Ambivalenzen der Selbstvermessung. Chancen und Risiken digitaler Lifelogging-Anwendungen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2019

31 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Selbstsorge in Zeiten der Digitalisierung

2. Selbstvermessung
2.1. Begriffsbestimmung und Formen der Selbstvermessung
2.2. Eine Geschichte des Selbstvermessens
2.3. Motivation der Selbstvermesser

3. Chancen und Risiken von Lifelogging-Anwendungen
3.1. Sport: Runtastic
3.1.1. Kurzvorstellung und Leistungen von Runtastic
3.1.2. Diskussion der Chancen und Risiken von Plattformen wie Runtastic
3.2. Diät-Tracking: WW – Das neue WeightWatchers
3.2.1. Kurzvorstellung und Leistungen von WW
3.2.2. Diskussion der Chancen und Risiken von Plattformen wie WW

4. Selbstvermessung als Weg in ein gutes Leben?

5. Literaturverzeichnis

1. Selbstsorge in Zeiten der Digitalisierung

„In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist“ (zitiert nach Wüst, 2010, o. S.). Dieses abgewandelte Sprichwort des römischen Satirikers Juvenal erscheint heute aktueller denn je. Die körperliche Gesundheit des Menschen wird an erste Stelle gestellt und ist Voraussetzung für seelische Gesundheit, Zufriedenheit und Glück. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich Menschen seit Jahrhunderten mit ihrem Körper beschäftigen. Der Wunsch danach, sich selbst kennen zu lernen, war wohl immer schon vorhanden. Was sich geändert hat, sind die technischen Möglichkeiten, die dabei helfen sollen, das zu erreichen.

Während Gesundheit früher eine Sache des Gefühls war, gilt sie heute als etwas, das man objektiv in Zahlen ausdrücken kann. In guter Ernährung, Blutdruck, Herzfrequenz, täglich absolvierten Schritten und Tiefschlafphasen, gemessen durch kleine, mobile Geräte am Körper, wie Fitness-Tracker oder einfach nur das eigene Smartphone. Längst finden solche Messungen nicht mehr nur in der Medizin oder dem Profisport statt. Die kleinen Geräte mit ihren fast unsichtbaren Sensoren sind in den verschiedensten Bildungsschichten zu dauerhaften Begleitern des Alltags geworden und spätestens damit wurde die digitale Selbstvermessung zum Massenphänomen. (Kasper, Staiger & Urbanczyk, 2016, S. 90 u. Heyen, 2017, S. 723) Knapp 380.000 Self-Tracking-Anwendungen für Smartphone oder Tablet gibt es bereits auf dem Markt und jeder fünfte Deutsche hat inzwischen mindestens eine Gesundheits-App auf seinem Handy. (Beneker, 2017, S. 12)

Die Vermessung menschlicher Leistungen ist im Grunde nicht neu, wenn man beispielsweise an Schulnoten oder die Platzierung in Wettkämpfen denkt, doch heute scheint es kaum einen Lebensbereich zu geben, den man nicht in Zahlen ausdrücken und in Relation zueinander setzen kann. Gleichzeitig geben uns Zahlen vor, wie die eigenen Eigenschaften, Leistungen und Aktivitäten zu bewerten sind, welche einen hohen oder niedrigen Wert haben. (Mau, 2017, S. 24) So stellte Steffen Mau (2017) fest: „Daten machen sichtbar und legen fest, wer wir sind, wo wir stehen, wie anderen uns sehen und was uns erwartet“ (S. 24).

Die heute teils exzessiven Praktiken digitaler Selbstvermessung fanden ihren Ursprung in der sogenannten Quantified-Self-Bewegung, die im Jahr 2007 in den USA entstanden ist und die ihren Teilnehmern mit dem Slogan „self knowledge through numbers“ Selbsterkenntnis durch Zahlen verspricht. (Kasper, Staiger & Urbanczyk, 2016, S. 90) Doch es geht längst nicht nur um Selbsterkenntnis, es geht um Selbstoptimierung. Während der Körper früher noch als etwas Natürliches angesehen wurde, ist er heute etwas Veränderbares, das man nach seinen Vorstellungen gestalten und verbessern kann. Immer mehr Apps und Platt-formen versprechen, einem dabei zu helfen, den Körper zu bekommen, den man schon immer wollte. Es scheint so, als wäre heute jeder selbst dafür verantwortlich, wenn er nicht so ist, wie er gerne wäre. Während uns bisher unzählige Ratgeber den Weg zu einem besseren Leben und einem optimalen Körper weisen wollten, weiß nun das eigene Smartphone besser, was gut für einen ist und wie man sich fühlt. Und die Sorge um sich wird langsam zum verzweifelten Ringen nach Perfektion, mit ungewissen Folgen. Denn neben der Begeisterung der Selbstvermesser, wird in den Medien eher kritisch über solche Praktiken berichtet.

Aus diesem Grund geht die folgende Arbeit der Frage nach, welche Chancen und Risiken verschiedene Formen der digitalen Lebensprotokollierung für Mensch und Gesellschaft mit sich bringen. Hierzu ist es zunächst notwendig, den Begriff der Selbstvermessung genauer zu bestimmen. Zusätzlich soll geklärt werden, wo der Trend seinen Ursprung hat, von welcher Motivation Selbstvermesser in der Regel angetrieben werden und in welchen Lebensbereichen er bereits Einzug gehalten hat. Anschließend an diese theoretische Einführung, sollen dann die damit verbundenen Vor- und Nachteile solcher Selbstvermessungspraktiken anhand der beiden Plattformen Runtastic und WW aufgezeigt werden. Hierzu wird jeweils die Anwendung und ihre Funktionsweise kurz vorgestellt, bevor vor diesem Hintergrund die positiven und negativen Folgen von deren Nutzung diskutiert werden. Abschließend werden die Erkenntnisse nochmals reflektiert und ein Ausblick gegeben.

2. Selbstvermessung

Zur Hinführung an das weite Feld der Selbstvermessung, soll im Folgenden geklärt werden, was eigentlich darunter zu verstehen ist. Nach dem Versuch, den Begriff zu definieren und verschiedene Formen der Selbstvermessung vorzustellen, wird ein kurzer Blick auf die Geschichte geworfen. Hierbei geht es darum, zu zeigen, wo die heutigen Praktiken ihren Ursprung haben und woher der Wunsch kommt, sich selbst in Zahlen auszudrücken. Anschließend werden die dominierenden Motive heutiger Selbstvermesser aufgeführt.

2.1. Begriffsbestimmung und Formen der Selbstvermessung

Eines lässt sich gleich zu Beginn dieser Arbeit feststellen: Eine einheitliche Definition für digitale Selbstvermessung ist kaum zu finden. Dennoch soll im Folgenden versucht werden, anhand verschiedener Begriffsbestimmungen eine solche abzuleiten.

Quantified Self, Self-Tracking oder Personal Data sind nur einige der zahlreichen Ausdrücke, die sich im Kontext der Selbstvermessung etabliert haben und kaum voneinander abgegrenzt werden können. Grundsätzlich ist unter Self-Tracking die Vermessung eigener Verhaltensweisen, Körperzustände, Emotionen oder körperlicher Leistungen über einen bestimmten Zeitraum hinweg zu verstehen. (Duttweiler, Gugutzer, Passoth, & Strübing, 2016, S. 10) In der Regel ist mit der Sammlung auch die Auswertung, Analyse und Visualisierung der Daten durch Grafiken verbunden. (Heyen, 2019, S. 24) Hierzu werden verschiedenste digitale Technologien verwendet, wie beispielsweise Applikationen oder sogenannte Wearables mit am Körper befestigten Sensoren, die die Daten auf Geräte wie Smartphone oder PC übertragen. (Scheermesser et. al., 2011, S. 58) Hierzu sind die Apps meist mit einer Online-Plattform gekoppelt, was gleichzeitig das Teilen der Daten mit anderen Vermessern ermöglicht. Das kontinuierliche Messen, die Aufzeichnung der Daten, eine gewisse experimentelle Grundhaltung der Selbstvermesser sowie sein Wille zur Verbesserung und zur Verhaltensänderung ist charakteristisch für solche Praktiken. (Ehlert et. al., 2015, S. 30/31)

Der Soziologe Stefan Selke (2016) bevorzugt in diesem Zusammenhang jedoch den viel weiter gefassten Begriff des Lifeloggings, unter dem, seiner Ansicht nach, verschiedenste Formen digitaler Selbstvermessung und Lebensprotokollierung gefasst werden. (S. 1) Das Self-Tracking, oder auch Körper- und Gesundheitsmonitoring genannt, stellt nach Selke (2014) nur die erste von vier prototypischen Grundformen des Lifeloggings dar, bei dem mithilfe am Körper angebrachter Sensoren Körperzustände (beispielsweise Puls, Schrittzahl oder Blutzuckergehalt) in Echtzeit gemessen werden, um sie mit Normwerten abzugleichen und eine Verhaltensänderung hervorzurufen. (S. 177) Dies kann somit einerseits dazu dienen, Krankheiten vorzubeugen, aber auch bereits vorhandenen Erkrankungen zu überwachen. Auch verschiedene Formen der Stimmungs- oder Emotionsmessung, auch „mood tracking“ genannt, werden in diese Kategorie eingeordnet. (Selke, 2016, S. 6) Statt den Körperdaten steht bei der zweiten Lifelogging-Kategorie der Aufenthaltsort des Menschen im Mittelpunkt. Zum sogenannten Human Tracking zählen alle Anwendungen, bei denen Standorte von Personen verfolgt und auf einer Karte dargestellt werden können. (Selke, 2014, S. 179) Dies kann der eigenen Leistungsüberprüfung dienen, aber auch der Überwachung anderer, wie beispielsweise der von Kindern oder Mitarbeitern. Jedoch kann man nur bei ersterem wirklich von einer Vermessung des Selbst sprechen. Unter Human Digital Memory als dritte Art von Lifelogging fasst Stefan Selke (2014) vor allem die Dokumentation visueller Daten wie beispielsweise von Fotos als eine Art ausgelagertes Gedächtnis. (S. 180) So werden beispielsweise in den sozialen Medien Lebensereignisse und Bilder in chronologischer Reihenfolge abgebildet. Die letzte Form von Lifelogging stellt das Spannungsverhältnis von Überwachung und Unterwachung dar. Hierbei stellt die vollkommene Dokumentation von Daten, wie beispielsweise des Aufenthaltsortes eine Möglichkeit dar, um nicht fälschlicherweise im Falle eines Verbrechens verdächtigt zu werden. (Selke, 2014, S. 181) Die Daten dienen somit als eine Art „präventives Alibi“ (Selke, 2014, S. 181). Diese Klassifikation nach Selke ist sehr verbreitet, jedoch auch sehr weit gefasst. Die vorliegende Arbeit soll sich im Speziellen mit den ersten beiden Formen beschäftigen, nämlich dem Körper- und Gesundheitsmonitoring sowie dem Human Tracking, da dies meist auch einen Teil von Self-Tracking-Anwendungen ausmacht, vor allem im Bereich Sport.

Darüber hinaus kann man fünf Formen von Self-Tracking-Aktivitäten differenzieren. Während beim „Private Self-Tracking“ Menschen aus eigener Initiative heraus und aus persönlichen Gründen Selbstvermessung praktizieren, werden sie beim „Pushed Self-Tracking“ durch Außenstehende wie Ärzte, Krankenkassen oder Arbeitgeber dazu animiert. (Neubauer, 2016, S. 5/6 und zum Folgenden1) Beim „Communal Self-Tracking“ findet die Anwendung in einer Gemeinschaft statt, wie innerhalb der Quantified-Self-Bewegung. Unter der vierten Form, dem sogenannten „Imposed Self-Tracking“ versteht man die erzwungene Selbstvermessung, beispielsweise durch Arbeitgeber und „Exploited Self-Tracking“ meint die Zweckentfremdung der erhobenen Daten, wie beispielsweise für die Werbeindustrie. In diesem Zusammenhang liegt der Fokus auf dem Self-Tracking im privaten Bereich, auch wenn diese Form sich mit anderen überschneiden kann.

In jedem Fall ist Selbstvermessung abzugrenzen von der passiven Vermessung des Menschen durch andere, wie beispielsweise das Vermessen durch den Arbeitgeber. (Scheermesser et. al, 2011,S. 58 u. Selke, 2016, S. 326) Die Freiwilligkeit der Datenerhebung scheint ein wichtiges Kriterium zu sein. Jedoch lässt sich in Frage stellen, inwieweit von Freiwilligkeit zu sprechen ist, wenn man in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Vermessenden steht und man somit Nachteile zu befürchten hat, wenn man der Datenerhebung wiederspricht. So bieten beispielsweise manche Krankenkassen ihren Kunden inzwischen vergünstigte Konditionen, sollten sie ihre Gesundheitsdaten zur Verfügung stellen. (Selke, 2014, S. 190) Die Grenze zwischen Selbst- und Fremdvermessung verläuft hier fließend.

Darüber hinaus muss unterschieden werden zwischen einer dezentralen Form der Datenerfassung, bei der durch den Nutzer gezielt Daten eingegeben werden müssen, wie beispielsweise Mahlzeiten (aktives Tracking) und einer zentralen Erfassung, bei dem die Daten meist ohne Input des Nutzers aufgezeichnet werden (passives Tracking). (Duttweiler et. al., 2016, S. 11/12 u. Selke, 2016, S. 112) Letzteres wäre beim kontinuierlichen Tragen eines Fitness-Trackers am Handgelenk der Fall. Diese unbemerkte und automatische Datenerfassung macht im Grunde die eigentliche Innovation von Selbstvermessung aus. Aus diesem Grund haben die technischen Geräte eine zentrale Stellung bei lebensaufzeichnenden Praktiken, da sie erstens den Nutzer entlasten können und gleichzeitig Selbstvermessung in vielen Bereichen erst ermöglichen. (Kasper, Staiger & Urbanczyk, 2016, S. 95)

Tracking-Praktiken sind heute in nahezu allen Lebensbereichen vertreten und reichen von der gelegentlichen Verwendung eines Fitness-Trackers, über die Nutzung therapeutischer Medizingeräte bis hin zur detaillierten Lebensprotokollierung. Etwa ein Viertel der vorhandenen Apps haben medizinische Zwecke, alle übrigen sind Lifestyle-Produkte. (Scheermesser et. al., 2011, S. 58) Denn auch wenn die digitale Selbstvermessung ihren wesentlichen Ursprung innerhalb der Quantified-Self-Bewegung hat, so findet sie heute größtenteils im Privaten statt. (Selke, 2016, S. 26 u. Kasper, Staiger & Urbanczyk, 2016, S. 92) Aufgezeichnet werden können neben Körperdaten wie Blutdruck, Herzfrequenz, Blutzuckerspiegel oder Temperatur auch beispielsweise physische Aktivitäten, Medikamenteneinnahmen, Kaffeekonsum, Schlafphasen, Stimmung oder sogar der Glückszustand und sexuelle Leistungen. So nehmen Lifelogging-Praktiken teilweise kuriose Züge an und gehen weit über gesundheitsbedingtes Monitoring hinaus. (Schaupp, 2019, S. 5) Das Feld der Anwendungen ist inzwischen nahezu unüberschaubar und von optischen Sensoren, über Brustbänder, virtuelle Waagen bis zur Smart Watch, die teilweise sogar im Schlaf Daten erheben, sind dem Selbstvermesser zumindest in technischer Hinsicht kaum mehr Grenzen gesetzt. (Beneker, 2017, S. 12) Verschiedenste Aspekte können miteinbezogen werden, um Zusammenhänge sichtbar zu machen. (Scheermesser et. al., 2011, S. 58) So kann beispielsweise der Einfluss des Kaffeekonsums auf den Schlaf sichtbar gemacht werden und diese Erkenntnisse können Verhaltensänderungen im Alltag anleiten. Das Haupteinsatzgebiet von Self-Tracking-Technologien liegt jedoch im Bereich Sport und Gesundheit. (Selke, 2016, S. 156)

Nachdem nun deutlich wurde, welche vielfältigen Praktiken unter den Begriff Selbstvermessung fallen können, muss nun geklärt werden, welche Aktivitäten im Rahmen dieser Arbeit darunter gefasst werden. Hier soll es vor allem um aktive oder passive Self-Tracking-oder Human-Tracking-Aktivitäten gehen, die im Privaten stattfinden. Selbstvermessung im Zusammenhang mit Leistungssport oder aus rein medizinischen Gründen, beispielsweise zur Überwachung einer Krankheit, wird im Rahmen dieser Arbeit nicht berücksichtigt, da hier von einer medizinischen Notwendigkeit und nicht von einer freiwilligen Vermessung des Körpers gesprochen werden kann. Zudem findet dies meist in einem ärztlichem Betreuungsverhältnis statt und nicht nur aus privater Motivation heraus. (Ehlert et. al., 2015, S. 30)

2.2. Eine Geschichte des Selbstvermessens

Nachdem nun kurz geklärt wurde, was unter Selbstvermessung zu verstehen ist, muss man sich fragen, woher der Wunsch der Menschen kommt, sich selbst in Zahlen auszudrücken und wie sich das Phänomen bis heute verändert hat. Zunächst kann festgestellt werden, dass die Idee dahinter, Wissen über sich zu erlangen, körperliche Prozesse aufzuzeichnen und ändern zu wollen, keineswegs neu ist. Schon in der antiken Kultur war die Maxime „Erkenne dich selbst“ von zentraler Bedeutung, die nur durch die Sorge um sich erreicht werden konnte. (Neubauer, 2016, S. 13) Zu dieser Selbstsorge gehörte auch, Aufzeichnungen über sich zu machen, um diese anschließend reflektieren zu können. (Fröhlich, 2018, S. 98) Insofern greifen Menschen zur Arbeit an sich selbst auf verschiedenste Medien zurück. Vor der Entstehung audiovisueller Medien, hatte zunächst die Schrift einen besonderen Stellenwert bei der Selbstthematisierung und der Selbstkontrolle. (Duttweiler et. al., 2016, S. 14) Tagebücher werden häufig als früheste Vorläufer der heutigen Selbstvermessung genannt, da auch sie dazu dienten, das eigene Verhalten, Gedanken und Gefühle zu dokumentieren und darin Muster zu erkennen. (Zillien & Fröhlich, 2018, S. 238 u. Fröhlich, 2018, S. 169) In der römischen und griechischen Philosophie im ersten und zweiten Jahrhundert griffen Menschen bereits auf Selbstführungstechniken wie zum Beispiel Meditation zurück und auch die Idee einer Selbstsorge durch Zahlen gab es schon lange. So ging es im antiken Griechenland bei den Techniken der Diätetik darum, ein reflexives Verhältnis zu sich selbst zu entwickeln, indem man das Ernährungsverhalten, Bewegung und Schlaf erfasst und in ein ideales Verhältnis zueinander bringt. (Fröhlich, 2018, S. 18 u. Selke, 2016, S. 153/180) Körperpraxen wie diese können im Sinne Foucaults als Technologien des Selbst bezeichnet werden, die auch an heutige Self-Tracking-Praktiken erinnern, sofern sie denn zielgerichtet und nicht automatisiert ablaufen. (Selke, 2016, S. 174) Technologien des Selbst haben das Ziel, den Menschen so zu verändern, „dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt“ (Foucault 1993, S. 26). Hier verbinden sich also Selbsterkenntnis und Selbsttransformation, da man einerseits das Wissen erlangen will, wer man ist und gleichzeitig daran arbeitet, der zu werden, der man sein möchte. (Fröhlich, 2018, S. 18) In den Selbsttechnologien finden gleichzeitig eine Ermächtigung und eine Unterwerfung statt, man erhält neue Möglichkeiten zur Selbsterkenntnis, unterwirft sich jedoch auch neuen Zwängen. (Fröhlich, 2018, S. 31)

Im 19. Jahrhundert wurde der Fokus schließlich zunehmend auf eine Quantifizierung des eigenen Körpers und seiner Bestandteile gelegt, Maßzahlen und Längeneinheiten wurden auf diesen angewandt und es entstand immer mehr eine Vorstellung von Idealmaßen, an denen man sich orientierte. (Zillien & Fröhlich, 2018, S. 238/239) Nie zuvor hat der Mensch seinen Körper so genau vermessen und untersucht, um alle geistigen und körperlichen Möglichkeiten für ein effizientes Leben auszuschöpfen. (Bublitz, 2018, S. 108) Mit den Entwicklungen neuer medizinischer Aufzeichnungsgeräte, mit denen Körperfunktionen visualisiert werden konnten, die zuvor nicht sichtbar waren, verlagerte sich die antike Selbstsorge schließlich hin zur gesundheitlichen Fürsorge. (Zillien & Fröhlich, 2018, S. 239 u. Selke, 2014, S. 192) Jedoch war die Überwachung des Körpers durch technische Geräte lange Zeit der Medizin und der Wissenschaft vorbehalten. (Scheermesser et. al., 2011, S. 58)

Durch die Einführung der Personenwaage stieg dann auch das Ernährungsbewusstsein und der Wunsch nach einem „normalen“ Körpergewicht. (Duttweiler et. al., 2016, S. 16) Während es in der Medizin eher die Wiederherstellung von Gesundheit ging, versuchten Sportler schließlich durch die Vermessung menschlicher Leistungen durch technische Geräte ihren Körper zu optimieren. (Duttweiler et. al., 2016, S. 16)

Diese Verbesserung des Menschen über seine natürlichen Körpergrenzen hinweg, mithilfe neuester Technik, ist nun auch im 21. Jahrhundert zu beobachten und erreichte in der Quantified-Self-Bewegung ihren Höhepunkt, die sich seit ihrer Gründung 2007 durch Selbstvermessungspraktiken mithilfe technischer Geräte von Experten aus der Schulmedizin unabhängig machen wollen. (Zillien & Fröhlich, 2018, S. 242) Neue Medien ermöglichten es schließlich, durch langfristige Speicherung, die Begrenztheit des menschlichen Gedächtnisses auszugleichen und befriedigten den Wunsch des Menschen nach Objektivität. (Fröhlich, 2018, S. 260) Emotionen und leibliche Gefühle werden heute als unzureichend für eine Beurteilung des Körpers angesehen. (Selke, 2016, S. 142) So lässt sich feststellen, dass die Geschichte der Selbstthematisierung eng mit der Mediengeschichte zusammenhängt. Für die Arbeit an sich, griffen die Menschen auf die verschiedensten Medien zurück, weshalb sich die Art, sich selbst zu beobachten, immer den technischen Gegebenheiten angepasst hat, vom Tagebuch bis zu den heutigen Fitness-Trackern. Darüber hinaus zeigt sich in der digitalen Selbstvermessung auch, dass zunehmend alle Lebensbereiche von modernen Medien durchdrungen werden.

Es wird also deutlich, dass Menschen schon seit Jahrhunderten den Wunsch haben, ihr Leben lückenlos zu erfassen. Während in der Tagebuchkultur um 1800 die Möglichkeit zur Selbst-thematisierung jedoch von der Alphabetisierung und der Sprachkompetenz abhängig und damit ein Privileg war, sind die Zugangsbarrieren durch die zahlreichen technischen Möglichkeiten heute enorm gesunken und man muss längst kein Arzt oder ein anderer Experte mehr sein, um sich selbst zu quantifizieren. (Fröhlich, 2018, S. 262) Die Sensoren sind klein, handlich und körpernah geworden und fügen sich fast unbemerkt in den Alltag seines Nutzers ein. Durch die sinkenden Kosten für Self-Tracking-Anwendungen und die massenhaften Verbreitung von Smartphones, hat sich die Aufzeichnung und Weiterverarbeitung von Daten in nahezu allen Bevölkerungsschichten verbreitet. (Ehlert et. al., 2015, S. 6) Längst ist das Phänomen nicht mehr nur auf den sportlichen und medizinischen Bereich beschränkt, um den Körper zu überwachen, sondern kann nun von Privatpersonen in nahezu jedem Lebensbereich praktiziert werden. (Ehlert et. al., 2015, S. 3) Darüber hinaus liegt der Unterschied zu ursprünglichen Selbstvermessungspraktiken darin, dass die Körperzustände heute in Echtzeit registriert werden können und die Interpretation der Daten weitgehend automatisiert abläuft. (Fröhlich, 2018, S. 257) Ergebnisse werden in bunten Diagrammen veranschaulicht und zeigen an, was man bereits erreicht hat und was noch zu tun ist. Ein weiterer Unterschied zu den vergangenen Jahrhunderten ist die zunehmende Orientierung an der Zukunft. Während man früher durch Aufzeichnungen Vergangenes reflektieren wollte, steht in der Moderne die Planbarkeit der Zukunft im Vordergrund. (Fröhlich, 2018, S. 260/261) Selbstvermessung dient nicht mehr nur der Eliminierung bereits bestehender Mängel oder Krankheiten, sondern der Prävention zukünftiger. (Fröhlich, 2018, S. 231 u. Selke, 2016, S. 37) Anstatt bisheriges Verhalten zu analysieren und sich selbst zu erkennen, will man nun in die eigenen Lebensweisen verändernd eingreifen. (Windgätter, 2018, S. 153) Zudem gab es einen Wandel von der punktuellen Untersuchung wie beispielsweise im Krankheitsfall hin zur permanenten Vermessung durch das ständige Tragen von Activity- oder Fitness-Trackern. (Windgätter, 2018, S. 156) Wie Lisa Wiedemann es ausdrückte: „Gesundheit ist nicht mehr das Sehnsuchtsziel der Erkrankten, sondern wird zur Angelegenheit, Aufgabe, Herausforderung und Verheißung aller“ (In Duttweiler et. al., 2016, S. 296). Dies erklärt zudem, dass der Self-Tracking-Diskurs heute männlich dominiert ist, auch wenn die Überwachung des eigenen Körpers, wie durch Kontrollen des Gewichts, ursprünglich eine traditionell weibliche Körperpraxis war. (Selke, 2016, S. 164/171) Es kann auf die zunehmende Technologisierung zurückgeführt werden, dass sich dem heute auch Männer zuwenden.

Darüber hinaus hat sich das Bild vom menschlichen Körper geändert. Dieser gilt heute nicht mehr als gottgegeben, sondern ist ein Gegenstand der Gestaltung, etwas Unvollkommenes, aber Veränderbares. (Zillien & Fröhlich, 2018, S. 240) Ähnlich einer Maschine hat er zu funktionieren, andernfalls muss man daran arbeiten. Schönheit und Gesundheit sind heute nicht nur bedeutender wie früher, sondern gelten auch als Attribute, die man sich selbst erarbeiten kann. (Ehlert et. al., 2015, S. 74) Vergleichbar ist dies mit Foucaults Theorem des „Unternehmers seiner Selbst“. Der Mensch ist dabei „für sich sein eigenes Kapital […], sein eigener Produzent, seine eigene Einkommensquelle“ (Foucault, 2004, S. 314). Das Leben und der Körper sind heute als Investitionsobjekt begreifbar, das nur so viel wert ist, wie man darin investiert. (Selke, 2016, S. 159/160 und zum Folgenden) Unternehmer seiner Selbst kann man demnach nur werden, wenn man buchhalterische Informationen über das eigene Unternehmen – sprich den Körper – besitzt, was durch moderne Self-Tracking-Anwendungen nun automatisiert wurde. Ziel des unternehmerischen Selbst liegt also im optimalen Einsatz von Ressourcen und Arbeitsaufwand zur Nutzenmaximierung. Kurz: In der unabschließbaren Selbstoptimierung. (Selke, 2016, S. 152)

Selbstsorge ist auch Teil des modernen Individuums, selbst wenn sie anders ausfällt. (Selke, 2016, S. 69) Digitale Selbstvermessung kann als technisch-numerische Form einer Selbstthematisierung betrachtet werden, wie sie seit Jahrhunderten existiert. (Selke, 2016, S. 130) Ähnlich den Technologien des Selbst, wird das Leben und der Körper des Menschen problematisiert, mit dem Unterschied, dass die modernen Geräte viel mehr potenzielle Ziele für diese Problematisierung eröffnen. (Selke, 2016, S. 70/71) Nach wie vor sind Selbsttechniken sowohl mit Freiheiten zur Selbsttransformation, aber auch mit dadurch entstehenden Zwängen verbunden. (Fröhlich, 2018, S. 215)

[...]


1Bis zum Ende des Absatzes

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Ambivalenzen der Selbstvermessung. Chancen und Risiken digitaler Lifelogging-Anwendungen
Hochschule
Universität Passau
Note
1,3
Jahr
2019
Seiten
31
Katalognummer
V1134949
ISBN (eBook)
9783346505996
ISBN (Buch)
9783346506009
Sprache
Deutsch
Schlagworte
ambivalenzen, selbstvermessung, chancen, risiken, lifelogging-anwendungen
Arbeit zitieren
Anonym, 2019, Ambivalenzen der Selbstvermessung. Chancen und Risiken digitaler Lifelogging-Anwendungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1134949

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Ambivalenzen der Selbstvermessung. Chancen und Risiken digitaler Lifelogging-Anwendungen



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden