Die Illusionen der Anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur


Seminararbeit, 2019

18 Seiten, Note: 1,4

Anonym


Leseprobe


Inhalt

Inhalt

1. Einführung
1.1. Problemstellung
1.2. Ziele

2. Konsumismus
2.1. Konsumismus im Fordismus
2.2. Fordistischen Konsumnorm
2.3. Interpassivität als Kritik

3. Forschung
3.1. Interview
3.2. Ausstellung
3.3. Wunderkammer

4. Schlussbetrachtung
4.1. Reflektion
4.2. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

1. Einführung

„Bestimmte Äpfel sind nicht nur Obst, sondern Versprechen von gesundheitsbewusstem Leben, sogar von ökologischem Protest. Spezielle Turnschuhe dienen nicht nur als Sportgeräte, sondern zugleich als modische Requisiten, als Zeichen des Einspruchs gegen Kinderarbeit in China oder gar, gerade dank ihres besonderen Logos, als definitive Überwindungen des Logo-Wahnsinns.“1

1.1. Problemstellung

Durch die ästhetische Wahrnehmbarkeit des persönlichen Stils wird aus Individualität als philosophischer oder literarischer Begriff eine soziale Tatsache, die dazu führt, dass sich die Menschen in ihrem Auto, ihrem Hi-Fi-Empfänger, ihrem Küchen wiedererkennen.

1.2. Ziele

Dieses Projekt soll die Interpassivität2der Gesellschaft untersuchen und ein Objekt für die diesjährige „Wunderkammer“ der Werkschau entwickeln, dass die Problematik der konsumkapitalistischen Güter erfahrbar macht.

2. Konsumismus

Konsum war schon immer Objekt des Argwohns und Anlass zur Sorge um das geistige Wohl des Menschen und die Verfassung der Gesellschaft: Von der alttestamentarischen Verteuflung der Gier bis zu den frühneuzeitlichen Luxussteuern und Luxusgesetzen. Vom bürgerlichen Ressentiment gegen die Dekadenz der Aristokratie und der Sorge um die Disziplin der Arbeiter bis zur Revitalisierung des Gebrauchswerts und des Sparsamkeitsideals in den technokratischen Planungsvisionen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Von der Kritik an der Standardisierung der Kultur und des Menschen durch den Massenkonsums bis zur jener an den psychischen und ökologischen Folgen der Überflussgesellschaft und der Wachstumsideologie. Trotz dieser anscheinend tiefsitzenden Skepsis gegenüber den angeblichen moralischen und sozialen Implikationen des Konsums, entwickelte sich dieser im 20. Jahrhundert zur Triebkraft der kapitalistischen Entwicklung und Quelle der ökonomischen Prosperität.

2.1. Konsumismus im Fordismus

Im Fordismus3wird durch die direkte Kaufkraftförderung der Arbeiter eine Verbindung zwischen steigendem Lebensstandard, Produktionszuwachs und Unternehmensumsatz hergestellt. Denn die mit disponiblem Einkommen ausgestatteten Arbeiter sollten in der Fließbandproduktion genau die Produkte massenweise herstellen, die sie auf Grund ihres niedrigen Preises selbst kaufen konnten, was durch die gleichzeitige Senkung der Warenpreise und deutliche Anhebung der Löhne möglich gemacht werden sollte. Um die Funktionsfähigkeit des fordistischen Massenkonsums zu garantieren, war nicht nur eine fordistische Produktionsweise bzw. Produktionsnorm notwendig, sondern auch eine fordistische Konsumnorm. Damit bekam das Erzeugen dynamischer Bedürfnisse bzw. die Produktion eines konsumistischen Subjekts in den 20er Jahren den Status eines gesellschaftspolitischen Projekts zugesprochen, was sich in politischen Programmen und Strategien der Unternehmensführung nicht weniger deutlich äußerte als in pädagogischen Praktiken und im Selbstverständnis der neu entstehenden Werbebranche. Zum einen stellten Versicherungen gegen alltägliche Risiken durch den Sozialstaat und die Lohnpolitik des Fordismus Instrumente dar, durch die Sparsamkeit an lebenspraktischer Bedeutung verlieren sollte. Schließlich versuchte ein neues Konzept von Werbung die Menschen durch Suggestionstechniken dazu zu animieren, den Besitz von standardisierten Produkten anzustreben. Ziel der neuen Werbestrategien war es, beim Rezipienten eine unbewusste Assoziation des beworbenen Produkts mit einer begehrenswerten Subjektposition zu bewirken. Nicht mehr die Darstellung des stofflich-materiellen Nutzen eines Produkts, sondern die subtile Ansprache von tiefsitzenden Bedürfnissen nach sozialer Wertschätzungen mit Hilfe von Psychotechniken stand nun im Vordergrund der Überlegungen von Werbestrategen. Dazu verband die Werbung die von ihr beworbenen Güter mit sozialen Leitbildern: Den Kühlschrank mit Modernität; das Kleid mit anerkannten Schönheitsidealen und einem attraktiven Auftreten, die Seife mit der Jugend und die Zigarre mit beruflichem Erfolg. Der Glaube an eine unbegrenzte und dennoch kontrollierbare wechselseitige Steigerung von allgemeinem Konsumstandard und Profit hatte in den USA jahrzehntelang nahezu unangefochtene Geltung. Durch Massenkonsum sollte den Amerikanern nicht nur eine Befriedigung ihrer Bedürfnisse ermöglicht werden, „sondern auch mehr soziale Gleichheit, mehr demokratische Partizipation und größere politische Freiheit“4. Obwohl diese Verbindung von Massenproduktion und Massenkonsum bzw. Fordismus und Konsumismus sowohl wegen ihrer ökonomischen Effizienz als auch ihrer ordnungspolitischen Potenziale für die Schlichtung des Klassenkonflikts bereits in der Weimarer Republik von einigen namhaften Ökonomen und Politikern propagiert wurde, vollzog sich der Übergang zum Massenkonsum in der Bundesrepublik Deutschland erst mit dem “Wirtschaftswunder“ der 50er Jahre. Waren es in den 50er Jahren noch vor allem konservative Kulturkritiker die den Massenkonsum problematisierten, weil er die Klassenunterschiede verwischen, die Ideale bürgerlicher Bildung und Selbstdisziplinierung unterwandern und so zu einem allgemeinem Kulturverfall beitragen würde, übernahmen linke Intellektuelle seit den 60er Jahren peu a peu die Meinungsführerschaft, wobei sich an der ablehnenden Haltung gegenüber dem Massenkonsum wenig änderte. Einer der zentralen Kritikpunkte bestand darin, dass der Konsument fordistischer Massenprodukte genauso standardisiert und uniform zu werden drohte, wie die Produkte selbst. Wenn ein Erzeugnis einer Fabrikationsreihe allen anderen Erzeugnissen dieser Fabrikationsreihe bis ins letzte Detail gleicht, und die Bedienung und Verwendungsweise dieser Produkte ebenso standardisiert sind, müsse die Uniformität der Objektwelt zu einer Uniformierung der Objektnutzer führen.5

2.2. Fordistischen Konsumnorm

Ab Mitte der 1960er Jahre entstanden zunächst eine Reihe von konsumkritischen Gegenkulturen, die einen “Lebenssinn jenseits der Konsumgesellschaft“ suchten und dies durch bewussten Verzicht auf den Konsum von industriell produzierten Massenwaren realisieren wollten. Waren Askese und Konsumverzicht jedoch gesamtgesellschaftlich betrachtet trotz weit verbreiteter konsumkritischer Einstellungen ohnehin nur eine Randerscheinung, gewannen auch in der Studentenbewegung und der politischen Linken im Allgemeinen Konzepte, die revolutionäre Politik und Hedonismus in Einklang bringen wollten, stetig an Einfluss. Weil linke Konsumkritik zwar die Standardisierung der Produkte und Menschen in der Massenkultur sowie die ästhetische Minderwertigkeit ihrer Erscheinungsformen kritisierte, daraus jedoch nicht dieselbe Konsequenz wie die konservativ-bürgerliche Konsumkritik zog und Askese predigte, war sie anschlussfähig für Bestrebungen, Kritik am Massenkonsum gerade durch konsumatorische Praktiken zu artikulieren. Dieses “kritische Konsumieren“ schließt nun aber nicht nur eine Ablösung des Konsumismus durch Konsumaskese aus. Es wandelt sich darüber hinaus der symbolische Wert von Konsumgütern. Diese dienen nun nicht mehr primär als Zeichen der Teilhabe und sozialen Anerkennung, sondern haben eine expressive Funktion. Sie sind das gegenständliche Pendant zu den Individualisierungsbestrebungen der Konsumenten. Individuelle Identität übernimmt die Leitbildfunktion sowohl innerhalb der Bedeutungszuweisung einzelner Gegenstände als auch in der gesamten Lebensführung eines Akteurs.6Wer sich etwas in diesem Sinne aneignet, will nicht etwas Bestimmtes haben, er will jemand bestimmtes sein. Und zwar nicht irgendjemand, sondern eine möglichst authentische und unverwechselbare Persönlichkeit. Zugleich bescheinigen die Objekte den Subjekten, auch wirklich diejenigen zu sein, die sie zu sein glauben. Konsumgüter werden auf diese Weise zu Medien der Selbstbeobachtung. Die fordistische Massenproduktion versprach jedem Mitglied der Gesellschaft die Beteiligung am gesellschaftlichen Wohlstand durch den Erwerb von Waren und dadurch eine tendenzielle Nivellierung von klassen- und schichtspezifischen Konsummustern. Den Wunsch der Konsumenten nach einem differenzierten Warenangebot zur symbolischen Darstellung der eigenen Individualität konnte sie jedoch nicht erfüllen. Die ersten beiden Absatzkrisen der Nachkriegszeit erzeugten darüber hinaus einen erheblichen Handlungsdruck auf die Konsumgüterindustrie, wobei insbesondere die Märkte für standardisierte Massenprodukte Sättigungserscheinungen zeigten.7Erst indem neue Produktions- und Werbekonzepte etabliert wurden, die sich flexibel an den Trends in pluralisierten und instabilen Absatzmärkten orientieren, fanden die Unternehmer eine Lösung für ihre Absatzprobleme in den saturierten westlichen Märkten.8Individualistische Konsumwünsche wurden somit unweigerlich zur Grundlage unternehmerischer Entscheidungen.9Durch die Umstellung der Produktion auf flexible Spezialisierung, die Adaption der Bedürfnisse nach Individualität und feinem Unterschied durch die Werbung und die Ausrichtung des Marketings an kleinteiligen Marktsegmenten bzw. Zielgruppen, gelang es dem Kapitalismus, die Kritik am Massenkonsum als gültig anzuerkennen und sie in seine Strukturen zu integrieren. Er vermochte es, sich die Forderungen der Kritik anzueignen, indem er sie letztlich zur Grundlage einer neuen Konsumnorm machte. Die fordistische Konsumnorm setzte eine Standardisierung des Subjekts voraus,10wobei der zu produzierende Standard im Wesentlichen eine konsumistische Disposition war. Dieses konsumistische Subjekt erschien hier letztendlich als passives Opfer von mehr oder weniger manipulativen Sozialtechniken. Die Entstehung der neuen Konsumnorm muss hingegen in Zusammenhang mit einer Kritik gesehen werden, die der alten Konsumnorm im Namen des Individuums und des Wunschs nach authentischer Darstellung seiner individuellen Identität die Legitimität entzieht, wobei eher die Standardisierung als der Konsumismus das Ziel der Kritik war. Die Forderungen, die in der Ideenwelt der 60er Jahre mit dem Ziel der Herbeiführung eines Zusammenbruchs des kapitalistischen Systems verbunden waren, wurden nun also in den Dienst jener Kräfte gestellt, deren Untergang sie herbeiführen wollten. „Auf den nachdrücklichen Wunsch nach Differenzierung und Entmassung in den 60er Jahren antwortete der Kapitalismus, indem er diese Forderungen endogenisierte.“11So wurde durch die ökonomische Entwicklungen der 70er Jahre der libertäre Geist der 60er Jahre in den materiellen Grundlagen der Gesellschaft verbreitet.12Die neue Konsumnorm wäre jedoch als Ausdruck einer Erweiterung von Konsumentenmacht oder einer Befreiung der Bedürfnisse aus ihrer Standardisierung nur unzureichend erfasst. Denn mit der Delegitimierung des fordistischen Massenkonsums verliert auch seine sozialintegrative Komponente ihre ökonomische Bedeutung und ihre politische Legitimität. War mit der ökonomischen Notwendigkeit des Massenkonsums von standardisierten Produkten eine Beteiligung aller Gesellschaftsmitglieder am gesellschaftlichen Wohlstand impliziert, entfällt diese Notwendig mit der Orientierung an spezifischen Zielgruppen und Marktsegmenten. Mit dem Siegeszug neoliberaler Ideologien wurde Ungleichheit auch politisch wieder salonfähig. Der Neoliberalismus unterstellt zunächst einen Zusammenhang zwischen technokratischer Wirtschaftsplanung und expandierendem Staatsinterventionismus einerseits und der Zerstörung von Individualität und Freiheit anderseits.13Freiheit, Selbstverwirklichung und die effiziente Befriedigung individueller Bedürfnisse könne letztlich nur der Markt gewährleisten. Wenn nun also eine als Gegengewicht zur Logik des Marktes und deren Konsequenzen verstandene Sozialpolitik nicht von den negativen Effekten für das Individuum zu trennen sei, könne. Aus neoliberaler Perspektive kann Sozialpolitik nicht die Gleichheit als Ziel haben. Sie muss vielmehr die Ungleichheit dulden. Zwar bleibt ein “Wohlstand für alle“ das Ziel des neoliberalen Konzepts der sozialen Marktwirtschaft. Es sei aber nicht mehr die Aufgabe des Staates, durch Sozial- und Wirtschaftspolitik dafür zu sorgen, dass sich dieser Zustand auch de facto einstellt. Es sind nun die Individuen selbst, die durch die erfolgreiche Vermarktung der Ware Arbeitskraft bzw. durch die Optimierung ihres Humankapitals, die Grundlage für einen hohen Lebensstandard schaffen müssen. Nur ein unternehmerisches Selbst ermögliche ein konsumistisches Selbst. Durch die Transformation dieser gesellschaftlichen Leitbilder werden Individuen nicht nur zur Wahl ermächtigt, sie werden auch dazu verpflichtet. Sie müssen sich selbst als souveräne Konsumenten und ihr Leben als Summe einzelner Entscheidungen verstehen. „They must interpret their past and dream their future as outcomes of choices or choices still to make.“14Die Entscheidungen werden umgekehrt als unmittelbarer Ausdruck der Persönlichkeit oder der Interessen des einzelnen Konsumenten aufgefasst. Keine manipulierende oder formende Macht stehe zwischen ihm und seiner Entscheidung. Er sei für sie unmittelbar und uneingeschränkt verantwortlich. In dieser Art und Weise stellt die neue Konsumnorm eine Legitimationsressource für die neoliberale Anrufung des selbstverantwortlichen, leistungsbereiten und aktiven Subjekts dar. Aktivität wird zur Voraussetzung eines hohen Lebensstands und einer Konsumidentität. Und so wie ein Marktgleichgewicht als Wechselspiel von Angebot und Nachfrage, als Interaktion von Konsumentenbedürfnissen und unternehmerischen Entscheidungen verstanden wird, wird im Neoliberalismus jeder wünschenswerte gesellschaftliche Zustand (Wohlstand, Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung, Sicherheit etc.) nach dem Modell des Marktes als Ergebnis einer Interaktion zwischen den Interessen und Wünschen der Konsumenten und den privaten Anbietern von Waren und Dienstleistungen (Produzenten, Arbeitsvermittler, Sicherheitsdienste, Versicherungsgesellschaften etc.) konzipiert. Interaktivität gilt als universelles Organisationsprinzip der neoliberalen Gesellschaft.

2.3. Interpassivität als Kritik

Wenn also Konsum zu einem Medium der Identitätsarbeit und Selbstverwirklichung geworden ist, wenn Werte wie Authentizität und Individualität ebenso Warenform annehmen können wie Subversivität und Umweltbewusstsein. Wenn jede konkrete Kritik an der Konsumgesellschaft nicht nur mit ihrem Scheitern rechnen muss, sondern gerade zu einer Quelle der Inspiration für ökonomische Innovationsprozesse werden kann, und wenn die Forderung nach mehr Gestaltungsmöglichkeiten und Freiräumen im Konsum sogar als Legitimation einer neoliberalen Ideologie dient, die diese Forderungen der Subjekte in Anrufungen an die Subjekte verwandelt und die gesamte Gesellschaft nach dem Modell des Marktes organisieren möchte, wäre es dann nicht ratsam, von einer Konsumkritik Abstand zu nehmen, die mit der Möglichkeit eines nicht bzw. weniger “entfremdeten“, “manipulierten“ oder auf “falschen Bedürfnissen“ beruhenden Konsums rechnet und bliebe dann nicht erneut die Askese als letzte Option?

Ich halte den Verzicht auf “konstruktive Konsumkritik“ für konsequent, möchte aber ebenso wenig für eine radikale Form der Konsumaskese plädieren. Stattdessen möchte ich vorschlagen, gerade in dieser ebenso ernüchternden wie scheinbar alternativlosen Situation Interpassivität als ein Konzept zu behandeln, das zumindest Hinweise darauf liefern könnte, wie ein kritischer Ansatz auszusehen hätte, der sich der Komplexität dieser Problemstellung bewusst ist. Vielleicht ließe sich Interpassivität sogar als eine mögliche Praxis begreifen, durch die das Subjekt sich zwar nicht außerhalb der Gesellschaft stellen könnte, aber doch zu einer kritischen Distanz gegenüber gesellschaftlichen Zuschreibungen und Zumutungen fähig wäre. Entscheidend für die mit diesem Vorschlag einhergehenden Potenziale ist zunächst, dass in keinem der im Kontext der Theorie der Interpassivität genannten Beispiele Konsum an sich delegiert wird, delegiert wird höchstens ein spezifisches Moment des Konsums. Auch wenn es eine Vielzahl an Waren gibt, in denen technisch-mediale Prothesen biologisch-organische Leistungen übernehmen oder kulturelle Symbole praktische Lebensvollzüge ersetzbar machen: Ein Kaufakt ist immer erforderlich bevor irgendetwas delegiert werden kann. Denn wer etwas delegiert muss es zunächst besitzen oder sich aneignen. Daher ist Interpassivität keine Askese, denn der Besitz oder die Aneignung von Dingen, vor allem wenn sie nicht der unmittelbaren Reproduktion elementarer Lebensprozesse dienen, ist im Konzept der Weltflucht durch Askese bereits ausgeschlossen. Da nun aber aus betriebswirtschaftlicher Perspektive vor allem der Kaufakt Relevanz besitzt, ist Interpassivität keine Infragestellung der kapitalistischen Warenlogik. Sie impliziert darüber hinaus sogar noch zusätzliches ökonomisches Wachstumspotenzial: Wenn der Tauschwert einer Ware realisiert werden kann, ohne dass der Gebrauchswert realisiert werden muss, wird möglicherweise eine Beschleunigungsdynamik freigesetzt, die die funktionalen Grenzen des Gebrauchswerts überschreitet.15Obwohl interpassive Konsumpraktiken die Aneignung von Waren notwendig voraussetzen, implizieren sie stets die Möglichkeit des Verzichts, eines Verzichts auf die Aneignung der Subjektpositionen, die in den erworbenen Waren symbolisch enthalten sind, gerade weil sie in ihnen bereits enthalten sind. Waren, die der Konsumnorm des aktiven, individuellen und nach authentischer Darstellung seiner Persönlichkeit strebenden Konsumenten entsprechen, simulieren diese Qualitäten auf der Ebene der Marke, des Produktimages, der Werbung und des Designs. Sie liefern Einbildungen, die zwar einen Eigentümer suchen, weil sie als Waren gekauft werden wollen. Ob diese Einbildungen jedoch eine über den Kaufakt hinausgehende, in das Selbstverhältnis und die Lebenspraxis des Konsumenten dauerhaft hineinreichende Wirkung besitzen, ob sie also über die formale Inbesitznahme hinaus auch angeeignet werden, hängt wesentlich von der Haltung des Konsumenten ab. Vollzieht der Konsument also mit dem Kauf einer symbolisch aufgeladenen Ware in einem ersten Schritt formal oder scheinbar eine Anerkennung der ihr eingeschriebenen Subjektposition, ermöglicht ihm der interpassive Konsum, eine innere Distanz zu dieser einzunehmen. In interpassiven Praktiken wird somit immer die Illusion des “als ob“ aufrechterhalten: Interpassivität ermöglicht dadurch ein Spiel mit Nähe und Distanz zur Ideologie und der in ihr auftretenden gesellschaftlichen Macht. „Interpassivität antwortet auf die beteiligenden Imperative der Kultur […] durch eine Verlagerung nach außen. Sie fügt sich nicht den Verinnerlichungsangeboten eines tyrannischen Über-Ichs, sondern lediglich den gemäßigten Anforderungen des Augenscheins.“16Kritisches Potenzial besitzt Interpassivität, weil die Verlagerung nach außen einer Distanzierung des Selbst gleichkommt. Dagegen käme die Anerkennung der delegierten Einbildung einem Akt der ideologischen Unterwerfung gleich, indem die der Ware eingeschriebenen Forderungen nach Authentizität, Kreativität, Verantwortungsgefühl und Eigensinn zu Leitbildern für die subjektive Lebensführung würden.17Interpassivität ist keine Kritik des Konsums, sondern Kritik durch Konsum. Sie ist weder Askese noch Konsumismus. Denn Interpassivität impliziert gerade keinen Verzicht auf den Konsum von Waren. Sie verzichtet vielmehr auf die mit diesen Waren symbolisch verbundenen Subjektpositionen. Interpassive Subjekte erleiden keine „leidenschaftliche Verhaftung“18an Subjektkonzepte, sondern praktizieren eine “ironische Abkoppelung“ von Subjektkonzepten, die nicht ihre eigenen sind und vielmehr erst in ihnen aktiviert werden sollen. Zurückgewiesen wird dabei nicht die Aufforderung zum Konsum von Waren, sondern stattdessen auf die mit ihrem Konsum verbundene Subjektposition. Wer sich demnach weder erfolgreich als ein bestimmtes Subjekt aktivieren lassen möchte, noch einfach auf seinen Status als “passiver Konsument“ verzichten will, könnte interpassiv werden, könnte auf das “Glücksversprechen“ der Identifikation, des Mitmachens, der Interaktivität verzichten. „Indem sie vor dem Genuss flüchten, versuchen interpassive Individuen sich der ideologischen Anrufung zu entziehen, die im Genuss enthalten ist“.19

[...]


1Robert Pfaller, Ästhetik der Interpassivität, Hamburg: Philo Fine Arts, 2008, S. 21.

2Die Praxis, eigene Handlungen und Empfindungen an äußere Objekte, also Menschen oder Dinge zu delegieren. Die Theorie der Interpassivität bezieht sich hauptsächlich auf den Bereich der Lustempfindungen, weshalb Interpassivität auch als “delegiertes Genießen“ definiert werden kann.

3Industriepolitische Konzeption der weitestgehenden Rationalisierung und Standardisierung der Produktion

4Nepomuk Gasteiger, Der Konsument. Verbraucherbilder in Werbung, Konsumkritik und Verbraucherschutz 1945–1989. Frankfurt am Main: Campus, 2010, S. 17.

5Boltanski, Luc/Chiapello, Eve. Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK, 2006, S. 473.

6Schulze, Gerhard. Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt am Main/New York: Campus, 1992, S. 41.

7Steinbach, Josef. Uneven Worlds. Theories, Empirical Analysis and Perspectives to Regional Development. Bergtheim bei Würzburg: Deutscher Wissenschafts-Verlag, 1999, S. 43f.

8Koppetsch, Cornelia. Das Ethos der Kreativen. Eine Studie zum Wandel von Arbeit und

Identität am Beispiel der Werbeberufe. Konstanz: UVK, 2006, S. 161.

9Maas, Peter/Schüller, Achim. Arbeit und Konsum – Wertewandel in zwei zentralen Bereichen des Lebens. In: Szallies, Rüdiger/Wiswede, Günter (Hrsg.): Wertewandel und Konsum. Fakten, Perspektiven und Szenarien für Markt und Marketing; Landsberg/Lech: Verlag moderne Industrie, 1990, S. 387.

10Auch die Wertewandelforschung konstatiert im Rahmen der Expansion von Selbstentfaltungswerten ein zunehmendes Bedürfnis nach Echtheit und Unmittelbarkeit, das sog. »Expressivit.tsbedürfnis«, unter dessen Regime sich nicht nur zwischenmenschliche Beziehungen ständig der Frage nach der Authentizität von Gefühlen unterziehen, sondern auch alle emotional besetzten Gegenstände des Alltags zum Ausdruck eines unverstellten Innenlebens werden müssen, vgl. Klages, Helmut. Wertewandel. Über die Wandelbarkeit des Selbstverständlichen. Osnabrück: Fromm, 1998, S. 72.

11Boltanski/ Chiapello 2006, S. 476.

12Castells, Manuel. Das Informationszeitalter. 3. Bd. Opladen: Leske und Budrich, 2001, S. 389f.

13Foucault, Michel. Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S. 164.

14Rose 1999, S. 87.

15Rosa, Hartmut. Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne; Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005.

16Pfaller 2008, S. 305.

17„Über Interpassivität nachzudenken, hieß darum nicht weniger, als eine Grundannahme

infrage zu stellen, die von den meisten emanzipatorischen Bewegungen seit 1968 unhinterfragt

vorausgesetzt wurde: dass Aktives besser sei als Passives, Subjektives besser als Objektives,

Eigenes besser als Fremdes, Veränderliches besser als Festes, Immaterielles besser als

Materielles, Konstruiertes besser als Essenzielles etc. […]“ vgl. Pfaller 2008, S. 11.

18Butler, Judith. Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 11ff.

19Pfaller 2008, S. 181.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Die Illusionen der Anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur
Hochschule
Hochschule Pforzheim  (Fakultät für Gestaltung)
Veranstaltung
Digitale Transformation
Note
1,4
Jahr
2019
Seiten
18
Katalognummer
V1133501
ISBN (eBook)
9783346505866
ISBN (Buch)
9783346505873
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Illusion
Arbeit zitieren
Anonym, 2019, Die Illusionen der Anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1133501

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