analytischen Philosophie. Durch seine Ausbildung in den Vereinigten Staaten und England wurde er mit der Sprachanalytischen Philosophie bekannt, übernahm deren Methodologie jedoch nicht. Er lehnte sie als zu lexikalisch ab, da er stets ein umfassendes System der Philosophie suchte, anhand dessen er die Sprache untersuchen konnte. Die Anfänge seines Wirkens lagen aber nicht in der Sprachanalyse, sie kamen aus der praktischen Philosophie.77 Dort beschäftigte er sich mit der deontischen Logik und der praktischen Erfahrung. Aber auch die deutsche Philosophie formte sein Denken. Seine Philosophie weist starke Züge der Kantischen Metaphysik auf. Hauptsächlich begeisterte ihn die Kopernikanische Wende Kants, die sich mit der Struktur der Erfahrung und nicht mehr mit der transzendenten Metaphysik beschäftigte. Während eines Interviews, das in der Information Philosophie erschien, kommentierte er dies wie folgt:

"Das war ein brillanter Schachzug: dazu überzugehen, die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung zu untersuchen."78

Die Struktur der Erfahrung ließ Castañeda nicht mehr los und wurde somit das Fundament seiner Ontologie. In dieser Ontologie übernimmt er auch die Konzepte vom Ding an sich und der Erscheinung, die er jedoch unter Zuhilfenahme von logischen Operatoren unterscheidet und zu einer Idee verbindet, die keine scharfe Trennung mehr vom Ding an sich und von der Erscheinung zuläßt. Solche Gestaltungen 79 unterliegen nur noch einer logischen Trennung zwischen kontingenten und konstituierenden Eigenschaften, die dem Betrachter die Sinnesdaten liefert, die er benötigt, um die physikalischen Objekte 80 der Außenwelt zu identifizieren. Aus den Eigenschaften und den dazugehörigen Relationen, die ein Objekt oder eine Entität aufbauen, schließt Castañeda, daß jede einzelne Entität durch dieselben Strukturen aufgebaut ist81, wie die dazu korrespondierenden Ausschnitte der Wahrnehmung, die Castañeda perzeptuelle Felder 82 der Wahrnehmung eines Subjekts nennt. Diese erkenntnistheoretische Voraussetzung ist es, die seiner Ontologie ihren phänomenologischen Charakter verleiht.

Diese enge Verbindung zwischen Denken und Wahrgenommenem bringt Kategorien hervor, die nicht so starr sind wie die Kants. Castañeda hält Kategorien für flexibel. Noch dazu sei ein System unveränderlicher Kategorien für die menschliche Natur nicht nötig.83 Zwar stimmt er einer noumenalen Wirklichkeit zu, jedoch die kategorialen Strukturen zu deren Beschreibung sind für ihn, im Gegensatz zu Kant, veränderbar und nicht als letztendliche Strukturen gegeben.84

Nicht nur Kant, auch Descartes, Leibniz und Frege haben ihn in seinem Denken beeinflußt. Das cogito Descartes und das Ich denke Kants prägen seine Vorstellung vom "Ich".85 Ebenso fließen die Leibnizsche Identität 86 und das Problem der Fregeschen Triade (Morgenstern, Abendstern, Venus)87, anhand dessen er seine Überlegungen zur Identität innerhalb seiner Philosophie ausführt, in seine Theorie der Gestaltungen (Guise-Theorie) ein.

Über seine Methodologie sagt er, daß sie einen Aspekt habe, den er den deutschen Zug nennt.88 Hierbei handelt es sich um seine Betrachtungsweise von der Welt als Ganzem. In dieser unterscheidet er sich von der englischen Analytischen Philosophie insofern, als diese die Sprache lexikalisch betrachtet.89 Er hält die lexikalische Analyse von Grundbegriffen für angebracht, doch ist dies für ihn keine gute Methode, um die Welt als Ganzes darzustellen. Hier greift in seinem Denken der deutsche Zug, indem er versucht, isolierte Phänomene innerhalb eines Systems zu verstehen.90

Aufgrund dieses Vorgehens wird er zu einem analytischen Philosophen; aber nicht zu einem Reduktionisten91, welcher die Welt, die er erfährt, anhand einer Analyse der logischen Strukturen ihrer Grundbegriffe zu erklären versucht. Für ihn existiert eine komplexe Struktur, in die diese Grundbegriffe eingebunden sind, die es zu untersuchen gilt. So führt eine Analyse zu einem Begreifen der Struktur vom komplexen Seienden.92 Was aber nicht bedeutet, daß er die logischen Strukturen der Grundbegriffe leugnet. Denn komplexe Seiende können auch Grundbegriffe sein und für sich allein existieren. Jedoch kann so ein Grundbegriff, aus einem anderen Blickwinkel gesehen, etwas ganz anderes sein als eine singuläre Entität. Sie kann zu einem komplexen Seienden und dieses wiederum zu einem Grundbegriff werden.93

[...]


1 Vgl. dazu das Vorwort von Helmut Pape, in Castañeda, Hector-Neri: Sprache und Erfahrung: Texte zu einer neuen Ontologie. Hrsg. Dieter Henrich und Niklas Luhmann. Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M. 1982. 7 - 16. S. 10. (Nachstehend als SuE abgekürzt)

2 Castañeda, Hector-Neri: Selbstbewusstsein , Ich -Strukturen und Physiologie. In Frank, Manfred (1994). S. 210 - 245. (Nachstehend als Selbstbewusstsein abgekürzt). S. 233.

3 Bieri, Peter: Analytische Philosophie des Geistes. Verlag Anton Hain Meisenheim GmbH. Königstein/Ts. 1981. S. 18f.

4 In der zeitlichen Abfolge der von mir verwendeten Arbeiten stünde die Entdeckung der Indikatoren und Quasi-Indikatoren am Anfang, da Castañeda diese in dem Aufsatz He: A Study on the Logic of self-consciousness, den er 1966 veröffentlichte, vorstellt. Die Arbeiten an der Theorie der Gestaltungen (Guise Theorie) veröffentlichte er 1974 in dem Artikel Thinking and the Structure of the World. Die Erörterung über den ontologischen Aufbau des "Ich" zu einem Ich denke hier und jetzt fand ihren Platz 1987 in Konrad Cramers Sammelband Theorie der Subjektivität mit dem Titel: The Self and the I-Guises, Empirical and Transcendental. Seine letzten Arbeiten, die posthum in Manfred Franks Reader Analytische Theorien des Selbstbewusstseins erschienen sind, bieten uns zum einen einen Überblick über die Propositionalität von Selbstbewusstsein (In Frank: Selbstbewusstsein , demonstrative Bezugnahme und die Selbstzuschreibungstheorie der Überzeugungen) und zum anderen eine Erläuterung zur internen und externen Reflexivität des Selbstbewusstseins (In Frank: Selbstbewusstsein , Ich-Strukturen und Physiologie). Letzterer wurde für ein Treffen von Psychiatern und Philosophen geschrieben und bietet einen Hinblick auf mögliche neurophysiologische und psychologische Konsequenzen (Hierzu vergleiche Pape, Helmut: Die Gestalten des Ichs. In Frank, Manfred: Analytische Theorien des Selbstbewusstseins 1994. S. 157.

5 Diese Biographie ist eine Zusammenfassung der Autobiographie von Hector-Neri Castañeda, die er in Tomberlin, J.E.: Hector-Neri Castañeda. D. Riedel Publishing Company. Dordrecht, Netherlands. 1986. S. 3 - 77. veröffentlicht hat.

6 Vgl. dazu a. a. O. S. 3 f.

7 Vgl. dazu a. a. O. S. 4.

8 Vgl. dazu a. a. O. S. 4 f.

9 Vgl. dazu a. a. O. S. 6.

10 Vgl. dazu a. a. O. S. 10.

11 Vgl. dazu a. a. O. S. 11.

12 Ebd.

13 Vgl. dazu a. a. O. S. 12.

14 Vgl. dazu a. a. O. S. 13.

15 Vgl. dazu a. a. O. S. 15.

16 Vgl. dazu a. a. O. S. 16.

17 Vgl. dazu a. a. O. S. 20.

18 Ebd.

19 Ebd.

20 Vgl. dazu a. a. O. S. 22.

21 Vgl. dazu a. a. O. S. 21.

22 Vgl. dazu a. a. O. S. 17.

23 Ebd.

24 Vgl. dazu a. a. O. S. 18.

25 Vgl. dazu a. a. O. S. 24 f.

26 Vgl. dazu a. a. O. S. 25.

27 Vgl. dazu a. a. O. S. 26 f.

28 Vgl. dazu a. a. O. S. 30.

29 Ebd.

30 Vgl. dazu a. a. O. S. 31.

31 Ebd.

32 Vgl. dazu a. a. O. S. 33.

33 Vgl. dazu a. a. O. S. 34.

34 Vgl. dazu a. a. O. S. 36.

35 Vgl. dazu a. a. O. S. 37.

36 Vgl. dazu a. a. O. S. 39.

37 Vgl. dazu a. a. O. S. 40.

38 Vgl. dazu a. a. O. S. 41.

39 Vgl. dazu a. a. O. S. 41 f.

40 Vgl. dazu a. a. O. S. 42.

41 Vgl. dazu a. a. O. S. 42 f.

42 Vgl. dazu a. a. O. S. 44.

43 Ebd.

44 Vgl. dazu a. a. O. S. 45.

45 Ebd.

46 Vgl. dazu a. a. O. S. 47.

47 Vgl. dazu a. a. O. S. 46 f.

48 Vgl. dazu a. a. O. S. 48.

49 Ebd.

50 Vgl. dazu a. a. O. S. 49.

51 Ebd.

52 Vgl. dazu a. a. O. S. 49 f.

53 Vgl. dazu a. a. O. S. 50.

54 Vgl. dazu a. a. O. S. 51.

55 Vgl. dazu a. a. O. S. 50 f.

56 Vgl. dazu a. a. O. S. 52.

57 Vgl. dazu a. a. O. S. 53.

58 Ebd.

59 Vgl. dazu a. a. O. S. 54.

60 Ebd.

61 Vgl. dazu a. a. O. S. 55.

62 Vgl. dazu a. a. O. S. 56 f.

63 Vgl. dazu a. a. O. S. 57.

64 Vgl. dazu a. a. O. S. 58.

65 Ebd.

66 Vgl. dazu a. a. O. S. 59.

67 Ebd.

68 Vgl. dazu a. a. O. S. 59 f.

69 Vgl. dazu a. a. O. S. 60.

70 Vgl. dazu a. a. O. S. 64.

71 Ebd.

72 Vgl. dazu a. a. O. S. 62.

73 Vgl. dazu a. a. O. S. 68.

74 Vgl. dazu a. a. O. S. 70.

75 Vgl. dazu a. a. O. S. 72.

76 Vgl. dazu a. a. O. S. 73.

77 Vgl. dazu Pape in SuE. S. 8.

78 Lob,Gerhard. Loebbert, Michael F.: Die Ontologie hat ihre Bedeutung nie verloren. In Information Philosophie. Lörrach. 1/1989. (Nachstehend als Information Philosophie abgekürzt) S.43.

79 SuE. S. 44.

80 Castañeda, Hector-Neri: Gegenständlichkeit und Wahrnehmungsbewusstsein In SuE 394 - 494. S. 461 f. (Nachstehend als Gegenständlichkeit abgekürzt).

81 Vgl. dazu SuE. S. 21 f.

82 Vgl. dazu Gegenständlichkeit S. 482 f.

83 Information Philosophie. S. 43.

84 Ebd.

85 Ausführlich von Castañeda erörtert in: Castañeda, Hector-Neri: The Self and the I-Guises, Empirical and Transcendental. In Cramer, Konrad: Theorie der Subjektivität. Suhrkamp. Frankfurt a. M. 1987. S. 105 - 140. (Nachstehend als The Self abgekürzt). Ich werde mich in 4. Der ontologische Aufbau des Ich damit beschäftigen.

86 Castañeda, Hector-Neri: Das Denken und die Struktur der Welt. In SuE. 350 - 391. S. 361. (Nachstehend als Das Denken abgekürzt).

87 Das Denken. S. 351.

88 Information Philosophie. S. 42.

89 Information Philosophie. S. 44.

90 Information Philosophie. S. 45 f.

91 Information Philosophie. S. 43.

92 Ebd.

93 Ebd.

Ende der Leseprobe aus 114 Seiten

Details

Titel
Die Theorie des Selbstbewusstseins bei Hector-Neri Castañeda
Hochschule
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Note
1,5
Autor
Jahr
1996
Seiten
114
Katalognummer
V1119513
ISBN (eBook)
9783346484499
ISBN (Buch)
9783346484505
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Diese Arbeit enthält neben der Theorie des Selbstbewusstseins auch eine ausführliche Biographie von Hector-Neri Castañeda.
Schlagworte
theorie, selbstbewusstseins, hector-neri, castañeda
Arbeit zitieren
Johannes Reinhardt Heinrichs (Autor:in), 1996, Die Theorie des Selbstbewusstseins bei Hector-Neri Castañeda, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1119513

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