Zu Sozialstruktur, Bildungsstand und Rechtslage der ländlichen Bevölkerung der Sowjetunion in der NÖP-Zeit 1921-1927


Seminararbeit, 2002

23 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Die Ausgangslage: Bevölkerung und Wirtschaft auf dem Lande im ehemaligen Russischen Reich zu Beginn der 20-er Jahre und Einführung der NÖP
1. Bevölkerung und Wirtschaft der späteren Sowjetunion zu Beginn der 20-er Jahre
2. Einführung der NÖP

II. Die Sozialstruktur auf dem Dorf der NÖP-Zeit
1. Sozialistische Klasseneinteilung
a. Landlose Arbeitskräfte – „batraki“
b. Die armen Bauern – „bedn’aki“
c. Die Mittelbauern – „seredn’aki“
d. Die reichen Bauern – „kulaki“
e. Lehrer und Geistliche
2. Ziel und Erfolge der sozialistischen Klasseneinteilung

III. Bildungsstand auf dem Lande in den 20-er Jahren und Leninistische Kulturrevolution.
1. Bildungsstand der sowjetischen Bevölkerung nach der Revolution
2. Kampf gegen das Analphabetentum – eines der ersten Ziele der Bolschwiken
3. Erfolge der Alphabetisierungskampagnen
4. Bildungsreform in den 20-ern: Leninistische Kulturrevolution

IV. Zur Rechtslage der Bauern im neuen Regime
1. Grundbesitz und Privateigentum
2. Administration und Verwaltung
3. Gewissensfreiheit und Religion
4. Wahlrecht

Schluss

Anhang
1. Benutzte Literatur
2. Tabellen

Einleitung

Mit der bolschewistischen Oktoberrevolution im Jahre 1917 brach für die Bevölkerung des zusammengebrochenen Russischen Reiches eine neue Zeit an. Obwohl die Bolschewiken eine Arbeiterpartei waren, nahm die Bauernpolitik in dem vorwiegend agrarisch geprägten Staat (ca. 82-85% Landbevölkerung) einen wesentlichen Teil ihres Programms ein. Da Bauern allgemein eine recht traditionsgebundene Bevölkerungsschicht waren, hatten die Bolschewiken mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen, als sie ihre politischen, sozialen und wirtschaftlichen Neuerungen auch auf dem Lande einbringen wollten. Doch trotz aller bäuerlichen Schwerfälligkeit und dem entgegengebrachten Widerstand brachte der Sowjetstaat schon in den 20-er Jahren einige Änderungen in das dörfliche Leben seiner Untertanen, wobei der entscheidende Einschnitt allerdings erst mit dem Ende der NÖP und in den darauffolgenden Jahren geschah. Wie sich das Leben der Bauern des neuen sozialistischen Staates nach Revolution und Bürgerkrieg veränderte, soll in der vorliegenden Hausarbeit in groben Zügen dargestellt werden. Nach einer kurzen Darstellung der wirtschaftlichen und demographischen Situation zu Beginn der 20-er gehe ich etwas näher auf die Sozialstruktur, Bildungslage und einige Aspekte der Rechtslage im Zeitraum der Neuen Ökonomischen Politik, also von 1921 bis 1927.

Da im letzten Jahrzehnt viele Archive der ehemaligen Sowjetunion für Forscher zugänglich wurden, ist die Quellenlage recht gut, zu den von mir behandelten Themen sind zahlreiche Quellensammlungen veröffentlicht, außerdem gibt es darüber einige gute Abhandlungen von renommierten Historikern. Die Schwierigkeit besteht darin, die vorhandene Literatur und die Quellen zu sichten, vor allem im Hinblick darauf, dass zeitgenössische Schriften gerade in der Sowjetunion meistens propagandistischen Charakter hatten, was die Zuverlässigkeit der Angaben in Frage stellt. Auch deutsche und englische Literatur aus der Zeit vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion kann nur bedingt herangezogen werden, da auch die Historiker zu jener Zeit nur auf mangelhafte Informationen zurückgreifen konnten und keinen oder nur geringen Zugang zu einschlägigen Quellen hatten. Viele Bereiche der sowjetischen Geschichte, besonders der Anfangszeit, können erst seit einigen Jahren eingehender erforscht werden – ein Feld, auf dem sich viele Forscher betätigen, da das erst kürzlich zugänglich gewordene Material äußerst interessant ist und viele neue Erkenntnisse und Gesichtspunkte bietet.

Naemi Fast

Frankenthal-Eppstein, den 28. September 2002

I. Die Ausgangslage: Bevölkerung und Wirtschaft auf dem Lande im ehemaligen Russischen Reich zu Beginn der 20-er Jahre und Einführung der NÖP

1. Bevölkerung und Wirtschaft der späteren Sowjetunion zu Beginn der 20-er Jahre:

Der nach der Oktoberrevolution ausgebrochene Bürgerkrieg (1918-1921) hatte für den neuen bolschewistischen Staat und seine vorwiegend bäuerliche Bevölkerung (über 80%) die durch den 1. Weltkrieg entstanden Verluste bedeutend erhöht. Durch die Kriege und ihre Begleiterscheinungen (Hungersnot und Epidemien) verringerte sich die Bevölkerung der späteren Sowjetunion in den Jahren 1915-23 um 25-29 Millionen.[1] 1922 betrug die Gesamtbevölkerung der späteren UdSSR 136,1 Mio. Davon waren 52,3% Frauen, 84% lebten auf dem Land.[2] Hinter diesen Zahlen stehen einige Probleme, beispielsweise der Frauenüberschuss von gut 6 Mio. zu Beginn der NÖP. Eine andere Schwierigkeit für die Politik der Bolschewiken war der hohe Anteil an ländlicher Bevölkerung, die den kommunistischen Ideen fernblieb und ihre Eigenständigkeit als freie Bauern behalten wollte. Trotz der zunehmenden Urbanisierung und der steigenden Zahl der Abwanderer aus den Dörfern in die Städte (1924-1930 sank der Anteil der Dorfbevölkerung von 83,7% auf 80,7%) wuchs die absolute Zahl der Bauern in dieser Zeit um 9,4 Mio. an und das Problem der Überbevölkerung auf dem Lande blieb bestehen. Nicht unbedeutend ist dabei der hohe Anteil an Jugendlichen. Laut der Zählung von 1926 waren über 50% aller Dorfbewohner unter 20 Jahren.[3]

Noch drastischer als die Bevölkerungszahl sanken in den Kriegsjahren die Wirtschaftserträge im Sowjetstaat. Die Warenherstellung war 1921 siebenmal geringer als im Herbst 1917, Erdölbohrungen und der Kohlebergbau befanden sich auf dem Stand von Ende des 19. Jahrhunderts. Die Erträge in der Landwirtschaft stellten lediglich 67% des Vorkriegsniveaus dar[4], der Viehbestand hatte erheblich gelitten, vor allem die Zahl der Pferde war zwischen 1916 und 1923 von 34 Mio. auf 23 Mio. gesunken[5]. Die landwirtschaftliche Technik befand sich auf sehr niedrigem Niveau. Hinzu kamen die Verluste durch Getreiderequirierungen während des Kriegskommunismus[6], die einige bedeutende Revolten zur Folge hatten (Antonov-Aufstand, Kronstadter Aufstand etc.) und mitschuldig waren an verheerenden Hungersnöten[7] mit über 5 Mio. Toten.

Der Mangel an Roh- und Brennstoffen hatte Massenschließungen von Fabriken zur Folge[8], weshalb Millionen von Arbeitern sich plötzlich auf der Straße befanden. Ein Teil davon wanderte in die Dörfer ab, wodurch 1921 z. B. Moskau die Hälfte und Petersburg zwei Drittel aller Arbeiter verlor.

Eine tragische Folge der Kriegsjahre waren die obdachlosen Kinder. Nach offiziellen Angaben lebten 1922 7 Mio. Kinder auf der Straße.[9] Um diesem Problem abzuhelfen wurde die „Kommission zur Verbesserung des Lebensstandards für Kinder“ gegründet, deren Vorsitzender der ČK-Chef[10] Felix Dseržincki wurde.

Lenins Charakterisierung der Lage 1921 lautete: „Rasorenie, nužda, obničšanie“[11]

2. Einführung der NÖP:

Angesichts der wirtschaftlichen Notlage sahen die neuen Machthaber mit Lenin an der Spitze die Notwendigkeit einer vorläufigen Kursänderung in der Wirtschaftspolitik. Der Kriegskommunismus hatte die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und vor allem der Bauernschaft offensichtlich geschadet. Vor allem liberalere Kommunisten wie Bucharin traten nun dafür ein, den Bauern entgegenzukommen, wirtschaftliche Privatinitiative zuzulassen und die Steuerlast zu erleichtern. So wurde im März 1921 auf dem 10. Parteitag der Russischen Kommunistischen Partei die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) beschlossen. Ihre Hauptpunkte lauteten: Ersatz der Prodrasverstka[12] durch eine zweimal kleinere Naturalsteuer, Freiheit des Handels, reformiertes Tarifsystem für Löhne und Geldreform mit stabiler Währung.

Nach diesem Kurswechsel, der eigentlich nicht der sozialistischen Ideologie entsprach, ging es sichtlich aufwärts mit der russischen Wirtschaft. Am schnellsten passten sich Kleinindustrie, Einzelhandel und Landwirtschaft an, langsamer die Schwerindustrie. Die von der Dürre 1921 und dem Hungerjahr 1922 ziemlich geschädigte Landwirtschaft erholte sich soweit wieder, dass 1923 die vorrevolutionären Saatflächen im allgemeinen wieder hergestellt waren. 1925 überstieg der Bruttoertrag an Getreide sogar den Durchschnitt von 1909-13 um fast 20,7%, 1927 war das Vorkriegsniveau auch in der Viehwirtschaft erreicht.[13]

Trotz dieser Erfolge lebte ein großer Anteil der Bevölkerung weiterhin in wirtschaftlicher Not. Immer noch herrschte Warenmangel, was Preiserhöhungen zur Folge hatte, diese wiederum verhinderten eine Erhebung des Lebensstandards für die durchschnittliche Bevölkerung. Ein großes Problem blieb weiterhin die Arbeitslosigkeit und die Wohnungsnot in den Städten. Und bei alledem zogen ständig neue Massen von verarmten Bauern aus den überfüllten Dörfern in die Städte und steigerten dort die ohnehin hohen Arbeitslosenzahlen.

[...]


[1] Verlustbilanz der Volkszählung d. Völkerbundes, Gebiet d. UdSSR, Zeitraum Aug. 1914 – Dez. 1926: 2 Mio. Gefallene, 14 Mio. zivile Tote, 2 Mio. Emigrierte, 10 Mio. Geburtendefizit. Nach M. Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, München 1998, S. 264.

[2] Zahlen nach Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 1172.

[3] Zahlen nach Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 284.

[4] Zahlen nach Danilow, Istoria Rossii, Moskau 1999, S. 129.

[5] Zahlen nach Fitzpatrick, Stalin’s Peasants, New York/Oxford 1994, S. 25.

[6] Kriegskommunismus: Innenpolitik des Sowjetstaates während des Bürgerkriegs, zielte auf diktatorische Überwindung der Wirtschaftskrise und gewaltsame Einführung des Kommunismus durch Nationalisierung der Industrie, Prodraswerstka (Erkl. s.u.), Einführung eines Warenmonopols, bargeldloses Produktions- und Distributionssystem, allgemeine Arbeitspflicht.

[7] Hungersnöte im Frühling und im Sommer 1921 an der Wolga, in der Ukraine und in Orenburg.

[8] Im Februar 1921 wurden z.B. 64 der größten Betriebe in Petersburg geschlossen.

[9] Zahlen nach Danilow, Istoria Rossii, S 129.

[10] ČK: čresvyčainaya komissia – Sonderkommission, Geheimpolizei des Sowjetstaates.

[11] Verwüstung, Not, Verelendung, Zitat nach Danilow, Istoria Rossii, S 129.

[12] Prodrasverstka: Bauern mussten ihr Getreide zu Fixpreisen an den Staat abliefern.

[13] Zahlen nach Danilow, Istoria Rossiji, S. 131.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Zu Sozialstruktur, Bildungsstand und Rechtslage der ländlichen Bevölkerung der Sowjetunion in der NÖP-Zeit 1921-1927
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Institut für osteuropäische Geschichte)
Veranstaltung
Wirtschafts- und Sozialpolitik des Sowjetstaates auf dem Lande in den 1920-30-er Jahren
Note
2,3
Autor
Jahr
2002
Seiten
23
Katalognummer
V11382
ISBN (eBook)
9783638175586
Dateigröße
492 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sozialstruktur, Bildungsstand, Rechtslage, Bevölkerung, Sowjetunion, NÖP-Zeit, Wirtschafts-, Sozialpolitik, Sowjetstaates, Lande, Jahren
Arbeit zitieren
Naemi Fast (Autor:in), 2002, Zu Sozialstruktur, Bildungsstand und Rechtslage der ländlichen Bevölkerung der Sowjetunion in der NÖP-Zeit 1921-1927, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11382

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