Handschriftenkultur und Medialität im Mittelalter


Seminararbeit, 2008

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort

2. Medien im Mittelalter
2.1. Binnenöffentlichkeiten
2.2. Menschmedien, Schriftmedien und mediale Funktionen

3. Die mittelalterliche Handschrift
3.1. Technische Implikationen
3.2. Kulturelle Implikationen

4. Nachwort

1. Vorwort

Die Medialität des Mittelalters steht unter einem seltsamen Licht – beinahe so wie das gesamte Zeitalter. Von der Vorstellung, das Mittelalter habe so recht gar keine Medien besessen, bis zum beliebten Kunstgriff, alles als „Medien, irgendwie“ in einen Topf zu werfen, geistert so einiges durch Köpfe und Literatur.

Dabei bedarf es zur Betrachtung, zum Verständnis mittelalterlicher Medien einfach anderer Prämissen. Dass das Mittelalter Medien kennt, ist unbestreitbar. Aber aus unserer heutigen Sicht, da wir täglich und unbewusst völlig selbstverständlich mit den verschiedensten Tertiärmedien hantieren, wirken Dinge wie „Menschmedien“ oder der Besitz eines einzigen Buches (wenn überhaupt!), das ein Leben lang immer wieder laut zur Erbauung deklamiert wird, natürlich fremd. Dabei sind Menschmedien publizistisch betrachtet nichts anderes als Primärmedien, also solchen, die zu ihrer medialen Vermittlung keiner Technik (im engeren Sinne) bedürfen. Sekundärmedien sind demnach jene, die zu ihrer Produktion Technik, und Tertiärmedien diejenigen, die zu Produktion und Rezeption Technikeinsatz benötigen.[1]

Eben weil im Mittelalter Oralität die vorherrschende Kommunikationsform war, kommt den „Menschmedien“ bei einer medientheoretischen Betrachtung dieser Epoche besondere Aufmerksamkeit zu. Dieser Rang wurde ihnen aber im Laufe des Mittelalters mehr und mehr, zu Ende desselben gar exponentiell abgelaufen. Das ist just der Punkt, an dem diese Arbeit einhakt: in diesen höchst relevanten Medienwechsel, den die mittelalterliche Handschrift bedeutete. Dieser war weder so abrupt, wie sie die sogenannte „erste Leserevolution“ glauben machen könnte, noch führte er kontinuierlich-linear von einer Sprech- zur Schriftkultur.

Der Handschrift als mediengeschichtlich einzigartigem Phänomen soll hier daher der Fokus gewidmet werden. Dabei werden Überschneidungen und Querverweise zu anderen Medien des Mittelalters natürlich nicht zu vermeiden sein. Auch die gesellschaftliche Konstellation, die mit ihren meist sehr sauber voneinander getrennten Binnenöffentlichkeiten völlig anders aussieht als heute, wird Beachtung finden müssen. Doch soll die Entstehungsgeschichte, die technische wie kulturelle Verfügbarkeit, sowie die Rolle der Handschrift als gleichsam riesiges, höchst flexibles Scharnier am Scheideweg zwischen Keilschrift und Mnemotechnik auf der einen, sowie Buchdruck und Telekommunikation auf der anderen Seite im Mittelpunkt stehen. Man sollte dabei nicht vergessen, dass die Handschrift im Mittelalter fast ausschließlich das Buch bedeutete. Handschriften waren Bücher. Wie mit diesem Medium umgegangen wurde, ist schon allein deshalb zentral; die Bedeutung des Buches als solches ist unbestreitbar, historisch ohnehin, aber auch noch in unserem heutigen Zeitalter. Ein kurzer Ausblick, wie die Handschrift noch heute genutzt wird, soll die Ergebnisse abrunden.

2. Medien im Mittelalter

Kommunikation findet im Mittelalter natürlich in erster Linie personal statt. Das bedeutet aber nicht, dass es sich dabei um ein komplett unmediales Phänomen handelt; der Medienbegriff – der übrigens auch heute kaum als klar definiert gelten dürfte – muss nur präzisiert bzw. perspektivisch verschoben werden. Dabei sind zwei Bedingungen entscheidend: erstens bedarf es zur Betrachtung der mittelalterlichen Gesellschaft, mit ihren drei Ständen (oratores, bellatores uns laboratores, also Betende, Kriegführende und Arbeitende) sowie ihren sehr sauber voneinander zu trennenden Teilöffentlichkeiten, eines sehr differenzierten Blickwinkels. Und zweitens muss der Unterschied zwischen höfischer Rolle mit bloßer medialer Vermittlungsfunktion und genuinem Medium mit strukturell-konstitutiver Wirkung beleuchtet werden.[2]

2.1. Binnenöffentlichkeiten

Die mittelalterliche Gesellschaft ist weder so individuell noch so pluralistisch gestaltet wie die unsere. Auch wenn schon Individuationsprozesse festzustellen sind, die unter anderem auch in der medialen bzw. kulturell-literarischen Entwicklung zu verorten sind, bleibt sie „kollektiven Vergesellschaftungsformen und Denkmustern verpflichtet“.[3] Auch waren die Menschen außerordentlich stark jenseitsgerichtet, die Existenz wurde heilsgeschichtlich betrachtet: für ein anständig gelebtes Dasein auf Erden, so anstrengend und entbehrend es auch sein mochte, winkte das ewige Leben im Jenseits. Der Mensch wurde im Wesentlichen als „Medium Gottes“ betrachtet, der dessen Wirken und Gestalt auf Erden verkörpern sollte.[4] Dieses Spannungsverhältnis diesseits- und jenseitsgerichteter Interessen spiegelt sich auch in den mittelalterlichen Binnenöffentlichkeiten wider: die mittelalterliche Gesellschaft lässt sich in sehr spezifische und im allgemeinen auch hermetische Teilöffentlichkeiten einteilen. Dabei stand der Hof einerseits Kloster und Amtskirche gegenüber, andererseits dem Land bzw. im späteren Mittelalter auch der Stadt (und somit teilweise der Universität). Im ersten Verhältnis bildet sich das Spannungsfeld zwischen weltlicher und kirchlicher Herrschaft ab: das Seilziehen zwischen Kaiser und Papst, zwischen Fürsten und Bischöfen, zwischen der herrschaftlichen Organisation nach Vernunftregeln aus dem Diesseitigen und dem Jenseitigen, wobei weltliche Herrscher durchaus sehr fromm sein und kirchliche durchaus sehr profane Interessen verfolgen konnten, prägte jahrhundertelang die politische und gesellschaftliche Situation. Die Amtskirche selbst hatte sich wiederum nicht selten gegen Zentrifugalkräfte seitens der teils sehr selbstbewussten Klöster zu erwehren, die besonders durch die Ausbildung ihrer Skriptorien[5], aus der sich später regelrechte Ausbildungsstätten bildeten, in ihrer Autorität gefestigt wurden.

Das Land, in dem über 90 % der Bevölkerung lebten, setzt sich noch einmal davon ab. Hier nimmt das Buch, das auch in einer zunächst weitgehend analphabetischen Adelsgesellschaft noch eine untergeordnete Rolle spielt, eine völlig randständige Erscheinung ein. Auf das Dorf mit seinen Bauerspielen, Volksbräuchen und Festen trifft wieder ein anderer Medienbegriff zu, der auch durch den Terminus „Menschmedium“, wie er sich im Erzähler, Schauspieler oder Sänger verbirgt, nicht mehr vollständig abgedeckt wird. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen „Kultur-Technik“ und „Medium“ vollends. Es ist daher fruchtbarer, näher auf diejenigen medialen Entwicklungen einzugehen, die vor allem in Hof und Kirche die Handschriftenkultur begleiteten und schließlich im Buchdruck kulminierten.

2.2. Menschmedien, Schriftmedien und mediale Funktionen

Kommunikation, aber auch Information, Bildung, Unterhaltung und Speicherung laufen in der mittelalterlichen Gesellschaft vor allem über personelle Strukturen ab. Daher kommt den höfischen Rollen, die über ein komplexes, komplementäres Gefüge aus Repräsentation, Performanz und Partizipation Verhaltensmuster und Regeln definieren, deren (Rechts‑)Gültigkeit noch nicht hinreichend gesichert (codifiziert) ist, entscheidende Bedeutung zu. Durch die öffentliche Demonstration – etwa von Machtinsignien, Werten und genau definierten Regeln – im alltäglichen Auftreten (Kleidung, Mimik und Gestik, Etikette) wie in festiven Spielen (Turniere, Hoftag), an denen in direkter Nachahmung gelernt wird, wird Einzuhaltendes tatsächlich, also „wahr“ gemacht.[6] Insofern war das Lernen in dieser mindestens semioralen Gesellschaft in erster Linie durch Teilhabe und Nachahmung bestimmt. Das prunkvolle Gehabe, die opulenten Ausstattungen sollten dabei nicht nur Hören und Sehen, sondern alle Sinne affizieren. Mittelalterliche Rezeption war also weniger von intellektueller Durchdringung als vielmehr von möglichst synästhetischer Wahrnehmung bestimmt.[7]

Allerdings wurden diese höfischen Rollen nach und nach durch neue dominante Medien funktional überlagert. Die Schriftkultur bahnte sich ihren Weg. Dabei ist jedoch entscheidend, dass frühes Schrifttum zunächst als verbale Verständigung intendiert war, in der eine face-to-face-Kommunikation fingiert wurde. Auch hier hatte situatives Verstehen Vorrang.[8] Daher waren die Bücher auch weitaus reicher ausgestattet als heute. Die prachtvollen Einbände aus Gold und Leder, das Spiel aus schmuckem Schriftbild, das von kunstvollen Initialen und Ligaturen durchzogen ist, die herrliche Bebilderung ist also nicht nur dem kultischen, monumentalen Charakter des Buches geschuldet. „Hören und Sehen sind die wichtigsten Wahrnehmungsmöglichkeiten im Prozeß der Erziehung als Partizipation; Hören und Sehen spielen deshalb auch in der Literatur, die eingelassen wird in eine überwiegend mündlich geprägte Gesellschaft, eine dominierende Rolle.“[9] Die Bilder sind also nicht als auxiliarer Bilderteil für Illiteraten oder simple Illustration zu verstehen, sondern dokumentieren den bleibenden Bedarf an eine bildliche Darstellung. „So ist im Bild zu sehen, was geschrieben steht, aber nicht zu verstehen, was man sieht ohne den Kommentar der Schrift.“[10]

Natürlich gelten all diese Feststellungen primär für eine privilegierte Gesellschaftsgruppe, nämlich den Adel; dass für den Klerus und vor allem der prozentual weitaus größten Gruppe, dem Volk, in Bezug auf den Medienbegriff anderes galt, haben wir oben gesehen. Nachahmung und Teilhabe bildeten aber generell eine große Rolle. In diesem Zusammenhang sollte auch das „Standardwerk“ der Zeit, der Welsche Gast von Thomasin von Zerklaere – einer Art Knigge oder Leitfaden vor allem für Jungadelige - nicht unerwähnt bleiben.

Nach dieser Einführung in die mittelalterliche Kommunikationskultur wollen wir uns einem konkreteren Medienbegriff zuwenden. Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass die hier gewählte, von Werner Faulstich übernommene Klassifikation in der Forschung umstritten ist: dem Begriff des Menschmediums wird oftmals die (wesentlich McLuhansche) Extensionsthese entgegengehalten. Geht man von einer Exkorporation der Vermittlungsinstanz als einer Vorraussetzung für den Medienbegriff aus, wird die These des Menschmediums natürlich unhaltbar. Der Terminus erscheint mir aber trotz des begründeten Wohlwollens, der einem techne- orientierten Medienbegriff entgegengebracht wird, klassifikatorisch hilfreich. Denn die oben angedeutete Unterscheidung zwischen Medium und inkorporierter medialer Funktion ist auch für das Mittelalter unabdingbar; aber sie ist nicht hinreichend geeignet, um dessen personale Kommunikationsstrukturen befriedigend zu kategorisieren.

Die höfischen Rollen illustrieren dieses Spannungsfeld. Fürsten, Damen, Ritter und Knappen übernehmen in der instabilen mittelalterlichen Gesellschaft, in der Rechtskategorien nicht hinreichend gesichert sind, ihre jeweils spezifische mediale Vermittlungsfunktion. Bedingt dieses Spannungsfeld aus Repräsentation, Partizipation und Mimesis schon den Alltag, so wird es an den Ritterturnieren und Festen besonders deutlich: in Spielen mit genauestens festgelegtem Reglement wird die feudale Herrschaft in komplementären Rollen manifestiert, indem sie vorgeführt und gelebt wird.[11]

Stellt man diese höfischen Rollen mit ihren medialen Funktionen aber unterschiedslos neben gesellschaftliche Instanzen, die ausschließlich, in ganz anderem Maße und in ganz anderer Qualität mediale Vermittlungsfunktion innehaben, wird die terminologische Präzision eines apparativen Medienbegriffs durch die Verwässerung zeit- und gesellschaftsimmanenter Trennlinien erkauft.

Denn der Narr, um nicht länger hinter dem Berg zu bleiben, leistet mehr als eine bloße mediale Funktion. Als Unterhaltungs-, aber auch Korrektivmedium, das sich einzig und allein dieser Aufgabe widmet, übernimmt er mehr als nur eine weitere höfische Rolle. Als Spaßmacher trug er Märchen, Fabeln, Verse, Anekdoten und Lieder vor, er gab Rätsel auf, war Akrobat, Grimassenschneider, Clown, Mime, Tänzer, Sänger und Musiker in einer Person; aber er galt auch als soziales Regulativ, das dem Herrscher sozusagen seinen idealen Antitypus, aber auch den Spiegel vorhalten konnte, und zwar nicht nur implizit: viele Narren konnten sich ihrem Herren gegenüber einiges erlauben. Ganz anders als der in Konventionen eingezwängte Hofstaat, der aber auch innerhalb der repräsentativen Konstellation noch ganz andere handfeste Aufgaben zu erfüllen hatte, als den ganzen Tag „Mätzchen mit message“ zu machen, wie etwa Kinder gebären oder Krieg führen. In dieser außerordentlichen Position kann man gar nicht anders, als dem Narren eine mediale Sonderstellung einzuräumen: er war ein Menschmedium. Auch in der historisierenden Perspektive kann der Menschmedienbegriff helfen, medientheoretische Unterschiede auszumachen. Diese lassen sich etwa leicht an der Entwicklung vom Geschichte(n)erzähler zum Geschichte(n)schreiber ablesen. Der Historiograph, ab 1100 zunehmend von Fürsten eingesetzt und beauftragt, übernimmt kraft seines Amtes die Vermittlungsfunktion für ein (im Übrigen ebenfalls heilsgeschichtlich ausgerichtetes) Geschichtsverständnis, das die mittelalterliche Weltanschauung stabilisiert. Der Hofsänger berichtet von der Welt und längst vergangenen Zeiten, von Göttern, Helden und Kriegern, von Völkern und Geschlechtern. Er ist aber nicht selbst der Autor, der seine (in der mittelalterlichen Vorstellung natürlich wiederum von Gott eingegebenen) Gedanken „zu Papier bringt“, sondern er überträgt in einer komplizierten Mnemotechnik aus Versatzstücken, Formeln und Topoi seine Geschichten in das Hier und Jetzt. Auch hier ist also ein signifikanter medienperformativer Unterschied festzustellen, der nur noch unzureichend in der gemeinsamen Feststellung einer medialen Funktion aufgehoben ist. Vielmehr findet eine zunehmende Überlagerung statt, von einer oral-personal geprägten Medienkultur hin zu einer schriftlich-administrativ organisierten.[12]

[...]


[1] Zur Umstrittenheit dieser These siehe 2.2.

[2] Vgl. a. Werner Faulstich: Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter. Göttingen 1996, S. 7 ff.

[3] Werner Röcke und Ursula Schaefer: Vorstellungen vom Text, von der Welt und vom Ich: Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Mündlichkeit – Schriftlichkeit – Weltbildwandel. Tübingen 1996, S. 1-8.

[4] Vgl. Ursula Schaefer: Individualität und Fiktionalität, in: Röcke/Schaefer, S. 50-70; S. 53 f.

[5] klösterliche Schreibstuben

[6] Vgl. Faulstich, S. 39 ff.

[7] Vgl. Horst Wenzel: Partizipation & Mimesis, in: Hans-Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M. 1988, S. 178-202; S. 178 ff.

[8] Vgl. ebd.

[9] Ebd., S. 189

[10] Ebd., S. 193

[11] Faulstich, S. 40.

[12] Vgl. Faulstich, S. 32 ff.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Handschriftenkultur und Medialität im Mittelalter
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Medienwissenschaftliches Seminar)
Veranstaltung
Momente der Mediengeschichte
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
21
Katalognummer
V112874
ISBN (eBook)
9783640125531
ISBN (Buch)
9783640126392
Dateigröße
461 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Handschriftenkultur, Medialität, Mittelalter, Momente, Mediengeschichte
Arbeit zitieren
Bruno Desse (Autor:in), 2008, Handschriftenkultur und Medialität im Mittelalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112874

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Handschriftenkultur und Medialität im Mittelalter



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden