Einbahnstrasse Raum: Die ausweglose Flucht vor einer mutmaßlichen Schuld


Mémoire de Maîtrise, 2008

112 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhalt

1. Verbringe dein Leben nicht mit der Suche nach einem Hindernis – Ein Einblick

2. Der Raum in phänomenologischer und psychologischer Sicht

3. Der ästhetische Raum

4. Perspektive, Modus und Paradigma der kafkaschen Raumdarstellung

5. Der Proceß - Die alltäglichen Lebensräume des Joseph K
a. Das Zimmer von K
b. Das Zimmer der Frau Gruber und des Fräulein Bürstners
c. K.s Büro
d. Korridor und Rumpelkammer

6. Unmittelbar prozessual bedingte Räume

7. Räume, bei deren Bewohnern K. Hilfe sucht
a. Das Atelier des Malers Titorelli
b. Im Haus des Advokaten Huld

8. Exitus – Der Weg hinaus
a. Begegnung im Dom
b. Vor dem Gesetzt

9. Sinnliche Qualitäten der Räume im Proceß

10. Irrationale Elemente und Funktionalität

11. Symbolik des Raums

12. Einfluss aus der Ferne

13. Grenze Tür – das Geschenk des Eintritts

14. Hoffung Fenster – einseitige Transparenz

15. Der Tod ist der beste Ausweg. Aber leider nicht dieser – Ein Ausblick

16. Quellenverzeichnis

1. Verbringe dein Leben nicht mit der Suche nach einem Hindernis – Ein Einblick

Manchmal stelle ich mir die Erdkarte ausgespannt und Dich quer über sie hin gestreckt vor. Und es ist mir dann, als kämen für mein Leben nur die Gegenden in Betracht, die du entweder nicht bedeckst oder die nicht in deiner Reichweite liegen. Und das sind entsprechend der Vorstellung, die ich von deiner Größe habe, nicht viele und nicht sehr trostreiche Gegenden und besonders die Ehe ist nicht darunter.1

Nach der Relevanz des geographischen Habitat Kafkas für den fiktiven Raum in seinem Werk wird in der vorliegenden Analyse nicht gefragt werden. Bedeckt der übermächtige Vater in den Augen des so anders gearteten Sohnes nicht nur den Altstädter Ring und die angrenzenden Gassen – Kafkas eigentlichen Lebensradius – ,nicht nur Prag und Tschechien, sondern fast die gesamte Erdkarte, so erhält man zweifelsohne einen biographischen Anhaltspunkt für die Enge und Labilität der Räume in Kafkas Werk. Sowohl Vater als auch

„Mütterchen Kralle“, wie der Autor die Stadt der hundert Türme einmal nannte ließen dem empfindsamen Sohn nur wenig Raum.

Läge nicht hier die Gelegenheit für die Forschung, über die psychologische Erklärung hinaus die Frage nach dem gelebten Raum nochmals aufzugreifen und im Hinblick auf die Lebenssituation des Verfassers zu stellen?

Lässt sich der Raum der schriftstellerischen Abrechnung mit dem freudschen Übervater im Werk auch als derjenige enttarnen, der tatsächlich vom Vater beherrscht wird? Insbesondere wenn man bedenkt, dass dieser Herr über die unzähligen Türchen und türlosen Ausgänge diese jederzeit durchbrechen und „im nachschleppenden Schlafrock durchziehen“2 kann?

Den gestalteten Raum in Korrelation zum biographisch gelebten Raum zu setzten hieße ferner, in das Prag Kafkas zu reisen und zu beleuchten, welche Funktion der spezifische Topographien und dem gesellschaftlichen bzw. kulturellen Leben der Moldaumetropole zu Beginn des 20. Jahrhunderts zukommen? An eine solche Exploration müsste sich weitergehend die Frage nach einer eventuellen Äquivalenz mit dem Raum im Werk anschließen. Da ich aber nicht zur Aufspürung geographischer Schauplätze, wie etwa dem Café Arco oder dem Palais Kinsky anregen möchte, erhebt meine Arbeit nicht den Anspruch, die historische Ebene mit der Künstlerischen zu parallelisieren, sondern folgt dem Ziel einer ausschließlich auf den Werken basierenden Analyse, denn nichts liegt mir ferner als das kafkaeske der präsentierten Räume zu entmystifizieren.

2. Der Raum in phänomenologischer und psychologischer Sicht

„Ich bin von allen Dingen durch einen hohlen Raum getrennt, an dessen Begrenzung ich mich nicht einmal dränge.“3

Der Einstieg in das phantastische Werk Kafkas ist zunächst ein Eindringen in dessen rätselhaften Raum. Wer sich mit den K.- Figuren aufmacht das Schloss oder das oberste Gericht zu suchen, muss aufpassen, dass er sein Ziel nicht aus den Augen verliert, denn während er übermäßig hohe Treppen zu bewältigen, endlose Flure zu durchqueren und zahlreiche Türen zu passieren hat, wird er sich mit stickiger Luft, Dunkelheit und starren Blicken konfrontiert sehen. Zudem sollte er damit rechnen, dass ihn Beamte statt am Schreibtisch im Bett empfangen und dass nebenan bereits der Ort ist, welchen er am anderen Ende der Stadt wähnt.

Die vorliegende Arbeit fußt auf einer von Mensch und Raum als Kontinuum ausgehenden Theorie. Dieser gelebte Raum, wie er in den dreißiger Jahren erstmals von Graf Karlfried von Dürkheim4 genannt wird, betrachtet konträr zum naturwissenschaftlichen Modell die Subjektivität der menschlichen Raumerfahrung nicht separiert von der Außenwelt, sondern begreift ihn als zentrales Medium in seiner Vermittlung.

Wenn das den Raum als allgemeine Wirklichkeit erlebende Subjekt Bezugspunkt ist, handelt es sich folglich um eine objektive Sphäre innerhalb der Einseitigkeit, bei der nicht der Raum als solcher wahrgenommen wird, sondern immer nur ein Konglomerat von Verknüpfungen zwischen den Dingen. Da der Raum weder Verbindungsakt noch Gegenstand ist, vermag er auf magische Weise einer jeden Umgebung ihre räumliche Bestimmung zu verleihen ohne dabei je selbst in Erscheinung zu treten. In diesem ästhetischen Sinne wird der Raum in der Literatur erst seit den 50er Jahren ernst genommen. Die Versuche der systematischen Erfassung – etwa als Milieu-, Natur- oder Gesellschaftsraum – werden in jener Zeit um das Bemühen die transformierte Realität des Romans in Analogie zur empirischen Wirklichkeit selbst räumlich zu verstehen erweitert. Mit dieser Auffassung vom literarischen Raum als essentielle Bedingungen für sowohl lebensweltliche als auch ästhetische Erfahrung öffnet sich der Forschung der Blick für seine Relevanz im Roman. Der Begriff des gelebten Raums bezeichnet dabei eine ohne die geistigen Vorraussetzungen der Existenzphilosophie undenkbare, das psychische Erleben in den Vordergrund stellende Betrachtungsweise.

Eine substanzielle Funktion kommt bei der Orientierung innerhalb der hier beschriebenen Räume dem Gesichtssinn zu, denn der Blick ist Ausdruck des realisierten Standpunkts, sprich Ausdruck der Relation zwischen Subjekt und Gegenstand. Die Durchsehung, so Perspektive wörtlich nach Dürer übersetzt, hat einerseits die Erweiterung des Weltbildes, andererseits jedoch aufgrund der perspektivischen Verengung die Herauslösung von Sektoren aus der Einheit zur Folge5. Weitergehend ist jener Doppelcharakter auch für das Ich von ambivalenter Konsequenz, denn die Perspektive macht zwar den Raum beherrschbar, wirft zugleich aber das Subjekt zusehends auf sich selbst zurück, da es den durch die Raumtiefe eröffneten Hintergründen nur mittels eigener Überbetonung gewachsen ist. Kafka aber gerade schildert nicht einen nach diesem Vorbild erschlossenen Raum, sondern konstituiert den Doppelcharakter darin, dass sich die Räume zwar immer wieder ins Unendliche verlängern, die Helden aber das Wahrgenommene alles andere als perspektivisch erschließen, und während unter ihren Blicken die Welt nahezu in Einzelphänomene zerfällt, dominieren Details über den Gesamteindruck.

Neben der Optik konstituiert auch der Schall Räume. Da er anders als Farben und Formen nicht an Gegenstände gebunden ist, beherrscht er den Raum insgesamt. Eine Orientierung im reinen Schallraum ist unmöglich, denn die Klänge erzeugen eine Raumtiefe bzw. -weite, welche den Helden förmlich in sich hineinziehen. „Der Ton hat eine eigene Aktivität, er

dringt auf uns ein, erfaßt, ergreift, packt uns. Das Akustische verfolgt uns, wir können ihm nicht entrinnen, wir sind ihm ausgeliefert.“6 Ferner können im Verhältnis von gestimmtem und orientiertem Raum Störungen auftreten, unter denen die unreflektierte Einheit beider Bauformen zu einem widerspruchsvollen Nebeneinander wird. Die psychopathologischen Untersuchungen von Fischer und Bilz7 begreifen Erlebnisform und Raumgestalt nicht als kausale Wechselwirkung zwischen Mensch und Raum, sondern als Ausdruck einer Gesamtheit. Raumverlust bzw. Ausweglosigkeit sind dementsprechend Anzeichen einer gestörten Einheit von psychischem Empfinden und Orientierung im Raum. Die sich in den krankhaften Modifikationen des Raumerlebens enthüllende Fremdheit entspricht allerdings nicht nur der Symptomatik bestimmter Psychosen, sondern stellt darüber hinaus eine auch in der alltäglichen Wahrnehmung nachvollziehbare Erfahrung dar. In den Zuständen des Aufwachens bzw. des Einschlafens per exemplum wird die Orientierung im Raum preisgegeben. Die mit dem Einschlafen in eine gleichgültige, von der Polarisierung des Ichs mit der Umgebung befreiten Ferne gerückte Gegenstandswelt, stellt sich beim Aufwachen nicht schlagartig wieder her, sondern erfolgt schrittweise.

…wenn ich mitten in der Nacht erwachte, wußte ich nicht, wo ich mich befand, ja im ersten Augenblick nicht einmal, wer ich war: Ich hatte nur in primitivster Form das bloße Seinsgefühl; dann aber kam die Erinnerung … gleichsam von oben her zur Hilfe, um mich aus dem Nichts zu ziehen, aus dem ich mir selber nicht hätte heraushelfen können…8

3. Der ästhetische Raum

Der von der Einbildungskraft erfaßte Raum kann nicht der indifferente Raum bleiben, der den Messungen und Überlegungen des Geometers unterworfen ist. Er wird gelebt.“9

Der Versuch, den fiktiven, literarisch entworfenen Raum phänomenologisch, das heißt in Analogie zum empirischen Raum, zu analysieren, wirft zwei bis heute in der Literaturwissenschaft kontrovers diskutierte Probleme auf. Zum einen stellt sich die rezeptionsästhetische Frage nach der Korrespondenz von lebensweltlichem, empirischem Raum und ästhetischem, fiktivem Raum – kurz: nach dem Realitätsgehalt literarisch entworfener Welten und ihrer Wirkung auf unsere erfahrungsgemäße Wirklichkeit. Mit der Annahme, dass der Raum als Bedingung menschlichen Wahrnehmens der gelebten wie der gedachten Realität zugrunde liegt, setzt dieser Ansatz den Tatbestand der Wechselwirkung zwischen beiden Räumen voraus.Demgegenüber steht die werkästhetische Frage nach den Darstellungsformen des gelebten Raums im sprachlichen Kunstwerk. Bedeutsam ist dabei die Erzählperspektive, welche sich in bestimmten Fällen mit der Erlebnis- bzw. der Raumperspektive deckt. Die Schwierigkeiten, die sich bei der systematischen Untersuchung des Raums ergeben, kristallisieren sich am eindrucksvollsten im Vergleich zur Analyse die epische Zeit betreffend, heraus, denn während für letztere mit der Differenzierung von Erzählzeit und erzählter Zeit ein anwendbarer Ordnungsfaktor entwickelt wurde, fehlt ein vergleichbares Modell für die Ermittlung des Raums völlig. Summa summarum; der Linearität der Zeit steht eine nicht quantifizierbare Simultanität gegenüber.

Bevor der Raum als ein maßgeblich an der Konstitution der epischen Welt beteiligtes Erzählelement untersucht wurde, artikulierte sich das Interesse in erster Linie in der wirkungsästhetischen Frage nach dem Verhältnis zwischen ästhetisch Gestaltetem und unserem empirischen, realen Raumerleben.

In den 50er Jahren wird dieses Thema erneut von Hermann Meyer10 aufgegriffen, der konträr zu der Auffassung, der Raum sei bloße Faktizität, zu der Überzeugung gelangt, dass dieser nebst Zeit, Figur und Handlung als grundlegende Kategorie zu bewerten ist.

Wie aber lässt sich ein solches, dem Gestaltungswillen des Autors unterliegendes Erzählelement, dessen Relevanz sich keinesfalls über gemessene Meter erschließt, erfassen? Meyer gibt in seiner Abhandlung mit der Unterscheidung von faktischem Lokal und sinnbezogenen Raum ein elementares Kriterium zur Beschreibung der Raumpräsentation im Roman an die Hand:

Das Lokal ist bestimmt durch Angaben faktisch-empirischer Art, durch Nennung von geographischen Namen, Straßennamen u.ä. Der Raum hat geistigen Charakter, er ist gestalthafter Ausdruck menschlichen Empfindens und kann auf Faktizität verzichten, ohne daß dies seine sinntragende Kraft verringert.11

Typisch für den modernen Roman ist das Zurücktreten des Lokal zugunsten des sinnerfüllten Raumes, eine Eigenschaft die zweifelsohne auch auf die Werke Kafkas zutrifft, denn alles was er erzählt, gehört der gleichen Ordnung an. Alle seine Geschichten spielen in demselben raumlosen Raum, „und so gründlich sind dessen Fugen verstopft, daß man zusammenzuckt, wenn einmal etwas erwähnt wird, was nicht in ihm seinen Ort hat…“12 Wenn ich wie Adorno den Raum Kafkas als raumlos bezeichne, nehme ich damit Bezug auf die Verfremdung respektive Nichterkennbarkeit der Welt der K-Figuren, in welcher der Leser ebenso orientierungslos umherirrt wie die Protagonisten selbst. Je einsamer der Held ist, desto radikaler steht der Raum als Ausdrucksträger des subjektiven Erlebens im Der Soziologe (1903-1969) gilt neben Max Horckheimer als Hauptvertreter der Frankfurter Schule.

Vordergrund, wobei an die Stelle des menschlichen Miteinanders die Kommunikation mit dem Raum tritt.

Ferner beruht der konstatierte Rückgang lokaler Raumangaben auch auf dem Fakt, dass das Individuum innerhalb des Geschehens seine zentrale Funktion verliert. Auch und insbesondere Kafkas Räume sind von der Suche nach Identität gezeichnet, wenn man so will sind sie der Antagonist in dem von dem Helden als Einzelperson aufgeführten Drama der gefährdeten Existenz. Unablässig unterwegs den mitmenschlichen Dialog zu finden, stoßen die Figuren nur auf unverständliche, ihre Einsamkeit weiter festigende Monologe. Sie erleben ihre Isolation geradezu als Erfahrung räumlichen Widerstandes, denn ihr Zwiegespräch mit dem Raum findet niemals ein Ende. Von enormer Relevanz ist hierbei die Erzählperspektive, die Frage also, ob ein auktorialer und souverän in Erscheinung tretender Erzähler seine Räume von oben, ergo in der Gesamtansicht, entwirft, oder ob er hinter seinen Figuren verschwindet und mit ihrer Wahrnehmung die Räume erst entstehen lässt.

Über den Typus des kafkaschen Raumes schreibt Bruno Hillebrand treffend: „Er erzählt stets einsinnig, nicht nur in der Ich-Form, sondern auch in der dritten Person.13 Alles was erzählt wird, ist von den Hauptfiguren gesehen und empfunden; nichts wird ohne sie oder in ihrer Abwesenheit geschildert, nur ihre und keines anderen Gedanken weiß der Erzähler mitzuteilen. Der eventuelle Einwand es gäbe Rückblicke und zeitliche Raffungen kann nicht geltend gemacht werden, denn auch diese Abweichungen sind ganz auf die K-Gestalten zugeschnitten.

So fasst zum Beispiel im Proceß der Erzähler aus spürbarer Distanz einen ausschließlich von K. erzählenden Zeitraum zusammen14, in dem weder eine Reflexion noch ein aus der Handlung heraustretender Kommentar zu finden sind. Dass der Leser alles durch Joseph K., aber nichts über ihn erfährt, hat zur Konsequenz, dass Hauptfigur und Leser den gleichen Orientierungspunkt einnehmen. Obschon die Perspektiven von einem Zentrum ausgehen, bleibt dem Rezipienten das Subjekt, dessen Sicht er einnimmt, irritierender Weise fremd.

Charakteristisch für Kafkas Stil ist die nicht direkt mitgeteilte, sondern als Wahrnehmung im Raum gestaltete psychische Bewegung seiner Helden. Deshalb sind die subjektiv erlebten Räume nicht Ort, sondern vielmehr Träger der Handlung und folglich nicht von der dargestellten Figur zu separieren. Hierbei entstehen die Räume, welche in der Nachwelt schlagwortartig als „kafkaesk“ eingegangen sind: verzerrt, bodenlos und eigentümlich autonom gegenüber dem Subjekt.

4. Perspektive, Modus und Paradigma der kafkaschen Raumsdarstellung

„Wer suchet findet nicht, wer nicht sucht, wird gefunden“15

Nun, im Proceß hat das Gericht Joseph K. gefunden, der sich infolgedessen einer Anklage, welche ihn in eine nicht endende Legitimation seines Schuldgefühls stürzen wird, stellen muss.

Effektvollstes und meistdiskutiertes Phänomen bei diesem Werk ist die bereits oben thematisierte Erzählsituation der epischen Texte Kafkas. Wie verhält sich der Erzähler, welche Part spielt die Hauptfigur?

Diese essentiellen Fragen gilt es zu klären, denn gerade die Art der Vermittlung ist ein maßgebliches Gattungsmerkmal, welches erzählende Dichtung von dramatischer determinert. Fakt ist, wie bereits konstatiert, dass der Erzähler im Proceß nicht direkt in Erscheinung tritt, sondern so hinter Joseph K. verschwindet, dass seine Gegenwart vom Leser praktisch gar nicht wahrgenommen wird. Infolgedessen wäre man auf den ersten Blick geneigt die gesamte Handlung aus der Perspektive der Hauptfigur geschildert zu sehen. Die Kapitelanfänge allerdings zeugen von einem distanzierten Erzähler, ebenso belegen Perspektivbrüche16 - gewollt oder nicht – auktoriale Elemente. Nehmen wir als

Beispiel den Einleitungssatz: „Jemand mußte Joseph K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“17

Bereits dieser berühmte Satz weist auf die Wurzel des Existenzproblems von K, den seine willkürliche Verhaftung aus der Gewissheit, in der er bisher angesichts seiner eigenen Person gelebt hatte, hinausreist. In der Transformation muss Joseph K. wie der Personalindikator er als ich gelesen werden. Schwierigkeiten bereitet dann aber der Konjunktiv hätte, denn ein Ich-Erzähler müsste sich doch ganz sicher sein, ob er eine strafbare Handlung begangen hat oder nicht. Zudem wäre ein Zweifel in der Schuldfrage widersinnig, wenn die Ungeheuerlichkeit der Verhaftung von einem personalen Erzähler angeprangert wird.

Die Tatsache, verleumdet und infolgedessen angeklagt zu sein, sondert Joseph K. von seinen Mitfiguren ab; der Umstand, dass ungewiss ist, wer ihn verleumdet hat, ja sogar, ob er überhaupt verleumdet worden ist (das Modalverb müsste gibt der Aussage keinen Bestimmtheits-, sondern einen Vermutungscharakter) stellt alle Deutung des Geschehens der Subjektivität des Angeklagten anheim. Der höchst zwiespältige Anfang, der aus der eine Einzelperson betreffenden Perspektive der wahrnehmenden Zentralfigur des Er-Romans gesprochen worden scheint, erweist sich bei näherer Betrachtung paradoxer Weise als Arrangement des allwissenden Erzählers, denn in diesem Satz wird eine Verhaftung vorausberichtet, von der der Held erst später erfahren wird.

Ebenso wenig kann die Reaktion K.s nach der Verhaftung „Darin, daß man später sagen würde, er habe keinen Spaß verstanden, sah K. eine ganz geringe Gefahr, wohl aber erinnerte er sich – ohne daß es sonst seine Gewohnheit gewesen wäre, aus Erfahrung zu lernen…“18 aus der Ich-Form verstanden werden, denn das wäre lässt die Aussage in der Parenthese im Unbestimmten und Joseph K. selbst müsste doch wohl wissen, ob es seine Gepflogenheit ist oder nicht.

Im Folgenden nun verliert sich diese Doppeldeutigkeit und die fiktive Welt wird unverkennbar aus der Sicht der Hauptfigur dargestellt. Der subjektive Blickpunkt ist Voraussetzung dafür, dass die nach für den Leser unbekannten Gesetzen funktionierende Prozesswelt trotz ihren Widersprüchlichkeiten und Akausalitäten als in sich geschlossenes Ganzes erscheint. Aufgrund der aufgegebenen Vermittlerfunktion eines Kommentators erzielt Kafka eine tief greifende, suggestive Unmittelbarkeit des Erzählens. Es wird die Illusion vermittelt an den Reflexionen und Theorien der Hauptfigur ad hoc teilzunehmen, denn der Rezipient erfährt das Erzählte gleichsam durch Joseph K. und muss sich ganz in diese Figur und ihr momentanes Erleben hineinversetzten. Als Folge dieser Perspektivisierung finden sich im Proceß vorrangig nicht-narrative Formen der Berichterstattung, denn K. sinniert, nimmt wahr, interpretiert, aber er ist sich zu keinem bewusst, dass seine Erfahrungen und Illusionen Gegenstand eines Kommunikationsvorgangs sind. Da er sich nicht wie etwa der auktoriale Erzähler in einer Gesprächssituation befindet, erhält der Leser keinen Aufschluss darüber, nach welchen Kriterien der Bankangestellte K. die Dinge der fiktionalen Wirklichkeit auswählt und es bleibt daher ungewiss, ob außerhalb des von ihm Dargestellten noch etwas von Relevanz existiert. Angesichts des Fehlens einer ordnenden, alles überschauenden Instanz ist der Rezipient in diesem Punkt ausschließlich auf Joseph K. und seinen begrenzten Wissens- und Erfahrungshorizont angewiesen. Durch den Verzicht auf eine ausdrückliche Kommentierung ist seine Wahrnehmung sowohl Erzählmedium als auch Erzählgegenstand, ein Zustand, der die Gefahr der vollkommenen Identifikation des Lesers mit einer Perspektivfigur, welche sich als Opfer eines undurchschaubaren Komplotts begreift, birgt.

Übernimmt der Rezipient unkritisch dessen Standpunkt als den seinen, wird er Joseph K. ohne Frage für unschuldig halten und seine Verurteilung als ungerecht empfinden. Diese Sicht aber wird an keiner Stelle des Romans bestätigt, im Gegenteil, der Text bietet implizit Anspielungen zu einer In-Frage-Stellung der subjektiv vermittelten Welt. Ferner lässt auch die fehlgeschlagene Wirklichkeitseinschätzung K.s die Verzerrung seiner Wahrnehmung deutlich zu tage treten: Obwohl er scheinbar alle Eventualitäten und zugleich deren Vor- bzw. Nachteile scharfsinnig gegeneinander abwägt, scheitert er. Neben den Unstimmigkeiten in seinem Verhalten, tragen auch und insbesondere die ironischen Gestaltungsmittel dazu bei den Leser von der Figur abzugrenzen. Kleinliche, der Lage völlig unangemessene Überlegungen, wie beispielsweise, dass die „Wächter vergessen hatten, ihn (Joseph K.) zum Bad zu zwingen“ und er somit „eine Beschleunigung des

Ganzen“19 erreicht zu haben glaubt, können nur mit einem Lächeln quittiert werden.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass jeglicher Anspruch auf einen umfassenden Überblick aufgegeben ist und dem Leser infolge des Fehlens eines Maßstab setzenden Erzählers mehr prüfendes Denken abverlangt wird. Durch die enorme Widersprüchlichkeit von unmittelbar dargestellter und faktisch vorenthaltener Wirklichkeit und der daraus resultierenden Unbestimmtheit des tatsächlichen Ist wird der Leser angehalten seine im Ansatz eventuell erwünschte Identifikation mit der Hauptfigur aufzugeben.

Kafka allerdings hält diese für ihn typische Perspektive konsequent durch und verwendet seinen Joseph K. als einziges Orientierungszentrum der Erzählwelt:

Er wandte sich der Treppe zu, um zum Untersuchungszimmer zu kommen, stand dann aber wieder still, denn außer dieser Treppe sah er im Hof noch drei verschiedene Aufgänge…“20 Der sich auf der Suche nach dem Gerichtsgebäude befindende Bankangestellte K. fungiert hier zweifelsohne als der Mittelpunkt der räumlichen Orientierung, denn der Autor beschreibt den Hintergrund des Geschehens nicht als ein von der Figur gesondertes, sondern ein mit ihren jeweiligen Handlungen im engsten Kontakt stehendes Bild.

Dementsprechend werden die raumbildenden Gegenstände erst dann konkretisiert, wenn Joseph K. sie als sein Gegenüber betrachtet. Aufgrund des Fehlens eines objektiven Erzählers, wird der Leser also ausschließlich mit dem von der Figur subjektiv erlebten Raumbild konfrontiert.

Diese Beobachtung machen wir auch, wenn sich der Landvermesser K. im Schloß auf seinen Weg begibt: „Die Straße nämlich, die Hauptstraße des Dorfes, führte nicht zum Schloßberg, sie führte nur nahe heran, dann aber, wie absichtlich, bog sie ab, und wenn sie sich auch nicht vom Schloß entfernte, so kam sie ihm doch auch nicht näher“21. Kurz bevor er sich aufmachte, hatte er das Schloss als eine sehr nahe liegende Räumlichkeit in seinen Einzelheiten ausführlich betrachtet, doch nun wird der Weg kreisförmig in seiner Unüberwindlichkeit realisiert und das Ziel selbst als eine unerreichbare Ferne erlebt.

Der Raum ändert sich je nach dem Standpunkt der Perspektivfigur respektive der Intensität ihrer Wahrnehmung. So subjektiv erlebt, ist es nicht verwunderlich, dass der Raum häufig der realen Wirklichkeitsvorstellung des Lesers, widerspricht. Dieser ist deshalb gezwungen ständig vom dargestellten Raumbild abzurücken um es nicht nur als Hintergrund der Romanhandlung, sondern darüber hinaus auch in seiner Funktion als Ausdruckselement zu begreifen.

Der Analyse des einzelnen Raums muss eine Herausarbeitung des zugrunde liegenden Erlebnismodus, welcher von essentieller Relevanz für das Erkennen der Struktur verantwortlich ist, vorangehen.

Da die Raumdarstellung in den Romanen Kafkas eindeutig auf die Perspektive der Hauptfigur zurückzuführen ist, will ich zunächst an zwei Bespielen zeigen, wie der epische Raum von eben dieser erlebt wird.

Im sechsten Kapitel des Proceß begegnet K. in seinem Büro dem, wegen seiner Anklage in die Stadt gereisten Onkel vom Lande:

Eines Nachmittag drängte sich zwischen zwei Dienern K.’s Onkel Karl, ein kleiner Grundbesitzer vom Lande, ins Zimmer….Schon damals hatte er ihn zu sehen geglaubt, wie er, ein wenig gebückt, den eingedrückten Panamahut in der Linken, die Rechte schon von Weitem ihm entgegenstreckte und sie mit rücksichtsloser Eile über den Schreibtisch hinreichte, alles umstoßend, was ihm im Wege war.22

In diesem Erzählabschnitt tritt der Raum zugunsten der Figurencharakterisierung lediglich sekundär auf. K.s Aufmerksamkeit gilt uneingeschränkt der minuziösen Erfassung der Verhaltensbesonderheiten des Onkels, sein Bürozimmer als Handlungsort ist dabei nur durch einige, gegenüber der Figur völlig zurücktretenden, Raum skizzierenden Angaben, gestaltet.

Als zweites Bespiel bietet sich die Ankunft des Landvermessers im Schloß an, bei der er auf die Frage des Wirts im Brückenhaus nach seinem Aufenthaltsort antwortet: „Sollte ich hier unten arbeiten, dann wird es auch vernünftiger sein, hier unten zu wohnen. Auch fürchte ich, daß mir das Leben oben im Schloß nicht zusagen würde“23 Die Räumlichkeiten, auf denen das gesamte Erzählgeschehen beruht, also Schloss und Dorf, werden von K. lediglich durch die adverbiale Bezeichnung hier unten und oben lapidar zum Ausdruck gebracht. Da im Vergleich zum jeweils anderen nur eine tiefer bzw. höher liegende Position markiert wird, fehlt den beiden, nur in Bezug auf des Landvermessers hypothetischen Arbeitsbedingungen wie nebenbei erwähnten Raumdarstellungen jede Konkretisierung.

Wo der Raum keinen direkten Erzählgegenstand bildet, sondern nur ansatzweise mit und während der Handlung in Erscheinung tritt, bleibt seine Beschaffenheit vage, denn der Rezipient erhält zwar Orientierungshilfen, erfährt dabei aber keine räumliche Individuation. Besonders für eine schnelle, den Ablauf nicht verzögernde Handlungsführung eignet sich diese Form der Gestaltung, bei der sich die Raumangaben häufig auf abstrakte Bezeichnungen beschränken und nur ein Minimum an Vergegenwärtigung darstellen. Entweder es bleiben deiktische Angaben, wie zum Beispiel hinten, vorne, rechts, links, oder aber es ist, ohne das Hinzufügen eines charakterisierenden Epithetons von unbestimmten Zimmern, Gassen oder Häusern die Rede.

Konträr zu dem bisher Betrachteten steht die ausgedehnte, weit über die Terminus der Handlungskulisse hinausgehende, detaillierte Raumbeschreibung. Wegen der konkreten Illustration seiner Züge wird sowohl ein Sichtbarwerden der Umrisse als auch das einzelner Gegenständen ermöglicht.

Mit dieser speziellen Intensität erlebt Joseph K. im Proceß vorrangig jene, ihm bisher unbekannten Räume, zu deren Betreten er ausschließlich innerhalb seines Gerichtsverfahrens veranlasst wird. Der Leser verfolgt die Perspektive Joseph K.s, der sich nach der Mitteilung seiner Verhaftung an einem Sonntag für ein Verhör in die Vorstadt begibt und zuerst daran glaubt, in seinem Um-Raum24 irgendein in seinen Vorstellungen nicht konkretisierbares Merkmal des Gerichts erkennen zu können.

Mit diesem Gedanken bleibt er am Beginn der Juliusstrasse stehen um sich einen Überblick von seinem Gegenüber-Raum zu verschaffen. Sein allgemeiner Eindruck ist die Einförmigkeit der Häuser, welche durch die Anreihung der adjektivischen Bezeichnungen hoch, grau und von armen Leuten bewohnt präzise gekennzeichnet ist. In diesem konstatierten Rahmen schweift sein Blick, vom Willen beseelt weitere Einzelheiten zu erfassen fort und richtet sich auf „hoch, mit Bettzeug angefüllte25 Fenster, unter denen er den zerrauften Kopf einer Frau registriert. Doch bevor sich K. eingehender mit dieser

Erscheinung beschäftigen kann, wird er durch das Ausbrechen eines großen Gelächters in seiner Beobachtung gestört und konzentriert sich daraufhin auf den unteren Teil seines Gesichtsfeldes26

Auch hier hat der Versuch der Perspektivfigur irgendein spezielles Merkmal des Gerichts von der Außenansicht der Juliusstrasse her identifizieren zu können, detaillierte, ausgedehnte Raumdarstellungen im Erzählgefüge zur Folge.

In dem Erfassen der unzähligen Lebensmittellädchen, der anonymen Frauen und des Obsthändlers auf der Treppe ist augenscheinlich, wie die Hauptfigur ihren Blick nach eigenen, ganz subjektiven Kriterien in Bezug auf den ihr gegenüber liegenden Raum ausrichtet. Von diesem Standpunkt aus erfolgt zunächst eine Umgrenzung des Blickfeldes, bei der das undifferenzierte Nebeneinander von Mietshäusern exakte Bezeichnungen gar nicht aufkommen lässt. Da sich Joseph K.s Blick nur innerhalb dieses Gesichtskreises bewegt, gibt es nicht einmal einen die Häuser überschreitenden Ausblick in die Höhe. Stattdessen mustert der Angeklagte Fensterreihen, die nur durchaus alltägliche Vorgänge des armen Wohnviertels zu bieten haben und tendiert dabei zur Fixierung einzelner Gegenstände.

Ein weiteres Paradigma, in dem sich Kafka um eine erschöpfende Raumdarstellung bemüht, finden wir im siebten Kapitel des Proceß, in dem die Umgebung Titorellis veranschaulicht wird: „Er fuhr sofort zum Maler, der in der Vorstadt wohnte, die jener, in welcher sich die Gerichtskanzleien befanden, vollständig entgegengesetzt war. Es war eine noch ärmere Gegend, die Häuser noch dunkler, die Gassen voll Schmutz…“27

Konform mit der vorangegangenen Beschreibung gehend, fehlt auch hier jegliche konkrete Beschaffenheit um räumliche Dimensionen erschließen zu können, denn es werden lediglich flüchtige visuelle Impressionen K.s von seinem Um-Raum eruiert. Wenn wir seiner Sehweise weiter folgen, beobachten wir, wie sich sein Gesichtsfeld ohne den räumlichen Verhältnissen insgesamt Aufmerksamkeit zu schenken auf ein großes Tor beschränkt. Indem ferner mikroskopische Phänomene, wie zum Beispiel in einen nahen Kanal fliehende Ratten, durch die Optik der Perspektivfigur realisiert werden, eröffnet sich eine räumliche Flächenhaftigkeit, welcher wir mittels Verwendung bestimmter Präpositionen wie vor oder hinter innewerden.

Kollationieren wir Titorellis Umgebung mit jenem Wohnviertel in der Juliusstrasse, so kristallisieren sich fast identische Aspekte heraus: Beide Darstellungen zeigen zunächst eine bestimmte Areal des Blickfeldes, bleiben dabei aber in ihren gesamten räumlichen Umrissen abstrakt und unanschaulich. Die Tendenz einzelne Gegenstände exakt zu fixieren zeigt sich bei dem Maler noch intensiver, denn hier versucht K. dreimal winzige Teilaspekte, nämlich Schmutz, Lücke, Blechplatte, in ihrer Eigenart zu ergründen. Der Leser gewinnt dadurch den Eindruck, als ob sich jener kleine Fetzen verselbständige und die nur flüchtig wahrgenommene Gesamtheit der Kontur des Um- bzw. Gegenüber-Raumes ins Unanschauliche zurücktreten lasse.

Auch im Schloß ist die Raumdarstellung ungeachtet der „exegetischen Situationsanalysen28 ausgedehnt, vielleicht weniger dicht und von geringerer Quantität als im Proceß, aber definitiv nicht minder ausgefeilt. Wir begleiten den Landvermesser K. am Morgen nach seiner Ankunft auf dem Weg zum Schloss und beobachten, wie er die Beschaffenheit seines Gegenüber-Raumes optisch ergreift:

Nun sah er oben das Schloß deutlich umrissen in der klaren Luft und noch verdeutlicht durch den alle Formen nachbildenden, in dünner Schicht überall liegenden Schnee. Übrigens schien oben auf dem Berg viel weniger Schnee zu sein als hier im Dorf, wo sich K. nicht weniger mühsam vorwärts brachte als gestern auf der Landstrasse.29

Das oben befindliche Schloss erscheint K.s Blick in der klaren Luft zunächst mit markanter Kontur. Der Eindruck der scharfen Abgrenzung wird zudem optisch durch die dünne Schneedecke abermals bekräftigt, wobei die alle Formen reproduzierende weiße Masse mit den äußeren Raumlinien des Schlosses kontrastiert. Nach diesem komparatistischen Überblick richtet sich des Landvermessers Aufmerksamkeit auf figuartive Einzelheiten wie etwa einen Turm, den er zwar keinem bestimmten Raum zuordnen kann, wohl aber genau die einzelnen Ziegel und kleinen Fenster des einförmigen Rundbaus erkennt.30

Analog zum Prokuristen legt auch die Perspektivfigur des Schloß zunächst die räumliche Grenze innerhalb ihres übersehbaren Gesichtfeldes fest und weist binnen dieser Begrenztheit übereinstimmend mit Joseph K. die Tendenz zur Konzentration auf mikroskopische Teilphänomene auf. Dabei lassen sich in beiden Romanen zwei signifikante Prototypen der Raumerschließung konstituieren:

1. Die Perspektivfigur gewinnt einen primären Überblick über den Raum nur innerhalb eines rudimentären Gesichtskreises, wobei sich dieser im weiteren Verlauf der Handlung durch ungeahnt konkretisierte Qualitäten verliert.

2. Ein von vornherein unübersehbar gestalteter Raum verwehrt der Zentralfigur jeglichen Überblick. Auch mit den raumbildenden Gegenständen, welche im Laufe der Erzählung in Erscheinung treten, ändert sich diese Beschaffenheit nicht.

Mit K.s Besichtigung der Gerichtskanzleien wenden wir uns vorerst den, der ersten Kategorie entsprechenden Raumgestaltung zu:

Es war ein langer Gang, von dem aus roh gezimmerte Türen zu den einzelnen Abteilungen führten. Obwohl kein unmittelbarer Lichtzutritt bestand, war es doch nicht vollständig dunkel, denn manche Abteilungen hatten…bis zur Decke reichende Holzgitter…durch die man einzelne Beamte sehen konnte, wie sie an ihren Tischen schrieben oder geradezu am Gitter standen und durch die Lücken die Leute beobachteten.31

Zu Beginn nimmt Joseph K. die räumliche Länge des Kanzleieingangs mittels Erfassung der Aneinanderreihung von einer undefinierten Anzahl von Türen wahr und schließt gleichzeitig aufgrund des Beleuchtungsverhältnisses auf seine Höhe. Bei seiner nachfolgenden Observation der Lücken fasst er die Obsoleszenz einzelner Beamter, zum Beispiel wie sie an ihrem Tisch sitzen oder durch das Gitter schauen, gewissenhaft ins Auge. Diese im Überblick gewonnenen raumbildenden Elemente treten im Verlauf des weiteren Geschehens erneut auf und werden zu dessen Lokalisierung allmählich präzisiert.

Unser Angeklagter biegt während dessen durch eine türlose Öffnung in die Kanzleien ein und erfährt dabei eine Ausdehnung selbiger in ein unüberschaubares Labyrinth aus Türen und Gängen. Angesichts dieser ungeahnten räumlichen Tiefe des Dachbodens verliert K. seine anfangs gewonnene Orientierung und ist noch nicht einmal mehr imstande sich weiter umzusehen. Er fühlt sich unsicher und bedroht, denn er begegnet der Gegenstandswelt ohne sich von ihr zu distanzieren.In dieser so eigentümlichen, zudem von schlechter Luft begleiteten Atmosphäre steigert sich sein Raumerlebnis zu akutem Unwohlsein und er wähnt sich seines festen Bodens unter den Füßen beraubt.

Die bisherige Erforschung der auf dem Gang der Gerichtskanzleien basierenden Szene zeigt, wie der Bankangestellte K., wenn auch nur innerhalb eines umzäunten Blickwinkels, einen anfänglichen Überblick über den Raum gewinnt, welchen er im weiteren Hergang angesichts einer ungeahnten Architektur jedoch wieder verliert. Desgleichen in Titorellis Atelier, bei dessen Betreten Joseph K. die gesamte, durch überraschend klare Dreidimensionalität signierte Räumlichkeit trotz der Enge mit einem Blick erfasst.32

Die dank K.s nach Überblick strebenden Sehweise einheitlich in Erscheinung tretenden Objekte werden im Verlauf des Dialogs mit dem Maler weiter konkretisiert. Die Luft im kleinen Zimmer wird, ungeachtet des kalten Wetters und eines in der Ecke zwar platzierten, zweifelsohne aber nicht geheizten Eisenofens, nach und nach unerträglich schwül. Für K. unverständlich führt zudem eine Tür hinter dem Bett erstaunlicherweise gerade zu den Gerichtskanzleien, die der Angeklagte vor dem Haustor eindeutig in der vom Atelier diametralen Richtung wähnte.Da sich die anfängliche Wahrnehmung Joseph K.s aufgrund diese räumlichen Ausgestaltung nur als inadäquat erweist, fühlt er sich, wie zuvor auf dem Dachboden, vollständig hilflos. Ebenso ermitteln wir im Schloß Schilderungen, die diesem ersten Typus der Raumerschließung entsprechen. Während sich der Landvermesser im dritten Kapitel angestrengt auf die Registrierung präziser Nuancen bezüglich des Aussehens Klamms konzentriert, muss er feststellen, dass sich ihm nichts anderes als das Bild eines gewöhnlich gealterten Mannes bietet. Um ihm direkt zu begegnen dringt K. in den Innenhof des Herrenhauses ein, wo der Schlitten Klamms steht, und dokumentiert dabei sämtliche Teilphänomene des Hofs einschließlich der Hausfassade. Die einmal erfasste Räumlichkeit wird mit K.s scharfem Blick um zusätzliche Details ergänzt: „Eine rechtwinklig gebrochene Treppe führte herab und war unten von einem niedrigen, aber scheinbar tiefen Gang

gekreuzt; alles war rein, weiß getüncht, scharf und gerade abgegrenzt.“33

Nach dieser Observation wird K. allmählich ungeduldig, denn beißende Kälte und völlige Finsternis behindern sein Warten auf Klamm zunehmend. Der verlockende Verweisung des Kutschers auf das Innere des Schlittens inklusive offerierten Kognak, kann er daher nicht widerstehen. K. wundert sich über die ungewöhnliche Einrichtung des Schlittens, dessen Inneres ihn mit Wärme und unvorstellbarer Geräumigkeit empfängt34 und ihn für einen Moment lang sogar sein Ziel Klamm zu treffen vergessen lässt.

Der auf Distanz erworbene Überblick der Perspektivfigur über das Areal erweist sich im weiteren Verlauf der Geschehnisse als oberflächlich und scheinbar, so dass der Landvermesser, wie vor ihm bereits Joseph K., jegliche Orientierung verliert.

In beiden Romanen finden wir darüber hinaus auch Raumerschließungen die, obwohl einzelne Elemente von den K.-Figuren exakt registriert werden, von vornherein unüberschaubar sind.

Ein Paradebeispiel für diese Grundform ist die von Beginn an von Dunkelheit beherrschte Wohnung des Advokaten Huld, zu der der Angeklagte im Proceß von seinem Onkel geführt wird. Neben einer offenen Gasflamme, „die nahe über den Köpfen brannte, aber wenig Licht gab35 ist eine kleine Kerze im Korridor und im Schlafzimmer des Anwalts die einzige Lichtquelle. Aus diesen Verhältnissen resultiert eine starke Reduzierung des Gesichtskreises, welche Joseph K. höchstens rudimentär die Möglichkeit bietet, sich von der Gegenstandswelt abgegrenzt einen Überblick über seinen Um-Raum zu verschaffen. Weder erfährt er etwas über die Art des Gebäudes noch über dessen Umrisse, alleinig fragmentarische Züge des Raums sind wahrnehmbar.

Die eindrucksvollste Art einer affinen Raumerschließung finden wir drei Kapitel später bei der Manifestation des Doms, in dem eine solche Dunkelheit vorherrscht, dass unser Bankangestellter „kaum eine Einzelheit unterscheiden“36 kann. Trotz redlichen Bemühens reicht das aus der Ferne flackernde Kerzenlicht nicht einmal dazu aus die vor seinen Augen liegenden Gegenstände innerhalb eines sichtbaren Rahmens zu erleuchten, geschweige denn diese genau zu erfassen. Da die raumbildenen Elemente ohne klare Konturen zu zeigen in der Finsternis versunken bleiben, macht sich K. mit Hilfe einer elektrischen Taschenlampe auf einzelne Merkmale eines Ritterbildes am Seitenaltar ausführlich zu ergründen.

Zwar zeigen sich Details flüchtig als isolierte Ausschnitte, sie entziehen sich aber alsbald wieder dem Blick der Perspektivfigur um sich als korrelierendes Ganzes in der Finsternis aufzulösen. Ein umfassender Gesamteindruck über die räumliche Beschaffenheit bleibt demzufolge unmöglich.

Das Ausmaß des Doms wird von K. als unübersichtliche Ausdehnung erfahren, wobei der allmählich stärker werdende Widerhall des leisen Klang seiner eigenen Schritte in Kohärenz mit der tiefen Dunkelheit in ihm das Gefühl einer fast unerträglichen Ohnmacht hervorruft. Joseph K. in dieser Finsternis jegliche Orientierung verlierend, ist noch nicht einmal fähig allein den Ausgang zu finden und somit völlig von der Hilfe des Gefängniskaplans abhängig. Statt ein Bezugssystem zu einem überschaubaren Ganzen anzuordnen, zeigt Kafka hier seine besondere Vorliebe für Kerzen und Lampen, deren Umkreis die Grenze des momentan sichtbaren räumlichen Ausschnittes bildet, was zweifelsohne eine starke Reduzierung des Gesichtskreises zur Folge hat.

Auch im Schloß verlieren die durch Erwähnung essentiellen Inventars skizzierten Räume mehr und mehr an Plastizität. Sie bleiben von Anfang an in ihrer Kontur unbegrenzt, was wiederum und insbesondere die zunehmende Auflösung der sichtbaren Welt in fragmentarische Ausschnitte erkennbar werden lässt. Als Landvermesser K. im fünften Kapitel vom kranken Dorfvorsteher am Bett empfangen wird, schaut er sich im Zimmer um und bemerkt „eine stille, im Dämmerlicht des kleinfenstrigen durch Vorhänge noch

verdunkelten Zimmers fast schattenhafte Frau“37 einen Sessel bringen.

Der Leser erfährt von der mittels der Handlung geschilderten Lacation weder die räumlichen Umrisse noch die konkreten Züge der raumbildenen Gegenstände, welche im Zimmer schweben, als besäßen sie keine Körperlichkeit.

Gezeigt wird kein zusammenhängender Fundus sondern ein aus einem Durcheinander von Papieren bestehender Mittelpunkt, in dessen Zusammenhang die Räumlichkeit nicht einmal in ihrer anschaulichen Größe erscheint, sondern diffus im Zwielicht bleibt.

Konform mit den Zimmern des Proceß befinden sich auch die des Schloß frequent im Finstern oder zumindest im Halbdunkel und erscheinen dabei entweder fast leer oder komplett unübersichtlich. Die sparsam erwähnten, oftmals auf die Notwendigkeit für das Geschehen beschränkten Angaben lassen die räumlichen Dimensionen nie als solche in den Blick treten, sondern erschließen damit höchst sinnvoll den jeweiligen Handlungsraum.

5. Der Proceß – Die alltäglichen Lebensräume des Joseph K.

Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich. Diese Tatsache kann man sogar durch das Gehör nachprüfen. Wenn einer schnell geht und man hineinhorcht, etwa in die Nacht, wenn alles still ist, so hört man zum Beispiel das Scheppern eines nicht genug befestigten Wandspiegels.38

K.s alltägliches Leben beherbergt zwei Zentren; zum einen sein Privatzimmer und zum anderen das Büro in der Bank. Da sein gewohntes Leben auch nach der Anklage noch fortdauert39, tauchen diese beiden Räume bis zum Schluss unentwegt wieder auf und bilden damit sozusagen das Kontinuum, vor dem sich die eigentliche Prozesshandlung mit ihren Charakteristika abspielt.

5a. Das Zimmer von Joseph K.

Der Proceß beginnt mit der Verhaftung Joseph K.s. Während man am Anfang geneigt sein könnte an eine reelle Verhaftung mittels der Polizei zu denken, wird nach K.s Aussage:

„Hätte ich diesmal ausnahmsweise in der Küche gefrühstückt…so wäre nichts weiter geschehen, es wäre alle, was werden wollte, erstickt worden, “40 offensichtlich, dass dieser Akt dem Angeklagten nicht von außen zugefügt wird, sondern in ihm selbst entstand. Der Prozess ist also ein, in K. sich abspielender Vorgang, und alle Personen, die unmittelbar als Vertreter des Gerichts erscheinen, müssen folglich als Objektivierung von Geschehnissen in

K. selbst begriffen werden.

Dies aber ist nur ein Aspekt der kafkaschen Welt, denn die Individuen sind nicht nur emotional befreite Teilreaktionen von K.s eigenem Ich, sondern zugleich auch wirkliche Menschen. Das zeigt sich zum einen in der Bedrängnis des Angeklagten durch ihre körperliche Realität41 und zum anderen in dem Fakt, dass auch Frau Grubach, die in keiner direkten Relation zum Gericht steht, die Wächter sehen und sich sogar mit ihnen über K. unterhalten kann. Diese Ambivalenz ist sowohl für alle Figuren im Werk als auch für dessen Raumgestaltung charakteristisch. Wenn also im ersten Kapitel das Erwachen des Prokuristen K.s erläutert wird, so ist dies zunächst einmal ganz wörtlich zu nehmen. Dahinter aber blinkt noch eine andere Bedeutungsschicht auf, welche dem wirklichen Zimmer des Angeklagten noch einen zusätzlichen, die Lebenssituation K.s unmittelbar erhellenden Sinn verleiht. Augenscheinlich kristallisiert sich dies in der Aufforderung der Wächter, K möge doch in seinen Zimmer bleiben, heraus: „Und nun rate ich Ihnen in ihr

Zimmer zu gehen…zerstreuen Sie sich nicht durch nutzlose Gedanken, sondern sammeln Sie sich.“42 Die Rückkehr in das eigene Zimmer, in dem gleichsam Joseph K.s bisheriges, sich im Wesentlichen zwischen der Bürosphäre (Schreibtisch) und den Ansprüchen des körperlichen Seins (Bett) abspielende Leben, beschlossen ist, symbolisiert also im übertragenden Sinne Sammlung und Beschränkung auf sich selbst. Bisher hat sein Stube ihm stets das Gefühl der Sicherheit vermittelt, aber an dem Morgen der Verhaftung ist etwas

Fremdes hineingeschlüpft; ungewohnte, von einem anonymen Draußen durch Türen und Fenster dringende Gestalten transportieren Unruhe und Fragen in seine Welt.

Aus dem Haus gegenüber starrt ihn eine alte Frau unverwandt und mit erstaunlicher Neugierde an. Sie wird ihren Posten von nun an nicht mehr verlassen, denn sie verkörpert den Teil des Bewusstseins Joseph K.s, welches plötzlich etwas von einer, jenseits der mechanischern Aufgaben eines Gliedes der modernen Industriegesellschaft liegenden Humanität ahnt.

In unmittelbarer Kohärenz mit dem Erscheinen der Frau im Fenster ist auch das für Kafka typische Motiv des Hungers zu werten, welches neben dem leiblichen Hunger immer auch die Frage nach der seelischen Nahrung stellt.43 Folglich kann das Schellen des Prokuristen nach dem Frühstück neben der wörtlichen Difinition zusätzlich als ein Streben nach Befriedigung eines inneren Verlangens interpretiert werden.

Langsam beschleicht den Angeklagten das dunkle Gefühl, das mangelnde Verantwortungsbewusstsein seines früheren Lebens habe das Eingreifen des durch die Schuld angezogenen Gerichts verursacht.

Derlei befremdende Seelenregung bedrängt Joseph K. so sehr, dass er sich, überwältigt von innerer Leere im eigenen Raum nicht mehr wohl fühlt und Zuflucht bei seinem Fenster sucht. Die nach draußen führenden Öffnungen gewinnen unversehens für ihn an Faszination, so dass das Fenster von nun an den Ort im Proceß symbolisiert, bei dem das in seiner hungern, weil sie die Speise, die ihnen schmeckt nicht finden können. „Hätte ich sie gefunden, galube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.“ aus Kafka, Franz: Erzählungen. Reclam, Stuttgart 1994 S. 279.

Kammer eingeschlossene Ich im Falle der drohenden Überwältigung Unterschlupf sucht. Die Vision der Erfüllung aber muss solange vergeblich bleiben, wie nicht in der Seele des Einsamen selbst eine Metamorphose stattgefunden hat und der Bankangestellte K. nicht mehr in der Anonymität der modernen Geschäftswelt Schutz sucht, sondern in der Lage ist als freier, reflektierender, seine eigene Unvollkommenheit anerkennender Mensch zu leben. Da der Beschuldigte dazu aber nicht bereit ist, blickt er, an der eigenen Sinnlosigkeit leidend in ein Draußen, von dem ihm dieselbe Leere entgegenschlägt, wie sie in seinem Inneren herrscht.

Mit der Funktion des Fensters korrespondiert die der Tür, allerdings mit einer entscheidenden Differenz: Letztgenannte führt zwar auch nach draußen, aber dennoch nicht ins Freie, denn K.s Drängen zur Tür ist geradezu als eine Fluchtbewegung vor der Ungeborgenheit des Fensters zu evaluieren. Durch die Tür gelangt der Delinquent ausschließlich in andere, Ablenkung versprechende Zimmer, wie zum Beispiel das Treppenhaus oder die Nachbarräume. Um dem Bewohner des Zimmers den Eindruck einer Gefangenschaft zu vermitteln ist eine Verriegelung der Tür demzufolge gar nicht mehr erforderlich44. Im Gegenteil, die Relevanz der Türen scheint insbesondere in ihrer

Unverschlossenheit zu liegen, denn eine hinter dem Individuum abgesperrte Tür würde diesem ja ein gewisses Gefühl von Schutz vermitteln.

Da es Kafka aber nur wirkliche oder dem Sinn nach offene Türen gibt, verursachen sie bei dem Insassen des Zimmers Unbehagen, indem sie in viel massivern Maße als das Fenster dazu dienen Störungen einzulassen. Jenes Charakteristikum trifft jedoch nicht auf fremde Türen zu, denn diese können sehr wohl verschlossen respektive dem Einlassbegehrenden unzugänglich sein. Die eigene Tür aber wirkt nur als Zugang, nicht als Ausweg. Allerdings mit einer Ausnahme:

Vielleicht würden ihn die beiden, wenn er die Tür …öffnete, gar nicht zu hindern wagen, vielleicht wäre es die einfachste Lösung des Ganzen, daß er es auf die Spitze trieb. Aber vielleicht würden sie ihn auch packen und, war er einmal niedergeworfen, so war auch alle Überlegenheit verloren…Deshalb zog er die Sicherheit der Lösung vor, wie sie der natürliche Verlauf bringen mußte, und ging in sein Zimmer zurück.45

An diesem Punkt im ersten Kapitel denkt der Angeklagte einen Augenblick daran die Tür als Ausweichvariante zu benutzen. Die Furcht jedoch, die Wächter, welche K. scheinbar in dem seine bisherige Existenz umschließenden Raum festhalten wollen, könnten ihn niederwerfen, hält ihn von diesem frühen Lösungsversuch seines Prozesses ab.

Die Wächter verhalten sich, wie K. selbst bemerkt, in dieser Situation ambivalent. Einerseits hindern sie ihn mit der gebärdender Brutalität ihrer Erscheinung daran, die Türen, die ins Freie führen, zu durchschreiten, andererseits aber lassen sie ihn in seinem Zimmer, wo er

doch zehnfache Möglichkeit hatte, sich umzubringen“46 allein.

In Bezug auf die Inneneinrichtung des Zimmer Joseph K.`s übernehmen das Bett, obwohl nur im ersten Kapitel in Erscheinung tretend und das Kanapee die tragenden Funktionen.

Wir treffen den Angeklagten, noch nicht in die Routine des Bankalltags eingespannt, direkt nach seinem Erwachen, als er zu spüren scheint, dass er als Mensch wohl noch andere Aufgaben haben könnte, als der Gesellschaft ein guter Prokurist zu sein. Seine anfängliche Funktion Joseph K. von den Lasten des Tages zu befreien und ihm ein Abtauchen in die Welt des Traums zu ermöglichen kann das Bett schon im Laufe des ersten Kapitels nicht mehr vollständig erfüllen, denn als er sich auf es wirft um seinen Prozess zu vergessen, kann es seine Gedanken nicht mehr zum Schweigen verurteilen. Und auch als er am Abend verwundert über seine eigene Unzufriedenheit bezüglich des Besuchs bei Fräulein Bürstner reflektiert, vermag das Bett ihn nicht vollständig zu beruhigen.47

Dass K. sowohl im ersten als auch im zweiten Kapitel während des Wartens auf Fräulein Bürstner zuerst am Fenster steht um sich dann später auf das Kanapee zu legen, nimmt bereits seine Erwartung an die Nachbarin voraus: Zum einen sucht er in ihr einen helfenden Menschen, gleichzeitig aber erhofft er sich mit ihr in die Sphäre des Triebhaften untertauchen zu können.

Mit dem eben beschriebenen Sinnzusammenhang korrespondiert auch der Schnaps, den unser Bankangestellte auf Seite 17 des Proceß aus dem Wandschränkchen holt und der im Schloß den Landvermesser dazu verführt in den gut gepolsterten Schlitten des Herrn Klamm zu kriechen.48 Diese Flucht in den Sinnesgenuss bezahlt K. mit seinem schlechten Gewissen, welches in dem vor Schreck an die Gläser Schlagen der Zähne zum Ausdruck gebracht wird.

aus der Tasche, welche an der Innenseite angebracht war, die Flasche hinausziehen können, aber da nun die Tür offen war, trieb es ihn so sehr in das Innere des Schlittens, daß er nicht widerstehen konnte, nur einen Augenblick lang wollte er darin sitzen. Er huschte hinein.“

Neben Bett und Kanapee befindet sich in K.s Zimmer noch ein Sekretär, der in jene anonyme Bürowelt einzuordnen ist, die auch an seinem Arbeitsplatz noch von Belang sein wird. Affin mit der großen Reinlichkeit der Bürowelt, ist auch die peinlich-pedantische Ordnung der verschiedenen Schubladen eine negative, tote Systematik des geometrischen, aller Gefühlswerte entleerten Raums.

Bezeichnenderweise kann der Angeklagte trotz oder gerade wegen dieser Sterilität die von ihm gesuchten Papiere nicht finden, denn der gut sortierte Schreibtisch beherbergt keine Legitimation, die vor dem Gewissen Gültigkeit behielte.

An diesem Punkt hat der unaufhaltsame Prozess der Selbstreflexion schon begonnen. K. wird im Laufe der Handlung immer wieder feststellen, dass ihm die Genauigkeit der Arbeitswelt nicht mehr genügt. Die anschließende Übergabe seines Geburtscheins an die

Wächter entspricht der Rechtfertigung, welche er später im Dom aussprechen wird: „Es ist ein Irrtum. Wie kann ein Mensch überhaupt schuldig sein.“49 Dass diese Abbitte nicht ausreicht, zeigt die lapidare Erwiderung des Geistlichen, dass so nur die Schuldigen zu reden pflegen.

Weder wird das Zimmer des Prokuristen an irgendeiner Stelle des Romans in einem Bezugsrahmen beschrieben, noch besitzt es sonderlich spezielle Atmosphäre. Da kein Gegenstand individuelle Züge aufweist, kommt die gesamte Raumbeschreibung ohne schmückende Beiwörter aus, ja selbst die von Kafka häufig eingesetzten Licht- und Schatteneffekte fehlen völlig. Nicht umsonst wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Beleuchtung vom Zimmer des Beschuldigten gleichmäßig und durch gewöhnliches elektrisches Licht erfolgt.

Wie sich in der vorangegangenen Analyse herauskristallisierte, sind die Elemente im Zimmer des Angeklagten nicht zum Schmuck oder um ihrer selbst willen existent, sondern werden der inneren Handlung subsumiert. Ein weiterer Indiz zur Stützung dieser These ist der punktuelle Durchbruch der äußeren Konsequenz zugunsten der inneren. Während zu Beginn des ersten Kapitels die Tür vom Zimmer des Angeklagten ohne Übergang zu Frau Grubachs Wohnzimmer50 führt, schiebt sich später ein leeres Vorzimmer dazwischen, welches K. erst überwinden muss um in andere Räume zu gelangen51.

5b. Das Zimmer der Frau Grubach und des Fräulein Bürstner

Die Relation zwischen Frau Grubach und Joseph K. beruht auf der Vermietung seines Zimmers. In demselben Maße, wie dieses Zimmer in der Alltagswelt des Prokuristen eine unleugbare Realität besitzt, ist auch Frau Grubach eine wirkliche Person aus seiner Umgebung. Jenseits der Faktizität aber erfüllt das Zimmer zudem noch seine Bedeutung als Terminus für K.s gesamten Daseinsbereich, wodurch auch der Vermieterin eine über ihre Realität als beliebige Pensionsinhaberin hinausgehende, das Dasein des Angeklagten unmittelbar betreffende Relevanz zugesprochen wird.

Aufgrund des Mietverhältnisses besteht für beide Parteien die Möglichkeit einer Kündigung, wobei jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass es Frau Grubach gar nicht in den Sinn kommt diese gegenüber ihrem Mieter auszusprechen, sondern sie im Gegenteil förmlich mit allen Mitteln an ihm festhält. K. hingegen spielt wiederholt mit dem Gedanken das Verhältnis aufzulösen um der Verhaftung zu entgehen.52 Äquivalent zu der Überlegung, gegen den Willen der Wächter die Tür zu passieren, verwirft er auch diesen Plan, denn Frau Grubach schafft und garantiert ihm die obligatorische Sicherheit seiner physischen Existenz. Deshalb flieht er auch umgehend, als die Verhaftung die Legitimation seines Ichs in Frage zu stellen droht, in ihr Zimmer. Dort fällt ihm sofort auf, dass in dem mit Möbeln und Decken überfüllten Zimmer „heute ein wenig mehr Raum als sonst“53 ist. Die gewohnten und beruhigenden Gegenstände sind gleichsam zur Seite gerückt um einem am Fenster sitzenden Fremden Raum zu verschaffen.

Da der von ihm besetzte Fauteuil die einzige Sitzoption bietet, ist der Beklagte gezwungen stehen zu bleiben. Dass kurz darauf die beiden Wächter an dem Tischchen der Frau Grubach Platz nehmen und des Angeklagten Frühstück verzehren, folglich also plötzlich zwei Sitzgelegenheiten vorhanden sind, stört den Leser nicht im geringsten, denn die Relevanz der Stühle ist nicht in ihrer Anzahl begründet, sondern schlicht in dem Fakt, dass genau für

K. eben keiner vorhanden ist, auf dem er es sich bequem machen könnte.

[...]


1 Kafka, Franz: Hochzeitvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Fischer, Frankfurt a.M.1980 S.158.

2 Kafka, Franz: Tagebücher 1910-1923. Fischer, Frankfurt a.M.1980 S.89 Aufzeichnung vom 5.November 1911.

3 Kafka, Franz: Tagebücher 1910-1923. Fischer, Frankfurt a.M.1980 S.122. Aufzeichnung vom

16. Dezember 1911.

4 Graf Karlfried von Dürckheim (1896-1988) war Professor für Psychologie und Philosophie und publizierte in

Neue Psychologische Studien. Heft 4.C.H.Beck Verlag, München 1932 S.383-S.480. Eine Untersuchung zum gelebten Raum.

5 Gebser, Jean: Ursprung und Gegenwart . Novalis Verlag, München 1970.

1905 als H.Karl Hermann Gebser geboren, veröffentlicht er 1949 erstmals dieses Hautwerk.

6 Straus, Erwin: Die Formen des Räumlichen. Springer, Berlin 1960 S.74.

Straus (1891.1975) war Neurologe, Psychiater und Philosoph. Bei seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse Freuds untersuchte er u.a. das Erleben von Raum und Zeit bei psychischen Erkrankungen.

7 Fischer, Franz : Zur Klinik des Raumerlebens. Zürich 1933 und Bilz, Rudolf: Pole der Geborgenheit. Bern 1957.

8 Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Frankfurt a.M.1981 S.12. Prousts (1871-1922) monumentaler Roman À la recherche du temps perdu zählt zu den bedeutendsten epischen Werken des 20. Jahrhunderts.

9 Bachelard, Gaston: Poetik des Raums. Fischer. Frankfurt 1992 S.30. Bachelard (1884-1962) beschäftigte sich als Philosoph gleichermaßen mit Wissenschaftstheorie und Dichtung. Seine La poétique de l’éspace veröffentlichte er erstmals 1957.

10 Meyer, Hermann: Raumgestalt und Raumsymbolik in der Erzählkunst. Peter Lang, Frankfurt a.M.1957.

11 ebd. S.621.

12 Adorno, T.W.: Aufzeichnungen zu Kafka, in: Die neue Rundschau 64, 1953 S.337.

13 Hillebrand, Bruno: Poetischer, philosophischer, mathematischer Raum, in: Ritter 1975 S.188.

14 Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer. Frankfurt a.M.1994 S.26.

15 Kafka, Franz: Tagebücher 1910-1923. Fischer. Frankfurt a.M.1980 Aufzeichnung vom13. Dezember 1917. 16Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer, Frankfurt a.M.1994. „Aber statt zu arbeiten, drehte er sich in seinem Sessel, verschob langsam einige Gegenstände auf dem Tisch, ließ dann aber, ohne es zu wissen, den ganzen Arm ausgestreckt auf der Tischplatte liegen und blieb mit gesenktem Kopf unbeweglich sitzen“. S.118.

17 Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer. Franfurt a.M.1994 S.9.

18 Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer, Frankfurt a.M.1994 S.12.

19 Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer, Frankfurt a.M.1994 S.18.

20 ebd. S.45.

21 Kafka, Franz : Das Schloß. Fischer. Frankfurt a.M.1994 S.19.

22 Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer. Frankfurt a.M.1994 S.95.

23 Kafka, Franz: Das Schloß . Fischer. Frankfurt a.M.1994 S.16.

24 Mit dem Begriff „Um-Raum“ bezeichne ich nach Bodo Assert in „Der Raum in der Erzählkunst. Diss. Tübingen 1973 S.235. Den die Perspektivfigur umgebenden Raum; als Gegenüber-Raum den Teil der Umgebung, der ihr im Blickfeld entgegentritt.

25 Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer. Frankfurt a.M.1994 S.44.

26 ebd. S.44. „Regelmäßig verteilt befanden sich in der langen Straße kleine unter dem Strassenniveau liegende, durch ein paar Treppen erreichbare Läden mit verschiedenen Lebensmitteln.“

27 Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer, Frankfurt a.M.1994 S.147.

28 Jahn, Wolfgang: Kafkas Roman. Stuttgart 1965 S.66.

29 Kafka, Franz: Das Schloß. Fischer. Frankfurt a.M.1994 S.16.

30 Kafka, Franz: Das Schloß. Fischer, Frankfurt a.M.1994 S.17. „Der Turm war zum Teil mit Efeu bedeckt und war mit einem söllerartigen Abschluß, dessen Mauerzinnen unsicher sich in den blauen Himmel zackten.“

31 Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer. Frankfurt a.M.1994 S.74.

32 Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer, Frankfurt a.M.1994 S.151. „K. hatte sich inzwischen im Zimmer umgesehen…mehr als zwei Schritte konnte man der Länge und Quere nach kaum hier machen. Alles, Fußboden, Wände und Zimmerdecke war aus Holz, zwischen den Balken sah man schmale Ritzen.“

33 Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer. Frankfurt a.M.1994 S.127.

34 Kafka, Franz: Das Schloß. Fischer. Frankfurt a.M.1994 S.129. „Man wußte gar nicht, ob man auf einer Bank saß, sosehr lag man in Decken, Polstern und Pelzen; nach allen Seiten konnte man sich drehen und strecken, immer versank man weich und warm.“

35 Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer. Frankfurt a.M.1994 S.103.

36 ebd. S.216.

37 Kafka, Franz: Das Schloß. Fischer. Frankfurt a.M.1982 S. 75.

38 Kafka, Franz. Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Fischer, Frankfurt a.M.1980 S.41.

39 Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer. Frankfurt a.M.1994 S.23. „Sie sind verhaftet, gewiß, aber das soll sie nicht daran hindern, Ihren Beruf zu erfüllen. Sie sollen auch in Ihrer gewöhnlichen Lebensweise nicht gehindert sein.“

40 Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer, Frankfurt a.M.1994 S.29.

41 ebd. S. 12. „In Gegenwart dieser Leute konnte er aber nicht einmal nachdenken, immer wieder stieß der Bauch des zweiten Wächters förmlich freundschaftlich an ihn.“

42 Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer, Frankfurt a.M.1994. S.15.

43 Sowohl der Hungerkünstler in der gleichnamigen Erzählung als auch Gregor Samsa aus Die Verwandlung

44 Im gesamten Roman gibt es nur eine einzige verschlossen Tür und zwar die des Schlafkabinetts, welche Leni hinter dem Kaufmann Block zusperrt.

45 Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer, Frankfurt a.M.1994 S.16.

46 Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer, Frankfurt a.M.1994 S.16.

47 ebd. S.40. „Kurz darauf lag K. in seinem Bett. Vor dem Einschlafen dachte er noch ein Weilchen über sein Verhalten nach, er war damit zufrieden, wunderte sich aber, daß er nicht noch zufriedener war.“

48 Kafka, Franz: Das Schloß. Fischer, Frankfurt a.M.1994 S.128. „Er öffnete die breite Tür und hätte gleich

49 Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer, Frankfurt a.M.1994 S.223.

50 ebd. S.10. Als der Wächter auf K.s Verlangen die Tür zum Nebenzimmer öffnet, tritt er direkt in die Stube seiner Vermieterin ein.

51 Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer, Frankfurt a.M.1994 S.31.

52 Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer, Frankfurt a.M.1994 S.32. „Er dachte einen Augenblick sogar daran, Frau Grubach zu bestrafen und zu kündigen. Sofort aber erschien ihm das entsetzlich übertrieben, und er hatte sogar den Verdacht gegen sich, daß er darauf ausging, die Wohnung wegen der Vorfälle am Morgen zu wechseln.“

53 Kafka, Franz: Der Proceß. Fischer, Frankfurt a.M.1994 S.10.

Fin de l'extrait de 112 pages

Résumé des informations

Titre
Einbahnstrasse Raum: Die ausweglose Flucht vor einer mutmaßlichen Schuld
Université
Bielefeld University
Note
1,0
Auteur
Année
2008
Pages
112
N° de catalogue
V112558
ISBN (ebook)
9783640125401
ISBN (Livre)
9783640126286
Taille d'un fichier
1350 KB
Langue
allemand
Citation du texte
Magister Kristin Boenig (Auteur), 2008, Einbahnstrasse Raum: Die ausweglose Flucht vor einer mutmaßlichen Schuld, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112558

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