Seit nunmehr über einem Jahr bestimmt die COVID-19 Pandemie das gesellschaftliche Leben weltweit. Kaum ein Tag vergeht, an dem Corona nicht das Top-Thema in Medien und Gesellschaft ist. Dabei geht es bei weitem nicht immer um die Krankheit selbst, sondern um den Umgang mit ihr, die gesellschaftlichen Auswirkungen und Einschränkungen die unser aller Leben tangieren. Diskursiv wird über die aktuellen wie die zukünftig möglichen Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung der Pandemie gerungen. Die Bevölkerung soll vor dem neuartigen Virus und seinen mittlerweile entstandenen Mutationen geschützt werden und gleichzeitig sollen Kollateralschäden möglichst begrenzt werden. Keine einfache Aufgabe, der Begründungsdiskurs um die Maßnahmen scheint also begründet zu sein.
Dieser Aufsatz wird der Frage nachgehen, wie dieser Begründungsdiskurs verläuft, welche Argumente und Rechtfertigungen der unterschiedlichen Akteure ins Feld geführt werden und inwiefern Gesundheitsvorsorge Staatsaufgabe ist.
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Seit nunmehr über einem Jahr bestimmt die COVID-19 Pandemie das gesellschaftliche Leben weltweit.1 Kaum ein Tag vergeht, an dem Corona nicht das Top-Thema in Medien und Gesellschaft ist. Dabei geht es bei weitem nicht immer um die Krankheit selbst, sondern um den Umgang mit ihr, die gesellschaftlichen Auswirkungen und Einschränkungen die unser aller Leben tangieren. Diskursiv wird über die aktuellen wie die zukünftig möglichen Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung der Pandemie gerungen. Die Bevölkerung soll vor dem neuartigen Virus und seinen mittlerweile entstandenen Mutationen geschützt werden und gleichzeitig sollen Kollateralschäden möglichst begrenzt werden. Keine einfache Aufgabe, der Begründungsdiskurs um die Maßnahmen scheint also begründet zu sein. Dieser Aufsatz wird der Frage nachgehen, wie dieser Begründungsdiskurs verläuft, welche Argumente und Rechtfertigungen der unterschiedlichen Akteure ins Feld geführt werden und inwiefern Gesundheitsvorsorge Staatsaufgabe ist.
Begründungsdiskurs
Zunächst einmal zum Begriff des „Begründungsdiskurses“ selber. Dieser stammt ursprünglich aus der kritischen Psychologie, einer marxistisch orientierten wissenschaftlichen Richtung der Psychologie, welche um 1969 an den Universitäten in West-Berlin, Hannover und Bremen entstand.2 Während die Beziehung zwischen der Gesellschaft und den einzelnen Menschen in verschiedenen objektivistischen Konzepten als Bedingungszusammenhang thematisiert wird, wurde in der Kritischen Psychologie die Kategorie der subjektiven Begründung als Gegenbegriff zur Bedingtheit entwickelt.3 Die Menschen bestimmen also die Bedingungen ihres eigenen Lebens selbst. Im Begründungsdiskurs werden also Zusammenhänge zwischen Prämissen und Intentionen formuliert.
Meist verläuft der Begründungsdiskurs dabei zwischen Definitionen von Gesundheit und Krankheit, Abwägungen, Verantwortung und Menschenrechten. Die menschenrechtsethischen Kriterien sowie die Rolle des Staates stehen dabei, wie im späteren Verlauf gezeigt wird, zumeist im, wenn auch nicht immer offensichtlichen, Vordergrund der Debatte.
Das „Grundrecht auf Rechtfertigung“
Neben den völkerrechtlich fest verankerten Menschenrechten in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 19484, existiert für den Frankfurter Politikwissenschaftler und Philosophen Rainer Forst das „Grundrecht auf Rechtfertigung“.5 So sind Menschenrechte für ihn Ausdruck des Respektes zwischen Personen, die akzeptieren, dass jede Person das Grundrecht hat, ein Subjekt der Rechtfertigung zu sein. Sofern die Menschenrechte institutionell also sicherstellen sollen, dass kein Mensch auf eine Weise behandelt wird, die ihm oder ihr gegenüber nicht als moralisch Gleiche(r) gerechtfertigt werden kann, impliziert dies, mit Frost reflexiv gesprochen, dass es einen Grundanspruch gebe, der allen Menschenrechten voraus und zugrunde läge, nämlich der Anspruch, in dem Sinne als autonomes Wesen respektiert zu werden, dass man das Recht hat, nicht bestimmten Handlungen oder Institutionen unterworfen zu werden, die einem gegenüber nicht angemessen gerechtfertigt werden können. Diese reflexive Argumentation hat mehrere Dimensionen, die ich im Folgenden zu entfalten versuche.
Erstens haben Menschenrechte einen gemeinsamen Grund in einem basalen moralischen Recht, dem Recht auf Rechtfertigung. Zweitens liegt die rechtliche und politische Funktion der Menschenrechte darin, dieses Grundrecht sozial effektiv zu gewährleisten, in substantieller und prozessualer Hinsicht. Der substantielle Aspekt besteht in der Aufgabe, Rechte zu formulieren, die angemessene Formen des wechselseitigen Respekts ausdrücken und deren Verletzung zwischen freien und gleichen Personen als nicht rechtfertigbar angesehen wird; der prozessuale Aspekt betont die hierfür wesentliche Bedingung, dass niemand einem System von Rechten und Pflichten, einem rechtlich- politischen Regime, unterworfen werden sollte, an deren Bestimmung er oder sie nicht als autonomes Rechtfertigungswesen partizipieren kann. So schützen die Menschenrechte nicht nur die Autonomie von Personen, sondern sie drücken sie auch aus. Zusammengefasst heißt das, dass jeder normative Anspruch, der gegenüber anderen erhoben wird, auch nach bestimmten Kriterien, wie Reziprozität und Allgemeinheit, gerechtfertigt werden können muss.
Wie diese normativen Ansprüche und Verordnungen, in unserem Falle die konkreten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, in unterschiedlichen Fachdisziplinen und seitens der Politik begründet werden und bis zu welchem Punkt diese Begründungen ausreichen soll Gegenstand der folgenden Darstellung sein.
Begründungsdiskurse
Das Prozedere der Ausarbeitung und Bekanntgabe neuer Maßnahmen durch die Ministerpräsidentenkonferenz mit anschließender Pressekonferenz der Bundeskanzlerin ist mittlerweile bekannt und quasi alltäglich. Nach der Ministerpräsidentenkonferenz am 19. Januar 2021 begründete Bundeskanzlerin Angela Merkel die neuen Maßnahmen mit dem Erfolg der bisherigen Maßnahmen sowie der Notwendigkeit eines präventiven Vorgehens in Anbetracht der drohenden Gefahren durch Mutationen.6
Die harten Schritte würden sich beginnen auszuzahlen, die aktuellen Zahlen des Robert-Koch-Instituts seien Anlass zur Hoffnung, so Merkel. Neue Gefahr drohe allerdings durch Mutationen, noch habe man Zeit „die ganze Gefährlichkeit einzudämmen“7, jetzt müsse gehandelt werden, es sei Zeit der Gefahr, der im Virus stecke, vorzubeugen, um auch um die Krankenhäuser zu schützen. Damit begründet sie die Maßnahmen auch mit Vorsorge, bringt aber außerdem weitere Grundrechte und Verpflichtungen ins Spiel, die geschützt werden müssten und nur mit einem relativ hohen gesundheitlichen Niveau garantiert werden können. So müsse der Rückgang der Ausbreitung durch zusätzliche Maßnahmen deutlich beschleunigt werden zur Vorsorge „für unser Land“8. Dessen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden hat Sie während ihrer Vereidigung am 14. März 2018 vor dem Deutschen Bundestag geschworen.9 Außerdem für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger mit Verweis auf das Grundrecht auf Leben und Gesundheit, sowie für Wirtschaft und Arbeitswelt, welche dem Schutze der Berufsfreiheit wie dem Wohle des Volkes dient.
Trotz steigender Inzidenzzahlen bedingt durch die neuen Virusmutationen einigte sich die Ministerpräsidentenkonferenz vor dem Hintergrund des gefühlten Dauer-Lockdowns und den damit verbundenen Einschränkungen anderer Grundrechte Anfang März auf erste Öffnungsschritte.10 Seitdem steigen die Inzidenzzahlen weiter exponentiell an und die Politik wirkt zunehmend hilflos und uneins über einen gemeinsamen Kurs.11 Einige Ministerpräsidenten sehen die Grundrechte zu stark eingeschränkt und drängen auch Lockerungen, andere Politiker wie der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach fordern einen weiteren harten Lockdown.12
Gerade die bei Einschränkungen notwendigen Verletzungen anderer Grundrechte sind Hauptargument der Kritiker der Corona-Maßnahmen. Problematisch ist vor allem die Legitimität der beschlossenen Maßnahmen, die auf Beschlüssen beruhen, die die Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten trifft. Seit dem Lockdown im März 2020 „sind sieben Monate vergangen und man hat noch immer kein hinreichendes rechtliches Instrumentarium für epidemische Notlagen von nationalem Ausmaß geschaffen“, so der Verfassungsrechtler Hans-Jürgen Papier.13 Er schlägt ein Maßnahmengesetz für den epidemischen Notstand nationalen Ausmaßes vor. Den regionalen Besonderheiten könnte man Rechnung tragen durch Öffnungsklauseln für die Exekutive in den jeweiligen Ländern, so Papier weiter. Ein sogenannter Fahrplan ist mittlerweile samt sogenannter „Notbremse“ seit Anfang März in Kraft, allerdings wird dieser in den Ländern unterschiedlich umgesetzt und die vereinbarte Notbremse zum Teil missachtet. Der frühere Bundesaußenminister Sigmar Gabriel kritisierte in der Sendung „Maybrit Illner“ am 11. März eine schlecht funktionierende Krisenpolitik in Deutschland im Vergleich zu Zeiten des Deutschen Herbstes 1977.14
Aufgaben des Staates in der Moderne
Dies alles lässt die Frage nach der Rolle und den Aufgaben des Staates in der Moderne in den Vordergrund rücken. Fraglich ist hierbei, inwieweit der Staat für die Gesundheit seiner Staatsbürger Verantwortung zu tragen hat und demenentsprechend Maßnahmen, die diesem Zweck dienlich sind, durchzuführen hat. Die politikwissenschaftliche Analyse erlaubt es durch die Unterscheidung von Funktion und Aufgaben, „den modernen Staat auch im Hinblick auf seine Leistungen für die Gesellschaft zu definieren, ihn also nicht auf das Mittel der legitimen Gewaltanwendung zu reduzieren, wie dies Max Weber tat“.15 Generell verfügt der Staat über die sogenannte „Kompetenzkompetenz“16, also die Befugnis über seine eigenen Aufgaben zu bestimmen. Wilhelm von Humboldt ging als liberaler davon aus, dass der Staat keinen Sinn in sich selbst habe, sondern der Mensch, beziehungsweise „die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“17, der höchste Zweck sei dem der Staat zu dienen habe. Die basale Voraussetzung für Leben, Bildung und Entwicklung des Menschen ist seine Gesundheit, insofern lässt sich mit Humboldt Gesundheit als eine Staatsaufgabe definieren. Historisch betrachtet wurde der Bereich der Gesundheit so gut wie immer dem Staat als Kompetenz zugeschrieben. Im Absolutismus, der Zeit des größten Ausmaßes der Staatstätigkeit, zählte Gesundheitsvorsorge selbstverständlich als sozialpolitische Tätigkeit. Selbst zur Zeit der Deregulierungen im liberalen Staat des 19. Jahrhunderts erließ der Staat Regelungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz.18 Im Konzept des modernen Wohlfahrtsstaates gehört der Bereich der Gesundheitsvorsorge in allen Idealtypen nach Esping-Andersen zur ältesten Aufgabe der Sozialpolitik.19 Damit herrscht in der Wohlfahrtsstaatsforschung Konsens darüber, dass Gesundheit ein öffentliches Gut ist und dass auch alle anderen sozialen Bürgerrechte erst für gesunde Bürger ihren Wert entfalten.20 Zur Untersuchung und Beschreibung von Gesundheitssystemen wird meist die Form ihrer Finanzierung herangezogen, dabei wird zwischen steuer- und beitragsfinanzierten Systemen unterschieden. Damit wird deutlich, dass das Wohlergehen der Menschen als Hauptzweck des Staates quasi unisono anerkannt wird. Gesundheit und Leben sind als erste Voraussetzung für das Wohlergehen des Menschen zu sehen, insofern wird der Schutz des Lebens und der Gesundheit allgemein als Staatsaufgabe definiert.
Rechtfertigung über die Menschenrechte
Juristisch lässt sich diese Staatsaufgabe aus der Determination in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte rechtfertigen. So greift der Politikwissenschaftler und Menschenrechtler Michael Krennrich auf die Menschenrechte zurück und versucht mit diesen in seinem Artikel „Gesundheit als Menschenrecht“ in der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ eine Rechtfertigung für die Einschränkungen zu liefern.21 Er beruft sich dabei auf das Menschenrecht auf Gesundheit, welches in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 als Teil des Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard zu finden ist. Die Grundidee des Menschenrechts auf Gesundheit sei es, dass der Staat, als vorrangiger Träger menschenrechtlicher Pflichten, die Gesundheit der Menschen nicht beeinträchtige, diese vor Eingriffen schütze und Maßnahmen ergreife, damit die Menschen gesunde Lebens- und Arbeitsbedingungen vorfänden. Es berechtige jeden Menschen ein für ihn erreichbares Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit zu erlangen. Im zweiten Teil seines Aufsatzes bezieht er dies auf die aktuellen Einschränkungen und betont dabei, dass das Recht auf Gesundheit kein absolutes Recht sei und somit selbst Einschränkungen unterworfen werden könne. Ob die Maßnahmen dem Gesundheitsschutz dienen und als angemessen beurteilt werden könnten sei deshalb in einem demokratischen Rechtsstaat immer wieder gewissenhaft zu prüfen.22
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1 Im Dezember 2019 wurden die ersten Fälle in Wuhan, China bestätigt. Vgl.: https://www.nytimes.com/article/coronavirus-timeline.html; abgerufen am 30. März 2021
2 Zur grundlegenden Einführung vgl. Holzkamp: Grundlegung der Psychologie (1983).
3 Vgl. Markard: Kritische Psychologie und ihr Verhältnis zur kritischen Theorie (2016).
4 Abrufbar als Resolution der UN-Generalversammlung unter: https://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf; abgerufen am 30.03.2021
5 Vgl. Forst: Das Recht auf Rechtfertigung – Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit (2007).
6 Die Mitschrift der Pressekonferenz mit Merkel, Müller und Söder ist abrufbar unter: https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/pressekonferenz-von-bundeskanzlerin-merkel-buergermeister-mueller-und-ministerpraesident-soeder-nach-der-besprechung-der-bundeskanzlerin-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-1841090; abgerufen am 30.03.21
7 Ebd.
8 Ebd.
9 Plenarprotokoll vom 14. März 2018. Abrufbar unter: https://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/19/19019.pdf, S. 1596; abgerufen am 30.03.21
10 Beschluss der Videoschaltkonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 3. März 2021. Abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/997532/1872054/66dba48b5b63d8817615d11edaaed849/2021-03-03-mpk-data.pdf?download=1; abgerufen am 30.03.21
11 Zu den Unstimmigkeiten zwischen Merkel und den Ministerpräsidenten siehe z.B.: https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/bund-laender-streit-ueber-corona-politik-101.html; abgerufen am 30.03.21
12 https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-in-deutschland-karl-lauterbach-fordert-letzten-harten-lockdown-a-19f44d79-a1c7-4cc7-ad30-521d040cdc98; abgerufen am 30.03.21
13 Zit. nach Mai: Über welche Governance Strukturen sollte der Vorsorgestaat verfügen? (2020).
14 Sendung in der ZDF-Mediathek abrufbar unter: https://www.zdf.de/politik/maybrit-illner/priorisieren-statt-improvisieren-warum-scheitern-die-deutschen-sendung-vom-11-maerz-2021-100.html; abgerufen am 01.04.21
15 Benz: Der moderne Staat (2011), S. 216.
16 Ebd.
17 Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1851 1976), S. 22.
18 Benz: Der moderne Staat (2011), S. 213.
19 Vgl. Esping-Andersen: The Three World of Welfare Capitalism (1990).
20 Kühn: Europäische Wohlfahrtsstaaten – Eingebettet zwischen Staat, Markt und Familie (2016), S. 72.
21 Krennrich: Gesundheit als Menschenrecht (2020), S. 22-27.
22 Vgl. Ebd.
- Quote paper
- Anonymous,, 2021, Begründungs- und Rechtfertigungsdiskurse im Zusammenhang mit Einschränkungen in Folge der COVID-19 Pandemie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1127835
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