"Formiert" oder "mündig"? - Die BRD auf der Suche nach einem neuen politischen Leitbild

Zwei gesellschaftspolitische Konzepte der sechziger Jahre im Vergleich


Seminararbeit, 2004

15 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

I. Einleitung

II. Die „Formierte Gesellschaft“ – Ludwig Erhards gesellschaftspolitisches Konzept

III. Die „Mündige Gesellschaft“ – Kritik und Gegenmodell der SPD

IV. Vergleich beider Konzepte
1. Problembewusstsein, Zielsetzung, Definition
2. Mensch und Gesellschaft
3. Staat und Politik

V. Resümee

VI. Literatur

I. Einleitung

„In das Nadelöhr der heutigen Wirklichkeit paßt der Faden unserer bisherigen Politik überhaupt nicht hinein. Wir müssen einen neuen Faden spinnen.“, konstatiert Theo Sommer im Herbst 1966 in einem Kommentar zur innenpolitischen Lage Deutschlands.1

Diese plastische Formulierung trifft genau ins Zentrum der Probleme, die Mitte der sechziger Jahre die Gesellschaft und Politik der Bundesrepublik in Unruhe versetzen.

Die goldenen Jahre des „Wirtschaftswunders“ und der damit verbundenen Unbekümmertheit waren vorbei, Veränderungen wurden deutlich und kündigten sich in zunehmendem Maße an. Das Wirtschaftswachstum verlangsamte sich, drohte zu stagnieren und die seit 1964 bestehende Gefahr von Inflation2 rief allgemeine Orientierungslosigkeit und Krisenbewusstsein hervor.3 Es kamen Zweifel auf, ob das marktwirtschaftliche System in der

Lage sei, die wirtschaftlichen Probleme zu bewältigen. Diese Zweifel wurden durch eine skeptische Grundhaltung gegenüber Politik und politischer Entscheidungsmacht als solcher verstärkt, die zunehmend dem Einfluss technischer Innovationen und der Macht partikulärer Interessenverbände unterstand.4 Kernfrage all dieser Probleme und Sorgen war „das bislang ungelöste Problem der Steuerung komplexer Industriegesellschaften“.5 Man war auf der Suche nach einer neuen Konzeption von Politik, nach einem neuen politischen Leitbild, das die alte erhardsche Zielsetzung „Wohlstand für alle“6 ersetzte, an deren Stelle sich eine klaffende Lücke immer deutlicher abzeichnete. Diese Suche beschäftigte seit Beginn der sechziger Jahre sowohl Regierung als auch Opposition und kennzeichnet die Politik dieser

Zeit in besonderem Maße.

Die Debatte um eine neue gesellschaftliche Gesamtkonzeption wurde endgültig mit dem Wahlkampf zur Bundestagswahl 1965 entfacht durch das von Ludwig Erhard vorgestellte Konzept der „Formierten Gesellschaft“. Diesem Versuch einer neuen gesellschaftspolitischen Zielsetzung begegnet die SPD mit scharfer Kritik. Als Gegenmodell antworten die Sozialdemokraten mit dem Leitbild der „Mündigen Gesellschaft“.

In dieser Arbeit sollen beide Konzepte zunächst kurz vorgestellt und anschließend miteinander verglichen werden. In einer abschließenden Beurteilung soll festgestellt werden, warum sich das eine Konzept gegenüber dem anderen behaupten konnte.

Die zugrunde gelegten Quellen sind im Wesentlichen die Parteitagsrede Ludwig Erhards vom

31. März 1965 auf dem CDU-Bundesparteitag in Düsseldorf sowie das Referat Karl Schillers vom 3. Juni 1966 auf dem Parteitag der SPD in Bonn. Diese beiden Reden wurden deshalb als Quelle gewählt, weil in ihnen das jeweilige Konzept zum ersten Mal öffentlich verkündet worden ist. Danach haben beide Konzepte auch an anderer Stelle Erläuterungen erfahren. Gegebenenfalls werden diese zur Verdeutlichung mit einbezogen.

Der Vergleich soll aspektorientiert vorgenommen werden. Da Zielsetzungen und Maßnahmen bei beiden Konzepten stark mit einander vermengt und inhaltlich oft nicht von einander zu trennen sind, kann es dabei dennoch zu Überschneidungen kommen. Hauptsächlich sollen die Leitideen betrachtet und verglichen werden. Die genauere politische Umsetzung der Konzepte kann nur am Rande erwähnt werden, da eine detaillierte Analyse der einzelnen wirtschaftspolitischen Konkretisierungsvorhaben den vorgegebenen Rahmen sprengen würde. Ausgehend von dem älteren Konzept der „Formierten Gesellschaft“ wird die Idee der

„Mündigen Gesellschaft“ nur vergleichend herangezogen. Auf die Kritik, die wiederum diesem Modell entgegengebracht worden ist, wird nicht eingegangen werden. Ebenso verengt sich der Blick auf die Kritik an der „Formierten Gesellschaft“ auf die Position der SPD. Tatsächlich jedoch gehen die kritischen Kommentare weit hierüber hinaus und finden sich sogar in den eigenen Reihen der CDU.7

Was die Forschungslage betrifft, so sind die politischen Veränderungen der sechziger Jahre generell bisher wenig Gegenstand zeithistorischer Forschung.8 Dies gilt auch für die in dieser Arbeit thematisierten politischen Konzepte. Zur „Formierten Gesellschaft“ existieren eine aus den achtziger Jahren stammende Dissertation von Heinzgerd Schott9, sowie ein kurzer Zeitschriftenbeitrag von Laitenberger.10 Außerdem wird sie im Zusammenhang mit biographischen Äußerungen zu Ludwig Erhard und in allgemeinen Darstellungen bundesdeutscher Geschichte angesprochen. Die Literaturlage zur „Mündigen Gesellschaft“ ist

ähnlich rar, im Zusammenhang jedoch mit der Planungspolitik der SPD in den Sechziger Jahren findet das Konzept durchaus Erwähnung. Was die gemeinsame und gegenüberstellende Betrachtung beider Konzepte betrifft, sind die zwei aktuellen Forschungsbeiträge Metzlers11 zu benennen.

II. Die „Formierte Gesellschaft“ – Ludwig Erhards gesellschaftspolitisches Konzept

Im März 1965 stellte Ludwig Erhard auf dem CDU-Parteitag in Düsseldorf, der den Wahlkampf für die im Herbst bevorstehende Bundestagswahl eröffnen sollte, ein neues politisches Konzept vor, das Konzept der „Formierten Gesellschaft“.12

Dieses Konzept war seit Herbst 1964 in Zusammenarbeit des Kanzlers mit verschiedenen Wissenschaftlern und Publizisten erarbeitet worden.13 Anliegen und Ziel war es gewesen, eine neue Verheißung, ähnlich der von der „Sozialen Marktwirtschaft“ zu finden, da die Wahlprognosen für eine erneute Kanzlerschaft Erhards schlecht aussahen.14 Einer solchen Suche lag die Feststellung zugrunde, dass die alten Ideale „Soziale Marktwirtschaft“ und

„Wohlstand für alle“ ausgeschöpft waren und sich gesellschaftliche Orientierungslosigkeit breit machte.

In seiner Parteitagsrede vom 31.3.1965 spricht Erhard von einem „Gefühl des Unbehagens“15 in der Gesellschaft. Als Auslöser hierfür führt er einerseits an, dass die Phase des Wiederaufbaus abgeschlossen und damit „alle naheliegenden materiellen Ziele schon weitgehend erfüllt“16 seien. Positiv formuliert er dies als „den Wunsch nach einer Stabilisierung der Lebensordnung und zugleich nach einer sinnvoll gegliederten Gesellschaft“17. Als weiteren Auslöser für das „Unbehagen“ benennt Erhard die Tatsache, dass „egoistische Gruppeninteressen“18 zunehmend das Gemeinwohl schädigten und daher die „Gefahr eines überentwickelten Pluralismus“19 bestehe.

Während dies die aus der gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Lage heraus resultierenden Beweggründe für eine neue Politik sind, geht Erhard auch auf die geschichtsphilosophischen Ursachen ein, die für eine solche sprechen. Er sieht eine Gesellschaft, die „tiefgreifende Veränderungen und Wandlungen erfahren“20 hat, die durch die Soziale Marktwirtschaft von Klassenkampf und wirtschaftlicher Not befreit worden ist:

„Dieses Volk hat die Epoche der Kultur- und Klassenkämpfe hinter sich gebracht. Aber wir leben auch nicht einfach in der Zeit danach. Die ‘Formierte Gesellschaft’ wird das Bild der Zukunft bestimmen.

[...]


1 Sommer, Theo: „Denken an Deutschland“, DIE ZEIT, Archiv 11/1996, zitiert nach: www.zeit.de/archiv/1966/11/Zt19660311_001_0002_P

2 Vgl. Metzler, Gabriele: Am Ende aller Krisen?, in: Historische Zeitschrift 275 (2002), S.59.

3 Vgl. Laitenberger, Volkhard: Formierte Gesellschaft, in: Die politische Meinung 218 (1985), S.91.

4 Vgl. Metzler, Gabriele: „Geborgenheit im gesicherten Fortschritt“. Das Jahrzehnt der Planbarkeit und Machbarkeit, in: Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, hrsg. v. Matthias Frese, Julia Paulus, Karl Treppe, Paderborn 2003, S.788.

5 Ebd., S.793.

6 Erhard, Ludwig: Wohlstand für alle, Düsseldorf/ Wien 1964.

7 Vgl. Schott, Heinzgerd: „Die Formierte Gesellschaft und das Deutsche Gemeinschaftswerk“. Zwei gesellschaftspolitische Konzepte Ludwig Erhards, Diss. Bonn 1982, S.125-169.

8 Vgl. Metzler, Am Ende aller Krisen, S.59.

9 Siehe Anm.7.

10 Siehe Anm.3.

11 Siehe Anm. 2 und 4.

12 Rede des Bundeskanzlers Ludwig Erhard auf dem 13. CDU-Bundesparteitag 1965 in Düsseldorf, 31.März 1965, in: CDU Bundesparteitag 1965, hrsg. von der CDU-Bundesgeschäftsstelle, Bonn o.J., S.700-721.

13 Gründer und Vorsitzender dieses Kreises war der Ministerialdirektor Karl Hohmann, ein enger Vertrauter des Kanzlers. Neben neun weiteren Mitgliedern ist als Mitwirkender innerhalb dieses Kreises vor allem der Publizist Rüdiger Altmann zu nennen. Er gilt als Urheber der Formel von der „Formierten Gesellschaft“, vgl. Altmann, Rüdiger: Die Formierte Gesellschaft, in: Gesellschaftspolitische Kommentare, 13. Jg., Nr.16, Bonn 15.8.1966, S.173-178.

14 Vgl. Görtemaker, Manfred: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 1999, S.414.

15 Erhard, Parteitagsrede, S.707.

16 Ebd. S.707.

17 Ebd. S.707.

18 Ebd., S.711.

19 Erhard, Ludwig: „Politik auf die Zukunft ausrichten“, Rede vor dem Politischen Club der Evangelischen Akademie Tutzing vom 16. Juli 1965, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr.124 vom 21.7.1965, S.1008.

20 Erhard, Parteitagsrede, S.703.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
"Formiert" oder "mündig"? - Die BRD auf der Suche nach einem neuen politischen Leitbild
Untertitel
Zwei gesellschaftspolitische Konzepte der sechziger Jahre im Vergleich
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Historisches Seminar)
Veranstaltung
Die BRD in den 60er Jahren
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
15
Katalognummer
V112092
ISBN (eBook)
9783640107667
ISBN (Buch)
9783640580491
Dateigröße
410 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Formiert, Suche, Leitbild, Jahren, Ludwig Erhard, BRD
Arbeit zitieren
Katharina Tiemeyer (Autor:in), 2004, "Formiert" oder "mündig"? - Die BRD auf der Suche nach einem neuen politischen Leitbild, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112092

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