Die sozialdemokratische Volkspartei Deutschlands? Eine empirische Analyse zum Volksparteistatus der SPD nach der Bundestagswahl 2017


Tesis (Bachelor), 2021

64 Páginas, Calificación: 1,3

Anónimo


Extracto


Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Forschungsstand

3. Volksparteitypologien
3.1. Typologie nach Otto Kirchheimer – Die Catch-All-Party
3.2. Typologie nach Peter Lösche – lose verkoppelte Anarchie

4. Forschungsgegenstand und Hypothesen
4.1. Forschungsgegenstand
4.2. Hypothesen

5. Methodik und Daten
5.1. Soziale Heterogenität SPD-Wählende
5.2. Soziale Heterogenität der SPD-Mitglieder
5.3. Soziale Heterogenität der MdB der SPD-Fraktion
5.4. Stimmenmaximierung
5.5. Koalitions-und Kompromissfähigkeit

6. Analyse: Ist die SPD noch eine Volkspartei?
6.1. Soziale Heterogenität der SPD-Wählenden
6.2. Soziale Heterogenität der SPD-Mitglieder
6.3. Soziale Heterogenität der MdB der SPD-Fraktion
6.4. Stimmenmaximierung
6.5. Koalitions- und Kompromissfähigkeit

7. Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Indikatoren der lose verkoppelten Anarchie

Tabelle 2: Proportionalitätsquotient Altersgruppen SPD-Mitglieder

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Verteilung formaler Bildungsabschluss SPD- und Gesamtwählende

Abbildung 2: Verteilung Alterskategorien SPD-Wählende und Gesamtwählende

Abbildung 3: Verteilung des Geschlechts SPD-Wählende und Gesamtwählende

Abbildung 4: Verteilung Konfession SPD-Wählende und Gesamtwählende

Abbildung 5: Verteilung formaler Bildungsabschluss SPD-Mitglieder und Bevölkerung

Abbildung 6: Verteilung Alterskategorien SPD-Mitglieder und Bevölkerung

Abbildung 7: Verteilung des Geschlechts SPD-Mitglieder und Bevölkerung

Abbildung 8: Verteilung der Konfession SPD-Mitglieder und Bevölkerung

Abbildung 9: Verteilung formaler Bildungsabschluss MdB und Gesamtbevölkerung

Abbildung 10: Verteilung Alterskategorien MdB und Gesamtbevölkerung

Abbildung 11: Verteilung Geschlecht MdB und Gesamtbevölkerung

Abbildung 12: Verteilung der Konfession MdB und Gesamtbevölkerung

Abbildung 13: Stimmenanteile der SPD bei den Bundestagswahlen von 1949 bis

1. Einleitung

Volksparteien haben in der heutigen Zeit einen schweren Stand in der deutschen Politik und Bevölkerung. Während CDU/CSU und SPD als in der Politikwissenschaft stets anerkannte Volksparteien (Mintzel 1984: 49) bis ins Jahre 2005 fast immer Zustimmungswerte erreicht haben, die über 35 Prozent lagen, zeigte sich ab der Bundestagswahl 2009 gerade bei der SPD ein stetiger Verlust des Elektorats. Zwischenzeitlich wurden Stimmen laut, die die SPD als „Volkspartei außer Dienst“ sehen (Hoß 2018), obwohl die älteste Partei Deutschlands derzeit in 11 von 16 Landtagen an der Regierung beteiligt ist und auch an den letzten beiden Bundesregierungen partizipierte (vgl. Abbildung A1; Statista 2021). Interessant ist das Ergebnis einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahre 2020, in welcher den Befragten u.a. die Frage gestellt wurde, welche Parteien sie als Volksparteien sehen (IfD Allensbach 2020). 51 Prozent sagten dabei aus, dass sie die SPD immer noch als Volkspartei verstehen und das, obwohl die Partei im Elektorat stets Stimmen verliert. Wie kann das sein? Es kommt unweigerlich die Frage auf, wie es um den Volksparteistatus der SPD steht. Genau dieser Frage soll hier nachgegangen werden.

Um zunächst aus wissenschaftlicher Sicht definieren zu können, welche Merkmale eine Volkspartei aufweisen muss, wird nach der Vorstellung des Forschungsstandes zur Thematik die Volksparteitypologie nach Otto Kirchheimer (1965) erläutert, welche als die grundlegende Arbeit zu Volksparteien gilt und den Begriff in der Mitte der 1960er Jahre in die Politikwissenschaft einführte (Hofmann 2004: 51). Darauf folgt eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept und eine Darstellung der Typologie nach Peter Lösche, der bestimmte Punkte Kirchheimers diskutierte und eine Erweiterung des Volksparteikonzepts erarbeitete (1993; 2009; Lösche/Walter 1992). Aus dieser Diskussion wird dann die für diese Arbeit grundlegende Definition einer Volkspartei erarbeitet. Darauf folgt die Beantwortung der Frage, ob die SPD als geeigneter Forschungsgegenstand fungieren kann sowie die Aufstellung der nötigen Hypothesen. Kapitel fünf dient der Erläuterung der empirischen Methodik und der genutzten Datengrundlagen. Dabei ist hervorzuheben, dass aufgrund der Verfügbarkeit von Daten der Volksparteistatus der SPD für den Zeitpunkt nach der Bundestagswahl 2017 analysiert wird. Ziel der Arbeit ist es also letztlich, den Volksparteistatus der SPD nach der Bundestagswahl 2017 durch eine empirische Analyse zu klären. Somit lautet die Forschungsfrage dieser Arbeit: „Kann die SPD nach der Bundestagswahl 2017 noch als Volkspartei definiert werden?“. Nach Beantwortung der Forschungsfrage wird dann letztlich die Arbeit mit einem Fazit geschlossen.

2. Forschungsstand

Die vorliegende Arbeit bewegt sich auf dem Forschungsgebiet der deutschen Parteienforschung. Neben der Wahlforschung ist dieses Feld der Politikwissenschaft das mit dem größten öffentlichen Aufmerksamkeitsfaktor, was sich zuletzt an einer großen Zahl von wissenschaftlichen Publikationen aber auch an weiteren Veröffentlichungen an die breite Öffentlichkeit zeigt (Oberreuter/Kranenpohl 2010: 167).

Klassischer Gegenstand ist die Typologisierung der im politischen System agierenden Parteien. Überwiegend sind dabei Verlaufstypologien, die Veränderungen der Parteien im historischen Zeitablauf beschreiben, also diachron arbeiten (Oberreuter/Kranenpohl 2010: 170). Bei dieser Typologisierungsmethode wird von der politischen Vergangenheit der Partei abstrahiert, wobei Indikatoren übersteigert werden, um spezifische Punkte erkennen und vergleichen zu können (Lösche 2009: 6). Dass ein starkes Forschungsinteresse in diesem Bereich besteht, zeigt sich auch an der Fülle von Volksparteitypologien (vgl. Kirchheimer 1965; Wolinetz 1979; Smith 1982; Mintzel 1984; Lösche 1993; Grabow 2000). Als wichtigster Vertreter in diesem Forschungsbereich ist Otto Kirchheimer zu nennen, dessen Veröffentlichung „Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems“ (1965) „[…] als die grundlegende Arbeit [gilt] und […] den Begriff der Volkspartei als Parteitypus in die Wissenschaft [einführte]“ (Hofmann 2004: 51). Er sieht den Aufstieg der Volksparteien als Anpassungsreaktion auf gesellschaftliche Wandlungen wie Säkularisierung, Entideologisierung und Massenkonsum (Wiesendahl 2013: 26). „Kirchheimers Beiträge zur Transformation des westeuropäischen Parteiensystems zählen zu den Meisterwerken der vergleichenden Parteienforschung“ (Schmidt 1989: 172). Daneben gibt es jedoch Forschende, die sich ebenso mit dem Themenfeld beschäftigt haben und als kritische Stimmen wegweisend in der Forschung gelten. Zu nennen ist hier Alf Mintzel (1984), der den Diskussionsverlauf über den Parteitypus Volkspartei seit 1905 bis in die Mitte der 1980er Jahre nachgezeichnet und systematisch eingeordnet hat. Er gilt als „einer der profundesten Kenner der Typuskonstruktion und der Merkmalskombinatorik der Volkspartei […]“ (Hofmann 2004: 71) und erarbeitete auch eine Typologisierung, die er in empirischen Studien zur bayerischen SPD angewandt hat (vgl. Mintzel 1996). Daneben hat Peter Lösche als ebenso anerkannter Parteienforscher seinen Fokus in den 1980er und 90er Jahren auf die Organisationswirklichkeit der SPD gelegt und hierfür eine Typologisierung erarbeitet, die als „lose verkoppelte Anarchie“ (1993) Einzug in die Parteienforschung fand (Hofmann 2004: 75). Mit seinem Essay (Lösche 2009) ging er nochmals auf die Volkspartei ein und unternahm aus seiner Sicht eine Präzisierung der Typologisierung. Darüber hinaus sind gerade in neuerer Zeit insbesondere Forschungen zum Niedergang der Volksparteien nach den deutschen Bundestagswahlen 2005 und 2009 in der deutschen und internationalen Forschung präsent (Lees 2010; Jun 2011; Sloam 2006; Poguntke 2014; Niedermayer 2010; Allen 2009; Grabow 2000). Erforscht werden zum einen die Gründe des Stimmenverlusts sowie Strategien, der Erosion der Volksparteien zu begegnen. Dabei wird aber nicht der Status der untersuchten Parteien als Volkspartei thematisiert. Dieser wird vielmehr vorausgesetzt und ohne empirische Prüfung angenommen, was wohl am wissenschaftlichen Konsens liegt, dass gerade die SPD und die CDU/CSU als klassische Volksparteien des deutschen Parteiensystems gelten (Mintzel 1984: 49).

Auch zur SPD wurden diesbezüglich zahlreiche Publikationen veröffentlicht. Dort werden gerade die Gründe für den Niedergang als Volkspartei sowie Strategien gegen diesen Trend erforscht (Lynen von Berg 2019; Alemann/Spier 2010; Lösche 2009). Jedoch wird auch hier keine empirische Prüfung des Volksparteistatus zu einem definierten Zeitpunkt durchgeführt.

Die Publikationsübersicht der Parteienforschung im Bereich der Volksparteien insgesamt zeigt, dass diachrone Verlaufstypologien den lediglich kategorisierenden Typologien quantitativ stark überlegen sind. Inhaltlich haben sie jedoch das Problem, dass sie den Fokus stark auf den Wandel und den historischen Verlauf der Partei richten und diesen gegebenenfalls auch überzeichnen (Oberreuter/Kranenpohl 2010: 170). Zudem wird stets davon ausgegangen, dass die untersuchten Parteien als Volkspartei zu definieren sind, was für die dortige Forschung auch verzeihbar ist, da gerade nicht das Bestehen eines Volksparteistatus untersucht wird, sondern die Gründe für den Niedergang des Parteitypus. Dies hat jedoch zur Konsequenz, dass gar nicht mehr erforscht wird, inwieweit das theoretische Ideal mit einer real existierenden Volkspartei übereinstimmt (Oberreuter/Kranenpohl 2010: 170). „Angesichts der bestehenden Forschungslage zur Typologisierung erscheint es erfolgsversprechend, die in der vorwiegend diachronen Betrachtung entworfenen Kriterien für eine synchrone Analyse nutzbar zu machen […]“ (Oberreuter/Kranenpohl 2010: 170). Das heißt, dass die in diachronen Volksparteitypologien erarbeiteten Indikatoren, die eine Volkspartei definieren, nicht mehr synchron empirisch überprüft werden, dies aber einen wissenschaftlichen Mehrwert erbringen würde. In dieser politikwissenschaftlichen Forschungslücke liegt auch die wissenschaftliche Relevanz der Arbeit: Es soll der Status der SPD als Volkspartei zum Stand nach der Bundestagswahl 2017 anhand aktueller Daten empirisch erforscht werden. Es wird also nicht der Wandel der SPD im historischen Kontext beleuchtet. Diese Frage ist bereits erschöpfend erforscht. Vielmehr liegt das Forschungsinteresse in der Feststellung des Volksparteistatus der SPD zum Zeitpunkt nach der Bundestagswahl 2017.

3. Volksparteitypologien

Der Parteitypus „Volkspartei“ ist in der Wissenschaft kein eindeutig definierter Begriff. Es werden Synonyme wie Massenpartei, Mitgliederpartei, Großpartei und Kartellpartei verwendet (Lösche 2009: 6). Das folgende Kapitel soll deshalb zunächst zwei Volksparteitypologien erläutern, um den theoretischen Rahmen der Arbeit abzustecken und zu einer analysierbaren Definition zu kommen. Dabei wird Kirchheimers Konzeption als die grundlegende Typologie vorgestellt und Lösches kritische Ausführungen dazu als nötige Anpassung zur Durchführung einer empirischen Analyse.

3.1. Typologie nach Otto Kirchheimer – Die Catch-All-Party

Kirchheimers Aussagen fußen auf den Überlegungen zweier Forscher, die das Problem des Parteienerfolgs bzw. -versagens mit einer neuen Fragestellung erklären wollen. Myron Weiner und Josef La Palombara (1966) gehen davon aus, „[…] dass die soziale Wirklichkeit allen Parteisystemen im Laufe der Zeit gewisse Probleme zur Lösung aufgibt: Schaffung der nationalen Einheit, Errichtung einer Verfassungsordnung, Eingliederung der Gesamtbevölkerung in diese Ordnung und Befriedigung der Bevölkerungswünsche auf Vollbeteiligung an allen zivilisatorischen Errungenschaften“ (Kirchheimer 1965: 20). Für den Erfolg bzw. Misserfolg des Parteiensystems ist entscheidend, dass die Probleme durch die im Parteiensystem agierenden Parteien nacheinander gelöst werden, wobei „[…] das Vermeiden des zeitlichen Zusammenfallens der „Krisen“, die mit der jeweiligen Lösung dieser konkreten Probleme verknüpft sind, […] als eine der Bedingungen für Erfolg oder Mißerfolg für ein Parteiensystem [erscheint]“ (Kirchheimer 1965: 20). Diese Ausgangshypothese ist Kirchheimers Grundlage für seine weiteren Überlegungen. Er sieht mit jedem der genannten Probleme die Möglichkeit des Entstehens einer Krise des Parteiensystems, wenn die darin agierenden Parteien diese nicht lösen können bzw. wollen. Das zeitliche Zusammenfallen mehrerer ungelöster Probleme führt dann unweigerlich zu einer Krise, denn die Problemlösungskapazität der Parteien und somit des Parteiensystems ist überfordert (Mintzel 1984: 97). Die Ausgangsfrage der Analyse ist also, wann westeuropäische Parteiensysteme stabil sind und wann es zu Krisen kommen kann (Hofmann 2004: 51). Diese Hypothese überprüft er anhand mehrerer Staaten, indem er eine historische Rückschau betreibt und die oben genannten Probleme und deren Lösung aufzeigt. Im „britischen Fall“ sind die Probleme mit zeitlichem Abstand durch die Parteien im Parteiensystem aufgegriffen und gelöst worden. Den politischen historischen Verlauf Englands sieht er deshalb als das Musterbeispiel dafür, dass die Probleme und somit die Krisen durch das Parteiensystem gelöst werden können, wenn sie separat erscheinen und nicht zusammenfallen (Kirchheimer 1965: 20). In den weiteren analysierten Ländern – Frankreich, Italien und Deutschland – fielen Probleme zeitlich zusammen, was nach Kirchheimer deshalb zu einer Krise und somit zum Misserfolg der jeweiligen Parteiensysteme führte (Kirchheimer 1965: 22-24).

Er wirft anschließend jedoch die Frage auf, ob allein das Zusammentreffen dieser Krisen für den Zusammenbruch des Parteisystems ausschlaggebend ist oder nicht noch die Leistungskapazität des dominanten Parteitypus im jeweiligen Parteisystem betrachtet werden muss (Mintzel 1984: 97; Kirchheimer 1965: 24). Er argumentiert, dass im historischen Verlauf Frankreichs bestimmte Probleme bereits lange überwunden waren und dennoch das alleinige Auftreten eines weiteren Problems ausgereicht hat, um das Parteiensystem fast zum Scheitern zu bringen (Kirchheimer 1965: 24). Dann wird ausgeführt, dass dieser Gedanke nur brauchbar ist, wenn auch angenommen wird, dass die politische Integration der Gesamtbevölkerung in die Verfassungsordnung als die „ […] Fähigkeit eines politischen Systems, Gruppen die bisher außerhalb der politischen Ordnung gestanden haben, vollinhaltlich in das System einzubeziehen“ verstanden wird (Kirchheimer 1965: 24) und der dominante Parteitypus des jeweiligen Parteiensystems diese Aufgabe auch annimmt.

Genau dieser Punkt ist entscheidend für das weitere Verständnis. Die damaligen Massenintegrationsparteien seit dem ersten Weltkrieg haben es geschafft, vormals isolierte Individuen als ihre Mitglieder in den Parteiapparat einzubeziehen und sie einer „freiwillig anerkannten Disziplin“ zu unterwerfen. Diese Disziplin wiederum hat sich aus der Erwartung der Individuen an eine bessere künftige Gesellschaftsform gespeist (Kirchheimer 1965: 24 f.). Das heißt, dass isolierte Bevölkerungsgruppen sich deshalb in die Massenintegrationsparteien haben integrieren lassen, weil dieser Parteitypus sich vom damaligen Parteiensystem abgewendet hat und ein Ende des Systems erreichen wollte und die Bürger die Eingliederung in die Partei mit der Erwartung verbunden haben, eine künftige totale Gesellschaftsumformung zu erreichen (Kirchheimer 1965: 25). Andere Parteitypen – wie z.B. individuelle Repräsentationsparteien - haben in dieser Zeit klar gezeigt, dass sie nicht dazu bereit sind, die Forderungen der Massenintegrationspartei und somit der unter ihr vereinten Bevölkerungsgruppe auf Integration in die Gesellschaft zu erfüllen. Diese Haltung war dafür verantwortlich, dass die Integration der Arbeitendenschaft nicht erfolgen konnte, also auch nie von einer allgemeinen politischen Integration gesprochen wurde (Kirchheimer 1965: 25). Beide genannten Problemfelder – fehlende Integration der Arbeitendenklasse in die Verfassungsordnung und fehlender Wille der weiteren Parteien des Systems dazu – bedingen sich gegenseitig und sind in ihrem Zusammenwirken für die Stabilität des damaligen Parteiensystems verantwortlich und somit auch für sein Scheitern (Kirchheimer 1965: 25). Das heißt, dass die Stabilität und Funktionsweise des Parteiensystems nicht nur von der Problemlösungskapazität und -fähigkeit des Parteiensystems anhängt, sondern auch davon, in wieweit die darin agierenden Parteien die ihr vorgelegten Probleme lösen wollen.

Mit einem Sprung in die Nachkriegszeit nach 1945 wird schließlich die Entstehung der „echten Volkspartei“ aus dem Parteitypus der Massenintegrationspartei erläutert. Die echte Volkspartei hat dabei den Versuch aufgegeben, sich die Massen geistig und moralisch einzugliedern – wie es vorher bei den Massenintegrationsparteien der Fall war - und lenkte den Fokus vielmehr direkt auf die Wählenden und deren politischen Präferenzen. Die Partei opfert so eine tiefe ideologische Durchdringung für die Möglichkeit der Erfassung weiterer Wählendenschichten, um einen raschen Wahlerfolg zu ermöglichen (Kirchheimer 1965: 27). Dieser Wandel der Struktur der politischen Parteien lässt sich dabei auf die Anerkennung der politischen Marktgesetze zurückführen. Begründet auf den ökonomischen Konzepten von Downs und Schumpeter (Downs 1968) mit dem Bürger als „homo politicus“, der in seiner Entscheidung frei von emotionalen und traditionellen Bindungen ist und rational nach Effizienzkriterien die Partei wählt, die ihm das beste Angebot unterbreitet, wird der politische Prozess jetzt als Marktsituation verstanden, bei dem die Parteien um die Stimmen der Wählenden konkurrieren, indem sie ihnen die Lösung ihrer Interessen anbieten (Hofmann 2004: 55). Kirchheimer sieht in dieser Umwandlung des grundlegenden Strukturprinzips des Parteiensystems den Grund für die Umwandlung der Parteien zu echten Volksparteien (Hofmann 2004: 55). Er sucht dann nach einer Gesetzmäßigkeit, nach der sich diese Umwandlung vollzog und postuliert letztlich, dass die politische Desideologisierung der Parteien die Gesetzmäßigkeit war, die zur Ausbreitung des Volksparteityps beigetragen hat, gerade weil sich das Verständnis von Politik in Richtung politische Marktsituation gewandelt hat (Kirchheimer 1965: 29). Unter politischer Desideologisierung versteht er, dass „[…] Ideologie vom Platz einer Hauptantriebskraft der politischen Zielsetzung auf die Rolle eines der möglichen Elemente in einer sehr viel komplexeren Motivationsreihe zu beschränken“ ist (Kirchheimer 1965: 29). Dadurch ist es der Partei möglich, weite Teile der Wählendenschaft anzusprechen, ohne andere Teile wieder zu verschrecken und so den eigenen Wahlerfolg wieder zu schmälern. Die Umwandlung zur Volkspartei ist also sehr stark geprägt durch den Wettbewerb zwischen den Parteien (Kirchheimer 1965: 30). Es wird deutlich, dass Kirchheimer also nicht das Entstehen eines neuen Parteitypus beobachtet hat, sondern den Wandel der Massenintegrationspartei hin zur Volkspartei beschreibt. Grundsätzlich muss noch dargelegt werden, dass es nur großen Parteien möglich ist, sich zu einer Volkspartei entwickeln zu können. Sind Parteien zu klein oder sind sie nur regional aufgestellt, können sie nicht einen großen Teil der Wählenden ansprechen, da ihnen dies allein aufgrund ihrer Merkmale nicht möglich ist (Kirchheimer 1965: 29). Ebenfalls ist das Prinzip der Stimmmaximierung grundlegendes Merkmal in Unterscheidung zum vorherigen Typen der Massenintegrationspartei, aus dem sich die Volkspartei entwickelt hat. Dabei ist die Integration großer Teile der Wählendenschaft ein Mittel, „[…] deren sichtbares Endergebnis darin liegt, am Wahltag die größtmögliche Zahl von Wählern für sich zu gewinnen“ (Kirchheimer 1965: 34). Neben diesen Grundprinzipien nennt Kirchheimer fünf Merkmale bzw. Indikatoren, die eine Partei erfüllen muss, um als Volkspartei gelten zu können, welche sich wiederum auch aus den Grundprinzipien ergeben (vgl. Kirchheimer 1965: 32):

1. Radikales Beiseiteschieben der ideologischen Komponenten

Das radikale Beiseiteschieben der ideologischen Komponenten der Partei dient hauptsächlich der Öffnung und möglichen Erschließung weiterer Wählendenschichten, die aufgrund der vormals durch die Partei vertretenen Ideologie ausgeschlossen waren. Diese politische Desideologisierung hat stark zum Aufstieg und der Ausbreitung der Volksparteien beigetragen (Kirchheimer 1965: 29). Die politische Desideologisierung erlaubt es der Partei dann, Forderungen propagieren zu können, die allgemeine Anerkennung im Volk erlangen. So ist die Schaffung eines möglichst großen Konsens möglich und damit einhergehend die Mobilisierung vieler Wählender (Kirchheimer 1965: 35). Kurzfristige wahltaktische Maßnahmen sind also wichtiger als langfristige ideologische Ziele, weshalb diese – aufgrund der herrschenden politischen Marktsituation – in den Hintergrund treten (Hofmann 2004: 58).

2. Stärkung der Politiker an der Parteispitze

Es wird angeführt, dass „ […] was [die Politiker an der Parteispitze] tun oder unterlassen […] jetzt mehr vom Standpunkt ihres Beitrages zur Wirksamkeit des ganzen gesellschaftlichen Systems angesehen [wird] und nicht danach, ob sie mit den Zielen der jeweiligen Parteiorganisation übereinstimmen“ (Kirchheimer 1965: 32). Es hat also auch ein Wandel in der Binnenorganisation der Partei stattgefunden, wie auch der noch folgende Indikator verdeutlicht. Zur bestmöglichen Ansprache neuer Wählenden ist ein rationales und zielgerichtetes taktieren nötig, wozu es einer hierarchisch strukturierten Organisation der Partei bedarf, was wiederum zu einer starken Position der Führung führt (Hofmann 2004: 58)1.

3. Entwertung der Rolle des einzelnen Parteimitglieds

Aus der Stärkung der Politiker an der Parteispitze ergibt sich auch eine Entwertung der Rolle des einzelnen Parteimitglieds. „Eine Folge ist, dass die emotionale Loyalität der Mitglieder zu der intern immer stärker differenzierten Organisation der Volkspartei nicht besonders stark ausgeprägt sein kann“ (Hofmann 2004: 58). Die starke Rolle der Parteimitglieder wird als historisches Überbleibsel angesehen, „ […] das das Bild der neu aufgebauten Allerweltspartei in ein falsches Licht setzen kann“ (Kirchheimer 1965: 32). Darüber hinaus zeigt sich, dass gerade diese Eigenart der Volkspartei dazu führt, dass keine Bindung zur Partei aufgebaut wird und die Hürde zum Wechsel der Wahlentscheidung bei den Wählenden gering ist (Kirchheimer 1965: 34). Man kann sagen, dass die Rolle des Parteimitglieds in dieser Typologie lediglich auf die Legitimation der Politiker an der Parteispitze beschränkt ist.

4. Abkehr von der chasse gardèe

Mit der Abkehr von der chasse gardèe wird die Abkehr von einer Wählendenschaft auf Klassen- und Konfessionsbasis hin zu einer Wahlpropaganda beschrieben, die die ganze Bevölkerung umfasst (Kirchheimer 1965: 32). Erreichen kann eine Partei dies hauptsächlich, in dem sie „[f]ür die Wahlkämpfe […] ein verhältnismäßig geschlossenes, wenn auch vages, außen- und wehrpolitisches Programm [aufstellt]“ und vertritt (Kirchheimer 1965: 37). „Ein solches Programm kann mit Handlungsvorschlägen verbunden werden, die mehr oder weniger konkret sind“ (Kirchheimer 1965: 38). Weniger konkrete Vorschläge haben den Vorteil, dass sie keine spezifischen Versprechungen enthalten und die Partei von diesem Punkt aus konkrete Aktionen für eine größtmögliche Zahl von Interessengruppen ausarbeiten kann (Kirchheimer 1965: 38). Die Volkspartei verfolgt also das Ziel, die Sicherstellung einer allgemeinen Übereinstimmung ihrer politischen Ziele zu erreichen, um die Neuausrichtung verschiedener Bevölkerungsgruppen zu vermeiden und so den eigenen Wahlerfolg zu schmälern (Kirchheimer 1965: 38). So kann die Partei dann auch Stimmanteile erreichen, die denen einer Volkspartei entsprechen.

5. Streben nach Verbindungen zu den verschiedenen Interessenverbänden

Das Streben nach Verbindungen zu Interessenverbänden könnte finanzielle Aspekte haben, wobei direkt angemerkt wird, dass im deutschen politischen System Parteien Gelder aus öffentlichen Mitteln erhalten und einen relativ leichten Zugang zu den wichtigsten Kommunikationsmitteln haben (Kirchheimer 1965: 32). Dieser Aspekt ist also außenvorzulassen. Interessenverbände fungieren vielmehr als Mittler zwischen Partei und Wählenden, denn „[n]ur der Interessenverband […] kann ein Massenreservoir leicht zugänglicher Wähler bieten […] und steht in ständigem Kontakt zu seinen Anhängern […]“ (Kirchheimer 1965: 34). Dabei werden die Mitteilungen und Aussagen der Verbandsfunktionäre bereitwilliger aufgenommen, als die der Parteifunktionäre (Kirchheimer 1965: 34 f.). „Die Partei, die [also] die größtmögliche Zahl von Wählern gewinnen will, muß ihre Beziehungen zu Interessenverbänden so gestalten, daß sie keine potentiellen Wähler abweist, die mit anderen Interessen verbunden sind“ (Kirchheimer 1965: 35).

Nachdem die grundlegende Typologie der Volksparteien mit ihren Indikatoren nach Kirchheimer dargestellt wurde, soll auf Blindstellen und Kritik am Konzept eingegangen werden. Da die Typologie und die darin enthaltenen Erkenntnisse durch diachrone Betrachtungsweise bis in die Mitte der 1960er Jahre gewonnen wurden, kann mit heutigem Blick auf den weiteren Verlauf und die Entwicklung der Parteien und Parteiensysteme festgestellt werden, mit welchen Punkten Kirchheimer Recht behalten hat und welche wiederum diskussionswürdig sind. Peter Lösche hat einen kritischen Beitrag zur Diskussion beigetragen, der folgend dargestellt werden soll.

3.2. Typologie nach Peter Lösche – lose verkoppelte Anarchie

Charakteristisch für die Typologie nach Kirchheimer ist die Blindstelle bezüglich der Binnenorganisation der Partei. Er schreibt den Volksparteien vornehmlich zentrale Funktionen der Herrschaftsorganisation zu, thematisiert aber nur beiläufig und unvollständig die innere Organisation der Volkspartei. Er spricht lediglich von einer „mehr differenzierten Organisation“ (Mintzel 1984: 104). Die Parteimitglieder als Parteibasis, die in seinem Konzept keine wichtige Rolle mehr spielen, da eine Entwertung der Rolle des einzelnen Parteimitglieds eingetreten ist, sowie die mittlere Organisationsebene der Parteifunktionäre und Delegierten wird nicht weiter thematisiert (Mintzel 1984: 104).

Lösche sieht diesen Punkt kritisch und weist darauf hin, dass die Parteienforschung die Volkspartei viel zu stark als zweckrationale Organisation behandelt hat, deren einzige Funktion darin liegt, Macht zu erwerben und zu erhalten, was an der Organisationwirklichkeit dieser vorbeigeht (Hofmann 2004: 77). In seinen Analysen konstatiert er vielmehr ein Sammelbecken diverser Mitgliedertypen, die unterschiedliche Interessen aufweisen und deshalb eben nicht gewährleistet ist, dass alle in der Partei organisierten Individuen einen einheitlichen Willen nach Machtzuwachs bzw. -erhalt haben. Vielmehr verfolgen sie eigene Interessen, die von denen der Parteiführung stark abweichen können (Hofmann 2004: 77). Aufgrund dieser Interessendiversität bieten die Volksparteien interne Plattformen der Interessenvertretung in Form von Arbeitsgemeinschaften an sowie Möglichkeiten der Befriedung außerpolitischer, sozialer Bedürfnisse wie Feste oder Ausflüge (Hofmann 2004: 77; Lösche/Walter 1992: 194). Parteien sollen deshalb nach seiner Meinung vielmehr als „Mischung […] von zweckrationalen Organisationen, denen es um Machterwerb und Machtausübung geht, und von Freiwilligenorganisationen, die durch einen relativ hohen Grad an Unverbindlichkeit und Introvertiertheit gekennzeichnet sind“ (Lösche/Walter 1992: 194) betrachtet werden (Hofmann 2004: 77). Auch Lösche sieht also wie Kirchheimer eine immer stärker differenzierte Organisation. Er zieht daraus aber andere Schlüsse, denn logisch schließend folgt aus einer größeren Heterogenität der Interessen und Motivationslagen der Mitglieder auch, dass eine hierarchisch strukturierte Parteiorganisation nicht der Organisationsrealität der Parteien entsprechen kann, wie er in seinen folgenden Untersuchungen auch aufgezeigt hat (Lösche/Walter 1992: 174). In der durchgeführten Analyse der SPD wurde dargelegt, dass das bis dahin anerkannte „ehrene Gesetz der Oligarchie2 “, das durch Robert Michels (1989) geprägt wurde, weder für die historische SPD galt, noch Anwendung auf die SPD Ende des 20. Jahrhunderts finden konnte (Lösche/ Walter 1992). Zwar zeige die SPD Züge einer oligarchischen Verfestigung, welche jedoch mit der auf dem Stuttgarter Parteitag 1958 beschlossenen Organisationsreform sowie der programmatischen Modernisierung auf dem Godesberger Parteitag 1959 negiert wurden (Hofmann 2004: 78). Damit einhergehend war zum einen der Zugewinn neuer Parteimitglieder außerhalb des Stammmilieus und somit auch das Anwachsen der innerparteilichen Heterogenität, was zur beschriebenen Pluralisierung der parteiinternen Interessen und Unterorganisationen geführt hat. Ebenso wurde der damals hauptamtliche Bundesvorstand der Partei entmachtet und der Parteiapparat stärker an die Bundestagsfraktion gebunden (Spier/ Alemann 2013: 441). Das bedeutet in Konsequenz, dass eine hierarchische Führung nach dem Top-Down-Prinzip als unwahrscheinlich gilt, wie sie Kirchheimer darstellt (Hofmann 2004: 78).

Die Organisationsstruktur der SPD soll nach Lösche deshalb vielmehr als „lose verkoppelte Anarchie“ verstanden werden, welche durch die Merkmale der Dezentralisierung, Autonomie der Einzelteile, lockeren Bindung und Abwesenheit einer oligarchischen Struktur sowie einer extremen Variation in der Partizipation von Mitgliedern und Funktionären definiert wird (Lösche/Walter 1992: 197). Dies wird auch der Realität der Vielzahl regionaler Parteiuntergliederungen, ideologisch begründeten Flügeln und den verschiedenen Arbeitsgruppen gerechter (Hofmann 2004: 78). Auch wenn er seine Erkenntnisse anhand der Analyse der Organisationsstruktur der SPD gewonnen hat, stellt er auch klar, dass die Strukturdefizite nicht nur typisch für die SPD sind, sondern auch bei anderen Volksparteien gefunden werden können (Lösche 1993: 36). Lösches Ausführungen sind dabei nicht als Versuch einer neuen Typologisierung der Volksparteien zu sehen. Vielmehr ist es der Versuch der realtypischen Erweiterung des Volksparteitypus nach Kirchheimer (Hofmann 2004: 80). Den Indikator der „Stärkung der Politiker an der Parteispitze“ definiert er also nicht als konstituierendes Merkmal einer Volkspartei. Er zeigt auf, dass eine Volkspartei eine solche hierarchische Organisation nicht aufweisen müssen und können, da ihre Organisationrealität heute anders aussieht. Vielmehr muss die innerparteiliche Organisation als eine Art interne Koalitionsbildung der lose verkoppelten Fragmente der Partei verstanden werden. „Wer sich inhaltlich oder personell durchsetzen will, muss sich ad hoc auf mittlere Zeit mit anderen Akteuren, mit anderen Segmenten [der Partei] verbünden“ (Lösche/Walter 1992: 199). Dies hat zur Folge, dass also weder eine Lenkung der Partei ausschließlich von oben nach dem Top-Down-Prinzip noch eine Willensbildung von der Mitgliederbasis nach oben erfolgt. Ein innerparteilicher Entscheidungsprozess über die Machtverteilung und Ausrichtung der Partei erfolgt über ein checks-and-balances-System der innerparteilichen lose verkoppelten Fragmente (Hofmann 2004: 79)3.

Es ist somit deutlich geworden, dass Lösche bezüglich der Organisationsstruktur einer Volkspartei schlüssig und argumentativ die Überlegungen Kirchheimers in Frage gestellt und eine Erweiterung des Volksparteitypus vorgeschlagen hat.

Auch in dem Essay „Ende der Volksparteien“ (2009) setzte Lösche sich nochmals mit der Volkspartei auseinander. Die Veröffentlichung soll einen Beitrag zur Präzisierung der Indikatoren einer Volkspartei leisten und bedient sich wiederum ebenfalls der diachronen, historischen Betrachtungsweise, wobei jedoch ein aktuellerer Betrachtungszeitraum gewählt wurde (Lösche 2009: 6). Er erarbeitete und präzisierte dabei die Indikatoren, die nach ihm eine Volkspartei definieren.

Mit „großem Nachdruck“ nennt er einen Indikator, der diametral zu Kirchheimers Annahme der Abkehr von der chassee gardèe steht und dennoch das Phänomen der Volkspartei aus seiner Sicht erklärt: Volksparteien sind schon immer Milieu-Parteien gewesen, womit er meint, dass sie nur teilweise aus sozialmoralischen Milieus entstanden sind und auf diesen Milieus basierten (Lösche 2009: 7). Sein Argument ist, dass gerade entgegen der Annahme Kirchheimers Teile der Mitglieder, Wählenden und Funktionäre geistig, ideologisch und wertemäßig in die Partei eingebunden waren, da sonst auch eine Unterscheidung von Stammwählenden und Wechselwählenden nicht möglich und das Entstehen einer Parteienbindung bzw. Parteienidentifikation nicht erklärbar wäre (Lösche 2009: 8). Seine Logik unterstreicht er mit dem Argument, dass erst mit und von dieser Milieubasis aus eine Mobilisierung der Wählendenschaft der politischen Mitte erfolgreich sein kann, denn alleine in der politischen Mitte gewinnt eine Partei keine Wahl und erreicht auch keine Zustimmungswerte jenseits der 40 Prozent (Lösche 2009: 7 f.). Eine Volkspartei konstituiert also sozialmoralische Milieus als Teil ihrer Wählenden, um von dieser Basis aus im Wahlkampf weitere Wählende der politischen Mitte für sich zu gewinnen und so hohe Zustimmungswerte erreichen zu können. Volksparteien waren also nach ihm keine Catch-all Parteien ohne tiefere Ideologie. Die Parteien waren zum Teil tief in der Gesellschaft verankert und banden ihr spezifisches Milieu fest an sich. Genau diese Bindung ist heute aber verloren gegangen, weshalb auch heute erst ersichtlich wird, dass eine Parteienbindung bei den Wählenden der Volksparteien vorliegt bzw. vorgelegen hat (Lösche 2009: 8). Die Bindungswirkung der Parteien gegenüber ihren Wählenden der sozialmoralischen Milieus sowie eine geistige und ideologische Einbindung dieser ist also Merkmal der Volkspartei nach Lösche.

Die weiteren Indikatoren nach Lösche werden folgend in aller Kürze dargestellt:

Soziale Heterogenität

Nach Lösche ist eine „Volkspartei […] eine politische Organisation von Bürgern, die in der sozialen Zusammensetzung ihrer Mitglieder, Parteiaktivisten und Wähler nicht auf eine Schicht oder Klasse oder eine anders […] definierte Gruppe beschränkt ist, sondern prinzipiell mehrere Schichten und Klassen, Landsmannschaften und Religionen umfasst, mithin also als sozial heterogen zu gelten hat“ (Lösche 2009: 7). Damit einhergehend ist aber nicht, dass die Partei in ihrer sozialen Zusammensetzung spiegelbildlich der Sozialstruktur des Elektorats entsprechen muss. Er argumentiert, dass eine schichten- und klassenübergreifende Zusammensetzung der Wählenden und Mitglieder nicht im Konturlosen verschwindet, sondern vielmehr ein spezifisches Sozialprofil der Partei erhalten bleibt, neben welches sich - analog zur Massenpartei auf Klassenbasis nach Kirchheimer - weitere Wählendenschichten neben ihrer spezifischen Wählendenschaft einbezogen werden (Lösche 2009: 7). Dabei folgt die Partei in ihrer sozialen Heterogenität aber stets den allgemeinen Tendenzen gesellschaftlich-struktureller Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, in der Bevölkerung und der Wählendenschaft (Lösche 2009: 7).

Stimmenmaximierung

Darüber hinaus sind Volksparteien stets bemüht, möglichst viele verschiedene Wählendengruppen anzusprechen und für sich zu gewinnen, wobei gerade um die der eigenen Stammwählendenschaft nahe liegenden Schichten geworben wird. „Die Volkspartei ist [also] eine Massenwähler-, Mitglieder- und Funktionärspartei“ (Lösche 2009: 7).

Koalitions- und Kompromissfähigkeit

Dass eine Partei als Volkspartei gelten kann, muss sie darüber hinaus willens und bereit sein, „[…] allein oder in Koalition mit anderen Parteien die Regierungsverantwortung zu übernehmen […]“ (Lösche 2009: 8). Dieser Punkt ist nach Lösche die „eindeutige Scheidelinie“ zur Klassifizierung einer Volkspartei. Er argumentiert, dass nur Volksparteien keinen absoluten Herrschafts- und Durchsetzungsanspruch haben und deshalb mit anderen Kompromisse schließen und gemeinsam regieren können (Lösche 2009: 8). Eine dauerhafte Kompromissfähigkeit liegt bei Parteien aber nur vor, wenn sie neben einem kontroversen auch einen nicht-kontroversen Sektor mit allgemeinem Konsens vertritt, zu dem die Grundregeln der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie und die Achtung von Menschenrechten gehören (Lösche 2009: 8).

Lösche stellt also bestimmte von Kirchheimer aufgestellte Indikatoren argumentativ in Frage und bietet eine Präzisierung der Indikatoren einer Volkspartei an, die schlüssig dargelegt ist. Aus seiner Diskussion wird deutlich, dass Kirchheimer mit seinen diachron gewonnenen Informationen über den Wandel der Parteien und Parteiensysteme in Westeuropa teils richtig gelegen hat, nach erneuter Analyse eines späteren Betrachtungszeitraums jedoch gewisse Punkte wie die Binnenorganisation der Parteien sowie die fehlende ideologische Einbindung von Wählenden in die Partei nicht der Realität entsprechen. Für die folgende Operationalisierung und den methodischen Teil der Arbeit sollen deshalb die Indikatoren einer Volkspartei nach Peter Lösche genutzt und geprüft werden. Seine Merkmale einer Volkspartei beruhen auf einem aktuelleren historischen Betrachtungszeitraum und sind deshalb auch geeigneter zur Durchführung einer synchronen Analyse des Volksparteistatus der SPD zum Zeitpunkt nach der Bundestagswahl 2017. Darüber hinaus sind die genannten Merkmale nach Lösche in neusten Publikationen als Indikatoren genannt, die vor allem zur Definition einer Volkspartei herangezogen werden (vgl. Schmid 2021: 698). Somit ergeben sich folgende Indikatoren einer Volkspartei, welche für diese Arbeit grundlegend sind:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Indikatoren der lose verkoppelten Anarchie; eigene Darstellung

4. Forschungsgegenstand und Hypothesen

Im folgenden Kapitel wird der Frage nachgegangen, ob die SPD überhaupt ein geeigneter Forschungsgegenstand für diese Arbeit ist. Dazu muss geklärt werden, ob die SPD in ihrem historischen Verlauf bereits als Volkspartei definiert wurde. Dies wäre die Voraussetzung für die Beantwortung der Forschungsfrage, ob sie noch als Volkspartei gilt. Im Folgenden wird deshalb zunächst der historische Verlauf der Partei nachgezeichnet und prägnante Meilensteine dargelegt, die die Partei auf dem Weg zu ihrem – einstigen? - Volksparteistatus hinter sich gelassen hat. Klar ist dabei bereits: Die SPD gehört zu den klassischen Forschungsgegenständen der deutschen Parteienforschung (Spier/Alemann 2013: 440). Die meisten wissenschaftlichen Publikationen zu deutschen Parteien wurden zur SPD veröffentlicht. Auch war sie Forschungsbasis zur Bildung einiger der klassischen politikwissenschaftlichen Theoreme wie z.B. das „Eherne Gesetz der Oligarchie“ oder auch die bereits erläuterte Volksparteitypologie nach Kirchheimer (Spier/Alemann 2013: 439).

4.1. Forschungsgegenstand

Gebildet hat sich die heutige SPD außerparlamentarisch aus den beiden Arbeiterbewegungen „Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein“ und der „sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, welche sich 1875 zur „Sozialistischen Arbeiterpartei“ zusammenschloss und sich 1890 letztlich in „sozialdemokratische Partei Deutschlands“ umbenannte. In ihren ersten Jahren verstand sich die Partei als Sprachrohr und Motor der sich organisierenden Arbeiterschaft, welche während der Zeit der industriellen Revolution politisch stets ausgeschlossen war und gerade nicht als staatlich-politische Vertretung der Arbeitenden. Sie verwurzelte sich tief in der privaten Lebensführung sowie Freizeitgestaltung der Arbeitenden. Es bildete sich also nicht nur eine neue Partei, sondern vielmehr eine sozialdemokratische Sub- und Gegenkultur gegen die damals vorherrschenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen während der industrielle Revolution (Marschall 2021: 843-844). Einhergehend mit der stark repressiven staatlichen Politik gegenüber den Arbeitendenschaft zwischen den 1870er und 1900er Jahren wurde die SPD und die ihr nahestehenden Gewerkschaften auf Grundlage der sog. „Sozialistengesetze“ verboten und verfolgt. Interessant ist, dass die Partei bereits vor ihrem Verbot einen sehr starken elektoralen Aufstieg aufzeigte. Anfang der 1900er Jahre und nach der Aufhebung des Parteiverbots wurde die SPD im Parlament des deutschen Kaiserreichs zu einer maßgeblichen politischen Kraft. 1912 wurde sie sogar stärkste Fraktion, ohne jedoch an der Regierung beteiligt gewesen zu sein (Marschall 2021: 844).

Nach dem Ende des deutschen Kaiserreichs und der Gründung der Weimarer Republik wurde der SPD dann erstmals eine staatstragende Rolle zu eigen. Sie war in dieser Zeit insgesamt an acht Regierungen beteiligt, stellte viel Mal den Kanzler und den ersten Reichspräsidenten, Friedrich Ebert (Marschall 2021: 844). Doch nach Beginn der NS-Zeit 1933 wurde die Partei wieder verboten und systematisch verfolgt. Erst nach Ende des zweiten Weltkriegs und zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland war die SPD wieder maßgebliche politische Kraft, gerade im Rahmen der Konstituierung des Grundgesetzes. Auch wurde die SPD bei der Wahl zum ersten deutschen Bundestag wieder stärkste Kraft, ohne jedoch wieder Regierungspartei zu sein (Marschall 2021: 844). Bis Ende 1946 konnten knapp 700.000 Mitglieder gewonnen werden und es gründeten sich rund 8.000 Ortsvereine. Dennoch blieb der SPD nur die Rolle der Oppositionsführung (Spier/Alemann 2013: 440-441). Um sich aus dieser Lage befreien zu können, wurde zum einen 1958 die Binnenorganisation der Partei neu strukturiert, weg von einem hauptamtlich geschäftsführenden Bundesvorstand hin zu einem Parteiapparat, der stark an die Bundestagsfraktion gebunden war. Darüber hinaus wurde 1959 auf dem Godesberger Parteitag die inhaltliche Neuausrichtung der Partei beschlossen: Die marxistische Grundorientierung der Partei wurde durch die Grundwerte von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität ersetzt (Spier/Alemann 2013: 441). Diese programmatische Reform – und somit die Abkehr von der chasse gardèe - markierte für Kirchheimer den Wandel der SPD von einer Massenintegrationspartei der Arbeitendenschaft hin zu einer „echten Volkspartei“ (Spier/Alemann 2013: 441). Kirchheimer sah die SPD also zu diesem Zeitpunkt als Volkspartei an. Auch darüber hinausgehend konnte die SPD in der Folgezeit z.B. mit Willi Brandt als Kanzlerkandidat zur Bundestagswahl 1965 einen Stimmanteil von 39,3% erreichen und ihren Status festigen, auch wenn sie bis dahin noch keine Regierungspartei gewesen ist. Erst nach Zusammenbruch der Koalition aus CDU/CSU und FDP schaffte die SPD es, als Juniorpartner die erste Große Koalition der Bundesgeschichte zu bilden. Damit bewiesen die Sozialdemokraten, dass sie koalitions- und kompromissfähig sind, was ihnen von Konrad Adenauer zuvor stets abgesprochen wurde (Spier/Alemann 2013: 442). In der Folgezeit stieg der Stimmenanteil der Partei stets an, bis letztlich 1972 mit 45,8% das bis heute vorliegende Maximum erreicht wurde. In dieser Zeit wurde die Partei ebenfalls erstmals Kanzlerpartei und koalierte mit der FDP in einer sozialliberalen Koalition bis zu ihrem Zerbrechen 1982 (Spier/Alemann 2013: 443). Danach begann die Erosion der SPD, mit einer Ausnahme der Kanzlerschaft Gerhard Schröders 1998 bis 2005. Zur Bundestagswahl 2017 konnte die Partei lediglich einen Stimmenanteil von 20,5% erreichen (Statistisches Bundesamt 2017: 28).

[...]


1 Es ist anzumerken, dass auch nach Kirchheimers Veröffentlichung die Parteienforschung sich nicht sonderlich für die Binnenstruktur der Parteien interessiert hat (Decker 2015: 70). Kirchheimers Ausführungen dazu sind ebenfalls sehr knapp und unvollständig. Die Erforschung von Programmen, Wählerwettbewerb und die allgemeine Entwicklung der Parteiensysteme galten als wesentlich wichtiger (Decker 2015: 70; Mintzel 1984: 104). Erst in den 1980er Jahren wurde der Fokus verstärkt auf die Binnenstruktur gelegt, gerade durch Peter Lösche (vgl. Lösche/Walter 1992; Lösche 1993).

2 Das ehrene Gesetz der Oligarchie beschreibt eine Parteiorganisationsstruktur, die nicht Parteimitglieder und Funktionäre in den Mittelpunkt des Parteiwesens stellt, sondern einen Führer als Individuum und soziale Institution von der aus alle Macht ausgeht (Mintzel 1984: 105).

3 Darüber hinaus muss auf die zentrale Rolle der Parteien als im Grundgesetz festgeschriebene „verfassungsrechtliche Institution“ hingewiesen werden (Schmid 2021: 698). Die deutsche Verfassung setzt deshalb bei Parteien auch bestimmte Anforderung an die Binnenorganisation der Partei voraus. Gemäß Art. 21 I 3 GG muss nämlich gerade die innere Parteiorganisation den demokratischen Grundsätzen entsprechen. Das bedeutet wiederum, dass eine Herrschaftsorganisation nach dem Top-Down-Prinzip ohne Rückkopplung an die Mitglieder schon aus diesem Grunde nicht der Organisationsrealität einer deutschen Volkspartei entsprechen kann. Das Verständnis der inneren Machtverteilung nach Lösche entspricht dabei vielmehr dem verfassungsrechtlichen Verständnis der Parteien.

Final del extracto de 64 páginas

Detalles

Título
Die sozialdemokratische Volkspartei Deutschlands? Eine empirische Analyse zum Volksparteistatus der SPD nach der Bundestagswahl 2017
Universidad
Johannes Gutenberg University Mainz  (Institut für Politikwissenschaft)
Calificación
1,3
Año
2021
Páginas
64
No. de catálogo
V1131228
ISBN (Ebook)
9783346497963
ISBN (Libro)
9783346497970
Idioma
Alemán
Palabras clave
SPD, Sozialdemokratische Volkspartei Deutschland, Volkspartei, Bundestagswahl 2017, empirisch, Analyse, Kirchheimer, Lösche, t-test, Stata, soziale Heterogenität, Catch all Party, lose verkoppelte Anarchie, Forschungsgegenstand, Stimmenmaximierung, Indikatoren, chasse gardee, deskriptive Statistik, Sozialdemokratische Partei Deutschland
Citar trabajo
Anónimo, 2021, Die sozialdemokratische Volkspartei Deutschlands? Eine empirische Analyse zum Volksparteistatus der SPD nach der Bundestagswahl 2017, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1131228

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