Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich


Mémoire (de fin d'études), 1998

141 Pages, Note: A


Extrait


Inhaltsverzeichnis

0 Einleitung

1 Biographische Hintergründe
1.1 Das Beispiel Laura Bridgman
1.2 Helen Keller vor Erlernen der Sprache
1.3 Der Spracherwerb, nachvollzogen anhand von Briefen ihrer Lehrerin Anne Sullivan

2 Die Presselandschaft zur Zeit Helen Kellers

3 Emotiv überhöhtes Vokabular in Zeitungsartikeln
3.1 Wunderkind oder Betrug?
3.2 Der „Frost King“-Skandal
3.2.1 Ein photographisches Gedächtnis?
3.2.2 Retusche des Falls: eine lückenhafte deutsche Übersetzung

4 Helen Kellers Rhetorik
4.1 Humor
4.2 Metaphern
4.3 Vergleiche
4.4 (Bibel)zitate
4.5 Alliterationen, Personifikationen und andere Stilfiguren

5 Helen Kellers literarisches Schaffen
5.1 Optimism (1903) und The Story of my Life (1903)
5.2 Meine Welt (1908) und Dunkelheit (1909)
5.3 Out of the Dark (1913)
5.4 My Religion (1927)
5.5 Midstream (1929) und Teacher (1955)

6 Filme und Bühnenstücke mit / über Helen Keller
6.1 William Gibsons The Miracle Worker
6.1.1 Kameraführung
6.1.2 Erzählsituation
6.1.3 Symbolismus
6.1.4 Komik
6.1.5 Dramatische Effekte
6.1.6 Werktreue und Literarizität
6.2 Überbetonung des Sexuellen in der Fortsetzung Monday after the Miracle

7 Helen Keller Jokes im Internet
7.1 Sprachliche Analyse
7.2 Rechtliche Analyse

8 Schluß

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Sekundärliteratur

Einleitung

Ziel der vorliegenden Arbeit ist eine komparative Analyse der literarischen Selbstdarstellung der taubblinden amerikanischen Schriftstellerin Helen Keller und ihrer Präsentation in den Medien. Zur Untersuchung stehen hierbei einige ihrer Bücher sowie Presseartikel und Aussagen von Zeitgenossen und William Gibsons Film The Miracle Worker, basierend auf seinem gleichnamigen Theaterstück. Ebenso wird eine besondere Art der Darstellung in einem neueren Medium, dem Internet, behandelt.

Um einen genauen Eindruck vom Leben und sozialen Wirken Helen Kellers zu erhalten, ist eine Einführung in die biographischen Hintergründe notwendig. Die Situation der Taubblinden Mitte des Neunzehnten Jahrhunderts schien immer noch aussichtslos; man befand es nicht für nötig, spezielle Schulen für sie einzurichten, denn es galt immer noch die herkömmliche Auffassung, die der Jurist Sir William Blackstone (1723-80) bereits ein Jahrhundert zuvor umrissen hat mit den Worten:

Ein Mensch ist kein Idiot, wenn er auch nur einen Schimmer von Verstand besitzt, so daß er seine Eltern, sein Alter und dergleichen angeben kann. Aber ein Mensch, welcher taub, stumm und blind ist, wird vom Gesetz dem Idioten gleichgestellt, da man ihn für unfähig halten muß, irgend etwas zu begreifen, weil ihm alle die Sinne fehlen, welche seine Seele mit Ideen füllen können.1

Das Problem bestand nicht darin, daß die Seelen von Taubblinden keiner Ideen fähig waren, sondern darin, wie ein geeigneter Lehrer sie mit Ideen füllen konnte. So formuliert ein deutscher Wissenschaftler im Jahre 1905: „Endlich ist die bei Taubblindheit vorhandene UNZUGÄNGLICHKEIT des Geistes mit primärer UNZULÄNGLICHKEIT des Geistes in den äußeren Symptomen der Entwicklungshemmung so ähnlich, daß die Fehldiagnose auf Idiotie sehr nahe liegt [...].“2

Die Meinung Blackstones wird durch Helen Kellers Wirken widerlegt. Bis es soweit war, bedurfte es allerdings eines neuen Erziehungssystems, das von Dr. Howe initiiert und von Helen Kellers Lehrerin, Anne Sullivan, vervollkommnet wurde. Im ersten Kapitel wird auf den revolutionären Erfolg bei der Erziehung der taubblinden Laura Bridgman durch Dr. Howe hingewiesen, der als Vorläufermodell für den noch größeren Erfolg bei Helen Keller aufzufassen ist. Weitere Hauptthemen sind der geistige und kommunikative Zustand Helen Kellers in ihrer „vorsprachlichen“ Zeit, ihr Spracherwerb, das geniale Erziehungssystem ihrer Lehrerin Anne Sullivan, Helen Kellers schulische Ausbildung, ihre familiären Hintergründe sowie ihr soziales Engagement und ihre Vorträge und Reisen zugunsten der Blinden.

Im zweiten Kapitel geht es um die Veränderung der Presselandschaft zu Helen Kellers Zeiten, den Konkurrenzkampf der Monopolpresse, die effizientere Informationsvermittlung und das Schüren der Massensentimentalität. Es soll gezeigt werden, wie verschiedene Zeitungen und Zeitschriften Helen Keller ein Heiligen-Image aufdrängten und wie sie dieses durch ihre sozialistischen Aktionen, ihren Einsatz für die farbige Bevölkerung, die Frauenfrage usw. immer wieder erschütterte. Ebenso wird auf die Verbreitung von Klatsch und Tratsch über Helen Kellers Privatleben hingewiesen, derer sie sich nur durch Gegendarstellungen wehren konnte.

Das dritte Kapitel demonstriert die übertriebene Darstellung der Erziehung der kleinen Helen in der Presse, die aufgrund einer kritiklosen Fortschrittsgläubigkeit bzw. weltfremden Sentimentalität ein Wunderkind schuf. Hier geht es vor allem um die sachliche Berichterstattung ihrer Lehrerin Anne Sullivan im Vergleich zu den blumigen Reden des Direktors der Perkins Institution for the Blind, Dr. Anagnos, dessen ungebremster Enthusiasmus die Journalisten zu weiteren Übertreibungen anstachelte. Der Sensationsgier der Presse ist es zu verdanken, daß viele Zeitgenossen aufgrund des emotiv überhöhten Vokabulars in den Artikeln ein völlig falsches Bild von Helen Keller bekamen und sie verständlicher Weise als „Betrug“ hinstellten. Als Aufhänger für die sprachliche Analyse ist hier der „Frost King“ gewählt worden, eine kleine Geschichte, die die elfjährige Helen „gehört“, unbewußt im Gedächtnis behalten und dann einem Freund gewidmet hatte, wofür man sie des Plagiats beschuldigte und vor einen Prüfungsausschuß stellte.

Die Werküberblicke im vierten Kapitel sollen nicht nur die pädagogischen, philosophischen, religiösen und ideologischen Inhalte ihrer Biographien zum Thema haben, sondern auch auf Helen Kellers Rechtfertigung ihrer Ansichten, derer sie von Seiten der Presse oft gerügt wurde, aufmerksam machen. Vor allem in Meine Welt und Wie ich Sozialistin wurde greift sie gewisse Blätter und Einzelpersonen an und wehrt sich z.B. gegen die unsinnige Auferlegung, sie dürfe nicht über Dinge schreiben, die sie nicht wahrnehmen könne, wie Farbe, Licht und Töne.

Das fünfte Kapitel ist einer Analyse der am häufigsten angewandten Stilfiguren in Helen Kellers The Story of my Life gewidmet, welche die rhetorische Begabung der Autorin unter Beweis stellt. Abgesehen von Alliterationen, Personifikationen, Chiasmus u.a. sind es vor allem die Metaphern, Vergleiche und Zitate, welche ihr den Ruf gegeben haben, „All her knowledge is hearsay knowledge“.3

Das sechste Kapitel wird mit Hinweisen auf verschiedene Filme über Helen Keller und deren Rezensionen eingeleitet. Dann erfolgt ein Vergleich ihrer literarischen Selbstdarstellung mit Gibsons Film The Miracle Worker; hierbei geht es darum, die Gemeinsamkeiten mit der Vorlage, Anne Sullivans Briefen aus dem Anhang von The Story of my Life, herauszuarbeiten, sowie auf die Unterschiede aufmerksam zu machen. In diesem Rahmen werden Kameraführung und Erzählsituation, Symbolismus, Komik, dramatische Effekte und Werktreue / Literarizität näher analysiert. Anschließend soll die Überbetonung des Sexuellen in Gibsons zweitem Teil der Helen Keller-Story, Monday after the Miracle, herausgearbeitet werden.

Im siebten Kapitel wird nach Gesamtbetrachtungen über die Darstellung Helen Kellers im WWW die Frage behandelt, inwieweit es ethisch vertretbar ist, Helen Keller-Witze im Internet zu veröffentlichen. Nach einer sprachlichen Untersuchung geht es um rechtliche Aspekte, so z.B. um das Medienrecht, das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Veröffentlichung schädigender Inhalte im Online-Bereich und die international angestrebte „Regelung des Internet“, welche allerdings noch in der Zukunft liegt.

Der Schluß bringt sprachwissenschaftliche Erklärungen des Phänomens Helen Keller und legt die Unterschiede von ihrer Sprachauffassung zu unserer dar. Somit wird auch demonstriert, warum sie für Wiederholungen von bereits Gesagtem „anfälliger“ war als andere Menschen (siehe Plagiatsvorwurf). Zusammenfassend weden die Vor- und Nachteile von Presse, Film und Internet in bezug auf die wahrheitsgemäße Darstellung Helen Kellers besprochen.

1 Biographische Hintergründe

Helen Keller wurde am 27. Juni 1880 in der Kleinstadt Tuscumbia im Norden Alabamas geboren. Ihr Vater, Captain Arthur H. Keller, hatte im Sezessionskrieg als Offizier auf der Seite der Konföderierten gekämpft und war später der Herausgeber einer kleinen Lokalzeitschrift. Er war „konventionell, höflich, eher bequem (er hielt es nicht für standesgemäß, körperliche Arbeit zu leisten)“.4 Er war tief in den Wertmaßstäben der Südstaaten verankert und hegte auch Rassenvorurteile. So soll er einmal gesagt haben: „Wir halten sie einfach nicht für menschliche Wesen.“5 Tuscumbia hatte um 1880 ca. 3000 Einwohner, die Hälfte davon waren Farbige.6 Seiner Familie gegenüber war der Vater eher nachgiebig; vor allem die arme kleine Helen durfte mit seiner Zustimmung machen, was sie wollte, weil er sie nicht weinen sehen konnte. Dies sollte später zu Schwierigkeiten ihrer Lehrerin führen, dem Kind Gehorsam beizubringen. Helen Kellers Mutter, Kate Adams, war 20 Jahre jünger als ihr Gatte und ihm intellektuell überlegen. Sie interessierte sich für Politik und setzte sich für das Frauenwahlrecht ein. Die Familie Keller war alteingesessen und hatte ein schönes Haus mit Garten, Reitknechte, Hausangestellte wie die farbige Köchin Viney und eine Plantage, die sich jedoch mit der Zeit als unwirtschaftlich herausstellte -- aber sie war nicht besonders wohlhabend. Trotzdem ermöglichte sie der kleinen Helen anfangs eine Ausbildung, die ihr im Vergleich zu vielen weniger begünstigten taubblinden Kindern eine erfolgreiche Zukunft versprach. In dieser Zeit deponierte man solche Kinder meistens in heruntergekommenen staatlichen Einrichtungen für geistig Behinderte. Helen Kellers weitere Ausbildung wurde von Sponsoren wie Carnegie und Rogers übernommen.

Im Alter von 19 Monaten verlor Helen durch eine bis heute nicht identifizierte Krankheit, wahrscheinlich Hirnhautentzündung, Gehör und Augenlicht. Von da an lebte das Kind in völliger Dunkelheit und Stille, niemand fand Zugang zu seiner Seele, und es konnte sich lediglich durch Zeichen verständigen. Helens Eltern gaben jedoch die Hoffnung auf eine Rettung nie auf; und als ihre Mutter in den „American Notes“ von Charles Dickens über den Direktor der Perkins Institution for the Blind in Boston, Dr. Samuel Gridley Howe, las, der mit Erfolg die taubblinde Laura Bridgman die Sprache gelehrt hatte, war Helens Ausbildung eine beschlossene Sache. Dr. Howe war zwar schon lange tot, aber Helens Vater wandte sich auf Empfehlung des berühmten Augenarztes Dr. Chisholm in Baltimore an Dr. Alexander Graham Bell, Erfinder des Telefons und Philanthrop, der sich dem Unterricht Gehörloser widmete. Dr. Bell lud Helen und ihren Vater 1886 zu sich nach Washington ein und stellte sie Dr. Michael Anagnos, dem damaligen Direktor der Perkins Institution, vor. Dieser schickte ein Jahr später die einundzwanzigjährige Anne Sullivan, die sechs Jahre lang dort Schülerin und selbst einmal blind gewesen war, als Privatlehrerin für Helen nach Tuscumbia.

Am dritten März 1887 traf Anne Sullivan bei der Familie Keller ein und begann ihre oft mühsame, aber von Erfolg gekrönte Unterrichtsmethode. Helen lernte das Fingeralphabet, die Brailleschrift, mit Bleistift auf einem vorgefertigten Rahmen sowie auf der Maschine zu schreiben, und verfaßte ihre ersten Briefe, die später in Deutschland gesondert in Briefe meiner Werdezeit herausgegeben wurden. Ein Jahr später zogen Anne Sullivan und Helen nach Boston und besuchten Dr. Anagnos in der Perkins Institution for the Blind. In den darauffolgenden zwei Jahren lernte Helen teils zuhause, teils in Boston. Ab dem 26. März 1890 nahm Helen Keller elf Stunden im Sprechenlernen bei Miss Sarah Fuller, der Schulleiterin der Horace Mann School. Danach übte sie mit ihrer Lehrerin weiter. Einer ihrer ersten, mühsam artikulierten Sätze war „I am not dumb now.“ (The Story of my Life 61). Sie arbeitete besessen an der Verbesserung ihrer Aussprache, aber für Personen, die nicht ständig mit ihr zu tun hatten, war sie ziemlich schwer zu verstehen. Helen war inzwischen ein durch die Zeitungen bekanntes Wunderkind geworden. Doch 1891 kam es zum „Frost König“-Skandal, in dem Helen des Plagiats beschuldigt wurde, die Presse großes Aufheben um die Sache machte und Helen bzw. ihre Lehrerin als „Betrügerin“ dargestellt wurden. Es folgte ein Bruch zwischen ihrer Lehrerin Anne Sullivan und dem verbitterten, enttäuschten Dr. Anagnos.

1894 zogen Anne Sullivan und Helen Keller nach New York. Dort besuchte Helen die Wright Humason School for the Deaf. 1896 gingen die beiden nach Cambridge, wo sich Helen an der School for Young Ladies unter Schulleiter Arthur Gilman auf die Aufnahmeprüfung für das Radcliffe College vorbereitete. Anne Sullivan mußte während Helens gesamter Ausbildung im Unterricht immer neben ihr sitzen und ihr die Worte der Lehrer in die Hand buchstabieren. Ein Jahr später kam es zum Streit zwischen Anne Sullivan und Gilman, Helen verließ die Schule und ging mit ihrer Lehrerin nach Wrentham, wo sie der Hauslehrer Merton S. Keith unterrichtete. Im Jahr 1899 bestand Helen Keller die Aufnahmeprüfung und begann im Herbst 1900 ihr Studium am Radcliffe College. Zu dieser Zeit war das Frauenstudium noch ungewöhnlich und umstritten; in Nordamerika hatten die Frauen erst 1894 die Berechtigung erlangt, an einer Universtität zu studieren, und zwar zunächst nur an jenem Radcliffe College.7

1901 sind zeitgeschichtlich zwei wichtige Ereignisse zu verzeichnen: Andrew Carnegie wurde Philanthrop; später sollte er Helen Keller eine Rente ausstellen. Am 29.7. wurde die Socialist Party gegründet. Im Jahr 1902 erschien The Story of my Life, und zwar zunächst als Fortsetzungsbericht in der Familienzeitschrift Ladies Home Journal und dann in einer Buchausgabe von John Macy, der einen Anhang mit Helen Kellers Briefen ihrer Kindheit sowie Berichten und Briefen ihrer Lehrerin über deren Erziehungsmethode hinzufügte. 1905 heiratete John Macy die elf Jahre ältere Anne Sullivan. In diesem Jahr wurde auch der IWW (Industrial Workers of the World) gegründet, was später noch eine Bedeutung für Helen Kellers politisches Engagement haben sollte. 1908 erschien Helen Kellers zweites Buch The World I Live in (Meine Welt). Ein Jahr später trat sie in die Socialist Party ein. 1912 kam es zum Streik der 14 000 Textilarbeiter von Lawrence, Mass. unter der Führung des IWW; Helen Keller schloß sich der Solidaritätsbewegung an. 1913 erschien Out of the Dark (Wie ich Sozialistin wurde), eine Sammlung politisch progressiver Aufsätze und Briefe. Helen Keller und Anne Sullivan begannen ihre Vortragsreisen und nahmen aufgrund finanzieller Engpässe die Carnegie-Rente an, die Helen Keller zuvor aus Stolz zurückgewiesen hatte. 1913 verließ John Macy seine Ehefrau, da er „nicht als Teil eines Dreigestirns leben“8 konnte: „[...] er hätte, als er Anne heiratete, wissen müssen, daß er eine Institution heiratete. Anne könnte und wollte keine „richtige“ Ehefrau sein. Immer müßte Helen an erster Stelle stehen [...].“9

1914 wurde die junge Schottin Polly Thomson von Anne Sullivan als Assistentin und Haushälterin eingearbeitet. Ebenso wurde Peter Fagan, ein Sympathisant der Sozialisten, als Sekretär eingestellt. 1916 verliebte sich der Neunundzwanzigjährige in die sechsunddreißigjährige Helen Keller. Sie verlobten sich, obwohl Helen Keller immer Zweifel gequält hatten, da sie sich nicht vorstellen konnte, daß ein Mann sie jemals lieben würde: “I should think it would seem like marrying a statue.“ (Midstream 134) Sie beschlossen, zu heiraten, aber als Helens Mutter davon erfuhr, verhinderten diese und Helens Schwester Mildred die Heirat mit dem ungleich jüngeren, auch noch sozialistisch gesinnten Angestellten. Ein Versuch durchzubrennen scheiterte. Anne Sullivan mußte ins Krankenhaus, der verprellte

Liebhaber meldete sich nicht mehr, und schließlich gab Helen Keller ihrer konservativen Familie nach: „Ich gelangte zu der Überzeugung, daß eine Ehe mir ebenso wie Musik und Sonnenschein verwehrt sein sollte“.10

In den Jahren 1914/15 trat Helen Keller durch Veröffentlichungen und Vorträge für die Neutralität der USA im Ersten Weltkrieg ein. 1917 befürwortete Helen Keller die Oktoberrevolution, und im darauffolgenden Jahr bis 1923 kritisierte sie antisowjetische Interventionen der USA sowie die Hungerblockade gegen Sowjetrußland, für dessen Regierung sie eintrat, und setzte sich zur Linderung der dortigen Hungersnot ein. 1919 spielte Helen Keller die Hauptrolle im Hollywoodfilm über ihr Leben, „Deliverance“, der ein großer Flop wurde. Im Jahr 1920 vereinigte sich Helen Keller mit Clarence Darrow, Upton Sinclair (dem „muck-raker“, der die marode Situation der Arbeiter in The Jungle beschrieben hat), Jane Addams, Norman Thomas, Felix Frankfurter u.a. zur Gründung der ACLU (American Civil Liberties Union).

Von 1920 bis 1924 traten Helen Keller und Anne Sullivan in Variétés auf; sehr zum Verdruß der letzteren, da diese die Zurschaustellung jeglicher Form von Behinderung auf der Bühne zutiefst verachtete; vor allem in einer Zeit, wo mißgestaltete Tiere und Körperbehinderte bzw. „Launen der Natur“ wie Siamesische Zwillinge, „bärtige Damen“ und „Gummimenschen“ eine bliebte Attraktion für Zirkusse und Kuriositätenshows waren11. Helen Keller hielt kurze Ansprachen vor einem Publikum, das sie akustisch kaum verstehen konnte, aber eigentlich auch nur gekommen war, um das „Wunder“ mit eigenen Augen zu sehen. Die beiden Frauen mußten jedoch für ihren Lebensunterhalt sorgen, und Helen Keller wollte dem Publikum beweisen, daß sie „darüber stand“ und trotz der erschwerten Lage imstande war, ihr Brot selbst zu verdienen.

Am 26. 8. 1920 wurde in den USA das Frauenwahlrecht eingeführt, wofür sich Helen Keller wiederholt eingesetzt hatte. 1921 wurde die American Foundation for the Blind (AFB) gegründet, deren ständige Mitarbeiterin Helen Keller ab 1924 war. Sie nahm an Aufklärungskampagnen zur Verbesserung staatlicher Blindenfürsorge teil. 1927 wurde das Todesurteil für Sacco und Vanzetti vollstreckt; Helen Keller hatte im Rahmen des weltweiten Protests für ihre Freilassung gekämpft. Im selben Jahr veröffentlichte Helen Keller My Religion (Licht in mein Dunkel) und Midstream: My Later Life (Mitten im Lebensstrom), in welchem sie sich zu Lenins Werk bekannte. In den Folgejahren erhielten Helen Keller und Anne Sullivan Ehrentitel und Auszeichnungen. Im Jahre 1933 erfolgte in Berlin die Bücherverbrennung „entarteter“ Schriften durch die Faschisten, der auch Wie ich Sozialistin wurde zum Opfer fiel.

1936 starb ihre Lehrerin Anne Sullivan, und Helen Keller unternahm Vortragsreisen mit ihrer Sekretärin Polly Thomson, um über den Schmerz hinwegzukommen. Ein Jahr später fand ihr erster Japanbesuch statt. 1943-46 besuchte Helen Keller die Kriegsversehrten in den Lazaretten und Krankenhäusern von England, Frankreich, Italien, Griechenland und den USA, um den Verletzten und Blindgeschossenen Hoffnung zu spenden. 1951 reisten Helen Keller und Polly Thomson nach Südafrika, wo die Zulus Helen Keller den Namen „Homvuselo“ („Du hast 12

das Bewußtsein von vielen geweckt“) gaben. 1952-57 reisten die beiden in den Nahen Osten, Lateinamerika, Skandinavien, Indien und Japan. Sie besuchten die durch die Atombomben zerstörten Städte Hiroshima und Nagasaki. Auf ihren Weltreisen warb Helen Keller für das amerikanische Blindenbetreuungssystem durch private Stiftungen. 1955 erschien ihr Buch Teacher: Anne Sullivan Macy (Meine Lehrerin und Freundin Anne Sullivan). Im Jahr 1960 starb Helen Kellers langjährige Sekretärin Polly Thomson. 1962 erhielt Anne Bancroft ihren ersten Oscar für die Darstellung der Anne Sullivan in William Gibsons Film „The Miracle Worker“, dem zahlreiche Auszeichnungen verliehen wurden. 1961 war Helen Keller zum letzten Mal öffentlich aufgetreten. In diesem Jahr erlitt sie einen leichten Schlaganfall, was ihre Kommunikationsfähigkeit stark einschränkte. Helen Keller starb am ersten Juni 1968 im Alter von 88 Jahren und wurde als eine der meistgeliebten und -geachteten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts in der National Cathedral in Washington beigesetzt.

1.1 Das Beispiel Laura Bridgman

Dr. Samuel Gridley Howe (1801-1876), dem Gründer der Perkins Institution for the Blind in Boston, war der erste Versuch gelungen, einen taubblinden Menschen in die Gesellschaft einzugliedern: Laura Bridgman.

Rund 50 Jahre vor Helen Keller, am 21. Dezember 1829 in Hanover / New Hampshire, kam sie als ebenfalls gesundes Kind auf die Welt und verlor im Alter von 26 Monaten nach einer Scharlacherkrankung Gehör und Augenlicht. „The child of seven was dumb and blind and almost without the sense of smell, with no plaything but an old boot which served for a doll, and with so little education in affection that she had never been taught to kiss.“13 In diesem desolaten Zustand war sie, als Dr. Howe von ihr erfuhr und sie am vierten Oktober 1837 in seinem Institut aufnahm. Er lehrte Laura Bridgman die Sprache, indem er ihr zuerst das Lesen erhaben gedruckter Buchstaben beibrachte, und ging dabei folgendermaßen vor:

He pasted raised labels on objects and made her fit the labels to the objects and the objects to the labels. When she had learned in this way to associate raised words with things, in much the same manner, he says, as a dog learns tricks, he began to resolve the words into their letter elements and to teach her to put together „k-e-y,“ „c-a-p.“14

Später verwendete Dr. Howe als Hauptverständigungsmittel das Fingeralphabet, welches ursprünglich für sehende Taube gedacht war. Blinde können es jedoch fühlen, indem sie ihre Hand leicht über die des „Sprechenden“ legen. Dr. Howe faßte seine Arbeit als religiöses Werk auf, und es ist nicht verwunderlich, daß auch seine Schülerin tiefgläubig war. Inwieweit sie dabei jedoch manipuliert wurde, ist umstritten:

Laura's nature was intensely moral, -- almost morbidly so, in fact [...]; but it does not appear certain that such an idea would have come to her spontaneously. She was easily converted into revivalistic evangelicism [...] through communications which her biographers deplore as having perverted her originally optimistic faith.15

Laura Bridgman schien nicht viel eigenen Willen und Durchsetzungskraft besessen zu haben, was auch den großen Unterschied zu Helen Keller ausmacht: „Laura was primarily regarded as a phenomenon of conscience, almost a theological phenomenon. Helen is primarily a phenomenon of vital exuberance.“16 Bis zu ihrem Tod am 24. April 1889 blieb Laura Bridgman in der Perkins Institution for the Blind. Sie hat es nie geschafft, außerhalb dieser gewohnten, geschützten Umgebung unter normalen Menschen zu leben. Von ihr kann man nur sagen, daß sie schöne Handarbeiten verrichtete und sich salonfähig verhielt.

Her immediate life, once it was redeemed [...] from quasi-animality, was almost wholly one of conduct toward other people. Her relations to „things,“ only tactile at best, were for the most part remote and hearsay and symbolic. Personal relations had to be her foreground, -- she had to think in terms almost exclusively social and spiritual.17

Ohne das Experiment Laura Bridgman wäre eine Erziehung Helen Kellers nicht dermaßen erfolgreich ausgefallen, denn ihre Lehrerin Anne Sullivan war an der Perkins Institution for the Blind ausgebildet und berief sich auf die Studien Dr. Howes. Sie ging beim Vermitteln der Sprache ähnlich vor, infiltrierte jedoch keine religiösen oder politischen Ideen. Als Lehrerin hat sie mit ihrem einzigartigen Erziehungssystem Dr. Howe übertrumpft. Helen Keller stand entwicklungsmäßig unsagbar hoch über Laura Bridgman, was wohl vor allem auf die unterschiedlichen Unterrichtsmethoden zurückzuführen ist. Helen lernte zuerst das Fingeralphabet, wobei ihre Lehrerin ihr von Anfang an alles in die Hand buchstabierte, was um sie her vorging, selbst wenn sie es noch nicht verstehen konnte. Auf diese Weise erfaßte sie die Sprache wie ein gesundes Kleinkind, das schon einiges versteht, was ihm gesagt wird, auch wenn es sich noch nicht selbst ausdrücken kann. Für Helen war es das Erlernen einer „Muttersprache“, wogegen Laura die Sprache systematisch wie eine Fremdsprache erlernte: zuerst gab man ihr isolierte Wörter in Hochdruck, die sie mit den Dingen assoziieren mußte, an denen sie befestigt waren; dann brachte man ihr die Grammatik bei, noch bevor sie genug Vokabular hatte, um diese sinnvoll anzuwenden. Dies hatte natürlich Verwirrung und Fehler zur Folge.18 Im Gegensatz zu Anne Sullivan, die ihrer Schülerin auf jede Frage eine Antwort gab, umging Dr. Howe schwierige Fragen seiner Schülerin (z.B. nach Gott) mit dem Hinweis: „Your mind is young and weak, and cannot understand hard things“.19

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die beiden taubblinden Frauen unterschieden sich vor allem in der Art und Weise, wie sie ihr Leben in Angriff nahmen. Dabei fällt Laura Bridgman die passive Rolle, Helen Keller die aktive zu. In William James' Collected Essays and Reviews ist dieser Unterschied sehr drastisch durch den Vergleich mit den unsicheren ersten Gehversuchen eines Genesenden dargestellt worden: „Life for her [Helen] is a series of adventures, rushed at with enthusiasm and fun. For Laura it was more like a series of such careful indoor steps as a convalescent makes when the bed days are over.“20 Obwohl Laura Bridgman21 22 für ihre Zeit bereits als erstaunliches Phänomen galt und Dr. Howes Ruhm bis nach Europa reichte, machte sie nicht in einer derartigen Weise von sich reden wie fünfzig Jahre später Helen Keller. Dies hängt mit der Entwicklung der Presselandschaft zusammen, denn die Informationsvermittlung hatte sich in diesem Zeitraum rasant verstärkt und effizienter gestaltet.

Helen's age is that of the scarehead and portrait bespattered newspaper. In Laura's time the papers were featureless, and the public found as much zest in exhibitions at institutions for the deaf and dumb as it now [Helen's age] finds in football games. [...] In contrast with the recklessly sensational terms in which everything nowadays expresses itself, there seems a sort of white veil of primness spread over this whole biography of Laura.

Im folgenden wird zu untersuchen sein, wie sich diese neuartige Informationsweitergabe auf Helen Kellers Entwicklung ausgewirkt hat.

1.2 Helen Keller vor Erlernen der Sprache

„Bevor meine Lehrerin zu mir kam, wußte ich nicht, daß ich vorhanden war. Ich lebte in einer Welt, die eine Nichtwelt war.“ (Meine Welt 77)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Nach ihrer Selbsteinschätzung war Helen Keller in ihrer vorsprachlichen Zeit ein „‘Phantom', wie ich das kleine, nur von tierischen Impulsen, und nicht immer denen eines fügsamen Tieres, beherrschte Wesen zu bezeichnen vorziehe.“ (Meine Lehrerin und Freundin Anne Sullivan 33). Dies ist eine bescheidene Untertreibung. Ihr vorsprachlicher Zustand entsprach weder einem animalischen noch einem idiotischen, da sie durch Zeichen imstande war, mit ihrer Umwelt, die hauptsächlich aus ihren nächsten Familienangehörigen und den Kindern der Bediensteten bestand, zu kommunizieren: „At the time when I became her teacher, she had made for herself upward of sixty signs.“ Außerdem beweisen die Schilderungen ihrer Lehrerin über ihr Eintreffen bei der Familie Keller, daß das Kind äußerst intelligent und gewitzt war:

She felt my face and dress and my bag, which she took out of my hand and tried to open. It did not open easily, and she felt carefully to see if there was a key-hole. Finding that there was, she turned to me, making the sign of turning a key and pointing to the bag.23 24 25

Helen wußte aus Erfahrung, daß auch diese Besucherin ihr etwas Süßes mitgebracht hatte. Sie hatte genau „gespürt“, daß jemand erwartet wurde, und den ganzen Tag auf der Lauer gelegen.

Nach Aussage ihrer Mutter gehörte Helen vor ihrer Erkrankung zu den Kleinkindern, die sich lieber durch Zeichen als durch Worte verständlich machten. Ein Zeichen, das Helen Keller aus der Zeit vor ihrer Erblindung und Ertaubung noch beibehalten hatte, war das „Winke-winke- 25 Machen“ . Es ist heute leider nicht mehr nachzuweisen, ob Helen Keller die Zeichen, die sie nach ihrer Erkrankung gebrauchte, als neues Verständigungsmittel erfunden oder zum Teil bereits vorher gebraucht hatte. Jedenfalls sind viele ihrer Zeichen auch für sprechfaule normale Kinder gebräuchlich, wie z.B.: „A shake of the head meant ‘No' and a nod, ‘Yes,' a pull meant ‘Come' and a push, ‘Go.' “ (The Story of my Life 9) Nach Beobachtungen ihrer Lehrerin26 besaß das Kind auch kompliziertere Zeichen wie die für „small“ und „large“:

If she wanted a small object and was given a large one, she would shake her head and take up a tiny bit of the skin of one hand between the thumb and finger of the other. If she wanted to indicate something large, she spread the fingers of both hands as wide as she could, and brought them together, as if to clasp a big ball.

Helen Kellers Familienangehörige verstanden ihre Zeichen, durch die sie ihnen zum Beispiel andeutete, daß sie etwas Bestimmtes zum Essen haben wollte: „Was it bread that I wanted? Then I would imitate the acts of cutting the slices and buttering them.“ (The Story of my Life 9) Oder: „If I wanted my mother to make ice-cream for dinner I made the sign for working the freezer and shivered, indicating cold.“ (Ibd.) Ebenso versuchte das taubblinde Kind, mit seinen Spielgefährten zu kommunizieren; so auch mit der kleinen Tochter ihrer farbigen Köchin: „I could not tell Martha Washington when I wanted to go egg-hunting, but I would double my hands and put them on the ground, which meant something round in the grass [...].“ (The Story of my Life 11) Waren Helens Zeichen einmal nicht von Erfolg gekrönt und verstand man nicht, was sie wollte, konnte sie sich auf den Boden werfen, toben, schreien und mit den Füßen stampfen. Je älter sie wurde, desto häufiger wurden solche Wutausbrüche. Das Kind war sich dessen bewußt, daß die anderen „etwas mit ihren Lippen machten“, was ihr entging: „Sometimes I stood between two persons who were conversing and touched their lips. I could not understand, and was vexed. I moved my lips and gesticulated frantically without result. This made me so angry at times that I kicked and screamed until I was exhausted.“ (The Story of my Life 10) Bisweilen schlug sie den Sprechenden wütend auf den Mund.

Helen Kellers soziale Verhaltensweise war vom Nachahmungseffekt geprägt. Selbst wenn es um für eine Blinde sinnlose Handlungen ging, wie zum Beispiel das „Sich-im-Spiegel- Betrachten“ oder das „Brille-des-Vaters-Aufsetzen“, so imitierte das Kind dieses Verhalten, weil es so sein wollte wie die anderen. Auf diese Weise wurden verschiedene Verhaltensmuster für das taubblinde Kind alltäglich. Besonders amüsant ist die Episode, als sie das Eintreffen von Gästen „spürt“ und sich für sie schick machen will:

Standing before the mirror, as I had seen others do, I anointed mine head with oil and covered my face thickly with powder. Then I pinned a veil over my head so that it covered my face and fell in folds down to my shoulders, and tied an enormous bustle round my small waist, so that it dangled behind [...]. (The Story of my Life 10)

Auch hatte Helen im Alter von sechs Monaten bereits zu sprechen begonnen; sie verlor jedoch ihre ersten Worte „How d'ye“ und „Tea, tea, tea“ (vgl. The Story of my Life 6) nach ihrer Erkrankung, da sie sie nicht mehr hören konnte. Das einzig verbliebene Wortfragment war die Bezeichnung für „Wasser“: „[...] I continued to make some sound for that word after all other speech was lost. I ceased making the sound „wah-wah“ only when I learned to spell the word.“ (The Story of my Life 7) Dieses Wortfragment wird später bei ihrer Erkenntnis, daß allen Dingen ein Begriff zugeordnet werden kann, noch eine Bedeutung haben in der berühmten „Brunnenszene“.

Wenn man glaubt, Dinge, die mit Hören und Sehen zu tun hatten, wären unwesentlich für die kleine Helen gewesen, so ist man im Irrtum. Für sie war es z.B. äußerst wichtig, daß Puppen Augen hatten, sonst waren sie keine richtigen Puppen: als Helens Vater mit seiner kleinen Tochter nach Baltimore zum berühmten Augenarzt Dr. Chisholm fuhr, bastelte ihr ihre Tante im Zug eine komische, formlose Puppe:

„Curiously enough, the absence of eyes struck me more than all the other defects [...]. I tumbled off the seat and searched under it until I found my aunt's cape, which was trimmed with large beads. I pulled two beads off and indicated to her that I wanted her to sew them on my doll.“ (The Story of my Life 18/19)

Diese Szene wird in leicht veränderter Form später im Theaterstück The Miracle Worker zum Tragen kommen. Übrigens spielte Helen auch Streiche und hatte durchaus kein besseres Benehmen als andere kleine Kinder. So sperrte sie z.B. gleich zu Anfang die arme Miss Sullivan in ihrem Zimmer ein, versteckte den Schlüssel, rückte ihn nicht mehr heraus und freute sich diebisch, als der Vater die neue Lehrerin mit einer Leiter durchs Fenster retten mußte. Dies ist doch nicht die unintelligente Handlung eines „Tieres“.

1.3 Der Spracherwerb, nachvollzogen anhand von

Briefen ihrer Lehrerin Anne Sullivan Anne Sullivan wurde 1866 in Feeding Hills, Massachusetts als Kind armer irischer Einwanderer geboren. Ihre Mutter starb früh und ihr Vater war der Trunksucht verfallen, weshalb Annie und ihr kleiner Bruder Jimmie, der mit einer Hüftgelenktuberkulose geboren war, 1876 ins Armenhaus nach Tewksbury kamen. Dort vegetierten etwa 940 Männer, Frauen und Kinder vor sich hin; die Sterberate war hoch, und die Gesunden waren mit Menschen, die ansteckende Krankheiten hatten, Trinkern und Verrückten zusammengepfercht. Viele Frauen wurden geschwängert oder kamen bereits als „fallen ladies“ an. Fast sechs Jahre lang mußte Anne Sullivan, die durch ständige Bindehautentzündungen halbblind war, unter diesen menschenunwürdigen Zuständen leben; ihr Bruder starb im Armenhaus. Mehrere Augenoperationen erwiesen sich als nicht erfolgreich, und „[Annie] continued to be listed on the public records as blind.“27 Sie hatte jedoch das aufbrausende, starrköpfige Temperament ihres Vaters geerbt, und setzte sich in den Kopf, in die Schule zu gehen, als sie über Schulen für Blinde hörte. Eine unerwartete Gelegenheit bot sich, als eine Untersuchungskommission unter Frank B. Sanborn vom State Board of Charities das Armenhaus inspizierte. Die Herren standen bereits am Tor, als Anne Sullivan allen Mut zusammen nahm: „[...] she flung herself into the group, crying, „Mr. Sanborn, Mr. Sanborn, I want to go to school!“28 Nicht viel später, am siebten Oktober 1880, wurde Anne Sullivan in der Perkins Institution for the Blind aufgenommen. Nach sechs Jahren Unterricht überzeugte die junge Frau, die mit vierzehn nicht einmal ihren Namen buchstabieren konnte, durch überdurchschnittliche Leistungen und eine beeindruckende Abschlußrede vor einflußreichen Persönlichkeiten, so daß Dr. Anagnos' Wahl sofort auf sie fiel, als es darum ging, eine passende Erzieherin für die taubblinde Helen Keller zu finden. Anne Sullivan hatte durch Operationen ihr Augenlicht zum Großteil wiedererlangt, aber sie sollte ihr ganzes Leben lang Probleme damit haben und erblindete kurz vor ihrem Tod wieder. Ihre eigenen Erfahrungen in der Welt der Blinden sowie das Erlernen des Fingeralphabets, wodurch sie sich mit Laura Bridgman verständigt hatte, sollten ihr bei ihrer Arbeit mit Helen Keller von Vorteil sein.

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Die authentischste und wertvollste Quelle über Helen Kellers Lernfortschritte sind die Briefe, die Anne Sullivan in ihren ersten Monaten bei der Familie Keller an ihre Freundin Mrs. Sophia C. Hopkins schrieb, ihre einzige Vertrauensperson, die zwanzig Jahre als Hausmutter an der Perkins Institution gearbeitet hatte und während Annes Schulzeit wie eine Mutter für sie gewesen ist. Würde man sich beim Nachvollziehen von Helens Entwicklung allein auf die Beschreibung Helen Kellers in The Story of my Life berufen, käme man in Gefahr, die novellistisch aufgeputzten Schilderungen, die die Vergangenheit nicht selten beschönigen, für die einzige Wahrheit zu halten. Auch konnte sich Helen Keller nicht mehr an alle Geschehnisse ihrer frühen Kindheit erinnern und war beim Verfassen ihrer Lebensgeschichte auf Anekdoten angewiesen, die ihre Eltern oder ihre Lehrerin über sie erzählten. Die tagebuchähnlichen Berichte ihrer Lehrerin an Mrs. Hopkins stellen auch eine zuverlässigere Quelle dar als ihre später veröffentlichten Aufsätze in Blindenzeitschriften, weil sie intimer sind und nicht nur die wissenschaftlichen Auszüge enthalten, die für ein breites Publikum bestimmt waren.

Im folgenden liegen sieben Briefe Anne Sullivans in chronologischer Reihenfolge zur Untersuchung vor, so daß man die erzieherischen Fortschritte sehen kann. Besondere Berücksichtigung finden solche Begebenheiten, die später im Vergleich mit dem Theaterstück The Miracle Worker zur Debatte stehen. Anne Sullivans erster Brief stammt vom sechsten März 1887, drei Tage nach ihrem Eintreffen in Tuscumbia. Die Einundzwanzigjährige beschreibt darin ihren Empfang bei der Familie Keller und charakterisiert die Familienmitglieder: „Mrs. Keller [is] a very young-looking woman, not much older than myself [...].“29 Ihre Erwartung, in Helen ein schwächliches Kind vorzufinden, werden angenehm enttäuscht: „[...] there's nothing pale or delicate about Helen. She is large, strong, and ruddy [...]. She is unresponsive and even impatient of caresses from any one except her mother. She is very quick-tempered and wilful, and nobody, except her brother James, has attempted to control her.“ (Ibd.) Wie bereits geschildert, macht sich Helen gleich über den Koffer des Neuankömmlings her. Interessant ist Anne Sullivans Beschreibung vom Gesichtsausdruck der kleinen Helen vor dem Erlernen der Sprache:

Her face is hard to describe. It is intelligent, but lacks mobility, or_soul, or something. Her mouth is large and finely shaped. You see at a glance that she is blind. One eye is larger than the other, and protrudes noticeably. She rarely smiles [...]. (304/5)

Helen durchwühlt den Koffer der neuen Lehrerin, probiert deren Hut vor dem Spiegel auf und findet die Puppe, ein Geschenk von den kleinen blinden_Mädchen von der Perkins Institution. Diese Gelegenheit nutzt Anne Sullivan, um ihr das erste Wort beizubringen: „I spelled „d-o-l-l“ slowly in her hand and pointed to the doll and nodded my head, which seems to be her sign for possession.“ (305) Helen ist zunächst verwirrt und befühlt Annes Hand; Anne wiederholt die Buchstaben, worauf Helen die Zeichen richtig nachmacht und auf die Puppe zeigt. Anne nimmt die Puppe beiseite und will sie ihr erst wiedergeben, wenn sie nocheinmal richtig buchstabiert, aber Helen mißversteht das als Gewaltakt, ihr die Puppe wegnehmen zu wollen. Sie wehrt sich wild, aber die Lehrerin setzt sie rigoros auf einen Stuhl und versucht, sie mit einem anderen Wort zu überreden:

I went downstairs and got some cake (she is very fond of sweets). I showed Helen the cake and spelled „c-a-k-e“ in her hand, holding the cake toward her. Of course she wanted it and tried to take it; but I spelled the word again and patted her hand. She made the letters rapidly, and I gave her the cake, which she ate in a great hurry, thinking [...] I might take it from her. (Ibd.)

Man erkennt, daß Anne Sullivan auf ein Lernen mit Belohnung hinarbeitet; wenn Helen richtig buchstabiert hat, bekommt sie ein Stück Kuchen. Dann versucht die Lehrerin es noch einmal mit dem Wort „doll“, Helen macht „d-o-l“, Anne fügt noch ein „l“ hinzu und gibt ihr die Puppe, worauf Helen davonflitzt und den ganzen Tag nicht mehr zu bewegen ist, auf Annes Zimmer zu kommen. Anderntags beschäftigt Anne Sullivan ihre Schülerin, die sonst schlecht stillsitzen kann, mit einer Handarbeit: „[...] I gave her a sewing-card to do. I made the first row of vertical lines and let her feel it and notice that there were several rows of little holes. She began to work delightedly and finished the card in a few minutes, and did it very neatly indeed.“ (306) Anne buchstabiert „c-a-r-d“, was jedoch zur Folge hat, daß Helen es mißversteht und mit einem bereits vorher gelernten Wort verwechselt: „She made the „c-a,“ then stopped and thought, and making the sign for eating and pointing downward she pushed me toward the door [...]“ (ibid.) Somit deutet sie ihrer Lehrerin an, sie solle ‘runtergehen und „c-a-k-e“ holen; und Anne Sullivan ist so erfreut über das Wiedererkennen, daß sie das Wort Kuchen buchstabiert und dann dem Kommando Folge leistet. Dann buchstabiert Anne Sullivan „doll“ und Helen deutet nach unten, „meaning that the doll was downstairs.“ (306) Auch dieses Wort hatte das Kind wiedererkannt, war aber zu bequem, die Puppe selbst zu holen: „She decided to send me instead.“ (306) Ihrer Lehrerin bleibt nichts anderes übrig, als eine rabiate Maßnahme zu ergreifen: „She had not finished the cake she was eating, and I took it away, indicating that if she brought the doll I would give her back the cake.“ (306) Helen wurde rot, aber sie brachte die Puppe, nahm den Kuchen und verdrückte ihn und sich hastig. An dem Tag, an dem Anne Sullivan diesen Brief schreibt, kommt Helen von hinten, taucht ihre Hand ins Tintenfaß und patscht auf Annes Briefpapier: „These blots are her handiwork.“ (306) An diesem Tag lernte Helen außerdem noch, Holz- und Glasperlen in einer bestimmten Reihenfolge auf eine Schnur zu fädeln. Der Brief endet damit, daß Anne Sullivan über ihre entzündeten Augen klagt und um Geheimhaltung der Neuigkeiten bittet: „Please do not show my letter to any one.“ (307) Im vierten Kapitel über die Presse wird klar werden, warum.

Der nächste Brief beinhaltet die berühmt gewordene Schlüsselszene aus The Miracle Worker; Anne Sullivan berichtet, „I had a battle royal with Helen this morning.“ (307) Die Familie Keller ist um den Frühstückstisch versammelt, und alle außer Miss Sullivan sind Helens Tischmanieren schon so gewohnt, daß sie sie seelenruhig herumgehen und sich von den Tellern der anderen bedienen lassen. Helen stopft sich alles mit den Fingern in den Mund, was sie mag, doch von Annes Teller dürfen die dreckigen Händchen nichts nehmen. Anne läßt sich von ihr nicht tyrannisieren wie die mitleidige Familie, sondern ist fest entschlossen, ihr den Unterschied von „erlaubt“ und „nicht erlaubt“ beizubringen. Helen bekommt einen Wutanfall und wirft sich auf den Boden, worauf die Familie das Zimmer verläßt und Anne sich mit Helen einschließt.

Helen was lying on the floor, kicking and screaming and trying to pull my chair from under me. She kept this up for half an hour, then she got up to see what I was doing. I let her see that I was eating, but did not let her put her hand in the plate. She pinched me, and I slapped her every time she did it. (307)

Daraufhin setzt sich Helen ebenfalls, um zu essen, aber mit den Fingern. Anne drückt ihr einen Löffel in die Hand, „which she threw on the floor“. (307) Anne zwang sie, den Löffel wieder aufzuheben, und nach einigen Minuten gab Helen nach, „and finished her breakfast peaceably“. (308) Darauf folgte ein Kampf um das Zusammenlegen der Serviette: „When she had finished, she threw it on the floor and ran toward the door. Finding it locked, she began to kick and scream all over again. It was another hour before I succeeded in getting her napkin folded.“ (308) Der erste Schritt zur Erziehung zu Benehmen und Gehorsam war getan.

Am elften März berichtet Anne Sullivan, sie sei mit Helen in das kleine Gartenhaus eine halbe Meile vom Kellerschen Wohnsitz entfernt gezogen; dort kann Helen ihre Familienangehörigen und Bediensteten nicht mehr tyrannisieren, und Anne kann in aller Ruhe mit der Erziehung beginnen, ohne daß sich die wohlmeinenden Eltern mit ihrer Laissez-faire­Methode einmischen: „[...]the more I think, the more certain I am that obedience is the gateway through which knowledge, yes, and love, too, enter the mind of the child.“ (309) Zuerst führt sich Helen widerspenstig auf und hat Heimweh, aber später fügt sie sich in die neue Situation. Aber zur Schlafenszeit gibt es einen erneuten Kampf:

[...] when she felt me get into the bed with her, she jumped out on the other side, and nothing that I could do would induce her to get in again. [...] We had a terrific tussle, I can tell you. The struggle lasted for nearly two hours. [...] But fortunately for us both, I am a little stronger, and quite as obstinate when I set out. [...] [S]he lay curled up as near the edge of the bed as possible. (310)

Anne Sullivan fährt fort, in Helens Hand zu buchstabieren, doch sie weiß, daß Helen noch keinen Zusammenhang zwischen Wort und Ding erkennt: „Helen knows several words now, but has no idea how to use them, or that everything has a name.“ (310) Trotzdem gibt sie sich zuverlässig.

Am zwanzigsten März 1887 schreibt die junge Lehrerin enthusiastisch: „My heart is singing for joy this morning. A miracle has happened! [...] The wild creature of two weeks ago has been transformed into a gentle child.“ (311) Helen hat eine lange rote Wurst gehäkelt, und als diese durch das ganze Zimmer reicht, tätschelt sie sich lobend den Arm und hält die Wolle an ihre Wange. Alle können die Veränderung an dem Kind bemerken; ihr Vater ruft aus: „How quiet she is!“ (312) In dieser Woche hat Helen einige Substantive gelernt, aber sie erkennt immer noch nicht deren Bedeutung. Auch verwechselt sie einige Schlüsselwörter, die später am Brunnen zur „Erleuchtung“ beitragen:

„M-u-g“ and „m-i-l-k,“ have given her more trouble than other words. When she spells „milk,“ she points to the mug, and when she spells „mug,“ she makes the sign for pouring or drinking [...]. She has no idea yet that everything has a name. (312)

Um Helens Lust am Lernen zu vergrößern, hat Anne Sullivan Konkurrenz eingeladen: der kleine farbige Percy lernt Helens Zeichen, um mit ihr zu wetteifern. Für die Kinder ist es ein Spiel. „She was delighted if he made a mistake, and made him form the letter over several times. When he succeeded [...] she patted him on his woolly head so vigorously that I thought some of his slips were intentional.“ (312) Aber nicht nur dem kleinen Jungen will Helen ihre neuen „Zeichen“ beibringen, auch dem gemütlichen alten Setter Belle buchstabiert sie „d-o-l-l“ in die Pfote.

Am achtundzwanzigsten März sind Anne und Helen schon wieder im Kellerschen Haus untergebracht; der Vater hatte nur eine zweiwöchige Abwesenheit seiner Tochter gestattet. Bei Tisch testet Helen die Reaktion ihrer Familie, als sie abermals ihre Serviette auf den Boden wirft und gegen den Tisch tritt. Anne Sullivan nimmt ihr den Teller weg und will sie aus dem Raum führen, aber der Vater besteht darauf, daß keines seiner Kinder ohne Essen vom Tisch geht.

Am dritten April schreibt Anne Sullivan, sie verbrächten fast ihre ganze Zeit im Garten. Helen hat ihre Puppe in die Erde gepflanzt und ihrer Lehrerin angedeutet, daß sie erwartet, die Puppe würde wachsen und so groß werden wie sie. Häkeln und Stricken kann sie inzwischen, und sie macht einen Waschlappen für ihre Mutter. Sie hat auch ein Schürzchen für ihre Puppe gemacht, und Anne stellt stolz fest, „[...] it was done as well as any child of her age could do it.“ (314) Die Zeit von zwölf bis eins hat Anne Sullivan für das Erlernen neuer Wörter reserviert, doch sie offenbart ihrer Brieffreundin ihre wahre Methode:

But you mustn't think this is the only time I spell to Helen; for I spell in her hand everything we do all day long, although she has no idea as yet what the spelling means. (315; die wichtigsten Angaben zu ihrem Erziehungssystem hat John Macy kursiv gesetzt)

Sie behandelt Helen wie ein normales zweijähriges Kind, das die Sprache ja auch lernt, indem es sie täglich hört und unbewußt Worte aufnimmt, die es noch nicht versteht. Diesen revolutionären Gedanken hatte Anne Sullivan sich nicht bereits zurechtgelegt, als sie bei der Familie Keller eintraf, sondern sie ist erst einige Zeit später darauf gekommen, als sie erkannte, daß es unsinnig ist, ein Kind, das noch keine sprachlichen Voraussetzungen mitbringt, zu geregelten Unterrichtsstunden an einen Stuhl zu fesseln und mit vorgeformtem Unterrichtsmaterial zu überhäufen. Dieser freie, nicht an feste Zeiten gebundene Unterricht vollzog sich meistens draußen in der Natur, wodurch auch gleich eine Menge Anschauungsmaterial zur Verfügung stand. Die kleine Schülerin selbst faßte diese Art von „Unterricht“ als Spiel auf und lernte unbewußt. Anne Sullivan steht mit dieser Methode nicht allein da; auch Maria Montessori, zehn Jahre älter als Helen Keller, befürwortet ein „Lernen durch Spielen“. Zur damaligen Zeit war dieses System allerdings revolutionär, und das war es auch, was Anne Sullivans Erziehungsmethode von der ihres Vorgängers, Dr. Howe, unterschied und sie deshalb effizienter gestaltete.

Helen Keller kannte am 31. März achtzehn Substantive und drei Verben; ihre Lehrerin schickte ihrer Korrespondentin Mrs. Hopkins eine Liste davon. Die Kreuze in Klammern bezeichnen Worte, nach denen Helen selbst gefragt hatte: „ Doll, mug, pin, key, dog, hat, cup, box, water, milk, candy, eye (x), finger (x), toe (x), head (x), cake, baby, mother, sit, stand, walk. “ (315) Am ersten April kamen noch knife, fork, spoon, saucer, tea, papa, bed, und run hinzu. (vgl. 315)

Am fünften April endlich berichtet Anne Sullivan von dem „Wunder“: „She has learned that everything has a name, and that the manual alphabet is the key to everything she wants to know. “ (315) Die Ausgangssituation war, daß Helen die Substantive „mug“ und „milk“ mit dem Verb „drink“ verwechselte. Beim morgendlichen Waschen fragte sie nun nach dem Wort „Wasser“ (obwohl sie es laut der Liste schon gekannt haben mußte!). Anne Sullivan kam die Idee, ihr nach dem Frühstück praktisch zu veranschaulichen, was der Unterschied zwischen den Begriffen der Flüssigkeiten und der Handlung des Trinkens waren:

We went out to the pump-house, and I made Helen hold her mug under the spout while I pumped. As the cold water gushed forth, filling the mug, I spelled „w-a-t-e-r“ in Helen's free hand. The word coming so close upon the sensation of cold water rushing over her hand seemed to startle her. She dropped the mug and stood as one transfixed. (316)

Und hier liefert Anne Sullivan eine Beschreibung von Helens Gesicht, nachdem sie von der Erkenntnis des Zusammenhangs von Wort und Ding durchdrungen war: „A new light came into her face.“ (316) Das vorher beschriebene „lack of soul, or something“ ist verschwunden. Helen buchstabiert einige Male „water“, dann zeigt sie auf den Boden und lernt das Wort für „ground“.

In ihrem Rausch fragt sie auch, wer Anne Sullivan ist, und diese buchstabiert „Teacher“, was fortan immer ihre Bezeichnung sein sollte. Auf dem Weg vom Brunnen zum Haus lernte Helen dreißig neue Wörter: „Here are some of them: Door, open, shut, give, go, come, and a great many more.“ (316) Helens soziales Verhalten hat sich durchschlagend geändert; vom nächsten Morgen berichtet ihre Lehrerin:

Helen got up [...] like a radiant fairy. She has flitted from object to object, asking the name of everything and kissing me for very gladness. Last night when I got in bed, she stole into my arms of her own accord and kissed me for the first time, and I thought my heart would burst [...]. (316)

Wenn man an die Szenen zurückdenkt, die Helen machte, wenn sie neben ihrer Lehrerin im Bett liegen mußte, wird deutlich, daß sie jetzt ihr gegenüber eine tiefe Dankbarkeit und sogar Zärtlichkeit empfindet, weil sie ihr das Tor zur Sprache geöffnet hat. Der Film The Miracle Worker hört mit seiner chronologischen Berichterstattung über Helens Fortschritte bei dieser Szene auf, während die folgenden Briefe Anne Sullivans noch darüber berichten, wie Helen abstrakte Begriffe lernte, etc.

2 Die Presselandschaft zur Zeit Helen Kellers

Über Laura Bridgman hatten lediglich Charles Dickens in seinen „American Notes“ und die Töchter Dr. Howes der Öffentlichkeit berichtet; ein halbes Jahrhundert später schrieb die aufkommende Monopolpresse in spektakulärer Weise über Helen Keller. Die schlagartige Entwicklung der Presse hängt mit dem wirtschaftlichen und politischen Aufstieg der USA zusammen, die als „Golden Country“ eine so starke Einwanderungswelle zu verzeichnen hatten, daß die Bevölkerungszahl in den Jahren 1890 bis 1910 von 63 auf 94 Millionen anstieg.30 Noch 1860 genoß der New York Herald den Ruhm, die „größte Zeitung der Welt“ zu sein; er wurde jedoch keine dreißig Jahre später von der World und dem Journal eingeholt. Die Monopolisierung der Presse erfolgte durch Leute wie Pulitzer, Hearst und McCormick, und damit waren auch erste Wege zur Manipulation der Öffentlichkeit geebnet worden. So soll

Randolph Hearst, der nach 1895 sein Presseimperium mit dreißig Massenblättern aufbaute, im New York Journal gesagt haben: „Die Macht einer Zeitung ist die größte Kraft der Zivilisation! Die Zeitungen bestimmen und überwachen die Gesetzgebung! Sie erklären Kriege! Die Zeitungen kontrollieren die Nation, weil sie das Volk repräsentieren!“31 Unglaubliches ist auch über den Konkurrenzkampf der Monopolkönige zu berichten; hierbei muß allerdings darauf hingewiesen werden, daß die Jaedicke-Quelle aus der Ex-DDR stammt, was durch die Hetze gegen den Kapitalismus augenfällig wird. Dafür entschädigt sie allerdings durch eine erstaunlich kritische und zynische Berichterstattung und nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um die „Kriminalität“ der kapitalistischen Presse geht:

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Die „Pressezivilisation“ wies indes starke kriminelle Züge auf, das begann mit dem Fabrizieren gefälschter Nachrichten und montierter Photos, führte über Interviews, die das Gegenteil von dem enthielten, was gesagt worden war, bis zum bewaffneten Kampf um den Vertrieb. Zwar konnten sich Hearst und McCormick nicht wie die Ölhaie gegenseitig Pipelines, Schiffe und Lager sprengen, dafür ließen sie Gangsterbanden auf den Straßenvertrieb der Konkurrenz los, wobei dann Zeitungsjungen und zufällige Passanten auf dem Asphalt blieben.32

Die „gefälschten“ oder zumindest übertriebenen Nachrichten sollen auch bei Berichten über das „Wunderkind“ Helen Keller noch eine große Rolle spielen. Helen Keller erfüllte alle Kriterien, um die Sentimentalität der Massen zu schüren: sie stammte aus guter Familie, war hübsch und bedauernswerter Weise taub und blind, hatte reiche Freunde wie Carnegie und berühmte wie Mark Twain, und war so fleißig, daß sie mit Hilfe ihrer genialen Lehrerin eine beachtliche Bildung erlangt hatte.

Die Boulevard-Presse pflegte jedoch neben Nachrichten über Verbrechen, neben Enthüllungen und Indiskretionen eine Berichtsform, die sie die „menschlich interessante Mitteilung“ nannte. Derartige Berichte waren durch ihre eigentliche Thematik kaum neuigkeitsträchtig, warfen aber ein friedliches Licht auf bestimmte Seiten der menschlichen Natur, dessen Schein der Leser liebte, weil es seinen Glauben an das Menschliche wiederherstellte, den die anderen Spalten erschüttert hatten.33

Somit verpaßte die Presse der Taubblinden ein Image von „schön, strebsam, fromm und gebildet“, mit anderen Worten „passiv und gefällig“, was sie mit zunehmendem Alter durch ihre politischen Anschauungen und Aktionen aufs tiefste erschüttert haben muß. Nach Macys Bericht schrieb Charles Dudley Warner 1896 im Harper's Magazine in idealisierter Weise über die jugendliche Helen Keller:

I believe she is the purest-minded human being ever in existence. [...] The world to her is what her own mind is. She has not even learned that exhibition on which so many pride themselves, of ‘righteous indignation.' [...] Her mind has neither been made effeminate by the weak and silly literature, nor has it been vitiated by that which is suggestive of baseness. In consequence her mind is not only vigorous, but it is pure. She is in love with noble things, with noble thoughts, and with the characters of noble men and women.34

Auch und gerade Dr. Anagnos von der Perkins Institution erging sich in enthusiastischen Lobpreisungen über die kleine Helen: „[...] sie ist die personifizierte Güte und Freude [...]. Von Sünde und Übel, von Bösartigkeit und Gemeinheit, von Niedertracht und Perversion weiß sie überhaupt nichts. Sie ist rein wie die Lilie, unschuldig wie die Vögel in der Luft oder die Lämmer auf der Weide[...].“35 Dieses „purest-minded human being“, diese „reine Lilie“ erkannte jedoch bald die politischen und sozialen Mißstände und begann sich dagegen zu wehren. Ihre Reaktionen machten Furore. Besonders Helen Kellers sozialistischer „Sinneswandel“ muß ihr Publikum schockiert haben; vor allem in einer Zeit, in der die paranoiden Säuberungsaktionen McCarthys die USA überrollten. Wie Helen Keller Jahre später selbst beschreibt, teilte sie sich mit dem Fußball, Mr. Roosevelt und dem New-Yorker Polizeiskandal die erste Seite der Zeitung: „Diese Zusammenstellung macht mich durchaus nicht glücklich [...].“ (Wie ich Sozialistin wurde 5) Man kann verfolgen, wie die verschiedenen Blätter sich bekämpfen: die sozialistische Zeitung Call kündigte an, Helen Keller würde vor dem Labor Forum an der Washington Irving High School in New York eine Rede halten, in der sie für einen Generalstreik zur schnellsten Beendigung des Krieges eintrete. „This was too much for the Sun, which deplored the use of a school auditorium for such advocacy.“36 Zweitausend begeisterte Zuhörer hatten sich eingefunden, und tags darauf konnte man in der Zeitung einen verständnisvollen Bericht lesen, der Helen Kellers Aktion rechtfertigte:

Nobody can have the heart to criticize poor little Helen Keller [said the New York Herald the following morning] for talking when opportunity offers. Talking is to her a newly discovered art, and it matters not if she does talk of things concerning which she knows nothing, could not possibly know anything. [sic!]

But why should the so-called Labor Forum be permitted to use the pathos of her personality to promote a propaganda of disloyalty and anarchy?

And what right has the Board of Education to turn over one of this city's school buildings for the purposes of such propaganda?37

Hier wird „poor little Helen Keller“ total entmündigt als Opfer einer politischen Propagandakampagne dargestellt, die das Pathos ihrer Persönlichkeit für ihre anarchistischen Zwecke ausnutzt. Die Zeitung behandelt sie wie ein kleines Kind (sie hatte die Dreißig bereits überschritten!), das um des reinen Sprechakts willen eine Rede hält („talking is to her a newly discovered art“), und das nicht weiß, wovon es redet. Sie ist ja auch eine Frau, zudem noch eine taubblinde, wie soll sie da Ahnung vom politischen Geschehen haben, oder gar eine eigenständige politische Meinung. Damit drückt die Zeitung eine zu der Zeit weit verbreitete Meinung aus.

Auch ihre Beziehungen zu großen Industriemagnaten wurden von der Presse ausgeschlachtet, besonders, wenn es um Pazifismus ging; so z.B. als Henry Ford an die hundert führende amerikanische Persönlichkeiten auf sein „peace ship“Oscar II einlud, damit sie sich mit führenden Europäern treffen und über ein Friedensabkommen beraten konnten. Trotz der Gegendarstellung der Presse ging Helen Keller nicht mit auf den „Ford Peace Trip“38, und dennoch fand sich im Life magazine eine herabwürdigende Äußerung über sie:

Perhaps as a blind leader of the blind Helen belonged with Henry's crew. Peace-making is a blind business; so is war-making. Helen and Henry are two very kind hearts, imperfectly equipped to see the whole of life. Henry called his expedition a crusade, and there was one crusade in which ten thousand virgins were enlisted, but they did not get to the Holy City.39

Auch das Life magazine nimmt falsche Rücksicht auf Helen Keller („[she's a] very kind heart“), und sieht ihre Blindheit als Entschuldigung für ihre „fehlgeleitete“ politische Haltung. Sie sei nicht mit genügend Sinnen ausgestattet, um das ganze Leben wahrzunehmen. Deshalb seien ihre Friedensbemühungen idealistisch und vergebens, und das Life magazine drückt mittles einer Allusion auf die Bibel herablassend aus, sie gleiche einer törichten Jungfrau.

Helen Keller kam noch im Zuge einer anderen prekären Streitfrage in die Zeitung: der Situation der Farbigen in den Südstaaten. Inmitten ihrer konservativ eingestellten Familie konnte sie dieses Thema nicht anschneiden, doch im Jahre 1916 schickte sie einen Hundertdollarscheck an den Vizepräsidenten der National Association for the Advancement of Colored People mit einem Begleitbrief, der ihre Gesinnung deutlich zu verstehen gab. Sie schrieb darin, „[...] The outrages against the colored people are a denial of Christ. The central fire of His teaching is equality. [...] the souls of all men are alike before God. [...]“ Sie lobt die Association für ihre Arbeit gegen „the unfair treatment of the colored people“, und drückt ihre Scham aus, daß ihr geliebter Süden ökonomisch profitiert von „those who must bring up their sons and daughters in bondage to be servants, because others have their fields and vineyards, and on the side of the oppressor is power“. DuBois ließ ihren Brief in The Crisis drucken, die für den NAACP herausgegeben wurde, und sofort erfolgte ein Angriff auf Helen Kellers humanitäre Darstellung:

[...] someone signing himself „Alabamian“ paid to have the article reprinted in The Selma Journal. [...] „Alabamian“ charged Helen with advocacy of social equality of whites and Negroes, of defamation of her own people, and charged her teacher with having indoctrinated her with such disloyal notions: „The people who did such wonderful work in training Miss Keller must have belonged to the old Abolition Gang for they seem to have thoroughly poisoned her mind against her own people.“The Selma Journal sympathized with „Alabamian“ editorially and described Helen's letter as „full of untruths, full of fawning and bootlicking phrases.“40

Der Vorwurf, Helen Kellers Erzieher hätten der armen, hilflosen Schülerin ihre politischen Ideologien einfiltriert, ist bei gewissen Zeitungen verbreitet gewesen. In diesem Fall nun wurde Helen Keller von ihrer Mutter bestürmt, ihre Position zu erklären und gegebenenfalls zu mäßigen. Sie schrieb ihrer Mutter, sie sähe keine Rechtfertigung für die Beschuldigung des Herausgebers, sie hätte die Gleichheit von Farbigen und Weißen propagiert: „The equality I advocated in my letter is the equality of all men before the law. [...]“41, und ihre Mutter leitete den Brief an die Zeitung weiter. Helen Keller fand einen Verteidiger, der sich „Justice“ nannte und in The Selma Journal eine Gegendarstellung veröffentlichte:

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[„Justice“ defended her] as an „Alabama woman honored all over the world“ who was wrongfully being charged with „statements of disloyalty to the South and to the integrity of Southern institutions. [...] The junta who have sought to make capital against woman's suffrage by making an heroic stand for white supremacy, alleging that Miss Keller, or somebody else wants to break down racial differences, will not be able to get off with the ‘goods.'“42

Dieses ganze Hin und Her mit Leserbrief und Gegendarstellung beweist, daß Helen Keller für ihre Zeit eine sehr fortschrittliche und radikale Meinung hatte, die den konservativen Auffassungen vieler Leser und Zeitungen / Zeitschriften widersprach. Nicht nur ihr Engagement für die Arbeiter, die Frauen und die Farbigen, sondern ebenso ihr Einsatz für Geburtenkontrolle dürfte für manchen Leser ein Schlag ins Gesicht gewesen sein. Ebenso machte Helen Keller Schlagzeilen, als sie sich über ein „Tabuthema“ echauffiert: die medizinische Wissenschaft war darauf gestoßen, daß viele Neugeborene mit einer Augeninfektion (ophthalmia neonatorum) zur Welt kamen, die durch Geschlechtsverkehr übertragen wurde und unbehandelt zur Erblindung führt. Dies könnte verhindert werden durch ein Einreiben der Augen der Neugeborenen mit Silbernitrat, aber die Ärzte machten diese Möglichkeit nicht publik, da man ungern zugab, daß „anständige“ Mütter Krankheiten haben könnten, die durch Geschlechtsverkehr übertragen werden. Helen Keller verurteilte dieses falsche Schamgefühl so oft in hohen Kreisen, ihren Büchern und in der Öffentlichkeit, bis sie Anhörung fand. Dazu beigetragen hat nicht zuletzt ein Artikel, den sie im Kansas City Star über dieses Thema veröffentlichte; der Herausgeber soll zu ihr gesagt haben: „We felt it was the most interesting thing we had in the paper today and so we printed it on the first page“.43 Durch solche Aktionen wehrte sie sich gegen das ihr von der Presse verpaßte Label -- paradoxerweise war es hier wieder eine Zeitung, die durch das progressive, revolutionäre Bild, das sie von Helen Keller vermittelte, ihrem verklärten Image entgegenwirkte.

Abgesehen von dem Presserummel um Helen Kellers soziale und politische Ansichten gab es natürlich auch genügend Klatsch über ihr Privatleben. Soweit aus den insgesamt hier vorliegenden Quellen ersichtlich, hat sie sich nur einmal eine Liebesaffäre geleistet. Dies muß auf die Öffentlichkeit einen ähnlich sensationellen Reiz ausgeübt haben wie Skandale um das Englische Königshaus oder den Amerikanischen Präsidenten. Bereits als ihre Lehrerin John Macy heiratete, lauteten die Schlagzeilen:

„Helen Keller ALMOST Married!“44

Das rhetorisch geschickte „almost“ ist keine Lüge der Presse, denn es drückt ja nur eine nicht eingetroffene Möglichkeit und keine Tatsache aus. Es fällt dem Leser sofort ins Auge (nicht nur durch die Großbuchstaben), da er sich fragen muß, wer denn beinahe die berühmte Taubblinde geheiratet hätte, eine Tatsache, die an sich schon vielen ungeheuerlich erscheinen mag. Der Artikel endete mit Bezug auf das Gerücht einer Romanze zwischen John Macy und Helen Keller: „Persons who saw his indefatigable attentions to the twain believed that they saw the budding of a romance for the blind girl. And it is her romance, a happier romance than that of Nydia, the blind girl in The Last Days of Pompeii. “47 Die zentrale Aussage entkräftet jedoch jeglichen Verdacht: „It is not given to any one else to be so important a third, to be as nearly engaged and married as Helen Keller.“45

Nach dieser Irreführung nun verliebte sich Helen Keller 1916 wirklich in ihren jungen Sekretär Peter Fagan: „[...] a story appeared in that morning's Boston Globe reporting that Peter Fagan had indeed applied for a license to wed Miss Keller. It emanated from the office of the City Registrar [...].“46 Ihre Mutter war entsetzt und stellte ihre sechsunddreißigjährige Tochter zur Rede: „What have you been doing with that creature? The papers are full of a dreadful story about you and him.“ (Midstream 180) Um des lieben Friedens willen stritt Helen Keller alles ab; ebenso ihr Freund: „The papers were filled with denials. Peter Fagan denied he had ever been to City Hall, not to mention applying for a license. He was engaged to another girl, he insisted, whom he refused to name. [...]“47 Anne Sullivans Anwalt fand, man bräuchte noch eine schriftliche Widerlegung von Helen Keller persönlich, die diese dann auch schrieb, und ihre Lehrerin (die erkrankt war und vor der die Geschichte geheimgehalten worden war, so daß sie sie ohnehin nicht glaubte) unterstützte sie: „Annie in a formal statement to the press called the story „an abominable falsehood.“48 Leider war die Presse nicht so leicht zu überlisten, denn die standesamtlich geleisteten Unterschriften der beiden konnten nicht mehr rückgängig gemacht werden. So konnte die New York Times ihrer die Sache atemlos verfolgenden Leserschaft triumphierend berichten: „One part of the document [...] was filled in with a peculiar print-like writing, resembling that of a blind person. Mr. Fagan's name was signed to the paper.“49 Das Schlimmste aber war, daß die Presse durch ihre durchsickernden Vermutungen ein dramatisches „Kidnapping“ Helens durch Peter Fagan verhinderte -- die Times berichtet weiter, ein anonymer Informant wüßte bescheid, daß Fagan seine Heiratsabsichten nicht aufgegeben hätte: „‘Fagan told me all his troubles,' said the anonymous informant. ‘He told me that denials were necessary in order to soothe Mrs. Macy's feelings. Fagan told me he was going to marry Miss Keller, and I know that he consulted a lawyer about the marriage laws in the Southern States through which they were to travel.'“53 Helen Keller und ihre Mutter hatten vor, mit dem Schiff bis Savannah zu fahren und von dort den Zug nach Montgomery zu nehmen, um nach Alabama zurückzukehren. Gewarnt durch die Gerüchte änderte ihre Mutter jedoch die Reiseroute, und Peter Fagan befand sich allein auf dem Schiff. Er und Helen hatten geplant, daß er sie auf dem Weg vom Hafen zum Zug entführen und nach Florida bringen sollte, wo ein befreundeter Pfarrer sie vermählen würde. An diesem Fall kann man sehen, wie die Presse mit Geheimnissen aus dem Privatleben berühmter Leute umspringt. Aus Rücksicht auf ihre Familienangehörigen gab Helen Keller den Gedanken an eine Heirat auf, und mehr als zehn Jahre später schreibt sie in einer traurigen Metapher: „The brief love will remain in my life, a little island of joy surrounded by dark waters.“ (Midstream 182)

Auch Helen Kellers Bekannschaft mit literarischen Persönlichkeiten wurde von der Presse weidlich ausgenutzt. Als George Bernard Shaw Helen Keller bei Lady Astor in Cliveden, England, kennenlernte, stachelte die Presse die Empörung der Öffentlichkeit an durch die Behauptung, er habe Helen beleidigt. Prompt erschien am 20.4.1933 ein Interview im The Daily Herald mit seiner Gegendarstellung:

„They accused me of having insulted Helen Keller. How absurd,“ and Shaw leaned forward in his evident distress. “I remember meeting her in London [...]. Conversation was difficult, as you would suppose, considering that she is both blind and deaf and everything has to be spelt out by someone else on her fingers. She “sees“ you by feeling your face. It was rather embarrassing. It would have been in the worst possible taste to ignore her condition. I remarked, by way of a compliment, that she was wonderful, and added, jokingly, that she could see and hear better that her countrymen, who could neither see nor hear.“

[...]“Someone takes a joking remark meant in all kindness and says I insulted Helen Keller by saying, “Oh, all Americans are deaf and blind and dumb anyway“. I tell you I have been misquoted everywhere, and the inaccuracies are chasing me round the world.“54

Von G. B. Shaw ist bekannt, daß er die Presse nach Möglichkeit floh, denn „[t]he press coverage trailing behind his world pilgrimage had been growing chaotic. [...] The country [America] was a vast Hot Air Volcano spouting superlatives -- or so it looked to Shaw [...].“50 Helen Keller schien seinen Ausspruch übrigens nicht allzu persönlich genommen haben, denn sie hatte im Gespräch bereits ein „Bild“ von ihm gewonnen: „Mrs. Macy's hand gave me the inflection of his voice, which implied that Americans could never rise to the level of his contempt.“51 Als Lady Astor vermittelnd eingreifen wollte und ihr versicherte, Shaw sei einer der freundlichsten Herren überhaupt, konterte sie: „I am glad to believe as you do that Mr. Shaw ‘is one of the kindest men that ever lived.' I know he is one of the greatest, but in all fairness I think you will grant that he was not particularly gracious to me that afternoon.“52

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Vom Tode Helen Kellers im Jahr 1968 nahm die amerikanische Presse übrigens kaum Notiz: „Die Nachricht wurde mit geringer Sorgfalt redigiert, was man daraus ersehen kann, daß die Presseagenturen drei verschiedene Todestage angaben: den 31. Mai, den 1. und den 3. Juni. Die Korrektur erfolgte stillschweigend auf den 1. Juni.“53 Das offenkundige Desinteresse hängt mit den Zeitumständen zusammen; die Zeitungen hatten Wichtigeres zu berichten. Am fünften Juni erfolgte der Todesschuß auf Senator Robert Kennedy durch den Jordanier Sirhan B. Sirhan. Hauptthema waren außerdem der Vietnamkrieg und der immer größer werdende Massenwiderstand, der zur Brutalisierung des öffentlichen Lebens beitrug. Präsident Lyndon B. Johnson wurde in Massenpetitionen aufgerufen, den privaten Waffenbesitz zu kontrollieren und den freien Verkauf einzustellen. Solcher Art waren die Berichte, mit denen der USA-Bürger konfrontiert wurde. Helen Keller stand nicht mehr im Rampenlicht.

Die Nekrologe in den großen Zeitungen und Zeitschriften hielten sich im 30-Zeilen- Rahmen und berichteten das, was im Gedächtnis der Nation über Helen Keller haftengeblieben war -- die Kindheit, Anne Sullivan, die Hochschulbildung, danach als buchstäblich letzte Zeile ihre Mitarbeit in der Amerikanischen Stiftung für die Blinden. Trotz lebenslanger Bemühungen und intensiven Einsatzes auf mehreren Gebieten war sie ein amerikanisches Wunderkind und die erste graduierte Taubblinde der Welt geblieben.54

3 Emotiv überhöhtes Vokabular in Zeitungsartikeln

Im folgenden soll untersucht werden, wie die Presse durch ihren emotionsgefärbten Sprachstil die Tatsachen, die Helen Kellers Erziehung und Ausbildung betreffen, verfälscht hat. Dabei handelt es sich um indirekte Zitate, d.h. um bereits von Helen Kellers Lehrerin oder ihren Freunden kommentierte Zeitungsausschnitte, da die Originale heute nur sehr schwer aufzutreiben sind. Auf diese Weise lassen sich allerdings auch sehr gut die Reaktionen der Betroffenen sowie deren Gegendarstellungen demonstrieren. Vor allem die rhetorisch meisterhaften Gegenangriffe Anne Sullivans sind hier von Bedeutung.

Die Probleme mit der Sensationsgier der Presse setzten bereits wenige Wochen nach dem Beginn des Unterrichts durch Anne Sullivan ein; dabei ist zu beobachten, daß sich das „Wunder“ für die Journalisten offensichtlich nicht schnell genug vollzog und sie durch aufgebauschte Berichte ihr Publikum in Atem zu halten versuchten. Helen Kellers Lehrerin bemühte sich mit aller Kraft, eine solche Publicity zu vermeiden, ihre Berichte und Briefe über Helen geheimzuhalten55 und sich in ihren öffentlichen Stellungnahmen so sachlich wie möglich auszudrücken. Trotzdem schafften verschiedene Zeitungen und Zeitschriften es immer wieder, ihre Worte zu verdrehen und die Leserschaft mit Wundermeldungen zu überschütten. Dazu beigetragen hat vor allem Michael Anagnos, der Direktor der Perkins Institution for the Blind, der sich so blumig und wortreich ausdrückte, daß sich die Presse begeistert auf seine Aussprüche stürzte. Seine Rhetorik verdient eine genauere Untersuchung. Schlichtheit war nicht seine Sache. In einem Brief an Anne Sullivan schreibt er:

Dear Annie, I am aware of the many difficulties of your position and of the thorns which are scattered on your pathway [...]. [...] Look steady at the polar star of your work, and I have not the slightest doubt but that you will weather all storms and reach the port of success. [...] Then the crown will be yours as the prize of victory.56

[...]


1 zitiert nach Jaedicke 1979, 14.

2 Stern 1905, 72.

3 zitiert nach Braddy 1934, 201.

4 Vgl. Macdonald 1992, 12.

5 Ibd.

6 Vgl. Jaedicke 1979, 9.

7 Vgl. Schmitt 1954, 10.

8 Vgl. Macdonald 1992, 49.

9 James 1969, 453.

10 The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 298/9.

11 James 1969, 455.

12 a.a.O. 454.

13 James 1969, 453.

14 The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 298/9.

15 James 1969, 455.

16 a.a.O. 454.

17 a.a.O. 455/6.

18 Nella Braddy berichtet in ihrer Biographie Anne Sullivans: „Laura had infinite difficulty in learning the

19 peculiarities of language and never really mastered idiomatic English. [...] One evening [...] Dr. Howe had spent some time explaining to her the difference between „full“ and „less,“ [...]. The following day she said [...], „I am motherful and sisterful; you are brotherless,“ and further exemplified her learning by asking if it was derivative to-day. [...] Dr. Howe had explained that rain was a primitive word, rainy, a derivative word. The child, of course, thought she had asked, „Is it raining?“ (Braddy 1934, 108)

20 a.a.O. 454/5.

21 Nella Braddy weist auf Lauras „quaint staccato thoughts in quaint staccato language“ hin. Eine Leseprobe

22 zeigt, wie Laura Bridgman sich als reife Frau auf dem Höchststand ihres Lernens ausdrückte: „I hate to go without my most constant friend Wight. She kept weeping many times till she left me the 9th of November. She gave me a very beautiful and pure breastpin, just before I parted with her. [...] I love her half as much as if she was my wife. I did not know that my best teacher was to leave me so shortly until the day before she left me. I shuddered so much and worried sadly.“ (Braddy 1934, 74.)

23 The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 304.

24 a.a.O. 383.

25 a.a.O. Chapter IV: „Speech“, 389.

26 a.a.O. Chapter III: „Education“, 319.

27 The Story of my Life. Part III. Chapter III: „Education“, 303. Die folgenden in Klammern angegebenen Seitenzahlen für dieses Kapitel beziehen sich ebenfalls auf den Anhang der Story of my Life.

28 a.a.O. 82.

29 Ibd.

30 a.a.O. 82/3.

31 a.a.O. 82.

32 Ibd.

33 a.a.O. 82/3.

34 The Story of my Life. Part III. Chapter II: „Personality“, 294.

35 Macdonald 1992, 28.

36 Lash 1980, 413.

37 Lash 1980, 413/4.

38 a.a.O. 412.

39 a.a.O. 418.

40 Ibd.

41 Lash 1980, 444.

42 a.a.O. 445.

43 a.a.O. 398.

44 Vgl. Lash 1980, 317.

45 Ibd.

46 Ibd.

47 a.a.O. 432.

48 Lash 1980, 432..

49 a.a.O. 433.

50 Lash 1980, 433.

51 Holroyd 1991, 308.

52 Lash 1980, 597.

53 a.a.O. 598.

54 Jaedicke 1979, 218.

55 Jaedicke 1979, 218.

56 Jaedicke 1979, 218.

Fin de l'extrait de 141 pages

Résumé des informations

Titre
Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich
Université
Johannes Gutenberg University Mainz  (FTSK Germersheim, FB 06 Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft)
Note
A
Auteur
Année
1998
Pages
141
N° de catalogue
V1133010
ISBN (ebook)
9783346503374
ISBN (Livre)
9783346503381
Langue
allemand
Mots clés
präsentation, helen, keller, medien, selbstdarstellung, vergleich
Citation du texte
Dr. Christina Lyons (Auteur), 1998, Die Präsentation der taubblinden Helen Keller in den Medien und ihre literarische Selbstdarstellung im Vergleich, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1133010

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