Entstehungsbedingungen und Auswirkungen von institutionellem Wandel

Wahlrechtreformen in Polen 1989 – 2007


Thesis (M.A.), 2008

114 Pages, Grade: 1,5


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Wahlsystemforschung und Theorien des institutionellen Designs
2.1 Wahlsysteme und ihre Auswirkungen
2.1.1 Typen von Wahlsystemen
2.1.2 Technische Elemente in Wahlsystemen
2.1.3 Auswirkungen von Wahlsystemen auf Parteiensysteme
2.2 Design Entscheidung als politische Entscheidung
2.2.1 Constitutional Design und electoral engineering
2.2.2 Erklärungsansätze der Wahlsystemreformen in OME
2.3 Theoretische Ansätze zur Erklärung von institutionellem Wandel
2.3.1 Neoinstitutionalismus: Veto-Spieler-Theorem nach Tsebelis
2.3.2 Akteurszentrierter Institutionalismus nach Scharpf/Mayntz
2.4 Untersuchungsdesign und Hypothese

3.Wahlrechtreformen in Polen: Institutionenpolitische Entstehungsbedingungen und Motivationen der Akteure in den Jahren 1989-2007
3.1 Transitionsphase und semi-kompetitive Wahlen 1989
3.1.1 Polen im Sinne des Tranceplacement Modells
3.1.2 Vorgründungswahlen und die Majorzregel
3.1.3 Akteurskonstellation direkt nach den Wahlen
3.1.4 Simulation einer alternativen Konstellation
3.2 Kompetitive Gründungswahlen 1991
3.2.1 Parteienlandschaft im Sejm kontraktowy
3.2.2 Akteurskonstellation und Vetospieler
3.2.3 Entstehung des Wahlrechts 1991
3.2.4 Das Prinzip der Proportionalität und die Wahl von 1991
3.3 Neues Wahlgesetz 1993
3.3.1 Kleine Verfassung 1992 und Parteienlandschaft
3.3.2 Fragmentierung im Sejm und die Akteurskonstellation
3.3.3 Entstehung des neuen Wahlrechts
3.3.4 Modifizierte Proportionalität und die Wahl 1993
3.4 Gescheiterte Reform 1997
3.4.1 Parteienlandschaft und die neue Verfassung von 1997
3.4.2 Konzentration und überraschende Akteurskonstelletion
3.4.3 Elemente der Modifikation und das Scheitern der Reform
3.4.4 Wahlen 1997
3.5 Erfolgreiche Wahlrechtreform 2001
3.5.1 Modifikation der Parteienlandschaft im zweidimensionalen Raum
3.5.2 Neupositionierung der Akteure
3.5.3 Reformpunkte
3.5.4 Wahlen 2001
3.6 Anzeichen institutioneller Stabilität zwischen 2001 und 2007
3.6.1 Parteienlandschaft und Akteurskonstellation nach der Wahl
3.6.2 Reform 2002 und Reformversuch 2005
3.6.3 Wahlen 2005
3.6.4 Wahlen 2007

4.Diskussion
4.1 Auswirkungen des Wahlrechts auf das Parteiensystem
4.1.1 Chronologischer Überblick über angewandte wahlsystematische Faktoren und ihre direkten Auswirkungen
4.1.2 Auswertung vorgefundener Faktoren im Hinblick auf die Kondition des Parteiensystems
4.2 Wahlrechtreformen: Genese und Motivation der Akteure
4.2.1 Chronologischer Überblick über Reformen und Reformversuche des Wahlrechts
4.2.2 Zusammenfassende Auswertung und Bestätigung der Hypothese
4.3 Beurteilung der bisherigen Entwicklungen und Ausblick auf mögliche Zukunftsszenarien

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis der Parteien

1. Einleitung

Die Einführung kompetitiver Wahlen in Ostmitteleuropa (OME) brachte ein grundlegendes Problem ans Tageslicht. Welches der zur Verfügung stehenden Wahlrechtsysteme sollte in den jeweiligen OME-Staaten in den Gründungswahlen verwendet werden? Recht bald zeigte sich, dass in den meisten Fällen bereits kurz nach den ersten freien Wahlen ein erneutes Reformbedürfnis entstand. Gründe dafür waren breit verstreut und verdeutlichten den Anfang vom institutionellen Wandel, der noch einige Jahre die meisten OME-Staaten begleiten sollte. Die Dritte polnische Republik zeigte eine enorm hohe Reformintensität, die kaum mit westlich demokratischen Standards zu vergleichen war, und erweckte damit das Interesse von politikwissenschaftlichen Wahlforschern.

Bis in die neunziger Jahre hinein konzentrierte sich die Wahlsystemforschung auf die Untersuchung der Auswirkungen von Wahlrechtsystemen auf Parteiensysteme. Ausgehend von stabilen und nur sehr selten reformierten Systemen in den westlichen Demokratien und einem dem entsprechend geringem empirischem Untersuchungsfeld erschien dies nicht überraschend. Doch die Konstellation in den OME-Staaten nach 1989 ermöglichte es den neuen politischen Kräften, Einfluss auf die Übersetzungsmethode der Wählerstimmen in Parlamentssitze zu nehmen. Die Dynamik, die diesen Prozess des institutionellen Wandels begleitete, brachte eine enorme Fülle an empirischem Analysematerial.

Das Beispiel Polens steht exemplarisch für die wahlrechtlichen Prozesse in den OME-Staaten. Die polnischen electoral engineers konnten in den Jahren 1989 bis 2005 das Wahlrecht fünf Mal erfolgreich reformieren. Rechnet man die semikompetitiven Vorgründungswahlen von 1989 mit und geht damit von sieben abgehaltenen Wahlen bis 2007 aus, so ergibt sich daraus der Schluss, dass nur zwei Mal in aufeinanderfolgenden Wahlen identisches Wahlrecht angewendet wurde. Die enorm häufige Reform des Wahlrechts und die damit verbundenen Akteurskonstellationen politischer Entscheidungsträger, während der jeweiligen Gesetzesänderungen, sind ein deutliches Indiz für sitzmaximierende Handlungsmotivationen der Parteien. Dabei zeigt vor allem die Untersuchung über das Abstimmungsverhalten Reformkoalitionen, die keinerlei ideologische Kongruenz aufweisen, und untermauert so den Befund über nutzenmaximierend handelnde parteipolitische Akteure.

Diese Tatsachen blieben nicht ohne Auswirkung auf die Wahlsystemforschung. Seit Mitte der neunziger Jahre wurden neben den Effekten von Wahlrechtsystemen auf Parteiensysteme verstärkt die Entstehungsbedingungen dieser in den Fokus der Analyse gerückt. Der in diesem Zusammenhang stehende Begriff des consitutional design (Lijphart 1992; Sartori 1996) wurde immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit gelenkt. In der Folge dieser Diskursentwicklung beschäftigten sich die Untersuchungen mit den Hintergründen und der Genese von Wahlrechtreformen sowie den strategischen Motivationen der jeweiligen electoral engineers in den OME-Staaten (Benoit et al. 2001, 2004; Ka-Lok 2001; Birch et al. 2002; Grotz 2005) .

Die Verschiebung des Erkenntnisinteresses in der neuen Generation der Wahlsystemforschung ist für diese Arbeit grundlegend und lenkt den Schwerpunkt der Analyse auf die Entstehungsbedingungen von institutionellem Wandel am Beispiel der Wahlrechtreformen in Polen. Die Auswirkungen des Wahlrechts auf das Parteiensystem, als Fokus der traditionellen Wahlsystemforschung, werden in diesen Untersuchungskontext hinein gebunden.

Für diese Arbeit ist somit zum einen die Untersuchung der Genese von Wahlrechtreformen sowie der dahinter steckenden Motivationen der verantwortlichen politischen Akteure und damit die Beantwortung der Frage, warum sie gerade diese oder jene Änderung des Wahlsystems befürworteten, von größtem Interesse. Zum anderen werden die Konsequenzen und Effekte der getroffenen Entscheidungen aufgezeigt und vor allem im Hinblick auf die Kondition des Parteiensystems untersucht, um damit die Realisierung der strategischen Ziele der sitzmaximierend handelnden parteipolitischen Akteure verifizieren zu können. Anders formuliert kann das Erkenntnisinteresse auf drei zentrale Fragen zugespitzt werden. Wie kamen die Wahlrechtreformen in Polen in den Jahren 1989 bis 2007 zustande? Warum wurden bestimmte wahlrechtliche Lösungen von den parteipolitischen Akteuren präferiert und andere verworfen? Und welche Auswirkungen hatten die so vorgenommen Änderungen des Wahlrechts auf das sich herausbildende Parteiensystem?

Welche politikwissenschaftlichen Theorien, Methoden und Konzepte lassen sich in diesem Zusammenhang anwenden, um diese Aspekte fundiert beleuchten zu können? Im Bereich der Wahlsystemforschung liegt eine Vielzahl von möglichen Untersuchungsschemata in der politikwissenschaftlichen Literatur vor, auf die innerhalb dieser Arbeit zurückgegriffen werden kann.

Das auf die Genese und Motivationen von Wahlrechtreformen gerichtete Haupterkenntnisinteresse dieser Arbeit wird in ein Theorieprogramm eingebunden, das von Politikwissenschaftlern als das große neue disziplinübergreifende Theoriekonzept bezeichnet wird. Der „Neoinstitutionalismus“ ist deswegen besonders geeignet, das hier vorliegende Thema zu charakterisieren, weil er besonderes Augenmerk auf das Problem des

„Institutionendesigns“ legt und dieses mit interagierenden Akteuren in Verbindung bringt.

Damit stellt er den Gegenpol zur anderen großen Theorieperspektive des 20. Jahrhunderts, der Systemtheorie, dar und wird bei der Motivationsanalyse aufgrund seiner soziologischen Herkunft von besonderer Wichtigkeit sein. Dabei werden zwei spezielle Ausprägungen dieser

„Supertheorie“ in dieser Arbeit als Untersuchungsrahmen angewandt, die sich insbesondere mit den Konstellationen von Akteuren im institutionellen Kontext beschäftigen. Zum einen handelt es sich dabei um das „Vetospielertheorem“ (Tsebelis 2000), zum anderen um den„akteurszentrierten Institutionalismus“ (Scharpf/Mayntz 1995). Bei beiden handelt es sich um eine Handlungstheorie, die ihren Ursprung in der Soziologie besitzt und hier vor allem zur Systematisierung verschiedener Akteurskonstellationen verwendet wird. Mit Hilfe dieses theoretischen Konzeptes wird es möglich sein, die in unserem Fall parteipolitischen und institutionellen Zusammenhänge darzustellen und in den Zusammenhang von Entstehungsbedingungen und Motivationen der analysierten Institutionenreformen zu bringen. Für die Erstellung sehr präziser Untersuchungsergebnisse wird ein weiteres Untermodell dieses großen Theoriegebäudes angewandt. Das sogenannte „office-seeking -Modell“, als Gegenkonzept zum „policy-seeking- Modell“ (Benoit et al. 2001, 2004), wird im Hinblick auf die genaue Bestimmung der Motivationen aller beteiligten Akteure nützlich sein. Mit dem Ansatzpunkt, Wahlsystementwicklung als institutionenpolitischen Prozess und damit als eine besondere Variante von „policy -Reform“ (Grotz 2005) zu betrachten, sind klare Auskünfte

über die angestrebte Erkenntnis zu Entstehungsbedingungen und Motivationen von Wahlrechtreformen in Polen in den Jahren 1989 bis 2007 zu erwarten.

Zur Beantwortung der Frage nach den Auswirkungen des Wahlrechts auf das Parteiensystem wird, ausgehend von den durch Duverger (1959) formulierten Gesetzmäßigkeiten, auf eine sogenannte „Theorie mittlerer Reichweite“ zurückgegriffen. Die von Duverger aufgestellte und in der Wahlsystemforschung bereits längst überholte Kausalitätsbeziehung wird vor allem mit den Arbeiten von Sartori (1996) und Nohlen (2007) auf den neuesten wissenschaftlichen Stand gebracht, um aktuelle Befunde am hier untersuchten polnischen Beispiel überprüfen zu können. Die Effekte des Wahlsystems auf das Parteiensystem werden nicht nur etwas über dessen Kondition verraten, sondern im Hinblick auf den ersten Teil der Untersuchung das Gelingen bzw. Misslingen der jeweiligen Akteure bezüglich ihrer Zielrealisierung verifizieren.

Darüber hinaus werden die zentralen Punkte der Wahlsystematik, die für die empirische Untersuchung unerlässlich sein werden, im theoretischen Teil erörtert. Im Bezug auf die Vorstellung einzelner technischer Elemente sind die Arbeiten von Sartori und Nohlen ausschlagegebend. Das Ziel ist der Aufbau eines Basiswissens vor allem im Bezug auf den hoch komplexen Aspekt der Stimmenverrechnung und Wahlkreiseinteilung. Präzises Detailwissen ist innerhalb dieser Materie von besonderer Bedeutung, um die einzelnen Reformschritte im polnischen Wahlrecht im Hinblick auf die Motivationen der beteiligten Akteure beurteilen zu können.

Ausgehend von der, dieser Arbeit zugrunde liegenden, theoretischen Rahmensetzung wird im Folgenden der chronologische Aufbau dieser Untersuchung im Querschnitt präsentiert.

Im zweiten Kapitel werden zunächst die technischen Aspekte der Wahlsystemforschung dargestellt. Dann wird der theoretische Rahmen für die Analyse der Auswirkungen des Wahlsystems auf das Parteiensystem abgesteckt. Im Anschluss daran wird ein Abschnitt über die Verschiebung des Erkenntnisinteresses in den Politikwissenschaften hin zu den Phänomenen constitutional design und electoral engineering präsentiert. Es folgt ein Überblick über relevante Erklärungsansätze zu Wahlrechtreformen in OME. Dabei wird besonderes Augenmerk auf die von Grotz (2005) zusammengestellten Analysevariablen gelegt. Ausgehend von seinen Prämissen folgt im nächsten Punkt des zweiten Kapitels die Darstellung der theoretischen Konzepte des „Neoinstitutionalimus“ anhand des „Vetospielertheorem“ sowie des „akteurszentrierten Institutionalismus“. Mit diesem Punkt endet die Vorstellung der theoretischen Grundlagen, die zur Analyse der Entstehungsbedingungen und Motivationen der Wahlrechtreformen nützlich sein werden. Im letzten Punkt des zweiten Kapitels wird eine kurze Zusammenfassung dargestellt, um daran anknüpfend die Verortung dieser Arbeit im aktuellen Forschungsdiskurs vorzunehmen und die Hypothese vorzustellen.

Im dritten Kapitel folgt nun der umfangreichste Teil, der sich mit der empirischen Untersuchung der einzelnen Wahlrechtreformkontexte in den Jahren 1989 bis 2007 beschäftigt. Ausgehend von den semikompetitiven Vorgründungswahlen von 1989 und der damit verbundenen Einführung der absoluten Mehrheitswahl rücken danach die Gründungswahlen von 1991 mit der fast reinen Verhältniswahl in den Fokus der Arbeit. Es folgt die Analyse der Reform von 1993 und der daraus folgenden Wahl unter entschärftem proportionalem Wahlrecht. Die gescheiterte Reform von 1997 wird mit gleichem Aufwand untersucht, da sie vor allem im Bezug auf die geglückte Reform von 2001 eine enorme Rolle spielt. Die letzte erfolgreich durchgeführte Wahlrechtreform im Jahr 2002 stellte den Ausgangspunkt für eine wachsende institutionelle Stabilität, die sich in einem identischen Wahlrecht bei den Wahlen 2005 und 2007 manifestierte.

Der schematische Aufbau der sechs Untersuchungsepisoden enthält jeweils eine Analyse des vorhandenen Status Quo der Akteurskonstellation und des im Einzelnen untersuchten Entstehungsvorgangs der jeweiligen Reform sowie der Wahlergebnisse.

Im anschließenden Diskussionskapitel werden die im empirischen Teil gesammelten Erkenntnisse systematisiert und im Bezug auf die Auswirkungen sowie die Motivationen überprüft. Die daraus hervorgehenden Untersuchungsergebnisse werden im weiteren Verlauf in Zusammenhang mit der gestellten Hypothese verifiziert.

Die Arbeit endet mit einer Beurteilung der bisherigen Reformen und einem Ausblick auf mögliche weitere Entwicklungen, mit direktem Bezug zu einem 2008 vorgestellten Wahlrechtprojekt.

Doch zunächst gilt unsere Aufmerksamkeit der Klassifikation von Wahlsystemen im Allgemeinen und den damit verbundenen technischen Elementen im Speziellen sowie ihren Auswirkungen auf die Parteiensysteme in der klassischen Wahlsystemforschung.

2. Wahlsystemforschung und Theorien des institutionellen Designs

2.1 Wahlsysteme und ihre Auswirkungen

2.1.1 Typen von Wahlsystemen

Eine Untersuchung über die Entstehungsbedingungen und Auswirkungen von Wahlsystemen basiert auf der Grundlage von Kenntnissen über deren systematische und technische Details. Eine eindeutige Klassifikation von Wahlsystemtypen erscheint aufgrund von fehlender Einheitlichkeit in den Begrifflichkeiten schwierig. Die im Folgenden vorgestellte Unterscheidung basiert auf den Arbeiten von Nohlen (2007) und Sartori (1996). Ausgehend von der Mehrheits- und Verhältniswahl als den zwei Haupttypen ergibt sich die grundlegende Frage nach der Klassifikation im Bezug auf die Definitionskriterien. „Sollen die beiden Grundtypen nach den technischen Elementen, nach dem Repräsentationsziel oder gar nach den empirischen Auswirkungen definiert werden […].“[1] Sartori, der das technische Element der Wahlkreisgröße als ausschlaggebend für die Einteilung hält, definiert ein System als majoritär, wenn es in Einerwahlkreisen stattfindet und der Sieger alles gewinnt, entsprechend dem first-past-the-post-system. Im Gegensatz dazu ist ein System, das in Wahlkreisen mit zwei oder mehr Kandidaten stattfindet und zwei oder mehr Sieger auf der Basis des höchsten Stimmenanteils hervorbringt, proportional.[2] Nohlen hält eine solche Klassifizierung für falsch und nennt als Beispiel die deutsche Verhältniswahl mit Einerwahlkreisen. Er entscheidet sich für die Repräsentationsprinzipien in der Definitionsfrage der Grundtypen und damit für die Funktion des Systems.[3] „Es gibt zwei Prinzipien politischer Repräsentation, die je eigene Zielvorstellungen politischer Repräsentation aufweisen […] Bei der Mehrheitswahl ist es das Ziel, eine parlamentarische Regierungsmehrheit einer Partei oder eines Parteienbündnisses hervorzubringen; bei der Verhältniswahl ist es dagegen die weitgehend getreue Wiedergabe der in der Bevölkerung bestehenden sozialen Kräfte und politischen Gruppen im Parlament.“[4] Neben der Unterscheidung zwischen Majorz und Proporz als Repräsentationsprinzip existiert die Entscheidungsregel als zweite Einteilungskategorie. Betrachtet man nach Nohlen die Mehrheitswahl als Entscheidungsregel, so ist der Mandatsgewinn eines Kandidaten oder einer Partei an den Gewinn der Stimmenmehrheit gebunden. Dabei kann es das Kriterium der relativen oder absoluten Stimmenmehrheit in einem Wahlkreis geben. Dagegen ist die Mandatsvergabe innerhalb der Entscheidungsregel der Verhältniswahl von den jeweiligen Stimmanteilen der Wahlbewerber abhängig. „Eine Partei erhält so viele Mandate zugesprochen, wie die entsprechende Wahlzahl in der von ihr erreichten Stimmenanzahl enthalten ist oder wie viele Höchstzahlen sie vorweisen kann.“[5] Daraus folgt, dass die

Entscheidungsregel den Mechanismus der Übersetzung von Stimmen in Mandate definiert. Das Repräsentationsprinzip bezieht sich, wie bereits dargestellt, auf die nationalen Ergebnisse einer Wahl. Die Erkenntnisse können wie folgt zusammengestellt werden.

Abbildung 1: Grundlegende Klassifikation von Wahlsystemen

Quelle: nach Nohlen (2007: 142)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die dichotomische Einteilung der Wahlsysteme nach dem Repräsentationssystem ist deshalb von Vorteil, weil sich in der wahlpolitischen Realität viele Möglichkeiten der Kombination ergeben. Sie können aber unabhängig von gegenseitigen Anleihen, gemäß der Maxime tertium non datur, immer einem der Repräsentationsziele zugeordnet werden. Betrachtet man jedoch die klassische Variante der Wahlsysteme, so kann man konstatieren, dass bei der relativen Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen mit der Majorzregel gewählt wird und das Repräsentationsziel der Mehrheitsbildung verfolgt wird. In umgekehrter Logik dazu wird bei der Verhältniswahl in großen Wahlkreisen nach Proporz und dem Bestreben nach proportionaler Repräsentation gewählt. Daraus folgt, dass sich in der klassischen Ausführung Entscheidungsregel und Repräsentationsprinzip entsprechen.[6]

Im Kontext politischer Auswirkungen der Majorzregel bleibt grundsätzlich festzustellen, dass nur die für den Sieger abgegebenen Stimmen in der Folge auch politisch zählen. Bei der Verhältniswahl ist im Gegensatz dazu die sogenannte „Erfolgswertgleichheit der Stimmen“ hergestellt. Es geht also nicht nach dem Prinzip des Siegers, der alles gewinnt. Darüber hinaus wird der Verhältniswahl der Vorzug des breitgesellschaftlichen Meinungsspiegels gegeben, während die Mehrheitswahl vor allem als ein Mittel gegen die Parteizersplitterung gesehen wird.

Im Allgemeinen lassen sich anhand von zwei Bewertungskriterien Funktionen der Einzelnen Wahlsystemtypen darstellen. Das erste Kriterium bezieht sich auf die Repräsentation, wobei zum einen die Vertretung aller relevanten gesellschaftlichen Gruppierungen gemeint ist und zum anderen der Grad an Proportionalität im Bezug auf das „Stimmen-Mandate-Verhältnis“. Das zweite Kriterium der Konzentration und Effektivität bezieht sich zum einen auf die Reduzierung der Parteien im Parlament, ausgehend von allen zur Wahl angetretenen und zum anderen auf die Schaffung stabiler Mehrheiten im Parlament.

Abbildung 2: Wahlsystemtypen und ihre Funktionserfüllung

Quelle: modifiziert nach Nohlen/Kasapovic (1996: 187)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Im Kontext realpolitischer Wahlsystemsubtypen sind letztendlich aber vor allem die speziellen Einzelregelungen für die Auswirkungen verantwortlich. Während es bei der Majorzregel nur zwischen der absoluten und relativen Mehrheit zu unterscheiden gilt, kommen beim Proporz viele Gestaltungsmöglichkeiten in Frage. Im polnischen Kontext sind es jedoch vor allem die Einzelnen technischen Elemente der Verhältniswahl, die zum politischen Spielball der Entscheidungsträger und ihrer parteipolitischen Interessen werden. Im Folgenden sollen deshalb die wichtigsten Elemente wie Wahlkreiseinteilung und Stimmenverrechnung sowie ihre Auswirkungen dargestellt werden.

2.1.2 Technische Elemente in Wahlsystemen

Auf dem ersten Platz der politischen Agenda von electoral engineers steht i.d.R. die Wahlkreiseinteilung. Der Streit über die Festlegung von Anzahl und Größe der Wahlkreise basiert auf der bewiesenen Kausalität zwischen der Wahlkreiseinteilung und Proportionalität bzw. Disproportionalität des Wahlsystems. Neben den Einerwahlkreisen gibt es die Mehrpersonenwahlkreise, die je nach Struktur verschiedene Effekte in der Übersetzung von Stimmen in Mandate produzieren können. Dabei geht es im Detail um die Bestimmung der in einem Wahlkreis zu gewinnenden Mandate. Die Mehrpersonenwahlkreise lassen sich „in kleine (2-5 Mandate), mittlere (6-9 Mandate) und große (10 und mehr)“[7] unterscheiden. Diese Einteilung ist sowohl bei Sartori als auch bei Nohlen anzutreffen. Staaten mit kleinen bzw. mittleren Wahlkreisen besitzen die geringste Proportionalität.[8]

Damit wird der Kern der damit verbundenen Problematik aufgezeigt. Der Repräsentationsschlüssel bzw. die „Erfolgswertgleichheit der Stimmen“ als demokratischer Grundsatz wird je nach Wahlkreisgröße verändert. Wird demnach die Entscheidungsregel des Proporz verwendet, gilt im Bezug auf das „Stimmen-Mandate-Verhältnis“ die Regel, dass „je kleiner der Wahlkreis, desto geringer ist der Proportionalitätseffekt des Wahlsystems – und desto geringer sind gewöhnlich auch die Chancen kleiner Parteien ins Parlament zu gelangen. Hinter dieser Regel steckt ausschließlich Mathematik: Der prozentuale Stimmenanteil, den eine Partei benötigt, um ein Mandat zu erhalten, ist rein mathematisch umso größer, je weniger Mandate in einem Wahlkreis zu vergeben sind.“[9] Die sich daraus ergebenden Folgen der Walkreiseinteilung für die politische Repräsentation und das damit zusammenhängende Parteiensystem werden noch deutlicher, wenn man die unterschiedlichen Kennzahlen, abhängig von der Wahlkreisgröße, für Mandatsgewinn betrachtet. Braucht eine Partei oder ein Kandidat in einem Dreierwahlkreis 18% der Stimmen, um ein Mandat zu erreichen, so sinkt diese Kennzahl um genau 50% in einem Neunerwahlkreis, bei dem der gleiche Kandidat bzw. Partei nur noch 9% der Wählerstimmen auf sich vereinigen muss, um an ein Mandat zu gelangen.[10] Ein weiterer Aspekt ergibt sich aus der geraden bzw. ungeraden Mandatszahl in Wahlkreisen. „Tendenziell begünstigen kleine Wahlkreise gerader Mandatszahl die stimmenmäßig unterlegene, Wahlkreise ungerader Mandatszahl die stimmenmäßig überlegene Partei.[11]

Mit dieser Simulation wird deutlich, welche Rolle die Wahlkreiseinteilung in der politischen Debatte des electoral engineering spielen kann. Der Anstieg der Disproportionalität in Einerwahlkreisen bzw. kleinen Wahlkreisen kann durch die Einführung von nationalen Wahlkreisen bzw. Listen reduziert werden.

Neben dem Einfluss der Wahlkreisgröße auf das „Stimmen-Mandate-Verhältnis“ kommt es zu einer weniger mathematischen als psychologischen Konsequenz im Bezug auf das Verhältnis zwischen Wähler und Abgeordneten. Im Gegensatz zu den Parteilisten der Mehrpersonenwahlkreise wird beim Einerwahlkreis ein bestimmter Kandidat gewählt. Dabei kommt es auf einen starken Einzelkandidaten an, der im Gegensatz zu „Insidern“ sicher „durchgebracht“ werden kann. Sartori vergleicht die unbekannten Gesichter aus Mehrpersonenwahlkreisen mit „Pferden Calligulas“.[12] Vorweggreifend kann man sagen, dass vor allem die Regierungskoalition bei der „Vorgründungswahl“ 1989 dieses für sich auszunutzen um mit medial bekannten Persönlichkeiten die Opposition in den kompetitiv zu erwerbenden Sitzen auszuschalten bzw. zu begrenzen versuchte. Warum diese Rechnung nicht aufging wird am Anfang des dritten Kapitels analysiert (> Kap. 3.1).

Neben der Wahlkreiseinteilung wird die Wahlbewerbung hier als zweites wahlsystematisches Element beschrieben. Wie bereits angesprochen ist dabei zwischen einer Einzelkandidatur und der Liste zu differenzieren. Die Listen, die nach Nohlen als Parteilisten zu begreifen sind, erlauben dem Wähler, seine Favoriten nicht zwingend innerhalb einer Partei anzukreuzen. Dabei gibt es drei Arten von Listen. Innerhalb der „starren Liste“ ist die Reihenfolge der Kandidaten vorgegeben und der Wähler kann lediglich en bloc seine Stimme für eine Parteiliste abgeben, ohne auf die Auswahl der Kandidaten Einfluss zu gewinnen. Dagegen besteht bei der „lose gebundenen Liste“ ein Vorschlag seitens der Partei im Bezug auf die Kandidaten, und der Wähler kann die Vertreter selbst durch eine Präferenz- oder Personalstimme wählen. Letztendlich eröffnet die „freie Liste“ dem Wähler parteiübergreifende Zusammenstellungen von seinen politischen Repräsentanten.[13] Die mit der Wahlbewerbung zusammenhängende Stimmgebung resultiert aus der entsprechenden Listenform. So hat der Wähler bei der „starren Liste“ nur eine Stimme und bei den zwei anderen Listenformen mehrere bzw. maximal so viele, wie Mandate im Wahlkreis zu vergeben sind. Die Auswirkungen dieser Bestimmungen sind längst nicht so weittragend wie bei der Wahlkreisgröße. So kann z.B. eine Partei bei „starren Listen“ eher planen und ihre Kandidaten so setzen, dass sie ein „sicheres“ Mandat erhalten.

Neben den enormen Effekten der Wahlkreisgröße auf das „Stimmen-Mandate-Verhältnis“ fällt der Methode der Stimmenverrechnung eine ähnlich wichtige Rolle zu. Deshalb ist diese von besonderer Bedeutung für die electoral engineers. Wie bereits in der Klassifikation der Wahlsystemtypen untersucht, kann es bei der Stimmenverrechnung im Bezug auf die Entscheidungsregel zu majoritären oder proportionalen Formeln kommen. Bei der Majorzregel kommt es demnach zu der einfachen Stimmenverrechnung entsprechend der absoluten bzw. relativen Stimmenmehrheit und einer möglichen Stichwahl. Dabei sind die Folgen zum einen die kaum garantierte „Erfolgswertgleichheit der Stimmen“ und zum anderen eine klare Entscheidungssituation für den Wähler. Damit ist auch zugleich der psychologische Effekt angesprochen, bei dem das Wahlverhalten des Wählers in sofern beeinflusst wird, dass dieser kaum einer nicht erfolgsversprechenden Partei eine „verlorene Stimme“ geben wird. Ähnlich verhält es sich mit Parteien, die in Gefahr stehen durch Sperrklauseln eliminiert zu werden. Damit übt also die Stimmenverrechnungsmethode neben der Auswirkung auf das Stimmverhalten des Wählers auch den bedeutenderen Effekt bei der Übertragung von Stimmen in Mandate aus. Für die Sperrklauseln sei noch angemerkt, dass es vor allem darauf ankommt, ob diese auf Wahlkreisebene oder nationaler Ebene zur Geltung kommen[14].

Neben den Sperrklauseln ist für die Verhältniswahltypen die Verteilung der Mandate nach der Proporzregel kennzeichnend. Die dazu notwendigen Verrechnungsverfahren werden „Höchstzahlverfahren“ und „Wahlzahlverfahren“ klassifiziert.[15] Die bekannteste Methode unter den „Höchstzahlverfahren“ geht auf den belgischen Professor Victor d´Hondt aus dem Jahr 1882 zurück. Dabei werden die gültigen Stimmen der einzelnen Parteien jeweils durch die Divisorenreihen 1, 2, 3, 4, 5 usw. solange geteilt, bis aus den erhaltenen Quotienten so viele Höchstzahlen aufgereiht werden können, wie Mandate in dem Wahlkreis zur Verfügung stehen. Gehen wir von der Annahme aus, dass in einem Fünferwahlkreis 100 Stimmen auf vier Parteien wie folgt abgegeben wurden: 38 – 32 – 17 – 13. Daraus können wir die Quotienten berechnen und die fünf verfügbaren Mandate vergeben.

Abbildung 3: D´Hondt Methode

Quelle: eigene Berechnung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Entsprechend der höchsten Quotienten bzw. Höchstzahlen, die wir anhand ihrer „Platzierung“ in Klammern sortieren können, ergibt sich folgende Mandatsverteilung: Partei A, die Platz 1 und 3 bei den Höchstzahlen belegt, bekommt zwei Mandate. Partei B, die Platz 2 und 5 bei den Quotienten belegt, erhält ebenfalls zwei Mandate. Partei C mit nur einer siegreichen Höchstzahl bekommt ein Mandat, und Partei D ist der Wahlverlierer. Betrachtet man jedoch die gewonnen Stimmen der Partei C und D insgesamt, so muss konstatiert werden, dass trotz 30% Wählergunst nur ein Mandat für die beiden Parteien anfällt. Im Gegensatz dazu erhält Partei B mit nur 2% mehr Stimmen bereits 2 Mandate (40% aller Mandate). Daraus lässt sich zum einen schließen, dass in kleinen Wahlkreisen der Proporz abnimmt und zum anderen, dass das d`Hondtsche Höchstzahlverfahren größere Parteien favorisiert. Nohlen selbst geht dagegen von einer geringen bzw. keinen Bevorzugung der größeren Parteien aus und suggeriert zugleich, dass die Verrechnungsmethode von Sainte - Laguë keine markanten

Unterschiede zu d´Hondt aufweist.[16] Die Methode von Sainte - Laguë gehört neben der d´Hondtschen Variante zu den „Höchstzahlverfahren“, unterscheidet sich aber von dieser durch ihre ungerade Divisorenreihe 1, 3, 5, 7, 9 etc. So würde anhand dieser Verrechnungsmethode bei den Wahlen in Abbildung 3 ein anderes Ergebnis herauskommen. Partei B würde ihr zweites Mandat zugunsten der Partei D abgeben. Damit spricht diese

Simulation dafür, dass größere Parteien durch die d´Hondt Methode bevorzugt werden und damit gegen die Meinung von Nohlen. In den Wahlsystemen der Dritten polnischen Republik wurde die modifizierte Variante angewandt, bei der sich die Divisorenreihe wie folgt darstellt: 1.4, 3, 5, 7, 9 usw. Auch hier zeigt sich, dass Nohlens Annahmen nicht immer der Überprüfung standhalten können. Mit Hilfe einer Simulation für das Jahr 2001 (Abb. 17) wird gezeigt, dass eine Reform des Wahlrechts im Hinblick auf die Umstellung der Verrechnungsmethode von d´Hondt auf die modifizierte Variante von Sainte - Laguë ausschlaggebend für das Wahlergebnis und die Regierungsbildung war.

Das zweite Segment der Verrechnungsverfahren entsprechend der Proporzregel bezeichnet Nohlen als „Wahlzahlverfahren“. Diese unterscheiden sich grundsätzlich dadurch von

„Höchstzahlverfahren“, dass sie in der Regel nicht alle verfügbaren Mandate in einem Verfahrensgang vergeben und damit Restmandate produzieren. Bei diesem Verfahren wird zunächst eine Wahlzahl bestimmt, die sich aus der Division der verfügbaren Mandate durch alle abgegeben und gültigen Stimmen ergibt. Diese Wahlzahl entspricht den benötigten Stimmen, die man für ein Mandat braucht. Eine solche Definition ist identisch mit der einfachen Wahlzahl von Hare bzw. der Hare-Quota. Es gibt weitere Wahlzahldefinitionen, die im Kontext dieser Arbeit obsolet sind. Von Bedeutung dagegen ist die von Horst O. Niemayer präsentierte Überarbeitung der Methode von Hare, die auch als System „mathematischer Proportionen“ oder „des größten Überrestes“ bezeichnet wird. Die Mandatsverteilung basiert auf der Multiplikation der für die Parteien abgegebenen Stimmen mit der Zahl der zu vergebenden Mandate und der Division des Ergebnisses durch die Anzahl aller abgegebenen Stimmen. Werden durch dieses Verfahren nicht alle Mandate vergeben, so erfolgt die Berechnung der Restmandate nach den, sich aus dieser Rechnung ergebenden, Zahlenbruchteilen hinter dem Komma. Dabei bekommt diejenige Partei das Restmandat, die den höchsten Wert hinter dem Komma aufweist. Dem entsprechend können es auch

Gruppierungen sein, die bis dato gar keine Mandate gewonnen haben.[17] „Das System mathematischer Proportionen ist für kleine Parteien günstiger als das d´Hondtsche Verfahren. […] Es hat [jedoch] den Nachteil logischer Sprünge. […] In Grenzfällen kann das System […] dazu führen, dass eine absolute Stimmenmehrheit nicht eine absolute Sitzmehrheit zur Folge hat.“[18] Entsprechend der vorhergehenden Ausführungen ist es nun möglich, verschiedene technische Elemente von Wahlrechtreformen im Bezug auf ihre Auswirkungen auf die Proportionalität des Wahlergebnisses bzw. auf die Bevorzugung großer oder kleiner Parteien zu betrachten.

Wie gezeigt werden konnte sind Kenntnisse über die Effekte von Wahlkreiseinteilung und Stimmenverrechnungsmethoden von enormer Bedeutung für electoral engineers im Hinblick auf die Auswahl parteipolitischer Strategien im Zuge des institutionenpolitischen Prozesses.

Bleiben bei den Verrechnungsmethoden kaum Zweifel über den endgültigen Charakter einzelner Feststellungen, so können die Befunde über Auswirkungen von Wahlsystemen auf Parteiensysteme nur im Zuge einer Vorstellung der Kontroverse in der Wahlsystemforschung wiedergegeben werden. So erscheint es sinnvoll, anhand der Auseinandersetzung zwischen Nohlen und Sartori den roten Faden der Forschungsdebatte zu skizzieren.

2.1.3 Auswirkungen von Wahlsystemen auf Parteiensysteme

Die Lehrmeinung, dass Wahlsysteme keine unabhängige Variable darstellen bzw. bestenfalls keine sicheren Effekte verursachen, ist nach Sartori falsch. Sollten die Konsequenzen von Wahlsystemen so gering sein, welchen Sinn hätten die heftigen politischen Kämpfe um das Wahlrecht?[19] Ausgehend von dieser provokativ gestellten Frage weist Sartori in seiner Analyse des Comparative Constitutional Engineering auf die seiner Meinung nach vorherrschenden Missstände in den Politikwissenschaften hin: „A profession that has long held that electoral systems cannot set in motion anything […] does not have in store much advice to give.“[20] Ausgangspunkt dieser Äußerungen ist der tatsächliche Streit über die Kausalbeziehung zwischen Wahlsystemen und Parteiensystemen. Sartori ist hinsichtlich der Gesetzmäßigkeiten von Duverger (1959) davon überzeugt, dass für dieses Ursache-

Wirkungsprinzip soziologische Gesetze erstellt werden können, die eine Expertise der Politikexperten für electoral engineers möglich machen. Die Negation der Gesetze von Duverger in der Literatur bedeute nicht, dass eine solche Kausalbeziehung nicht existiere. Die entscheidende Voraussetzung für eine sinnvolle Formulierung sei jedoch die Einschränkung, dass sozialwissenschaftliche Gesetze niemals deterministisch sein können. Ausgehend von der Überprüfung der Gesetze Duvergers durch Rae (1967) und der Feststellung, dass lediglich 89% der Fälle die formulierte Kausalbeziehung aufweisen, müssen die neu aufgestellten Gesetze von Anfang an als nicht deterministisch deklariert werden, um Ausnahmen zu ermöglichen.[21] Für Nohlen dagegen ist zwar der „Zusammenhang zwischen Wahlsystem und Parteiensystem, d.h. die Auswirkungen von Wahlsystemen auf die Zahl der Parteien […], auf das Stärkeverhältnis der Parteien […] auf die ideologischen Entfernungsbeziehungen zwischen ihnen […] und die Interaktionsformen“[22] aufgrund der bisherigen Untersuchungen kaum zu negieren, aber die Frage nach der Intensität bleibt offen. Ist dieser Zusammenhang eine Kausalrelation oder ist das Wahlsystem gar prima causa der Parteisystementwicklung? Im Bezug auf die Neuformulierung der Gesetze durch Sartori bleibt Nohlen sehr skeptisch, indem er deren Informationsgehalt als gering und dem entsprechend als trivial bezeichnet.[23] Unabhängig von Nohlens Einschätzung bleibt im Bezug auf Sartoris vier Gesetzmäßigkeiten festzuhalten, dass sie der Prämisse unterliegen nur in Verbindung mit einem strukturierten

Parteiensystem Gültigkeit zu besitzen. Eine so formulierte Vorbedingung ist im OME- Kontext kaum zu halten und bedarf keiner weiteren Überprüfung.

Für die Bedürfnisse dieser Arbeit wird im Weiteren anhand der Erkenntnisse von Nohlen die Beziehung zwischen Parteiensystem und Wahlsystem dargestellt. Zurückgreifend auf Duverger stellt Nohlen die zu beachtende Unterscheidung zwischen mechanischen und psychologischen Effekten von Wahlsystemen heraus. Während die ersten genau bestimmbar sind, handelt es sich bei den letzteren um kontextabhängige Größen. Des Weiteren ist zwar der Proporzeffekt eines Wahlsystems zu prognostizieren, trotzdem ist festzuhalten, „dass der Grad der Proportionalität eines Wahlsystems kein eindeutiger Indikator für die (numerische) Struktur eines Parteiensystems ist, d.h. dass Wahlsysteme in ihren gut berechenbaren mechanischen Auswirkungen keineswegs Parteiensysteme determinieren.“[24] Als Voraussetzung für die Erarbeitung einer Kausalbeziehung ist es zunächst notwendig, im Gegensatz zu den bisherigen Analysen eine Unterscheidung von Parteiensystemen nach

Kandidaturen (A), Wählerstimmen (B) und Parlamentsmandaten (C) einzuführen. Dabei ist das Wahlsystem als Vermittler zwischen den beiden strukturell unterschiedlichen Ebenen A/B und C tätig. Damit liegt die Funktion eines Wahlsystems in der Übertragung der Parteiensysteme der Ebene A/B auf die Ebene C. Daraus lässt sich ein mechanischer Effekt und die allgemeingültige Aussage treffen, dass Wahlsysteme die Zahl der Parteien der Ebene

A/B in der Ebene C reduzieren.[25] Nohlen formuliert des Weiteren folgende Grundregel: „je mehr Proporz, desto größer die Annäherung von Parteiensystem C an Parteiensystem A/B, je mehr Majorz, desto größer die Abweichung von Parteiensystem C gegenüber Parteiensystem A/B.“[26] Zusätzlich zu diesen Regeln muss berücksichtigt werden, dass die Ebenen A und B von deren Transformationsart zu Ebene C determiniert werden. Somit wirkt also das Wahlsystem auf das Parteiensystem und beide beeinflussen die Wählerentscheidung.

Neben diesem Reduktionseffekt findet Nohlen weitere Tendenzen, die einen Zusammenhang zulassen, jedoch keine Gesetzmäßigkeiten darstellen. Diese Tendenz ist im Bezug auf die Repräsentationsziele der Wahlsysteme erkennbar, die im ersten Punkt des zweiten Kapitels erläutert wurden (> Kap. 2.1.1). Davon ausgehend kann man der Mehrheitswahl eine in Richtung Konzentration gehende Wirkung zuschreiben. Daraus ergeben sich zugleich eine Verringerung der Parteienzahl und die damit einhergehende Begünstigung der größten Partei hinsichtlich der Mehrheitsbildung. Diese Tendenz verläuft parallel zu dem definierten Repräsentationsziel der Mehrheitswahl. Die Begünstigung der größten Partei kann auch der Verhältniswahl zugeschrieben werden, aber dann geschieht es gegen das ihr zugeschriebene Repräsentationsziel. Die meisten Ausprägungen der Verhältniswahl ähneln in den Auswirkungen im Bezug auf kleine Parteien der Mehrheitswahl. Die wichtigsten Hindernisse für eine proportionale Repräsentation und damit die Existenzberechtigung kleiner Parteien, bilden vor allem Sperrklauseln und Wahlkreiseinteilung.[27] In diesem Zusammenhang verdankt die Wahlsystemforschung der Entwicklung in OME eine wichtige und neue

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Erkenntnis. Die Einführung verschiedener Ebenen von Sperrklauseln führt zu einer Verhinderung der Unterlaufung dieser durch wahlstrategische Maßnahmen der Parteien. Ein gutes Beispiel dafür bieten die Regelungen in Polen.

Neben der Wahlkreiseinteilung spielt die geographische Streuung der Wählerschaft eine wichtige Rolle in der kontextspezifischen Analyse der Auswirkungen. Diese beiden länderspezifischen Variablen verhindern eben eine universelle Kausalrelation. Darüber hinaus muss bei der Wirkungsanalyse der historische Aspekt einer Gesellschaft mit hineinfließen. Heterogene und damit fragmentierte Gesellschaften, die den cleavages entsprechen tendieren eher zur Verhältniswahl. Diese Tendenz nimmt großen Einfluss auf die Strukturfrage des Parteiensystems, zeigt aber zugleich eine metaphysische Verkehrung des Ursache- Wirkungsprinzips. Damit deutet Nohlen auf das Phänomen hin, dass für die Auswirkungen eines Wahlsystems der Grad der Fragmentierung und Institutionalisierung eines Parteiensystems von entscheidender Bedeutung sein kann. Nohlen lässt es in diesem Zusammenhang allerdings letztendlich offen, ob heterogene Gesellschaften die Verhältniswahl mit einem Vielparteiensystem präferieren, in dem er sagt, dass auch bei gesellschaftlicher Homogenität die Verhältniswahl zu einem Zweiparteiensystem bzw. zumindest zu einem begrenzten Parteienpluralismus führen kann.[28]

In diesem Zusammenhang kommt es zu einer Übereinstimmung der theoretischen Annahmen zwischen Sartori und Nohlen. Sartori konstatiert, dass die reine Verhältniswahl als no-effect- system zu sehen ist.[29] Die Feststellung steht im Kontext vielfältiger und diffuser Konfliktstrukturen innerhalb der Gesellschaft. Die Verhältniswahl bildet lediglich im Sinne eines Spiegels die bereits vorhandenen poltischen Konfliktlinien ab. Damit liegt die Ursache für fragmentierte Parteiensysteme nicht im Wahlsystem (Spiegel), sondern in der Gesellschaft selbst.[30] Zuletzt geht Nohlen auf die Funktion der Proportionalität in der „Stimmen-Mandate- Relation“ eines Wahlsystems ein. Dabei ist zu beachten, dass das Kriterium der Proportionalität nur in Verbindung mit der Verhältniswahl und der damit verbundenen „empirische[n] Messung des Disproportionseffekts von Wahlsystemen anhand konkreter Wahlergebnisse“[31] verwendet werden kann. In diesem Zusammenhang wird im vierten Kapitel anhand gesammelter Daten der sogenannte Dispropotionalitätsindex (Loosemore/Hanby 1971) berechnet, der einen Maßstab für die Abweichung der Mandatsverteilung vom Stimmenproporz liefert (> Kap. 4.1.1). Dieser Unterschied resultiert aus der Akkumulation aller wahlsystematischen Effekte. Der Wert 100 zeigt einen idealen Proporz an und der Wert 0 den maximal erreichbaren Disproporz. Bei der Berechnung des Disproportionalitätsindex wird zunächst die Summe aller errechneten prozentualen Unterschiede in der „Stimmen-Mandate-Relation“ jeder Partei durch zwei geteilt und dann von 100 substrahiert. Dabei stellt Nohlen fest, dass bei der reinen Verhältniswahl „die Differenz zwischen Zählwert und Erfolgswert der Stimmen wächst“[32], da die Wähler ihre

Stimme „verschenken“ können. Bei der Verhältniswahl mit Sperrklauseln dagegen können sich die Wähler die Aussichtslosigkeit der kleinen Parteien vergegenwärtigen. Daraus ergibt sich der mechanische Effekt der Konzentration, während bei der reinen Verhältniswahl der mechanische, als auch der psychologische Effekt des Wahlsystems eine Fragmentierung des Parteiensystems nach sich zieht, wie man in der folgenden Darstellung im Überblick sieht.[33]

Abbildung 4: Proporzparadox

Quelle: nach Nohlen (2007: 471)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Mit dieser Abbildung wird die Übersicht über die Auswirkungen des Wahlsystems auf das Parteiensystem abgeschlossen.

Im Bezug auf die Beurteilung der Effekte wird es neben dem Reduktioneffekt auch auf die einzelnen technischen Lösungen der Wahlkreiseinteilung und Stimmenverrechnungsmethode ankommen. Die jeweilige Berechnung des Disproportionalitätsindex, der Stimmenanzahl der beiden größten Parteien im Sejm sowie des Prozentsatzes an „verschenkten“ Stimmen werden Aussagen über die Kondition des Parteiensystems erlauben (Abb. 21).

Im Folgenden wird der Fokus nun auf die Entstehungsbedingungen der Wahlsysteme und die damit verbundenen theoretischen Konzepte gelenkt.

2.2 Design Entscheidung als politische Entscheidung

2.2.1 Constitutional design und electoral engineering

Die politikwissenschaftliche Literatur ist sich darüber einig, dass consitutional choices einen sehr hohen Einfluss auf die Funktionalität eines demokratischen Systems haben (Lijphart 1992). Die so geschaffenen Institutionen wirken sich in der Folge auf Politikergebnisse (outcomes) aus und sind vor allem in den „neuen“ Demokratien von besonderer Bedeutung. Insitutional designs strukturieren den Pfad demokratischer Entwicklung und sind selbst zugleich endogene Produkte der Politik.[34] Dabei gelten institutionelle Arrangements als sogenannte „Spielregeln“ des Regierungssystems. Diese können im Gegensatz zu den meisten Determinanten der Staatstätigkeit bewusst gestaltet werden. Der Begriff des constitutional engineering (Sartori 1996), bezieht sich demnach auf Insitutionenreformen, die vor allem in Transitionsländern notwendig sind und für deren Entwurf politikwissenschaftliche Analysen hilfreich sein können.[35]

Von den eingangs definierten Prämissen ausgehend, betonen die meisten Autoren das Wahlsystem als das wichtigste Element der Institutionenreformen (consitutional choices). Electoral engineering ist in vielen Ländern innerhalb der letzten Jahre auf Platz eins der 21 politischen Agenda gerutscht (Norris 2004). Politische Akteure, als institutionelle

Architekten, besitzen vor allem in Transformationsphasen die Möglichkeit zur Manipulation politischer Institutionen. „Each party will favor those institutional forms which it believes will bring it the greatest distrubutive share of the goods allocated by the insitution“.[36] Der normative Ansatz, der sich auf Empfehlungen für constitutional engineers konzentriert, geht davon aus, dass institutionelle Reformen ein Allzweckmittel zur Überwindung der instabilen Transitionssituation darstellen. Was dabei außer Acht gelassen wird, ist die Tatsache, dass der

Institutionenwandel nicht im politischen Vakuum stattfindet. Das volatile Parteiensystem und instabiler Wählerzuspruch erhöhen die Komplexität eines Entwurfs des Wahlrechts und der Verfassung.[37] Hinzu kommen unterschiedliche Akteursinteressen, die in einem solchen Prozessablauf von enormer Bedeutung zu sein scheinen, und bei einer Untersuchung der Entstehungsbedingungen von Institutionenwandel nicht vernachlässigt werden dürfen. Auffallend ist jedoch, dass die meisten Untersuchungen ihren Schwerpunkt auf die Auswirkungen dieser neu geschaffenen Institutionen legen und die Ursprünge derselben zumeist unbeleuchtet lassen (Pierson 2000).

Darüber hinaus wird der Versuch unternommen, die Analyseergebnisse aus den OME-Staaten zu dem Entwurf eines best-system approach zu modellieren. An dieser Stelle ist ein klarer Schnitt zwischen den Analysemustern zweier theoretischer Konzepte festzustellen. Auf der einen Seite finden wir die systemtheoretisch bedingten „Muster der Demokratie“ von Lijphart als Vertreter der alten Schule und auf der anderen Seite die neoinstitutionalistischen Konzepte von Scharpf und Tsebelis, die sich deutlich von ihren theoretischen Vorgängern unterscheiden. Die in der Forschung dominierenden Analysen über Kausalitätsbeziehungen von Wahlsystemen und Parteiensystemen bedingen vor allem unter Forschern der systemtheoretischen Schule, den gleichnamigen Versuch gesetzmäßige Entwicklungslinien des electoral engineering zu begründen. Während Lijphart als Vertreter der älteren Strömung im Bezug auf die Entstehungsbedingungen des institutionellen Wandels länderübergreifende Muster zu entwickeln versucht, konzentriert sich die Gegenrichtung auf die Unterstreichung der, aus den empirischen Untersuchungen hervorgehenden, Einzelfallunterschiede und eröffnet damit die Möglichkeit, präzise Ergebnisse über einzelne Motivationen und Ursprünge von Institutionenreformen zu entwickeln. Erst im Prozessverlauf des constitutional design kann anhand der Handlungen der Akteure eine Erklärung für die Entwicklung beobachtet werden. Die so auf Intentionen und Interaktionen angelegte Analyse kann auf Kritik treffen, die auf einem Missverständnis basiert. Die „Theorie des Institutionendesigns geht […] nicht von einem Designer aus, der am Schreibtisch nach der besten Lösung such[t]. Neoinstitutionalisten sind sich [der Tatsache bewusst], dass an solchen Prozessen viele Akteure beteiligt sind […] Institutionendesign ist keine Reißbrettkonzeption der besten Ordnung, sondern die Analyse der Wahlhandlungen von Praktikern“.[38]

Wie bereits eingangs konstatiert ist die Konstruktion des Wahlsystems als Mechanismus, mit dem Repräsentanten vom Volk gewählt werden, ein zentraler Punkt in allen sich etablierenden Demokratien. Die damit in Verbindung stehende Möglichkeit der politischen Akteure, auf den Regelentwurf Einfluss nehmen zu können, ist dem entsprechend ein sehr interessanter Untersuchungsgegenstand. Bevor die Vorstellung der in dieser Arbeit verwendeten, theoretischen Konzepte im Einzelnen folgt, wird zunächst ein Überblick über die bisher relevanten Untersuchungsergebnisse im Hinblick auf electoral engineering in den OME-Staaten geleistet.

2.2.2 Erklärungsansätze von Wahlsystemreformen in OME

Der bereits zitierte Arend Lijphart legt einen Grundstein für die Wahlsystemforschung in den OME-Staaten und eröffnet mit seinen Erkenntnissen die erste Generation der Untersuchungen.[39] Dabei entwirft er eine Parallele zwischen der „ersten Welle“ von Wahlrechtreformen in westlichen Demokratien und der „dritten Welle“ während der Transition in OME.[40] Die darin enthaltene Erklärung bezieht sich auf die Gemeinsamkeit beider Prozesse im Hinblick auf die Akteurskonstellation. Lijphart benutzt das cleavage - Modell von Rokkan (1970) um die Einführung des Verhältniswahlrechts plausibel zu machen. Demnach war die wachsende Masse der Arbeiterklasse daran interessiert, möglichst ohne Hürden an der Legislative Teil haben zu können und das alte Establishment, in der Sorge um seine politische Existenz, sah in der Proportionalität die Chance auf Erhalt des Einflusses.[41] Dieser Erklärungsansatz ist für die OME-Staaten zwar interessant, kann aber den empirischen Analysen als Folie nicht standhalten. Zum einen ist die Akteurskonstellation längst nicht auf zwei Spieler reduzierbar und zum anderen werden die institutionelle Konstellation und weitere Kontextbedingungen außer Acht gelassen.

Ein weiteres Untersuchungskonzept der „ersten Generation“, das hier Erwähnung findet, ist die von Nohlen und Kasapovic (1996) stammende Überblicksanalyse der Wahlsysteme in OME. Trotz ihrer systematischen Mustererklärung von Institutionenreformen, erscheint diese Studie in einem viel höheren Grad OME-spezifisch ausgelegt.[42] Dem entsprechend finden zwei der grundsätzlichen Befunde auch in der hier vorgelegten Arbeit Wiederhall. So kann erstens die Einführung der Klassifizierung zwischen Vorgründungs- und Gründungswahlen im OME-Kontext ebenfalls für die polnische Einzelfallstudie verwendet werden.[43] Dabei ist dieses Muster der Einteilung vor allem im Hinblick auf die Wahlsystemverteilung treffend. Bei den Gründungswahlen (founding elections) besaß die Opposition, im Gegensatz zu den Vorgründungswahlen, volles Zugangsrecht zu allen Mandaten und konnte bereits starken Einfluss auf das Wahlsystem durch ihre Existenz in der Legislative ausüben. Im Vorfeld der semikompetitiven Vorgründungswahlen war der Einfluss der Opposition auf das Wahlrecht begrenzt. Diese Begrenzung wurde ebenfalls in der Studie anhand von drei Kategorien systematisiert und stellt damit die zweite, in dieser Arbeit verwendbare Klassifizierung dar. In den Ländern, in denen es im Vorfeld zu Verhandlungen zwischen den alten und neuen Eliten kam, wurde ein ausgehandelter Systemwechsel vereinbart, der als Tranceplacement definiert wurde.[44] Polen als Erfinder der Gespräche am „Runden Tisch“ kann damit zweifellos in dieser Kategorie klassifiziert werden. Bei den zwei anderen Fällen handelt es sich zum einen um Transformation mit absoluter Mehrheitswahl und zum anderen um Replacement.[45] Während bei der Transformation die Machthaber ihre Macht erhalten konnten, kam es beim Replacement im Prinzip zu dem von Lijphart beschriebenen Fall der Interessenübereinstimmung bei den Elitekreisen. Sowohl die neuen als auch die alten Eliten wollten auf keinen Fall eine wahlpolitische Pleite riskieren und entschieden sich für die Verhältniswahl.

Die hier angebrachten Befunde konzentrieren sich auf die Entstehungsbedingungen. Im Hinblick auf den Aspekt der Auswirkungen, bleibt an dieser Stelle anzumerken, dass man erst seit den founding elections von Kausalbeziehungen zwischen den neuen fluiden Parteiensystemen und Wahlsystemen in OME sprechen kann.[46] So wird im Bezug auf die Vorgründungswahlen die Beziehung zwischen Wahlrecht und Parteiensystem nicht thematisiert.

Im Zuge der Entstehung einer „zweiten Generation“ von Erklärungskonzepten der Wahlrechtreformdynamik in OME ist vor allem eine Arbeit exemplarisch herauszuheben.[47] Birch und ihre Kollegen (2002) stellten eine Arbeit vor, die einige Lücken sowohl im empirischen, als auch theoretischen Sinne zu erschließen versucht. „The study of electoral systems was long dominated by efforts to trace their effects, to the detriment of their causes. There were few general theories of electoral system design“.[48] Ähnlich der Unterscheidung von Nohlen und Kasapovic wird eine Trennung zwischen founding stage und post-zero-stage eingeführt, mit dem Ziel, länderübergreifende Tendenzen konstatieren zu können. Im Gegensatz zur founding stage soll die post-zero-stage die veränderte strategische Position nach den Gründungswahlen im Hinblick auf die Wahlrechtreformen systematisieren.[49]

Ähnlich zum normativen Ansatz, der die Rolle der Nachahmung erfolgreicher Systeme im Regelfindungsprozess betont, wird diese Tendenz als unabhängige Variable zur Erstellung von Mustern verwendet. Wie Grotz (2005) argumentiert, bleibt diese Studie jedoch hinter den Erwartungen einer klaren Herausstellung der Muster von Entwicklungen der Wahlsysteme in OME zurück. Auf der Basis dieser Forschungsergebnisse entwickelt er selbst ein Untersuchungskonzept für die Analyse der Entstehungsbedingungen von Wahlsystemen in OME und sieht sich damit als Vertreter der „dritten Generation“. Im Zuge der Definition des von ihm zusammengestellten Analyserahmens, dessen Elemente sich in dieser Arbeit wiederfinden werden, stellt Grotz fest, dass sich die klassische politikwissenschaftliche Institutionenforschung, die politische Institutionen als abhängige Variable klassifiziert, vor allem auf die Analyse der Auswirkungen von Wahlsystemen beschränkt, da entsprechend der geltenden Lehrmeinung Grundstrukturen einmal etablierter Systeme nicht mehr substantiell verändert werden. Die im Gegensatz dazu stehende hohe Dynamik und Reformintensität in OME negiert ein auf dieser Basis aufgebautes Konzept.

Aus dieser Untersuchungslücke heraus musste eine Akzentverschiebung des Erkenntnisinteresses auf die empirischen Entstehungsbedingungen vollzogen werden.[50] Grotz suggeriert für die Analyse der Genese „die Entwicklung von Wahlsystemen als institutionenpolitischen Prozess […] d.h. als ganz besondere Variante von Policy-Reform […] zu begreifen.“[51] Im Zusammenhang mit dieser Definition wird der institutionelle Reformprozess in OME durch drei variable Aspekte determiniert. Erstens ist ein sichtbarer Bedarf nach Reformen vorhanden, der durch den alles umfassenden Veränderungsvorgang ausgelöst wird, der wiederrum einen negativen Einfluss auf die normative Leistungsfähigkeit der bisherigen Institutionen besitzt. Zweitens gilt für das Zustandekommen von Reformen die Akteurskonstellation als wichtigste Determinante, die eine mehrheitsfähige Handlungsoption eröffnet und damit den Schritt zur Überwindung des Status Quo ermöglicht. Drittens lassen sich im Hinblick auf die Realisierung der angestrebten institutionellen Veränderungen die Rahmenbedingungen des jeweiligen Regierungssystems als auschlaggebend definieren. Je mehr Vetospieler existieren, umso stabiler ist der Status Quo und umso geringer die Reformwahrscheinlichkeit.[52]

Eine weitere Studie, die der Verschiebung des Erkenntnisinteresses der „dritten Generation“ Tribut zollt, ist eine im polnischen Kontext durchgeführte Untersuchung. Diese Einzelfallstudie liefert detaillierte Erkenntnisse über Motivationen der politischen Akteure im Kontext institutioneller Reformen. Das Modell von Benoit et al. (2001, 2004) basiert auf der Prämisse, dass Institutionen das Ergebnis politischer Kämpfe von Parteien mit gegensätzlichen Interessen sind. Selbst im Transitionskontext folgen politische Akteure bei der Auswahl von Institutionen dem Kriterium der eigenen Nutzenmaximierung. Daraus ergeben sich unterschiedliche Präferenzen der Parteien im Bezug auf institutionelle Reformen. Wenn es also um Institutionen der Güterverteilung geht und den einzelnen Akteuren verschiedene Anteile zufallen, dann kommt es zu einer Diskrepanz zwischen den Präferenzen. Ausgehend von diesen Prämissen bedienen sie sich des „office-seeking Modells“ und kontrastieren diesen mit dem „policy-seeking Modell“, um die Handlungsantriebe der Parteien im Kontext institutioneller Reformen zu belegen. „In office –seeking approaches, by contrast, electoral system choice is more directly concerned with winnig office, in order to enjoy both the direct and the indirect benefits from this good […] The office-seeking model differs from the policy-seeking model in that it specifies that each party will prefer rules which maximize ist own share of legislative seats […]“.[53] Die Autoren der Studie kommen zu dem Ergebnis,dass alle Wahlrechtreformen bis 2001 auf der Basis sitzmaximierender parteipolitischer Akteurshandlungen stattgefunden haben.

Das „office-seeking Modell“ ist im Kontext der hier vorliegenden Arbeit vor allem als Bestimmungsgröße der Handlungsantriebe der Akteure von Bedeutung. Die Beantwortung der Frage nach den Entstehungsbedingungen von Wahlrechtreformen und der damit verbundenen Motivation der politischen Entscheidungsträger kann mit Hilfe der Bestimmung der jeweiligen Akteurskonstellationen, Akteurspräferenzen und des Reformbedarfs beantwortet werden. Für die präzise Bestimmung der fallspezifischen Kontexte ist methodologisches Instrumentarium von Nöten, mit dem die zusammengestellten Variablen diagnostiziert und brauchbare Resultate für die gesamte Untersuchung geliefert werden. Wie bereits eingangs dieser Arbeit angemerkt sind vor allem der „akteurszentrierte Institutionalismus“ von Scharpf und Mayntz (1995) sowie das „Vetospieler-Theorem“ von Tsebelis (2000) hilfreich, die fallspezifischen Kontextvariablen und Akteurskonstellationen im Detail zu bestimmen.

Die im Hinblick auf die Klärung der Genese stehenden und hier zur Anwendung kommenden Konzepte werden im Folgenden nacheinander vorgestellt und im Bezug auf Erkenntnisgewinne in dieser Arbeit zugeschnitten.

[...]


[1] Nohlen, Dieter, 2007: Wahlrecht und Parteiensystem. Zur Theorie und Empirie der Wahlsysteme. Verlag Barbara Budrich. S. 132

[2] Sartori, Giovanni, 1996: Comparative Constitutional Engineering. An Inquiry into Structures, Incentivess and Outcomes. New York University Press. S. 3-4

[3] Nohlen, Dieter, 2007: Wahlrecht und Parteiensystem... S. 132-135

[4] Nohlen, Dieter, Kasapovic Mirjana, 1996: Wahlsysteme und Systemwechsel in Osteuropa. Leske und Budrich. S. 18

[5] Nohlen, Dieter, 2007: Wahlrecht und Parteiensystem... S. 141

[6] Ebenda. S. 143

[7] Nohlen, D., Kasapovic M., 1996: Wahlsysteme und Systemwechsel in Osteuropa… S. 23

[8] Sartori, Giovanni, 1996: Comparative Constitutional Engineering... S. 8

[9] Nohlen, D., Kasapovic M., 1996: Wahlsysteme und Systemwechsel in Osteuropa… S. 23

[10] Nohlen, Dieter, 2007: Wahlrecht und Parteiensystem... S. 93

[11] Ebenda. S. 97

[12] Sartori, Giovanni, 1996: Comparative Constitutional Engineering... S. 17

[13] Nohlen, Dieter, 2007: Wahlrecht und Parteiensystem... S. 102-103

[14] Nohlen, Dieter, 2007: Wahlrecht und Parteiensystem... S. 111

[15] Ebenda. S. 102-103

[16] Nohlen, Dieter, 2007: Wahlrecht und Parteiensystem... S. 115-116

[17] Nohlen, Dieter, 2007: Wahlrecht und Parteiensystem... S. 117-123

[18] Ebenda. S. 121-122

[19] Sartori, Giovanni, 1996: Comparative Constitutional Engineering… S. 27

[20] Sartori, Giovanni, 1996: Comparative Constitutional Engineering… S. 29

[21] Ebenda. S. 29-32

[22] Nohlen, Dieter, 2007: Wahlrecht und Parteiensystem... S. 423

[23] Ebenda. S. 446

[24] Nohlen, Dieter, 2007: Wahlrecht und Parteiensystem... S. 424

[25] Ebenda. S. 423-425

[26] Ebenda. S. 424-425

[27] Ebenda. S. 448-449

[28] Nohlen, Dieter, 2007: Wahlrecht und Parteiensystem... S. 450

[29] Sartori, Giovanni, 1996: Comparative Constitutional Engineering… S. 47

[30] Nohlen, Dieter, 2007: Wahlrecht und Parteiensystem... S. 445-446

[31] Ebenda. S. 194

[32] Nohlen, Dieter, 2007: Wahlrecht und Parteiensystem... S. 471

[33] Ebenda. S. 470-471

[34] Benoit, Kenneth; Schiemann, John W., 2001: Institutional Choice in New Democracies: Bargaining over Hungary´s 1989 Electoral Law. In: The Journal of Theoretical Politics, Vol. 13, No. 2, S. 153

[35] Grotz, Florian, 2005: Die Entwicklung kompetitiver Wahlsysteme in Mittel- und Osteuropa: Postsozialistische Entstehungsbedingungen und fallspezifische Reformkontexte. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft (ÖZP), 34 Jg., H. 1, S. 27

[36] Benoit, K.; Schiemann, J.W., 2001: Institutional Choice in New Democracies…S. 154

[37] Ka-Lok Chan, Kenneth, 2001: Idealism versus Realism in Institutional Choice: Explaining Electoral Reform in Poland. In: West European Politics. Vol. 24, No. 3, S. 68-67

[38] Kaiser, André, 2006: Die politische Theorie des Neo-Institutionalismus. In: Brodocz, A.; Schaal G. (Hrsg): Politische Theorien der Gegenwart II, Eine Einführung. UTB. S. 335

[39] Grotz, Florian, 2005: Die Entwicklung kompetitiver Wahlsysteme… S. 29

[40] Birch, Sarah; Millard, Frances; Popescu, Marina; Williams, Kieran, 2002: Embodying Democracy: Electoral system Design in Post-Communist Europe. Palgrave Macmillan. S. 7

[41] Lijphart, Arendt, 1992: Democratization and Consitutional Choices in Checho-Slovakia, Hungary and Poland 1989-1991. In: The Journal of Theoretical Politics, Vol. 4, No. 2, S. 208

[42] Grotz, Florian, 2005: Die Entwicklung kompetitiver Wahlsysteme… S. 29

[43] Nohlen, D., Kasapovic M., 1996: Wahlsysteme und Systemwechsel …S. 38 ff.

[44] Nohlen, D., Kasapovic M., 1996: Wahlsysteme und Systemwechsel…S. 113

[45] Grotz, Florian, 2005: Die Entwicklung kompetitiver Wahlsysteme… S. 29

[46] Nohlen, D., Kasapovic M., 1996: Wahlsysteme und Systemwechsel…S. 44

[47] Grotz, Florian, 2005: Die Entwicklung kompetitiver Wahlsysteme… S. 30

[48] Birch et al. 2002: Embodying Democracy… S. XI

[49] Ebenda. S. 18-21

[50] Grotz, Florian, 2000: Politische Institutionen und postsozialistische Parteiensysteme in Osteuropa. Opladen. S. 66-67

[51] Grotz, Florian, 2005: Die Entwicklung kompetitiver Wahlsysteme… S. 30

[52] Ebenda. S. 30

[53] Benoit, Kenneth; Hayden, Jacqueline, 2004: Institutional Change and Persistence: The Evolution of Poland´s Electoral System, 1989-2001. In: The Journal of Politics, Vol. 66, No. 2, S. 398

Excerpt out of 114 pages

Details

Title
Entstehungsbedingungen und Auswirkungen von institutionellem Wandel
Subtitle
Wahlrechtreformen in Polen 1989 – 2007
College
LMU Munich
Grade
1,5
Author
Year
2008
Pages
114
Catalog Number
V112357
ISBN (eBook)
9783640120925
ISBN (Book)
9783640121434
File size
1731 KB
Language
German
Keywords
Entstehungsbedingungen, Auswirkungen, Wandel
Quote paper
M.A. Tomasz Zapart (Author), 2008, Entstehungsbedingungen und Auswirkungen von institutionellem Wandel, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112357

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