Formen und Bedeutung von Gewalt zwischen Mädchen im Kontext von Grundschule


Examensarbeit, 2004

113 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort

2. Klärung der Begriffe Gewalt und Aggression

3. Gewalt an verschiedenen Schulformen
3.1. Erscheinungsformen von Schülergewalt und ihre Vorkommenshäufigkeit
3.2. Verbale Gewalt

4. Gibt es eine Geschlechterdifferenz bei Gewalt?
4.1. Gewaltwahrnehmungen
4.1.1. Allgemeines
4.1.2. Geschlechtsspezifische Gewaltwahrnehmung
4.2. Ausgeübte Gewalt bei Jungen
4.3. Ausgeübte Gewalt bei Mädchen
4.3.1. Erscheinungsformen
4.3.2. Weitere Unterformen
4.3.2.1. Die Anführerin
4.3.2.2. Delegierte Gewalt
4.3.2.3. Autoaggressionen

5. Ursachen und Gründe für unterschiedliches Gewaltverhalten

6. Qualitative Untersuchung
6.1. Durchführung / Anwendung von Forschungsmethoden
6.1.1. Problemzentriertes Interview
6.1.2. Interviewleitfaden
6.1.3. Wahl der Befragten / Beschreibung der Interviewsituation
6.1.4. Aufbereitungsverfahren
6.1.5. Gesprächsprotokolle
6.2. Aufbereitungsverfahren / Analyse
6.2.1. Qualitative Inhaltsanalyse
6.2.2. Interview mit den Lehrerinnen
6.2.2.1. Kodierleitfaden / Kategorienbildung
6.2.2.2. Analyse
6.2.3. Interview mit den Schülerinnen
6.2.3.1. Kodierleitfaden / Kategorienbildung
6.2.3.2. Analyse
6.3. Interpretation der Ergebnisse mit Bezug auf die Literatur

7. Fazit

8. Literaturverzeichnis

1. Vorwort

Gewalt an Schulen ist ein Jungenphänomen – so zitiert Ulrike Popp in ihrer Untersuchung zur Gewalt an Schulen Freitag und Hurrelmann (1993). Doch was ist mit den Mädchen?1 Diese Frage stellt sich mir und dem werde ich mit dieser Arbeit nachgehen. Üben Mädchen keine oder nur kaum Gewalt aus? Und wenn sie entgegen der provozierenden These vom Jungenphänomen doch Gewalt ausüben, wie sieht diese aus? Um diesen Fragen nachzugehen, werde ich mich jedoch nicht nur auf die vielfältige Literatur zu diesem Thema stützen, sondern eine eigene Befragung durchführen, die die Praxis näher beleuchten soll. Denn möglicherweise kann wie bei vielen Dingen eventuell auch hier gesagt werden: Theorie und Praxis liegen weit voneinander entfernt.

Beginnen werde ich meine Arbeit jedoch mit einem theoretischen Teil, der mehrere Teilaspekte zu diesem Thema beinhaltet. Bevor ich zu diesen kurz etwas sage, eine Bemerkung zur Literatur vorweg. Diese ist im wahrsten Sinne des Wortes vielfältig. Es gibt mehrere Werke, die diese oben genannte These vertreten und sich beim Thema Gewalt ausschließlich auf Jungen beziehen, eventuell mit der Bemerkung, dass es natürlich Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gibt. Diese werden aber weder weiter ausgeführt noch wird die Seite der Mädchen näher beleuchtet.2 Auf Grund dessen verwende ich in dieser Arbeit mehrere neuere Studien von Holtappels/Meier, Schubarth und Popp, die sich dem Begriff der Mädchengewalt widmen.

Bevor ich jedoch spezifisch auf die Mädchen eingehe, beschäftige ich mich vorerst allgemein zu der Gewalt an Schulen. Beginnen werde ich mit der Begriffsklärung, auf die sich die weitere Arbeit bezieht und die somit als Grundlage des Ganzen dient. Denn besonders bei diesem Thema gehen die Meinungen zu einer Definition weit auseinander. Verschiedenste Personen definieren „Gewalt“ auf die verschiedenste Weise und somit ist eine genaue Begriffsklärung für diese Arbeit notwendig. Dann komme ich zu den verschiedenen Erscheinungsformen von Gewalt, die an Schulen auftreten und ihre Vorkommenshäufigkeit, um zu schildern, wie die Situation diesbezüglich an den Schulen ist und mit welchen Gewaltformen Lehrer und Schüler konfrontiert sind, bzw. welche von Schülern ausgeübt werden. Etwas genauer beleuchte ich die verbale Gewalt, da ich vermute, dass diese nicht nur zum Schulalltag gehört, sondern auch unter Mädchen stark vertreten ist. Nach diesem allgemeinen Überblick über Gewalt an Schulen komme ich zur Geschlechterdifferenz, beginnend mit den Gewaltwahrnehmungen und Gewalteinstellungen bei Jungen und Mädchen. Anschließend folgen konkrete

Beschreibungen zur Gewalt unter Jungen und zur Gewalt unter Mädchen. Dieses Vorgehen lässt sich folgendermaßen begründen: Die Gewaltwahrnehmungen geben bereits Aufschluss über das tatsächliche Gewaltverhalten bei den Geschlechtern und liefern Informationen über die Gewalteinstellungen. Hierbei berufe ich mich auch auf eine Studie von Ulrike Popp, die von den verschiedenen Wahrnehmungen zu einigen Täterselbstreporten übergeht. Bei der konkreten Beschreibung der Gewalt schließe ich die Jungen mit ein, um eventuelle Unterschiede zwischen den Geschlechtern herauszustellen. Möglicherweise gibt es Gewaltformen, die typisch für Jungen sind, aber auch Formen, die eher typisch für Mädchen sind. Um dies herausfinden und belegen zu können, werde ich auch auf die Jungengewalt eingehen. Die darauffolgende Beschreibung der Mädchengewalt wird gegliedert in einen allgemeinen Teil und drei einzelne Erscheinungsformen. Ein Blick auf die Geschlechtersozialisation und auf weitere Ursachen für unterschiedliches Verhalten schließt den theoretischen Teil ab. Hierbei geht es um bestimmte Rollenerwartungen an Jungen und Mädchen, die unterschiedliches Gewaltverhalten begründen oder fördern können und um bestimmtes Lehrerverhalten und die damit verbundenen Schulerfahrungen.

Anschließend werfe ich einen Blick auf die Praxis, indem ich Befragungen mit Lehrkräften und Schülerinnen durchführe. Wie diese Befragungen genau aussahen, wie sie verlaufen sind und welche Ergebnisse sich herausstellten, wird Teil des 6. Kapitels sein, das sich ausschließlich mit der Untersuchung beschäftigt. Im Punkt 6.3 werde ich jedoch die Literatur miteinbeziehen, um Theorie und Praxis zu vergleichen.

Abschließend folgen Worte und Gedanken zur Mädchengewalt und ihrer Bedeutung für das Schulleben.

2. Klärung der Begriffe Gewalt und Aggression

„Gewalt ist ein Wort mit 6 Buchstaben und 1000 Missverständnissen.“3 Gerade aus dieser Problematik heraus, die mit dem Begriff „Gewalt“ verbunden ist, ist es besonders wichtig, eine Definition für diesen Begriff zu finden, die als Grundlage für die weitere Arbeit dient. In der Literatur begegnet man jedoch nicht nur dem Begriff „Gewalt“, sondern auch dem Begriff „Aggression“. Hierbei ist es häufig schwierig zu erkennen, wie diese beiden Worte verwendet werden und was sie genau bedeuten. Oftmals wird auch der Eindruck einer synonymen Begriffsverwendung geweckt. Aus diesen Gründen wird eine genaue Betrachtung dieser beiden Ausdrücke notwendig, um zu klären, ob ich sie für diese Arbeit synonym verwende oder, wenn dies nicht der Fall ist, wo sie sich unterscheiden und wie ich sie genau definiere.

Hierfür beschäftige ich mich zuerst mit dem Begriff der Gewalt anhand einiger Definitionen aus der Literatur. Des weiteren werde ich einige Formen der Gewalt benennen, um zu sehen, wo ich die Kriterien für eine eigene Definition setzen kann. Dann komme ich auf den Begriff der Aggression zu sprechen und vergleiche hierfür Definitionen beider Begriffe, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszustellen. Abschließend werde ich eine eigene Definition für „Gewalt“ formulieren und erläutern, welche Rolle der Begriff

„Aggression“ in meiner Arbeit spielen soll.

Der Begriff „Gewalt“ kommt ursprünglich aus dem Althochdeutschen: „waltan“ = stark sein, herrschen.4 Diese Übersetzung beinhaltet sowohl eine positive Bedeutung (stark sein) als auch eine eher negativ besetzte Bedeutung (herrschen) dieses Begriffs. Im Lateinischen findet man für diese zwei verschiedenen Bedeutungen auch zwei verschiedene Ausdrü>1. potestas = Macht, Amtsgewalt, Möglichkeit; 2. violentia = Anwendung physischer Kräfte; „die rohe, gegen Sitte und Recht verstoßende Einwirkung auf Personen“5. Auch das Englische unterscheidet diese beiden Bedeutungen mittels der Begriffe „power“ = „potestas“ und „violence“ = „violentia“. Das Deutsche gibt diese Unterscheidung durch die Sprache jedoch nicht her, weshalb Differenzen bei der Definition auftreten. Ein Begriff hat mehrere, sowohl positive als auch negative Bedeutungen. Hierin besteht die Schwierigkeit bei der Deutung des Wortes. Da die deutsche Sprache uns im Gegensatz zum Lateinischen und Englischen diese Problematik auferlegt, ist eine eindeutige Definition für diese Arbeit um so notwendiger.

In der Literatur sind viele verschiedene Definitionen zu finden, wobei ich mich hier nur auf eine Begriffsklärung von Bründel stützen werde, die meiner Ansicht nach viele wichtige Punkte enthält.

„Unter Gewalt versteht man sowohl körperliche als auch psychische Gewalt, also Treten, Prügeln, Schlagen, Drohen, Erpressen, aber auch Entziehen von Liebe und Zuwendung, Nichtbeachten, Ausgrenzen sowie ironische, sarkastische und zynische Bemerkungen. Gewalt kann gegen Personen und gegen Sachen angewendet werden. Gewalt zeigt sich in Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen, in hierarchischen Strukturen und in schulischen Maßnahmen wie Notengebung, Versetzung und Ordnungsmaßnahmen. Sie wird als strukturelle Gewalt bezeichnet.“6

In dieser Definition wird von der personalen Gewalt gesprochen, die sich noch einmal gliedert in körperliche, also physische Gewalt und in psychische Gewalt. Unter psychische Gewalt fallen Verhaltensweisen wie Drohen, Ausgrenzen usw. Zudem werden hier die

Gewalt gegen Sachen und die strukturelle Gewalt angesprochen, die sich laut Bründel auch im Schulleben widerspiegelt, zum Beispiel durch die Notengebung und die Gefährdung, nicht versetzt zu werden.

Hierbei handelt es sich um eine sehr umfassende Definition, die alle wichtigen Formen von Gewalt einbezieht. Es wird zwar nicht direkt von einer Schädigungsabsicht gesprochen, aus den Beispielen für Gewalt wie Drohen, Erpressen oder Ausgrenzen wird meiner Ansicht nach aber deutlich, dass es sich um absichtliche Verhaltensweisen handelt.

Über die Schädigungsabsicht hinaus ist Gewalt aber wahrscheinlich nicht in jeder Situation bewusst und kontrolliert eingesetzt. Handlungen, die eine Reaktion auf das Verhalten eines anderen sind, sind sicherlich weder geplant, noch absichtlich. Hier handelt es sich um einen Reflex, der zwar gewalttätig ist und auch Folgen beim Beteiligten mit sich zieht, jedoch nicht vorsätzlich sein muss.

Da in dieser Definition von Bründel schon die wichtigsten Formen von Gewalt genannt sind, möchte ich nun auf diese mit Blick auf die Schule näher eingehen. Das soll einmal verdeutlichen, welche Formen von Gewalt für Schule bedeutsam sind, aber auch, welche speziell für diese Arbeit wichtig sind und welche möglicherweise für eine eigene Definition ausgeschlossen werden können.

Genannt wurden bei Bründel die physische, die psychische und die strukturelle Gewalt.

1. Personelle Gewalt: a) Physische Gewalt:

Physische Gewalt kann sich zum einen gegen Personen aber auch gegen Sachen richten. In bezug auf Personen handelt es sich um Gewalttätigkeiten, wie zum Beispiel Prügeln, Schlagen, Treten, Rempeleien. Diesen Verhaltensweisen begegnet man in der Schule und auf dem Schulhof immer wieder. Es ist dann jedoch zu unterscheiden zwischen harmlosen Raufereien unter Freunden, unabsichtlichem Anrempeln eines Mitschülers und der vorsätzlichen Handlung, die andere schädigt. Handlungen, die Gegenstände, wie zum Beispiel Schulinventar zerstören oder beschädigen, werden auch als Vandalismus bezeichnet. Hierunter fällt auch der Diebstahl oder die gewaltsame Wegnahme von Eigentum anderer, sowie das Mitbringen von Waffen in die Schule.7 Physische Gewalt ist direkt beobachtbar und wird von Ulrike Popp als singulär auftretende, harte Form von Gewalt bezeichnet.8 Hiermit ist gemeint, dass diese Form der Gewalt von Außenstehenden leicht erkannt werden kann, allerdings bei der Beurteilung der jeweiligen Situation differenziert werden muss zwischen Absicht und Versehen bzw.

Unachtsamkeit, wie bereits oben erwähnt. Physische Gewalt, bei der jemand oder etwas geschädigt bzw. zerstört wird, wird auch von Schubarth als harte Form der Gewalt bezeichnet.9 Wobei hier folgendes angemerkt werden müsste: Inwiefern ist die physische Gewalt hart? In bezug auf die Handlungsweisen oder bezüglich der Folgen? Ich halte den Begriff „hart“ in diesem Zusammenhang für problematisch. Denn die Auswirkungen der psychischen Gewalt können durchaus folgenschwerer sein. Eine solche Zuschreibung ist zu pauschalisiert und wie „hart“ eine Gewalt ist, können nur die Betroffenen selbst entscheiden, weil sie auch die Folgen zu tragen haben. b) Psychische Gewalt:

Unter psychische Gewalt fallen unter anderem Verhaltensweisen auf verbaler Ebene wie: andere ärgern, andere hänseln, verspotten, auslachen, bewusst Streit anfangen, Gewaltausdrücke und Beschimpfungen benutzen, herabsetzende Bemerkungen äußern. Diese „verbale Gewalt“ wird in der Literatur als dominierend im Gegensatz zur physischen Gewalt angesehen.10 Oftmals werden solche Bemerkungen von Mitschülern und Mitschülerinnen als lustig angesehen, doch kann auch eine Person ins „Visier“ genommen und über einen längeren Zeitraum hinweg verbal attackiert werden, was zu Prestigeverlust11 führen kann. Diese Form der Gewalt ist häufig nicht so offensichtlich wie die körperliche Gewalt und kann deswegen von außen unterschätzt oder gar nicht erst bemerkt werden. (Näheres zur „verbalen Gewalt“ im nächsten Kapitel dieser Arbeit.) Unter psychische Gewalt fallen aber auch Drohungen, Erpressungen, das unter Druck setzen von anderen und nonverbale Verhaltensweisen. Nonverbale Handlungen sind zum Beispiel das bewusste Einsetzen von Gesten und Mimiken, um jemanden einzuschüchtern oder zu seelisch zu verletzen. Die psychische Gewalt bezieht sich nur auf Verhaltensweisen, die gegen Personen gerichtet sind.

2. Strukturelle Gewalt:

Unter strukturelle Gewalt fallen institutionelle Bedingungen, die häufig als einschränkend empfunden werden. In bezug auf Schule bedeutet strukturelle Gewalt die Notengebung, die Versetzungsgefährdung, das Konkurrenzdenken, die Einschränkung des Bewegungsdrangs oder auch der Frontalunterricht.12 Es handelt sich hier zwar nicht um eine direkte Schädigung oder Körperverletzung, dennoch können psychisch gesehen die gerade genannten Beispiele negative Auswirkungen auf die Schüler haben.

Nachdem ich nun die wichtigsten Formen von Gewalt genannt und erläutert habe, kann ich sagen, welche ich für meine Definition von Gewalt für bedeutsam halte und welche nicht. Auf jeden Fall spielt für meine Bearbeitung des Themas die physische Gewalt eine Rolle. Ich vermute, dass diese vorwiegend unter Jungen vertreten ist, möchte aber auch herausfinden, welche Rolle sie bei der Gewalt unter Mädchen spielt. Aus diesem Grund muss eine Definition die physische Gewalt beinhalten. Da meine zweite Vermutung ist, dass Mädchen eher auf psychischer Ebene Gewalt ausüben, muss die Begriffsklärung auch den Aspekt der psychischen Gewalt beinhalten.

Die strukturelle Gewalt ist zwar eine Form von Gewalt, kann hierbei aber außer Acht gelassen werden, da diese Erscheinungsform für meine Fragestellung nicht von Interesse ist. Sie würde unter anderem bei der Frage, welche Ursachen Gewalt hat, von Bedeutung sein, da auch die Schule, das Schulklima und die Struktur der Schule bei der Ursachenforschung mitberücksichtigt werden müssten. Dieser Frage werde ich, wie oben bereits erwähnt, jedoch nicht nachgehen.

Nach eingehender Diskussion über den Begriff „Gewalt“ kann ich nun folgende Kriterien aufstellen, die für mein Thema von Belang sind und aufgrund dessen in der Definition wieder zu finden sein sollten.

1. Gewalt zeigt sich in Machtverhältnissen.
2. Gewalt ist häufig mit einer Schädigungsabsicht verbunden, kann jedoch auch unkontrolliert als Reflex auftreten.
3. Gewalt kann physisch und psychisch sein.
4. Gewalt kann sich gegen Personen und gegen Dinge richten.

Bevor ich nun eine konkrete Definition formuliere, möchte ich noch auf den Begriff der

„Aggression“ zu sprechen kommen, um zu sehen, welche Rolle dieser dabei spielt.

Der Begriff „Aggression“ kommt von dem lateinischen Wort „aggredi“ und bedeutet

„angreifen“. Unabhängig von verschiedensten Definitionen könnte man, aufgrund der Herleitung aus dem Lateinischen, Gewalt und Aggression synonym verstehen. So wird es auch teilweise in der Literatur gehandhabt,13 unter anderem mit der Begründung, es gebe keine allgemeingültige Definition für „Aggression“.14 Bei meiner Recherche zu diesem Begriff hat sich dieser Eindruck bestätigt.

Jedoch nehmen Renate Valtin und Rosemarie Portmann eine Unterteilung des Begriffs

„Aggression“ in verschiedene Formen vor, die diese schlichte synonyme Verwendung in Frage stellt. Hier wird unterschieden zwischen der instrumentellen, der defensiven, der expressiven und der destruktiven Aggression. Die destruktive Aggression ist mit Gewalt gleichzusetzen und beinhaltet nach Renate Valtin „alle feindseligen Handlungen, die mit der Absicht ausgeführt werden, eine andere Person physisch oder psychisch zu verletzen oder Sachen zu beschädigen. In diesem Sinne ist Gewalt als eine Unterkategorie von Aggression zu fassen [...].“15 Dieses Verständnis von Aggression hat mich am meisten überzeugt und ich bin zu dem Entschluss gekommen, die Begriffe Gewalt und Aggression nicht einfach synonym zu verwenden. Wenn im Folgenden der Begriff „Aggression“ verwendet wird, ist hiermit die oben beschriebene „destruktive Aggression“ gemeint. Aufgrund diesen Verständnisses werde ich die Bezeichnungen „Gewalt“ und „destruktive Aggression“ synonym verwenden.

Nachdem ich mich nun mit Definitionen zum Begriff „Gewalt“ auseinandergesetzt und entschieden habe, welche Kriterien für diese Arbeit von Bedeutung sind, werde ich nun eine eigene Definition formulieren, was, im Zusammenhang mit dem Thema „Gewalt unter Mädchen in der Grundschule“, für mich „Gewalt“ ist.

Definition: Gewalt (destruktive Aggression) zeigt sich auch in Schule aufgrund von Machtverhältnissen. Sie kann sich gegen Personen wie Mitschüler oder Lehrer auf physischer (körperlicher) und psychischer (z. B. verbaler) Ebene und gegen Sachen (Vandalismus) richten.

Diese Begriffsklärung wird Grundlage für die weitere Arbeit mit diesem Thema sein.

Im folgenden komme ich nun zur Gewalt an Schulen allgemein, vorerst ohne Berücksichtigung der Geschlechter. Hierbei wird es um die verschiedenen Erscheinungsformen von Gewalt in Schulen und ihre Vorkommenshäufigkeit gehen. Dies soll wiederum Grundlage sein für das darauf folgende Kapitel, in dem es dann um die Geschlechterdifferenzen geht: Welche Formen von Gewalt treten auf und wie werden sie von den beiden Geschlechtern ausgeübt?

3. Gewalt an verschiedenen Schulformen

3.1 Erscheinungsformen von Schülergewalt und ihre Vorkommenshäufigkeit

Klaus Hurrelmann spricht davon, dass Kinder und Jugendliche Probleme im sozialen Bereich zeigen16, ca. 10 – 12 % leiden an psychischen Störungen, zu denen auch aggressive und gewalttätige Verhaltensweisen gehören. Lehrerinnen und Lehrer klagen über körperliche und psychische Belästigungen unter Schülern, die Zahl der verhaltensauffälligen und konzentrationsgestörten Kinder nimmt zu, es wird von zappeligen, unruhigen und nervösen Kindern gesprochen.17 Auch die Öffentlichkeit ist der Meinung, dass die Gewalt an Schulen drastisch zugenommen hat. Verschiedenste Zeitungsberichte und „Horrormeldungen“ unterstützen diese Auffassung. Doch eine generelle Zunahme von Gewalt kann wissenschaftlich nicht belegt werden. Angeblich entsteht dieser Eindruck auf Grund einer höheren Sensibilisierung gegenüber Gewalt. Andererseits wird davon gesprochen, dass ein Drittel der Schüler Angst vor Gewalt seitens der Schule hat.18 Ist diese Gefahr nicht irgendwo begründet? Wenn so viele Schüler Angst vor Gewalt haben, lässt sich vermuten, dass sie entweder Gewalt häufig im Schulalltag beobachten oder selbst Opfer von Gewalt sind. Die Angst vor Gewalt hat ihren Ursprung wahrscheinlich im Alltag. Wer hat nun Recht? Die Öffentlichkeit mit der Vermutung einer Zunahme von gewalttätigem Verhalten oder diejenigen, die alles ein wenig verharmlosen wollen, indem sie von einer höheren Sensibilisierung gegenüber diesem Thema sprechen?

Um dieser Frage nachzugehen, werde ich verschiedene Studien anführen, die in der Literatur zu finden sind. All diese Studien beschäftigen sich mit der Verbreitung von Gewalt und Aggression an Schulen.

So fassen Hanewinkel, Niebel und Ferstl einige Querschnittsuntersuchungen folgendermaßen unter qualitativen Aspekten zusammen:19 Eine generelle Gewaltzunahme kann nicht belegt werden, da hierzu Daten aus Studien fehlen. Jedoch ist eine Zunahme von verbaler bzw. psychischer Gewalt zu beobachten, sowie eine zunehmende Brutalität bei auftretenden Auseinandersetzungen, eine geringere Hemmschwelle und schnellere Eskalation aggressiv aufgeladener Situationen. Beim Vandalismus ist jedoch keine Zunahme zu erkennen, allerdings kann hier von einer höheren Gleichgültigkeit gegenüber vorhandenem Vandalismus gesprochen werden.

Beim Vandalismus lässt sich also beobachten, dass die Zerstörung von Eigentum anderer hingenommen wird, ohne einzugreifen. Einerseits soll zwar eine größere Sensibilisierung gegenüber dem Thema Gewalt vorliegen, aber andererseits wird vorhandene und beobachtete Gewalt laut der Ergebnisse der Studien auch akzeptiert und gleichgültig hingenommen. Diese beiden Aspekte schließen sich nicht unbedingt aus, jedoch sollte man doch davon ausgehen, dass eine höhere Sensibilisierung auch ein schnelleres Eingreifen mit sich zieht und Gewalt nicht folgenlos akzeptiert wird. Gewalt wird also durchaus beobachtet und wahrgenommen, jedoch gehen die meisten Beobachter laut der Studien wohl darüber hinweg, ohne etwas zu unternehmen. Möglicherweis aus Gleichgültigkeit oder, was wahrscheinlicher ist, aus Angst, auch Opfer von Gewalt zu werden.

Bei der personalen Gewalt gegen Lehrer und von Lehrern gegen Schüler dominiert wieder die verbale Gewalt, so werden bei der Interaktion zwischen Lehrern und Schülern also eher auf sprachlicher Ebene Aggressionen ausgeübt. Das Problem bei der nonverbalen und verbalen Gewalt ist die Gefahr, dass auch hier die Hemmschwelle heruntergesetzt wird und Schüler, die sich nicht mehr verbal wehren können, zur physischen Gewalt greifen und ihr Gegenüber tätlich angreifen. So wird die psychische Gewalt häufig als Vorstufe der physischen Gewalt bezeichnet. Einmal, weil sie die Hemmschwelle bei sehr häufigem Gebrauch herunter setzen kann und zum zweiten, weil sie körperliche Gewalt provozieren kann. Diese Provokation kann entstehen, wenn sich einer nicht mehr verbal wehren kann oder wenn er sich dermaßen angegriffen fühlt, dass er ausrastet und zu Schlägen oder ähnlichem greift.

Zur extremen Form der physischen Gewalt, dem Waffengebrauch unter Schülern, liegen bisher nur wenige Daten vor. Es lässt sich jedoch sagen, dass Schüler über eine breite Palette von Waffen verfügen. Inwieweit diese auch zum Einsatz kommen, ist allerdings unklar.20

All diese Ergebnisse lassen sich in einem Zitat von Wilfried Schubarth zusammenfassen, das ich bereits bei der anfänglichen Begriffsklärung angeführt habe: „Je härter die Gewaltform, desto weniger tritt auf.“ Davon ausgehend, dass Schubarth sich hier auf die physische Gewalt bezieht, wird dies anhand der Studien sehr deutlich. Die verbale Gewalt steht an erster Stelle, gefolgt von körperlicher Gewalt und Brutalität und zuletzt dem Vandalismus.

Um dies noch weiter zu verdeutlichen, führe ich eine weitere Untersuchung an, die von den oben genannten Personen Hanewinkel, Niebel und Ferstl in Schleswig-Holstein durchgeführt wurde. Hierbei wurden 1186 Schüler, 559 Lehrer (davon 59 Schulleiter) und 637 Eltern von 59 öffentlichen allgemein- und berufsbildenden Schulen befragt.

Im Blickfeld stand die Entwicklung des Ausmaßes der Gewalt an verschiedenen Schulen und die Vorkommenshäufigkeit der einzelnen Erscheinungsformen.21

Die Zusammenfassung der Ergebnisse ergab, dass die befragten Schulleiter nur eine leichte Zunahme der Gewalt feststellen konnten, unabhängig vom Schultypus.

Unter den verschiedenen Schulen in Schleswig-Holstein sind die Berufsschulen und die Grundschulen am wenigsten von Gewalt betroffen. Dennoch sind die Grundschulen nicht frei von Gewalt und interessant ist hier der Blick auf die Vorkommenshäufigkeit der einzelnen Erscheinungsformen speziell in dieser Schulform, auch im Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit.

Bei dieser Fragestellung ergaben sich folgende Ergebnisse zur Vorkommenshäufigkeit der Gewaltformen an Grundschulen: Weit vorne liegen verbale und nonverbale Aggressionen (ca. 30%), an zweiter Stelle steht die Gewalt von Schülern gegen Schüler (ca. 12%), gefolgt von Gewalt gegen Lehrer (ca. 4%) und Gewalt gegen Sachen (Vandalismus) (ca. 3%).

Diese Ergebnisse bestätigen die bereits bei der anderen Studie aufgestellte Rangordnung der Gewaltformen. Zwar spielen Gewalt gegen Lehrer und Vandalismus an Grundschulen eine geringe Rolle, jedoch finde ich die Häufigkeit der verbalen und nonverbalen Gewalt erschreckend. Denn nicht die Schlägereien und Raufereien, die immer wieder auf dem Schulhof und im Klassenzimmer stattfinden, stehen an der Spitze der beobachteten Gewalt, sondern psychische Angriffe, besonders auf verbaler Ebene.

Es ist schwer, von außen psychische Gewalt zu bemerken, denn häufig nehmen nur die Opfer, die Täter und vermutlich noch die direkten Freunde/Mitschüler diese verbalen Angriffe wahr. Ein Außenstehender hat Schwierigkeiten, diese versteckten Wortgefechte zu bemerken und sie richtig einzuschätzen. Also, inwiefern es sich um ein einmaliges Wortgefecht handelt oder ob ein Schüler / eine Schülerin dauerhaft Opfer solcher Verbalattacken ist. Aus diesem Grunde rechnen vermutlich viele mit einer häufigeren physischen Gewalt, weil diese eben offensichtlicher und somit einfacher zu erkennen ist. Die Häufigkeit der psychischen Gewalt zeigt jedoch, dass hier durchaus eine ernstzunehmende Gewaltform vorliegt, die nicht unterschätzt werden sollte.

Dies wird durch einige weitere Ergebnisse bestätigt: Heinz Günter Holtappels und Ulrich Meier haben Untersuchungen durchgeführt und die Ergebnisse einiger Schülerselbstreporte in Grafiken zusammengestellt. Diese Grafiken zeigen noch mal deutlich die Vorkommenshäufigkeit verschiedener physischer und psychischer Gewaltformen. Zuvor werde ich aber noch kurz auf eine Studie von Wilfried Schubarth eingehen. In dieser empirischen Untersuchung ging es um die Rangfolge und das Ausmaß schulischer Gewaltphänomene (bezogen auf sächsische Schulen) unter der

Fragestellung: Welche Gewaltphänomene werden wie oft von Schülern und Lehrern wahrgenommen?

Die folgende Grafik bestätigt die bisher genannten Ergebnisse verschiedener Studien:22

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Vorkommenshäufigkeit der Gewaltphänomene in der Wahrnehmung von Schülern, Lehrern und Schulleitern (in %). Die angegebenen Werte beziehen sich auf die zusammengefassten Kategorien „fast täglich“ und mehrmals wöchentlich“ einer sechsstufigen Skala (... „mehrmals im Monat“, „alle paar Monate“, „seltener“, „nie“).

Sowohl Schüler als auch Lehrer nehmen die verschiedenen Gewaltformen ähnlich häufig wahr. Wieder stehen psychische Aggressionen sowohl gegen Schüler als auch gegen Lehrer an der Spitze der Rangfolge, gefolgt von körperlichen Angriffen und Vandalismus. Die extremen Formen der Gewalt wie sexuelle Belästigung, Erpressung und Waffeneinsatz stehen wiederum an letzter Stelle.

Unterschiede in der Wahrnehmung der Gewaltphänomene gibt es bei den Formen der psychischen Aggressionen gegen Schüler und gegen Lehrer, bei körperlichen Angriffen, beim Vandalismus und bei sexueller Belästigung. Diese Unterschiede sind zwar nicht so gravierend, dass sie die gesamte Rangfolg0e verändern, doch sollten sie nicht unerwähnt bleiben. Die Unterschiede bei den psychischen Aggressionen, den körperlichen Angriffen und dem Vandalismus werden so erklärt, dass die Schüler diese aufgrund eines Normalisierungsprozesses nicht mehr so vermehrt wahrnehmen wie die Lehrer.23 Diese gehen vermutlich aufgrund der hohen Aktualität dieses Themas sensibler und aufmerksamer an einzelne Phänomene heran als dies bei den Schülern der Fall ist, die denen wahrscheinlich keine so hohe Bedeutung beimessen. Neben dem Normalisierungsprozess, den Schubarth anführt, liegen die Unterschiede in der Wahrnehmung sicherlich auch in einer verschiedenen Definition begründet. Für

SchülerInnen handelt es sich bei vielen Verhaltensweisen nicht um Gewalt, sondern um Spaß, während die Lehrkräfte Situationen anders interpretieren und als Gewalt bezeichnen. Dies wäre ein weiterer Grund, neben dem zuvor angeführten. Die unterschiedliche Wahrnehmung bezüglich der sexuellen Belästigung lässt sich durch die Nähe am Gewaltgeschehen erklären. Auf diese Form von Gewalt reagieren Schüler wahrscheinlich sehr sensibel und nehmen so jede sexuelle Belästigung wahr. Die Lehrer, die an dem Geschehen auf dem Schulhof und im Klassenraum nicht so beteiligt sind, können diese nicht so verstärkt wahrnehmen, wie die Schüler selbst. Nun könnte man sicherlich sagen, dass die Lehrer auch bei diesem Thema sehr aufmerksam sind und diese deswegen ebenso wahrnehmen müssten wie psychische Gewalt, jedoch kann hier nicht von einem Normalisierungsprozess bei den Schülern gesprochen werden. Somit lässt sich erklären, warum die Schüler sexuelle Belästigungen häufiger wahrnehmen als die Lehrkräfte.

Die unterschiedliche Wahrnehmung bei den Aggressionen gegen Lehrkräfte lassen sich meiner Meinung nach folgendermaßen erklären: Aggressionen gegen Lehrer in Form von Lästern, spitzen Bemerkungen usw. finden häufig nur im Rahmen der Schülerschaft statt, so dass die betroffenen Lehrer diese nur dann erfahren, wenn sie deutlich gegen sie gerichtet bzw. ausgesprochen werden. In der Regel wird aber nur hinter dem Rücken über bestimmte Lehrer hergezogen und gelästert, zum Beispiel in den kleinen oder großen Pausen oder am Nachmittag. Direkte Streiche und Angriffe gegen einzelne Lehrpersonen gehören aber wohl zur Seltenheit. Darüber hinaus müssten sich Lehrkräfte Schwächen eingestehen, wenn sie zugeben, dass SchülerInnen gegen sie Gewalt ausüben. Lehrpersonen sollten in der Regel als Respektspersonen betrachtet werden, gegen die sich die Schüler nicht auflehnen. Würden sie jedoch zugeben, dass Schüler sich ihnen gegenüber gewalttätig verhalten, würden sie gleichzeitig einräumen, nicht genügend Respekt von den Schülern zu bekommen. Ein weiterer Grund wäre der, dass die Gewalt der SchülerInnen eine Reaktion auf das Verhalten der Lehrperson ist. Demütigt und erniedrigt eine Lehrkraft SchülerInnen muss er/sie damit rechnen, in deren Visier genommen zu werden. Gewalt von SchülerInnen gegen Lehrer kann also auch Folge eines bestimmten Lehrerverhaltens sein. Vermutlich tendieren LehrerInnen dazu, die Realität zu verniedlichen, um sich nicht selbst ins schlechte Licht zu rücken.

Schubarth äußert sich zudem noch zu Aggressionen von Lehrern gegen Schüler, die er als nicht unbeträchtlich einschätzt. 41% der befragten Schüler sagen, dass es Lehrer gibt, die Schüler vor der ganzen Klasse blamieren und teilweise sogar handgreiflich werden.24 Im Vergleich zu den Aggressionen von Schülern gegen Lehrer sind diese Zahlen erschreckend hoch und sollten meiner Meinung nach in die Grafiken miteinbezogen werden, um auch hierauf aufmerksam zu machen. Denn durch Aggressionen von Lehrern gegen Schüler werden diese nur verunsichert und unmotiviert. Auf keinen Fall ist ein solches Klima, was seitens der Lehrer dadurch geschaffen wird, förderlich für den Unterricht. Dieser Punkt belegt noch mal die gerade genannte Verniedlichungstendenz der LehrerInnen. Die hohe Gewalt von Lehrpersonen gegen SchülerInnen bestätigt, dass Aggressionen gegen Lehrkräfte durchaus eine Reaktion auf deren Verhalten sein kann.

Zusammenfassend lässt sich nochmals sagen, dass psychische Aggressionen zum Schulalltag gehören und auch so von Schülern und Lehrern wahrgenommen werden. Formen wie sexuelle Belästigung, Erpressung und Waffeneinsatz kann man als Minderheiten bezeichnen.

Eine Studie von Holtappels und Meier (1995) zu den Erscheinungsformen von Schülergewalt differenziert die physische und die psychische Gewalt in einzelne Gewalthandlungen und zeigt jeweils deren Vorkommenshäufigkeit auf. Diese Untersuchung bezieht sich auf Schüler von 11 bis 17 Jahren aus dem Bundesland Hessen. Diese Daten sind, auch wenn sie die Grundschulen nicht berücksichtigen, dennoch interessant, weil physische Gewalt nochmals unterteilt wird in acht Erscheinungsformen und psychische Gewalt in fünf Erscheinungsformen. Des weiteren handelt es sich hier nicht um Wahrnehmungen von Gewalt, sondern um Schülerselbstreporte. Den Schüler/innen wurden für diese Befragung eine Liste mit gewalttätigen Handlungen vorgelegt, zu denen sie jeweils angeben sollten, ob und wie häufig sie solch eine Handlung begangen haben. Die Antwortmöglichkeiten waren sowohl bei den Formen der physischen als auch bei den Formen der psychischen Gewalt: „alle paar Monate“, „mehrmals monatlich“, „mehrmals wöchentlich“, „fast täglich“.

Die Ergebnisse bestätigen noch mal die bisher genannte Rangfolge: Psychische Gewalt tritt häufiger auf als physische Gewalt. Wie oft nun aber welche Gewalthandlung von Schülern begangen wird, zeigen die folgenden Grafiken. dich mit anderen geprügelt anderen gewaltsam etwas weggenommen im Schulgebäude etwas absichtlich beschädigt Sachen der Schule absichtlich zerstört mit anderen jemand verprügelt Sachen anderer kaputtgemacht andere auf dem Schulweg verprügelt... Waffen mit in die Schule gebracht

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten25

Diese Grafik zeigt eine Rangfolge der Formen physischer Gewalt. An erster Stelle steht hier das Prügeln mit anderen Schülern (31%), gefolgt von der gewaltsamen Wegnahme fremden Eigentums (20%) und der Beschädigung der Schulgebäudes (18%) sowie der Zerstörung von Schulinventar (15%). Zu jeweils 14% werden andere unter Mithilfe von Mitschülern verprügelt und fremdes Eigentum zerstört. An letzter Stelle stehen mit je 11% das Verprügeln anderer auf dem Schulweg und das Mitbringen von Waffen in die Schule. Insgesamt werden all diese Gewalthandlungen laut Aussagen der Schüler nur alle paar Monate selbst ausgeübt, gefolgt von der Antwortmöglichkeit „mehrmals monatlich“. Die letzten Antwortvorgaben tauchten im Verhältnis hierzu nur geringfügig auf.

Bei dieser Rangfolge stehen nicht so harte Formen an erster Stelle. Das Verprügeln von anderen und das Zerstören von Schuleigentum, sowie das Mitbringen von Waffen in die Schule halte ich für eine härtere Gewaltform als das prügeln untereinander. Das Prügeln und Raufen unter den SchülerInnen kann häufig von den Beteiligten auch als Spaß betrachtet werden.

Interessant sind hier nun auch die Ergebnisse zur psychischen Gewalt, da diese laut der bisher genannten Studien häufiger auftritt als Formen der physischen Gewalt. Hierüber gibt die folgende Grafik Aufschluss:26

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der Bereich der psychischen Aggressionen wird hier unterteilt in 5 Erscheinungsformen, bei denen es um das Hänseln, die Beschimpfung und das Ärgern gegenüber Schülern und Lehrern geht.

Insgesamt lässt sich schon auf den ersten Blick erkennen, dass psychische Aggressionen wesentlich häufiger auftreten als physische Aggressionen. Während sich die Prozentangaben bei der obigen Grafik im Bereich von 11% bis 31% bewegen, fallen sie bei dieser Grafik um einiges höher aus. Die niedrigste hier erwähnte Zahl ist 35%, also höher als der geringste Wert bei den physischen Aggressionen. Der höchste hier genannte Wert liegt bei 57% (andere Schüler hänseln). Die Frage, ob andere mit gemeinen Ausdrücken beschimpft werden, wurde von 54% der Befragten bejaht. Es folgen das Ärgern anderer im Unterricht (51%), das Bewerfen anderer mit Sachen (41%) und das Ärgern eines Lehrers (35%).

Doch nicht nur die Gesamtwerte liegen höher als bei der physischen Gewalt, auch die Werte der einzelnen Antwortvorgaben zeigen eindeutig, dass psychische Gewalt an der Tagesordnung in Schulen ist. Während bei der Grafik der körperlichen Gewalt die meisten Antworten im Bereich „alle paar Monate“ lagen und die übrigen Antwortmöglichkeiten nur verhältnismäßig gering auftraten, zeigt sich hier ein anderes Bild. Die Aussage „alle paar Monate“ wird auch hier am häufigsten angeführt, dennoch fallen auch die anderen Aussagen wie „mehrmals monatlich“, mehrmals wöchentlich“, „fast täglich“ höher aus. Diese und die bereits in diesem Abschnitt genannten Ergebnisse bestätigen die Vermutung, dass nicht die körperlichen Aggressionen, sondern die psychischen Aggressionen in Form von Hänseln und Beschimpfen, also auf verbaler Ebene, die Gewalt im Schulalltag regieren.

Obwohl Gewalt an Grundschulen ein im Vergleich mit anderen Schulformen geringes Problem darstellt, sind dennoch auch hier Erscheinungsformen von Gewalt zu erkennen. Die aufgestellte Rangfolge zeigt, dass psychische Gewalt auf verbaler und nonverbaler Ebene an erster Stelle steht, gefolgt von physischer Gewalt. Die extremen Formen wie Erpressung, sexuelle Belästigung und Waffeneinsatz treten kaum auf.

Zudem wurde deutlich, dass psychische Gewalt, wenn sie auch häufiger vorkommt, eine Vorstufe der physischen Gewalt sein kann. Durch ein Herabsetzen der Hemmschwelle oder durch Provokation können diese Aggressionen schnell eskalieren und auf körperlicher Ebene mit Verletzungen weitergeführt werden.

Abschließend lässt sich sagen, dass die von der Öffentlichkeit besagte deutliche Zunahme der Gewalt nicht der Realität entspricht, denn Studien ergaben, dass lediglich eine geringe Gewaltzunahme an den Schulen beobachtbar ist. Doch Forscher, die von übertriebener Panik sprechen, untertreiben mit ihrer Aussage. Die vorherrschende psychische Gewalt an (Grund-) Schulen sollte nicht unterschätzt werden und somit ist eine Sensibilisierung diesem Thema gegenüber nicht falsch, sondern der Situation angemessen. Denn nur so können versteckte Wortgefechte unter Mitschülern auch erkannt werden. Dieses Erkennen von Gewalt in den Klassen ist Grundlage einer jeden Präventions- und Interventionsarbeit.

Die Aussagen in diesem Kapitel bezogen sich nicht nur auf Grundschulen, sondern auch andere Schulformen. Neben der Studie von Hanewinkel, Niebel und Ferstl, die Ergebnisse zu verschiedenen Schulformen lieferten, standen mir leider keine anderen Untersuchungen zur Verfügung. Die Rangfolgen der unterschiedlichen Erscheinungsformen von Gewalt sehen für alle Schulformen etwa gleich aus, verbale Gewalt steht an erster Stelle, gefolgt von den physischen Formen. Speziell für die Grundschulen lassen sich folgende Vermutungen formulieren: Der Umfang des Gewaltvorkommens könnte insgesamt geringer sein als an anderen Schulen, was bereits die Studie bestätigte, und auch die besagten „harten“ Formen werden wahrscheinlich seltener auftreten. Darüber hinaus werden eventuell Differenzen zwischen den Geschlechtern bei der Gewaltausübung kaum in Erscheinung treten. Die bisherigen Ergebnisse schildern Gewalt hauptsächlich unter 10-15jährigen, ausgehend von der Untersuchung an Grundschulen lässt sich vermuten, dass die Gewalt mit ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen und den Differenzen unter den Geschlechtern hier nicht so stark vertreten ist, wie beispielsweise an Hauptschulen.

3.2 Verbale Gewalt

Wie sich im vorherigen Kapitel gezeigt hat, steht die zur Gewalt gehörende verbale Gewalt an der Spitze der Vorkommenshäufigkeit verschiedener Gewaltformen. Kurz erläutert wurde dieser Begriff bereits bei der Begriffsklärung „Gewalt“ im zweiten Kapitel, jedoch werde ich in diesem Zusammenhang diese Erscheinungsform noch einmal näher betrachten, da sie, wie aus den Grafiken hervorgeht, keine unbeachtliche Rolle im Schulleben spielt.

Unter verbale Gewalt fallen alle aggressiven Kraftausdrücke, wie: Ich hau dir in die Fresse, Arschloch, Wichser, blöde Lesbe, alte/schwule Sau, Hurensohn, Fick deine Mutter und ähnliche. Durch solche Ausdrücke wird über unsere Sprache Gewalt verübt.

Die Sprache ist ein wichtiger Teil des Lebens, über sie erfassen wir Dinge und kommunizieren mit anderen Menschen. Aufgrund dieser bedeutenden Rolle kann die Sprache besonders wirkungsvoll als Macht- und Gewaltmittel eingesetzt werden. Denn beinahe jeder ist einer Sprache mächtig und kann diese in verschiedensten Situationen einsetzen, so auch als Mittel zur Umsetzung von Gewalt. Aber nicht jeder ist in der Lage, auf diese Art von Gewalt zu antworten und mit verbalen Gegenangriffen zu reagieren. Es bedarf also nicht nur der Fähigkeit zu sprechen, sondern auch der Fähigkeit, die Sprache für diese Mittel einzusetzen.

Neben diesen Beleidigungen in Form von aggressiven Kraftausdrücken zählen auch Ironie, Verhöhnung, Lächerlichmachen, Fluchen, Toben, Schreien, Ignorieren und Verleumdung zur verbalen Gewalt. Verbale Gewalt ist also jene Verhaltensweise, die auf sprachlicher Ebene andere Menschen absichtlich verletzt.

Es handelt sich hierbei um seelische Verletzungen und Gefühle, die Opfer bei solchen Verbalattacken empfinden. So leiden Kinder, die sich nicht gegen Kraftausdrücke wehren können und die nicht so schlagfertig sind, sehr unter solchen Aggressionen anderer. Ich spreche hier nicht über kleine Bemerkungen, denen vermutlich jeder mal zum Opfer fällt, sondern über gezielte Gewalt gegen eine Person, die immer wieder solche verbalen Angriffe über sich ergehen lassen muss, vorwiegend in der Schule, wo sich nicht die Gelegenheit bietet, den Mitschülern/den Tätern aus dem Weg zu gehen. In solchen Kindern entstehen Gefühle wie Wut über die Dreistigkeit einiger Mitschüler, Enttäuschung, weil man möglicherweise Menschen anders eingeschätzt hat oder erwartet hat, dass Freunde einem in solch einer Situation helfen oder eventuell Enttäuschung über sich selbst, weil man sich nicht wehren kann, Ärger über die Mitschüler, die einen verbal fertig machen und Ohnmacht über seine eigene Hilflosigkeit.27 All diese Gefühle können mehrere Folgen haben. Sie führen möglicherweise zur Isolation in der Schule, das Kind geht anderen aus dem Weg, um somit auch den Angriffen aus dem Weg zu gehen. Die Pausen werden dann vermutlich allein irgendwo in einer Ecke des Schulhofes verbracht, um wenigstens für einige Zeit Ruhe zu haben. Denn auch während des Unterrichts kann verbale Gewalt auftreten. Im Flüsterton lässt sich viel vor dem Lehrer verheimlichen und so können Kinder auch unbemerkt zum Opfer werden, durch leise, aber dennoch verletzende Bemerkungen, durch nonverbale Signale wie das ständige Beworfen werden von Papierkügelchen, durch Briefchen, die heimlich durch die Klasse gereicht werden, usw.

Die Folgen einer verbalen Gewalt können neben der Isolation aber auch Gegengewalt sein. Bereits im Kapitel 3.1 wurde erwähnt, dass psychische Gewalt die Vorstufe von physischer Gewalt sein kann. Dies ist auch hier der Fall. Die zur psychischen Gewalt gehörende verbale Gewalt kann dazu führen, dass Opfer, die sich nicht verbal wehren können, zur körperlichen Gewalt greifen. So werden eigene Aggressionen geweckt, die zur weiteren physischen Gewalt führen können.

Doch warum üben Kinder überhaupt verbale Gewalt aus? Kinder wollen Grenzen testen, zu Hause bei den Eltern und Geschwistern, in der Schule bei den Lehrern und bei den Mitschülern und in der Freizeit bei den Freunden. Sie wollen ihre aggressiven Kräfte erproben und anderen zeigen, dass sie sich durchsetzen können und Macht haben.28 Wenn sie merken, dass das Gegenüber sich nicht wehren kann oder einfach nur sprachlos ist, fühlen sie sich dieser Situation mächtig. Der Bedeutungsinhalt des Gesagten spielt dabei oft keine Rolle, meistens sind sie auch gar nicht über die genaue Bedeutung eines Ausdrucks informiert. Es geht um die Wirkung, die damit beim Opfer erzielt wird, um das in Rage bringen des Anderen, um das Austesten von Grenzen und um zu sehen, wie weit man bei einer bestimmten Person gehen kann.

Häufig wird auch gesagt: „Einige Tage Kindergarten können die ganze Erziehung zu Nichte machen.“ Die ganze Erziehung wird dort sicher nicht zu Nichte gemacht, aber häufig erlernen Kinder dort und in der Grundschule ein solches Verhalten. Schimpfwörter anderer Kinder werden ohne sie zu hinterfragen übernommen und somit wird das Verhalten anderer nachgeahmt. Beinahe täglich wird das Repertoire an Schimpfwörtern und Kraftausdrücken erweitert.

Hier sammeln Kinder auch die ersten Erfahrungen mit Reaktionen auf verbale Gewalt. Sie erleben das Gefühl, in einer Situation „mächtiger“ zu sein, während der andere momentan hilflos ist.

Die Bedeutung des Gesagten spielt dabei, wie schon erwähnt, keine große Rolle. So besitzen die Ausdrücke häufig sexualisierten Inhalt, der die Erwachsenen zwar sprachlos macht und erschreckt, der den Kindern jedoch nicht wirklich bewusst ist.

Betrachtet man den Humor von Schülern in der Grundschule fällt auch auf, dass sehr viele Witze und Zeichnungen Inhalte der Fäkalsprache aufweisen.29 Der Humor in diesem Altersstadium bezieht sich häufig auf sexualisierte Inhalte, diese bringen die Kinder zum Lachen, ohne dass sie über den Inhalt des Gesagten nachdenken. So können sich sowohl Mädchen als auch Jungen über „fliegende Unterhosen“, „dampfende Kacke“ und

„urinierende Kinder“ amüsieren. Darüber hinaus probieren sie gerne Wortspiele mit Ausdrücken der Fäkalsprache aus. Bei all dem geht es aber nicht speziell um die sexuellen Inhalte.

Zu unterscheiden ist in den jeweiligen Situationen also, ob es sich um verbale Gewalt handelt, mit der Grenzen ausgetestet und andere sprachlos und zugleich hilflos gemacht werden sollen oder ob es sich lediglich um eine Form des kindlichen Humors handelt. Dennoch sollten die Kinder eine Resonanz von einem Erwachsenen über das Gesagte bekommen. Es muss ihnen erklärt werden, was sie inhaltlich sagen und was dies bei anderen bewirken kann. Sie müssen sich über die verwendeten Ausdrücke im klaren sein und wissen, dass diese andere Menschen verletzen können. Dennoch kann man verbale Gewalt natürlich nicht verhindern, denn Kinder sind sich bei vielen Verbalattacken durchaus darüber bewusst, was sie damit „anrichten“ können und setzen diese kontrolliert ein.

Wie solche bewusst eingesetzte verbale Gewalt aussehen kann, zeigen folgende Beispiele:30

- Eine Schülerin meldet sich bei der neuen Lehrerin zu Wort: „Alle finden sie eine blöde Kuh.
Ich finde sie jedoch nicht so schlimm!“
- „Erzähl mal von deinem Unfall.“ „Welcher Unfall?“ „Du willst doch nicht sagen, dass du mit solch einem Gesicht auf die Welt gekommen bist!“
- Gespräch zwischen zwei Kindern: „Nenn mich Arschloch“, sagt das ältere Kind zum jüngeren. „Wieso soll ich dich Arschloch nennen“, fragt das jüngere Kind. „Los, nenn mich Arschloch“, sagt das ältere. „Nein, ich will dich nicht Arschloch nennen“, entgegnet das jüngere. „Du hast mich sofort Arschloch zu nennen“, fordert das ältere schließlich barsch.

„Also gut, du bist ein Arschloch.“ Darauf das ältere: „Was fällt dir ein, mich Arschloch zu nennen, sofort kriegst du eine Tracht Prügel.“

Das, worüber Kinder hier lachen, versetzt Erwachsene in Sprachlosigkeit und Fassungslosigkeit. Vor allem die ersten beiden Beispiele sind sehr verletzend für das jeweilige Opfer, weil sie persönlich angegriffen werden. Im ersten Beispiel geht es um die Person selbst, wobei sie nicht einmal eine schlechte Lehrerin sein muss. Es handelt sich um eine neue Lehrerin und die Schülerin will vermutlich nur ihre Grenzen testen, um zu sehen, wie weit sie bei dieser Lehrerin gehen kann und was sie sich dort erlauben darf. Sobald eine neue Lehrkraft eine Klasse betritt, hat sie die Aufgabe, sich Respekt zu erarbeiten und den Schülern zu zeigen, wo die Grenzen sind. Denn diese werden eindeutig, wie das Beispiel zeigt, sofort zu Beginn getestet. Die zweite Situation könnte unter Schülern stattfinden. Der verbale Angriff zielt hier auf das Aussehen des Anderen. Die dritte Situation spiegelt die schon genannte Gefahr wieder, dass psychische Gewalt eine Vorstufe der physischen Gewalt sein kann. Hier ist es zwar nicht das Opfer, das sich nicht anders zu helfen weiß, sondern der Täter selbst. Dieser war vermutlich von Beginn an darauf aus, die Situation durch körperliche Gewalt zu beenden, da er das Gespräch gezielt dahin lenkte. Und es durchaus vorstellbar, dass diese Situation tatsächlich mit Prügeln endet.

Diese Beispiele sollten einmal zeigen, wie verbale Gewalt aussehen kann und auch, wie vielfältig sie ist. Sie kann eben durch Schimpfwörter, aber auch durch fiese Bemerkungen ausgeübt werden. Anhand dieser kurzen Gespräche zeigt sich auch, wie verletzend verbale Angriffe sein können. Denn körperliche Wunden heilen mehr oder weniger schnell, doch solche Attacken greifen die Würde eines Menschen an und sind aufgrund dessen sehr verletzend.

Laut der Ergebnisse der Studien scheint all dies häufig im Schulalltag auftreten. Doch welche Rolle spielt die verbale Gewalt unter Mädchen? Ich vermute, dass Gewalt unter Mädchen in der Grundschule eher auf verbaler Ebene ausgeübt wird. Während Jungen sich prügeln und so eher auf physischer Ebene agieren, verletzen Mädchen vermutlich durch psychische Aggressionen wie Ausgrenzen. Aber auch Lästern, fiese Bemerkungen und Sprüche sowie Witze auf Kosten eines anderen Mädchens scheinen in das Gewaltrepertoire von Mädchen zu gehören. Wie dieses Repertoire aber genau aussieht und welche Rolle verbale Gewalt dabei spielt, sollen die nächsten Kapitel klären.

4. Gibt es eine Geschlechterdifferenz bei Gewalt?

4.1 Gewaltwahrnehmungen

4.1.1 Allgemeines

Bevor ich auf die tatsächliche Gewalt eingehe, werde ich mich mit der Gewaltwahrnehmung beschäftigen. Hierbei stellen sich folgende Fragen: Was wird als Gewalt empfunden? Wird Gewalt von unterschiedlichen Menschen unterschiedlich wahrgenommen und wenn ja, warum? Gibt es konkrete Unterschiede zwischen den Geschlechtern? Nehmen möglicherweise Mädchen Gewalt anders wahr? Ist bei ihnen die Toleranz gegenüber physischer Gewalt eventuell niedriger? Diesen Vermutungen und Fragen werde ich in diesem Kapitel nachgehen. Dazu werde ich mich kurz allgemein mit unterschiedlichen Gewaltwahrnehmungen auseinandersetzen und dann auf diese im Vergleich Jungen/Mädchen eingehen.

Generell lässt sich sagen, dass am häufigsten Täter und Opfer Gewalt wahrnehmen, auf Grund ihrer hohen Verwicklung in Gewaltgeschehen.31 Sowohl diejenigen, die Gewalt ausüben, als auch diejenigen, die Zielscheibe von Gewalt sind, sind natürlich mehr mit Gewalt konfrontiert als unbeteiligte. Aus diesem Grund wird gesagt, dass solche Personen mehr Gewalt wahrnehmen, da dieses Thema sie auch mehr beschäftigt.

Aus dem gleichen Grund nehmen Mitglieder einer Gruppe, die Konflikte eher mit gewalttätigen Handlungen als mit der Sprache lösen, ebenso mehr Gewalt wahr.32 Denn diese Personen zählen im Grunde zu den oben genannten Tätern, die durch die häufige Verwicklung in solche Situationen diesem Thema aufmerksamer gegenüberstehen.

Dies lässt sich auch anhand vieler anderer Beispiele aus dem Alltag bestätigen. Sobald jemand von einer Sache persönlich betroffen ist, nimmt er diese auch in seiner Umwelt aufmerksamer und somit häufiger wahr. Dies lässt sich auch auf die Gewalt übertragen: Täter und Opfer haben quasi „ein Auge“ dafür entwickelt und sehen, wie oben bereits erwähnt, gewalthaltige Situationen öfter.

Des weiteren wird die eigene Reizbarkeit mit der individuellen Gewaltwahrnehmung in Verbindung gebracht.33 Menschen, die sich sehr schnell reizen lassen, sind auch häufiger in Gewalthandlungen involviert. An diesem Punkt lässt sich wieder die eben genannte Begründung anführen. Das folgende kleine Schema fasst diesen Punkt noch einmal zusammen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ein weiterer Faktor zur aufmerksameren Gewaltwahrnehmung ist die eigene Schulfreude.34 Schüler, die ungern zur Schule gehen, nehmen mehr Gewalt wahr. Dies lässt sich auch wieder verallgemeinern: Sobald etwas mit Unwohlsein verbunden ist, werden eher die negativen Situationen, Momente und Dinge wahrgenommen. Geht ein Schüler schon mit Bauchschmerzen zur Schule und fühlt sich dort überhaupt nicht wohl, so steht er allem dort schon negativ gegenüber. Häufig „wartet“ eine solche Person schon auf negative Dinge, die das eigene Gefühl bestätigen und geht somit aufmerksamer, jedoch oftmals das Positive aus den Augen verlierend, über den Schulhof und in die Klasse. Durch dieses „Warten“ werden häufig mehr aggressive Situationen wahrgenommen.

Wilfried Schubarth bringt zudem die Leistung eines Schülers mit der Wahrnehmung in Verbindung. Nach seiner These neigen eher schlechte Schüler zu Gewalt und nehmen somit auch wieder diese Situationen wahr. Außerdem soll ein Zusammenhang zwischen Schulklima, Lehrer-Schüler-Verhältnis, Gewaltwahrnehmung und ausgeübter Gewalt bestehen.35 Erfahrungen wie Aggressionen von Lehrern gegen Schüler, Desintegrationserfahrungen, das mangelnde Eingehen der Lehrer auf die Schüler und die Gleichgültigkeit den Interessen der Schüler gegenüber sollen hierzu beitragen. Bezieht man diesen Punkt auf den Zusammenhang zwischen der eigenen Schulfreude und der Wahrnehmung, so lässt sich diese Vermutung bestätigen. Denn die beschriebenen Erfahrungen bezüglich des Schul- und Klassenklimas führen zu einem Unwohlsein bei den Schülern, was, wie eben bereits erklärt, zu einer vermehrten Gewaltwahrnehmung führen kann.

Weitere Faktoren sind die Schulform, der Einfluss der Familie und das Geschlecht. Auf die ersten beiden Punkte werde ich nicht weiter eingehen, sondern mich im folgenden auf die geschlechtsspezifische Wahrnehmung beziehen.

4.1.2 Geschlechtsspezifische Gewaltwahrnehmung

Wie bereits oben erwähnt, ist das Geschlecht ein Faktor der unterschiedlichen Gewaltwahrnehmung.

Eine qualitative Studie von Ulrike Popp zum Thema „Gewalt in der Schule“ mit Interviews aus der Sicht von Beteiligten ergab, dass es schon bei der Definition unterschiedliche Meinungen gibt.36 So sieht Dieter, 15 Jahre alt, Gewalt als physische Auseinander- setzungen, unter anderem mit dem Einsatz von Waffen. Carsten, 16 Jahre, bezeichnet Unterrichtsstörungen als Spaß, genau wie Stefan, 15 Jahre, der auch der Meinung ist, dass aus Unterrichtsstörungen kein Streit wird und es sich deswegen nur um Spaß handelt. Diese Jungen definieren Gewalt eher als etwas, dass sich auf körperliche Angriffe bezieht. Janina, 14 Jahre alt, empfindet auch psychische Attacken als Gewalt. Sie erlebt diese als selbstschädigend und fühlt sich durch die Form der Gewalt sozial ausgegrenzt. An diesen Beispielen wird deutlich, dass es schon bei dem Begriff Gewalt verschiedene Auffassungen gibt. Jungen fassen diesen enger, indem sie ihn auf das physische begrenzen. Mädchen jedoch beziehen die psychische Gewalt mit in diesen Begriff ein.

Diese Kluft bei dem Begriffsverständnis kann zu Problemen beim Umgang zwischen Jungen und Mädchen führen. Denn während Jungen häufig ihr eigenes Verhalten noch als Spaß betrachten, verstehen Mädchen es schon als körperliche Gewalt und fühlen sich angegriffen. Somit zeigt sich auch, dass Mädchen eine geringere Toleranz demgegenüber haben. Die Hemmschwelle ist bei ihnen geringer als bei den Jungen und sie verstehen schneller etwas als Gewalt und sehen vieles nicht als Spaß oder als Scherz. Dies kann sich schon bei Kleinigkeiten zeigen, die immer wieder im Schulalltag auftreten, wie zum Beispiel bei kleinen Rangeleien, versehentlichem Anrempeln, etwas vom Tisch stoßen, mit Papierschnipseln werfen usw. All diese Situationen können unterschiedlich und jeweils subjektiv interpretiert werden. So meinen Jungen diese Dinge wahrscheinlich aus Spaß oder es sind einfach Momente, in denen etwas unabsichtlich geschieht. Mädchen verstehen dies aber auf Grund ihres Verständnisses von Gewalt als Angriff und unterstellen eine Absicht. Gerade, weil vor allem in der Grundschule immer wieder solche Situationen auftreten, spielt dieses Problem vermutlich eine große Rolle im Schulalltag. Dann müssen die Lehrkräfte eingreifen und versuchen, die „Fronten“ zu klären.

In einer weiteren Studie von Ulrike Popp geht es um „beobachtete und realisierte Gewalthandlungen von Jungen und Mädchen“.37 Hierfür wurden im Herbst 1995 3540 (1722 Mädchen, 1796 Jungen) Schüler aus dem Bundesland Hessen im Alter zwischen

11 und 17 Jahren schriftlich befragt. Anfangs ging es hier um wahrgenommene, beobachtete Gewalthandlungen, anschließend sollten die Schüler in Täterselbstreporten zur Häufigkeit der angegebenen Handlungen Stellung nehmen.

Bezüglich der Gewaltwahrnehmungen wurden die Ergebnisse aller tatsächlich im Verlauf des vorangegangen Schuljahres beobachteten aggressiven Handlungen zusammengestellt. Die hier gemachten Angaben zur Beteiligung der beiden Geschlechter geben jedoch keinen Aufschluss über die quantitative Beteiligung. Aus den Ergebnissen geht nur hervor, wer bei welcher Handlung beobachtet wird: nur Jungen, Jungen und Mädchen, nur Mädchen. Dennoch bietet die folgende Grafik38 einen Einblick die Involvierung von Mädchen in Gewalthandlungen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Zu den Sachbeschädigungen zählt hier die absichtliche Beschädigung von Einrichtungs- gegenständen der Schule, von Sachen anderer Schüler, Toiletteneinrichtungen und Unterrichtsmaterial, sowie das Besprühen von Wänden. Mädchen haben diese Form der Gewalt etwas häufiger beobachtet: Mädchen zu 22,8% und Jungen zu 22,6%. Der größte Teil der Befragten, 18% bei den Mädchen und 12% bei den Jungen, hat dies bei beiden Geschlechtern beobachtet. Jungen begehen diese Dinge anscheinend öfter, betrachtet man die Ergebnisse bei den Antwortvorgaben „fast nur bei Jungen bzw. Mädchen“, jedoch sind Mädchen hier laut Wahrnehmung auch nicht ganz unbeteiligt, da die meisten Antworten im mittleren Bereich liegen.

[...]


1 Wenn im Verlauf dieser Arbeit von „den Mädchen“ und „den Jungen“ die Rede ist, dann sind damit nicht grundsätzlich alle Mädchen und alle Jungen gemeint. Es handelt sich dabei um die meisten Mädchen/Jungen. Es soll keineswegs eine Pauschalisierung vorgenommen werden, doch aus Gründen der Lesbarkeit werde ich auf häufige Formulierungen wie „überwiegend“ und „meistens“ verzichten.

2 Vgl. Popp, 1997, S. 77.

3 Pilz, 1988, zit. nach Valtin, 1995, S. 8.

4 Brockhaus, 1989, Band 8, S. 453.

5 Ebd.

6 Valtin, 1995, S. 24

7 Vgl. Popp, 1997, S. 81.

8 Vgl. Popp, 1997, S. 83.

9 Vgl. Schubarth, 1999, S. 30.

10 Vgl. Ebd.

11 Vgl. Heinelt, 1978, S. 26.

12 Vgl. Valtin, 1995, S. 10.

13 Vgl. Ziegler, Ziegler, 1997, S. 10.

14 Vgl. Blattert, 1979, S. 10.

15 Valtin, 1995, S. 9.

16 Vgl. Hurrelmann 1995, S. 75.

17 Vgl. Ebd.

18 Vgl. Schubarth, 1997, S. 67.

19 Vgl. Hanewinkel u.a., 1995, S. 27f.

20 Vgl. Hanewinkel u.a., 1995, S. 28.

21 Vgl. Hanewinkel u.a., 1995, S. 28.

22 Schubarth, 1997, S. 67.

23 Vgl. Schubarth, 1997, S. 68.

24 Vgl. Schubarth, 1997, S. 67.

25 Holtappels, Meier, 1997, S. 51.

26 Holtappels, Meier, 1997, S. 52.

27 Vgl. http://www.familienhandbuch.de/cmain/f_Aktuelles/a_Haeufige_Probleme/s_806.html vom 16.9.04

28 Vgl. http://www.familienhandbuch.de/cmain/f_Aktuelles/a_Haeufige_Probleme/s_806.html vom 16.9.04

29 Vgl. Schreiner, 2003, S. 127.

30 Guggenbühl, 1999, Kap. 2, S. 10f.

31 Vgl. Schubarth, 1997, S. 73f.

32 Vgl. ebd.

33 Vgl. Schubarth, 1997, S. 74.

34 Vgl. Schubarth, 1997, S. 74.

35 Vgl. ebd.

36 Vgl. Popp, 1998, S. 429f.

37 Popp, 1997, S. 78.

38 Popp, 1997, S. 80.

Ende der Leseprobe aus 113 Seiten

Details

Titel
Formen und Bedeutung von Gewalt zwischen Mädchen im Kontext von Grundschule
Hochschule
Universität Osnabrück
Note
2,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
113
Katalognummer
V113226
ISBN (eBook)
9783640139958
ISBN (Buch)
9783640140060
Dateigröße
894 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Formen, Bedeutung, Gewalt, Mädchen, Kontext, Grundschule
Arbeit zitieren
Bettina Kemper (Autor:in), 2004, Formen und Bedeutung von Gewalt zwischen Mädchen im Kontext von Grundschule, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113226

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