Entwicklungsphilosophie. Geschichte, Rhetorik, Politik

Hat Entwicklung eine Zukunft?


Essay, 2021

15 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Essay: Hat Entwicklung eine Zukunft?

„Vermag der Mensch die Phänomene, deren Gesetze er kennt, nahezu sicher vorauszusagen; vermag er selbst dann, wenn er sie nicht kennt, anhand der Erfahrung aus der Vergangenheit die Ereignisse der Zukunft mit großer Wahrscheinlichkeit vorherzusehen: warum sollte man es dann noch für ein phantastisches Unterfangen halten, das Bild der künftigen Geschicke des Menschengeschlechts nach den Ergebnissen seiner bisherigen Geschichte mit einiger Wahrscheinlichkeit zu entwerfen?“ (Corndorcet 19631793: 345)

Der vorliegende Essay verfolgt das Argument, dass Entwicklung - qua dem unserer Zeit zugrundelie­gendem linearen Geschichtsverständnis - eine Zukunft besitzt. Fraglich ist jedoch, welche Qualität diese Zukunft besitzen wird. Es folgt ein Plädoyer für eine Entwicklungspolitik, die sich an mehr als an wirtschaftlicher Entwicklung und pro Kopf Einkommen orientiert, indem sie die Entwicklung menschlicher Fähigkeiten in den Fokus rückt und neue Wege zur Verbesserung menschlicher Lebens­qualität geht (vgl. Nussbaum 2011). Um die Gegenwart und die Zukunft von Entwicklung zu verste­hen, müssen wir jedoch ihre Vergangenheit kennen. Beginnend in der Zeit der Aufklärung (18. Jahr­hundert) begleitet der Entwicklungsbegriff die Moderne bis zum heutigen Tag. Der Aussage Michel Foucaults „Wir müssen auch die historischen Bedingungen kennen, die eine bestimmte Art der Be­griffsbildung motivieren. Wir brauchen ein geschichtliches Bewusstsein für die Situation, in der wir leben“ (Foucault 2013: 241) folgend, verfolgt meine Ausführung einen genealogischen Ansatz, indem zunächst der historische Kontext der Entwicklungspolitik nachgezeichnet wird um am Ende ein Resü­mee bezugnehmend auf die Frage nach der Zukunft von Entwicklung auszusprechen.

Entwicklungsrhetorik: Asymmetrische Gegenbegriffe - Aufklärung - Trumans Point-IV

Asymmetrische Gegenbegriffe

Der Grundgedanke der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) basiert auf der Annahme, die Welt sei aus zweierlei Holz geschnitzt, wobei das eine Stück wohlgeformt und fertig bearbeitet ist und das andere Stück noch der ein oder anderen strukturellen Überarbeitung und Lasur vom Meister bedarf. Allseits bekannt ist mittlerweile die Aufteilung der Welt in unterentwickelte und entwickelte Länder. Erstere - so die Weltsicht der zweiten Gruppe - benötigen Entwicklungshilfe von Experten, die ihr Wissen top­down zur Verfügung stellen (vgl. Lepenies 2008: 202; Lepenies 2009: 33). Neben Geldleistungen ist es vor allem der Wissenstransfer (Lepenies 2009: 35) der helfen soll, einen Transformationsprozess einzuleiten, der „als ein gradueller Übergang vom Zustand der Unterentwicklung hin zur Entwickelt­heit, in anderen Worten, als ein Anpassungsprozess an die Gegebenheiten der weiter fortgeschrittenen Gesellschaften“ (ebd.: 34) dienen soll. Die von oben (IWF; Weltbank, BMZ; GIZ etc.) gesandten „in­stitutionalisierten Besserwisser“, wie sie Philipp Lepenies (2009: 35) treffend nennt, sollen strukturelle Gegebenheiten - sozialer, politischer oder ökonomischer Natur - in einem anderen Land verändern und damit die Position des Landes auf dem gemeinsamen Entwicklungspfad gen Fortschritt korrigie­ren. Dieses trennende sprachliche Phänomen, Länder in entwickelt und unterentwickelt zu kategorisie­ren, beschreibt Reinhart Koselleck als asymmetrische Gegenbegriffe. Hierzu führt Koselleck (1989) in seinem Buch Vergangene Zukunft aus:

„In solchen Fällen erhebt eine konkrete Gruppe einen exklusiven Anspruch auf Allgemeinheit, indem sie einen sprachlichen Universalbegriff nur auf sich selbst bezieht und jede Vergleichbarkeit ablehnt. Derartige Selbst­bestimmungen treiben Gegenbegriffe hervor, die den Ausgegrenzten diskriminieren [...] so kennt die Geschichte zahlreiche Gegenbegriffe, die darauf angelegt sind, eine wechselseitige Anerkennung auszuschließen. Aus dem Begriff seiner selbst folgt eine Fremdbestimmung, die für den Fremdbestimmten sprachlich einer Privation, faktisch einem Raub gleichkommen kann. Dann handelt es sich um asymmetrische Gegenbegriffe. Ihr Gegensatz ist auf ungleiche Weise konträr. Wie im Alltag fußt der Sprachgebrauch der Politik immer wieder auf dieser Grundfigur der asymmetrischen Gegenbegriffe“ (Koselleck 1989: 212f).

Ideengeschichtliches Fundament: Zivilisations- und Fortschrittsphilosophie des 18. Jahrhun­derts (Aufklärung)

Die von Koselleck beschriebene Schaffung konträrer Wortpaare, die vor allem politisch gesehen bis heute der Teilung von Bevölkerungsgruppen dient, blickt im Entwicklungskontext auf eine sehr lange Tradition zurück. Die ideengeschichtlichen Wurzeln der heutigen Entwicklungshilfe - sowohl mit Be­zug auf ihre ihre Rhetorik, Theorien, Politik als auch Praxis - finden sich in der Zivilisations- und Fortschrittsphilosophie des 18. Jahrhunderts (vgl. Lepenies 2009: 34). Zwei Autoren der Aufklärung nahmen hierbei eine zentrale Rolle ein. Mit den bahnbrechenden Gedanken der zentralen Aufklärer Adam Ferguson (1767) und Marquis de Condorcet (1793) lassen sich viele Phänomene der Moderne mit Blick auf ihren Ursprung sowie auf ihre Persistenz noch immer erklären. Während sich Ferguson in Essay on the History of Civil Society im Jahre 1767 für ein lineares Zeitverständnis aussprach setzte Condorcet im Jahre 1793 noch die Kirsche auf das Sahnehäubchen, in dem er die Welt in - nous -, Fortgeschrittene und - eux -, weniger Fortgeschrittene, unterteilte. Diese Unterteilung war die erste Voraussetzung für die später entstehende und bis heute fortwährende Entwicklungshilfe:

„[...] es besteht kein Zweifel, daß [sic!] der Augenblick nahe ist, da wir uns diesen Völkern nicht länger als Verderber und Tyrannen zeigen, sondern ihnen nützliche Helfer und edelmütige Befreier sein werden“ (Condorcet 1963[1793: 351).

An anderer Stelle führt er fort: „In diesen unermeßlichen Ländern wird es zahlreiche Völker geben, die anschei­nend nur darauf warten, von uns die Mittel zu erhalten, die sie zu ihrer Zivilisation benötigen, die hoffen, in den Europäern Brüder zu finden, um deren Freunde und Schüler zu werden“ (ebd.: 353).

Die Geschichtswissenschaft unterschiedet zwischen zwei Zeitverständnissen, die sich maßgeblich in ihrer Sicht auf die Zukunft unterscheiden. Das zyklische Zeitverständnis geht von einer universellen Wiederkehr des Gleichen aus und steht im Lichte einer pessimistischen Zukunft. Das lineare Zeitver­ständnis geht von einem gradlinigen und nicht wiederholenden Zeitgeschehen aus, wobei das Bild von Zukunft von Optimismus geprägt ist. Im Zuge der Aufklärung manifestierte sich die zukunftsorien­tierte Annahme, dass „für die gesamte Menschheit ein einziger Entwicklungspfad angenommen wer­den [kann], auf dem sich alle Gesellschaften zu befinden schienen und dessen Verlauf man für alle Gesellschaften als identisch annahm“ (Lepenies 2009: 50.) In Verbindung mit Ferguson, der wie be­reits angedeutet, von einem linearen Geschichtsverständnis ausging, lassen sich noch heute geltende Entwicklungslogiken feststellen. So sprach Ferguson von rude nations, welche sich im Entwicklungs­verlauf an den polished nations orientieren müssen, um genau so fortgeschrittenen und zivilisiert zu werden wie ihre Gesellschaften.

Startpunkt moderner Entwicklungspolitik: Harry S. Trumans Point-IV-Programm

Die Welt 150 Jahre später: Die Vereinigten Staaten haben einen Krieg gewonnen und teilen sich den Erdball zusammen mit der Sowjetunion. Im Nachkriegsamerika, genauer am 20. Januar 1949, hält der damalige Präsident Harry S. Truman seine Inaugurationsrede, in der er über die globalen Herausfor­derungen und Aufgaben der US-Außenpolitik zu Zeiten des Kalten Krieges spricht. Mit seinem Point- IV-Programm stellt er die Weichen für die moderne Entwicklungspolitik (so wie wir sie bis heute kennen), indem er sagt:

„We must embark on a bold new program for making the benefits of our scientific advances and industrial progress available for the improvement and growth of underdeveloped areas. More than half the people of the world are living in conditions approaching misery. Their food is inadequate. They are victims of disease. Their economic life is primitive and stagnant. Their poverty is a handicap and a threat both to them and to more prosperous areas. For the first time in history, humanity possesses the knowledge and skill to relieve suffering of these people. The United States is preeminent among nations in the development of industrial and scientific techniques. The material resources which we can afford to use for assistance of other peoples are limited. But our imponderable resources in technical knowledge are constantly growing and are inexhaustible.“

Die Rede Trumans liest sich wie ein modernes Pamphlet von Condorcet und Ferguson. Damit die underdeveloped areas ein besseres Leben führen können und ihre Position auf dem gemeinsamen und als linear verstandenen wirtschaftlichen Wachstumspfad verbessern, bedarf es eines Wiederaufbau­programmes der Vereinigten Staaten in Zusammenarbeit mit anderen Fortschrittsnationen (wir erin­nern uns an Condorcet: nützliche Helfer; edelmütige Befreier) für diese Länder. Dieses auf die Ent­wicklung aller armen Länder - das Programm war auf keine Region beschränkt - abzielende Pro­gramm, soll den Transfer von technischem Wissen und anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen der hoch industrialisierten Länder (Ferguson: polished nations) an die primitiven Volkswirtschaften (und weiter Ferguson: rude nation s) dieser Erde gewährleisten. „Die von Truman vorgebrachten Argumente sind keine historischen Episoden geblieben, sondern prägen bis heute die offizielle Entwicklungsrhe­torik (Lepenies 2009: 36). Im Zuge der schwinden 1940er Jahre und mit dem Point-IV-Programm entwickelten sich verschiedene Praktiken und Theorien, die bis heute noch Gültigkeit besitzen.

Revolutionäre Paradigmenwechsel: 70 Jahre Entwicklungsgeschichte

Innerhalb der vergangenen siebzig Jahre kam es in der Entwicklungspolitik zu interessanten Paradig- menwechseln. Die Begriffe Paradigma und Paradigmenwechsel prägte der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn in seinem Werk Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962). Ein Paradigma besitzt die Eigenschaften „allgemein anerkannte[r] wissenschaftliche[r] Leistungen, die für eine ge­wisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten massgebende Probleme und Lösungen liefern“ (Kuhn 1962: 10) zu sein. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Entwicklung war und ist geprägt von miteinander konkurrierenden Denkmustern über die grundlegenden Probleme und Methoden zur Re­duktion von Armut. Jedes Paradigma durchläuft nach Kuhn einen Lebenszyklus, wobei es in unregel­mäßigen Abständen zu Paradigmenwechseln kommt und ein Denkmuster das andere ersetzt (= revo­lutionärer Paradigmenwechsel).

Wachstum und Entwicklung

Beginnend in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der Point-IV-Agenda Trumans, wird Wirtschaftswachstum fortan als Synonym für Entwicklung verstanden (vgl. Trefs/Lepenies 2009: 1). Die Formel Entwicklung durch Wachstum stützte sich auf „das gerade neu entwickelte Instrumenta­rium der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung“ (vgl. ebd.). Im Laufe des Zweiten Weltkrieges setzte sich das Bruttosozialprodukt (BSP) aufgrund der neuen Bedingungen des Krieges gegen die bis dato vorherrschende Volkseinkommensberechnung, die auf den Nobelpreisträger Simon Smith Kuznets zu­rückgeht, durch. Wirtschaft wurde nach dem Krieg komplett neu und im keynesianischen Sinne inter­pretiert. Darum unterschieden sich beide Ansätze in einem sehr entscheidenden Punkt: Der Rolle des Staates. Erarbeitet von Milton Gilbert (einem Schüler Kuznets') und dem Department of Commerce (DoC), löste das Bruttosozialprodukt die Volkseinkommensberechnung „endgültig als Hauptstatistik zur Analyse der wirtschaftlichen Lage ab“ (Lepenies 2013: 110). Durch den neuen „Produktionsfokus“ (Lepenies 2013: 22) wurde das Konzept des Bruttosozialproduktes politisch relevant und fand auch in der Entwicklungspolitik Einzug.

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Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Entwicklungsphilosophie. Geschichte, Rhetorik, Politik
Untertitel
Hat Entwicklung eine Zukunft?
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
15
Katalognummer
V1128098
ISBN (eBook)
9783346491497
ISBN (Buch)
9783346491503
Sprache
Deutsch
Schlagworte
entwicklungsphilosophie, geschichte, rhetorik, politik, entwicklung, zukunft
Arbeit zitieren
Luise Köcher (Autor:in), 2021, Entwicklungsphilosophie. Geschichte, Rhetorik, Politik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1128098

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