Mythen und Symbole in der nationalsozialistischen Weltanschauung


Examensarbeit, 2001

100 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Einführung
1.2 Abgrenzung der Thematik, Zielsetzung und Methodik
1.2.1 Zu den Begriffen des Themas
1.2.2 Einführung in die Thematik
1.2.3 Methodik

2 Der Begriff des Mythos

3 Mythen in Hitlers Jugend
3.1 Kurzer Abriss von Hitlers Werdegang bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges
3.2 Romantische und mythologische Strömungen in Deutschland
3.3 „Quellen“ der nordisch-germanischen Mythologie
3.3.1 Deutsche Heldensagen
3.3.2 Die Edda
3.3.3 Das Nibelungenlied
3.3.4 Der Thule-Mythos
3.4 „Sekundärliteraten“ der nordisch-germanischen Mythologie
3.4.1 Richard Wagner
3.4.2 Guido von List
3.4.3 Jörg Lanz von Liebenfels
3.5 Hitlers Gewinnung von mythischen Grundsätzen

4 Mythenbildung durch den verlorenen Weltkrieg
4.1 Allgemeine Situation in Deutschland
4.2 Hitlers Situation
4.3 Die Dolchstoßlegende
4.3.1 Bestätigung des Siegfried-Mythos
4.3.2 Der „innere“ Feind
4.3.3 Kampf und Gewalt

5 Mythische Lehren in der „Kampfzeit“
5.1 Dietrich Eckart - Vom metaphysischen Antisemitismus zum realen Judenhass
5.2 Hanns Hörbiger - Die Welteislehre
5.3 Karl Haushofer, Halford J. Mackinder – Die Herzland-Theorie

6 Hitlers „neuer“ Mythos
6.1Glaubenssätze und Kategorien
6.2 Funktion
6.3 Abgrenzung zu den Verfechtern der „alten“ Mythen

7 Der Begriff des Symbols

8 Graphische Symbole
8.1 Das Hakenkreuz
8.2 Der Adler

9 Materielle Symbole
9.1 Fahnen
9.2 Fackeln und Brandschalen

10 Bauliche Symbole
10.1 Suche nach neuen Räumen
10.2 Der Architekt und die Masse
10.3 „Virtueller“ Raum
10.4 „Steingewordene Bewegung“

11 Zusammenfassung und Bewertung

12 Literaturverzeichnis
12.1 Quellen
12.1.1 Dokumentationen, Quellensammlungen und Übersetzungen
12.1.2 Erinnerungen
12.1.3 Zeitgenössische Schriften, Nacherzählungen und NS-Propaganda
12.2 Literatur
12.2.1 Einzelwerke und Sammelbände (Kataloge)
12.2.2 Lexika, Wörterbücher und Kurzdarstellungen
12.3 Quellen und Literatur im Internet (Stand: März 2001)
12.4 Video

13 Abbildungsverzeichnis

Eine Alte östlich im Erzwald saß;

die Brut Fenrirs gebar sie dort.

Von ihnen allen wird einer dann

des Taglichts Töter, trollgestaltet.

Er füllt sich mit Fleisch gefallner Männer,

rötet mit Blut der Rater Sitz.

Schwarz wird die Sonne die Sommer drauf;

Wetter wüten - wißt ihr noch mehr?

Die Edda, Der Seherin Gesicht[1]

1 Einleitung

1.1 Einführung

In einer Unterhaltung mit einem erfahrenen Geschichtslehrer kamen wir auf die Thematik der Didaktik der Geschichte des Dritten Reiches zu sprechen. Mein Gegenüber führte aus, dass er in einer Art Projektarbeit den Versuch unternommen hatte, das Marschieren, die Uniformierung und den einheitlichen Gruß als grundlegende Ausdrucksformen eines faschistischen Systems aufzuzeigen. „Die Schüler waren begeistert bei der Sache“, so erzählte er weiter, „so begeistert, dass abends neben dem Rektor und einiger Kollegen meiner Schule auch eine Vielzahl von Eltern angerufen hatten, und anfragten, ob ich noch ganz bei Verstand wäre.“ Mit Resignation beendete er diesen Punkt: „Das habe ich nie wieder gemacht. Gebranntes Kind scheut das Feuer.“

An dieses Gespräch fühlte ich mich erinnert, als ich das Thema dieser Arbeit anderen Kommilitonen mitteilte. Dabei stieß ich mehrfach auf die geäußerte Befürchtung: „Hast Du nicht Angst, dass Du danach völlig ‚braun‘ im Kopf bist?“

In beiden Fällen stand am Ende die Bestätigung bzw. die Ahnung, mit dem Aufgreifen der Frage nach der Faszination des Nationalsozialismus, schlafende Hunde bei anderen und bei sich selbst zu wecken. Eine Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich muss aber immer eine Diskussion über die „Begeisterung“ des Nationalsozialimus beinhalten, die zweifellos bis 1939 bei großen Teilen der Deutschen vorhanden war. Fernsehdokumentationen oder auch Geschichtsbücher weisen zumeist darauf hin, dass Adolf Hitler die Bevölkerung, die mit den Wirren der Weltwirtschaftskrise zu kämpfen hatte, mit großen Versprechungen an sich gebunden hat. Aber das taten viele „Prediger“ in dieser Zeit und erklärt nicht die spätere Gläubigkeit einer ganzen Nation an einen „Führer“. Die Erörterung der Frage wird vielleicht auch heute noch deshalb oftmals gescheut, weil ihr Gegenstand zu sehr in einer Region des Menschen angesiedelt ist, über die viele wenig wissen und auch wenig wissen wollen. Es ist dann einfacher, hier nicht weiter vorzudringen, diesen Bereich aber zu befriedigen, indem das Dritte Reich als das „Dunkle Reich“ stilisiert und Hitler als Inkarnation des Bösen betrachtet wird[2]. Zumeist behandeln Medien, Schulen und andere öffentliche Organe und Institutionen die Thematik „Nationalsozialismus“ auch mit diesem Grundtenor.

1.2 Abgrenzung der Thematik, Zielsetzung und Methodik

Von der oben angeführten Einstellung soll hier abgewichen werden. Die Frage, wie der Nationalsozialismus es schaffen konnte, ein ganzes Volk in seinen Bann zu ziehen, zu faszinieren und damit zu unbedingter Gefolgschaft zu bewegen, liegt also als Basis der vorliegenden Arbeit zugrunde. Die Hauptthese ist, dass der Nationalsozialismus sich des oben angesprochenen „dunklen Bereichs“ des Menschen angenommen hat, Mythen und Symbole benutzt und geschaffen hat, um diesen zu befriedigen.

1.2.1 Zu den Begriffen des Themas

Um dem Thema „Mythen und Symbole in der nationalsozialistischen Weltanschauung“ gerecht zu werden, müssen die darin vorkommenden Begriffe „Mythos“ und „Symbol“ geklärt werden. (siehe dazu: Kapitel 1.2.3 Methodik). Zur Begrifflichkeit von „nationalsozialistischer Weltanschauung“ soll aber vorab schon eine Erläuterung geliefert werden. Diese Vorgehensweise ist nötig, weil sich von der hier gebrauchten Definition das wesentliche Verständnis der Arbeit ableitet.

Wenn von „Nationalsozialismus“ die Rede ist, wird sofort der Name seines Initiators assoziiert. Ohne Adolf Hitler ist der Begriff, der gleichzeitig eine Zeitspanne, ein politisches Programm, eine Pseudoreligion und damit insgesamt das umstrittenste Kapitel der neueren deutschen Geschichte darstellt, nicht denkbar.[3] Wenn daher von „nationalsozialistischer Weltanschauung“ gesprochen wird, so bezieht sich dies vornehmlich auf die Ideologie dieses Mannes. Alfred Rosenbergs Bemerkung: „Mit seiner [Hitlers] Weltanschauung steht und fällt der Nationalsozialismus.“[4] unterstreicht dies. Sicherlich spielten führende Gefolgsleute, darunter auch Rosenberg, gewisse Rollen, bei denen diese ebenfalls Anspruch auf die Konstruktion eines neuen „deutschen Weltbildes“ erhoben; vornehmlich blieben sie aber eben Gefolge. Sie konnten ihre Ideen immer nur soweit realisieren, wie dies mit dem Gedankengebäude des „Führers“ konform ging. Sie konnten sein Programm verstärken oder verwässern. Aber sie waren doch nie in der Lage, grundsätzliche Punkte seiner Ideologie abzulehnen oder sogar einen gegensätzlichen Pol zu schaffen. Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit „nationalsozialistische Weltanschauung“ mit der Weltanschauung Hitlers gleichgesetzt.

1.2.2 Einführung in die Thematik

„Weltanschauung“ beinhaltet immer ein aktives Moment und ist nicht im Sinne von bloßem Sehen zu verstehen. Wer Welt schaut, der schafft Welt und zwar in Dichtungen und Sagen, aber auch in Bauwerken und Denkmälern.[5] Diese sind dann Ausdruck seiner Ideen.

Nun wird in der Literatur immer wieder darauf hingewiesen, dass der Nationalsozialismus keine eigenen Ideen hervorgebracht hat. Durch die Schöpfung aus verschiedensten Quellen wurden Versatzstücke, die brauchbar erschienen, zusammengeklaubt und verwertet. Aus fremden Elementen läßt sich aber durchaus etwas Neues und als solches Erkennbares zusammensetzen, ähnlich eines neuen Musikstücks, in das bekannte Akkorde und Melodieteile einfließen oder die Instrumente eines alten Liedes durch andere ausgetauscht werden. Hitler hat genau dieses Aufgreifen, „Ummodellieren“ und Nutzbarmachen von bekannten, weniger bekannten und latent in der Zeit und im Unterbewußtsein der Menschen vorhandenen Ideen wie kein anderer verstanden. Oder wie Rosenberg formulierte: „[...] Adolf Hitler hat durch sein Wort an diesem Urinstinkt des schaffenden Volkes gerührt, die noch bestehenden Hemmungen überwunden und Tausenden und Abertausenden einen neuen Glauben , einen neuen Lebensinhalt geschenkt.“[6]

Benito Mussolini drückte diese angewandte Methode ganz nüchtern aus: „Jede Revolution schafft neue Formen, neue Mythen und Riten: da muß man alte Traditionen benutzen und umwandeln. Neue Feste, Gesten und Formen muss man schaffen, damit die selber wieder Tradition werden.“[7]

Hitler hat sich einer Fülle von Traditionen bedient und sie für seine Zwecke missbraucht.

1.2.3 Methodik

In der vorliegenden Arbeit soll vor allem eine dieser Traditionen, nämlich der Bereich der nordisch-germanischen Mythologie herausgegriffen und mehr oder weniger isoliert betrachtet werden. Es geht darum zu zeigen, welche Rolle diese Mythologie im wilhelminischen Deutschland spielte, welche Formen und Stoffe Hitler gekannt und wie er zu ihnen gestanden hat.

Aus Mythen können Weltanschauungen konstruiert werden. Hitler war nicht der erste, der um diesen Umstand wusste. Am Beispiel einiger seiner „Vorgänger“ soll dargestellt werden, wie diese aus Sagen, Epik und anderen Quellen wesentliche Momente und Motive hervorhoben und sie als Grundsätze für ihre eigenen Gedankengebäude nutzbar machten. Eine zentrale These der Arbeit ist, dass durch den vermischten Einfluss von „Quellen“ und „Sekundärliteraten“ Grundsätze in Hitlers Weltanschauung wuchsen, die während und nach dem Ersten Weltkrieg bestätigt und bestärkt wurden und aus denen tragende Pfeiler für einen neuen Mythos entstanden.

Um diesen „neuen“ Mythos zu vermitteln, galt es, ein Symbolsystem zu erarbeiten und zu verbreiten. Anhand einiger prägnanter Beispiele von nationalsozialistischen Symbolen soll der Versuch unternommen werden, noch einmal den „Glauben“ und die „Mission“ Adolf Hitlers aufzuzeigen.

Vor der inhaltlichen Befassung mit Mythen und Symbolen wird, wie oben angesprochen, jeweils der Begriff erklärt, um ein grundlegendes Verständnis zu erhalten. Eine differenzierte Betrachtungsweise kann in diesem Rahmen nicht erfolgen. Das gilt auch für weitere Einzelbereiche der Arbeit, die mit dem Ziel angerissen werden, einen stringenten Gesamtkomplex zu schaffen. Über die Tatsache, dass über jeden einzelnen Unterpunkt mehrere Dissertationen unter verschiedenen wissenschaftlichen Gesichtspunkten und aus verschiedenen fachspezifischen Perspektiven existieren oder existieren könnten, bin ich mir genauso bewußt, wie über den Umstand, dass die Bestrebung, den Nationalsozialismus nur durch eine Kausalität, nämlich Hitlers Begeisterung und konsequente Umsetzung von nordischer Mythologie, erklären zu wollen, zu kurz zielt. Ebenso verhält es sich mit Untersuchungen, die Hitlers Weltanschauung z.B. ausschließlich vom sozialdarwinistischen Ansatz ableiten. Hier soll lediglich ein Strang des „Taus Nationalsozialismus“ beschrieben werden, der das Bild des Dritten Reiches mitgeprägt hat, auch wenn in einigen der folgenden Absätze dieser Anspruch verabsolutiert scheint.

2 Der Begriff des Mythos

Da in der vorliegenden Arbeit der Begriff des Mythos natürlich immer wieder auftritt, soll dieser zunächst erklärt werden. Das griechische Wort „Mythos“ (lat. mythus) ist ein religionsgeschichtlicher Begriff und bedeutet eigentlich „Erzählung“ oder „Fabel“, insbesondere „Göttergeschichte“.[8] In einem Mythos wird der Versuch unternommen, die Welt und die sich in ihr abspielenden Vorgänge herzuleiten und zu deuten. Jeder Mythos stellt ein Ordnungssystem dar, das zumeist in Erzählungen mit Symbolcharakter ausgedrückt wird.[9]

Der Mythos besitzt immer eine sinnstiftende Funktion und kann damit Bedeutung für das Existenzverständnis des einzelnen Menschen gewinnen. Er ist dann ein Teil oder wesentlicher Ausdruck seiner Weltanschauung.

In allen Ländern und Kulturen tauchen Mythen auf. Man unterscheidet den theogonischen Mythos, in dem die Entstehung der Götter erzählt wird, den kosmogonischen Mythos, der den Ursprung der Welt beschreibt, den kosmologischen Mythos, der die Gestaltung der Welt und frühere Kulturstufen darstellt, den anthropologischen Mythos, der die Erschaffung des Menschen, sein Wesen, seine Eigenschaften und seine Bestimmung, sein Schicksal beinhaltet. Im soteriologischen Mythos wird die Erlösung des Menschen, im eschatologischen Mythos wird das Ende der Welt, der Götter und der Menschen behandelt.[10]

Besonders kosmologische und anthropologische Mythen entfalten eine stark integrative Kraft. Sie können den Zusammenhalt einer Gemeinschaft sichern, indem sie ihr gemeinsames Geschick und ihren Ursprung begründen. Die Ängste der Einzelnen werden durch solche Mythen in ein allgemeines Erwartungssystem und eine Szenerie von handlungsleitenden Werten kanalisiert. So entlasten sie das Individuum von der Verantwortung für seine unglückliche oder bedrohte Stellung in der Gesellschaft und liefern ihm ein fest umrissenes, von breitem Rückhalt getragenes Programm zum Schutz seiner Identität.[11]

Die Grundfunktionen von Mythen bestehen also darin, Selbstbewußtsein zu stärken, Integration und Gemeinschaft zu fördern und Identität zu stiften. Darüber hinaus werden sie benutzt, um Ansprüche zu legitimieren, Autorität zu begründen und Handlungen zu stimulieren.[12] Durch diese Funktion kann ein Mythos einen wichtigen Beitrag für die menschliche Orientierung darstellen in der Form, dass der Mensch sich selbst, die Welt und die Gemeinschaft besser versteht und in die Gesamtwirklichkeit einordnen kann.

Die Aufnahme eines Mythos in die eigene Weltanschauung bedingt aber nicht zwingend eine physische Gemeinschaft mit gleichgesinnten Menschen. Es ist durchaus möglich, räumlich und vor allem zeitlich unabhängig einen Mythos für sich zu akzeptieren und damit als „Einzelgläubiger“ aufzutreten.

Mythen bieten die Möglichkeit, den Anpassungsdruck an die sich wandelnden Lebensbedingungen zu mildern, indem bestimmte Werte zu ewig gültigen Maßstäben erklärt werden, die es zu erfüllen, nicht zu verändern gilt. Die Erkenntnis des Menschen, dass Ereignisse und Entwicklungen in der Regel kompliziert und mehrdeutig sind, können Verwirrung und Angst erzeugen. Vor allem lässt sich ein einfacher und stringenter Lebensweg ohne Führung und unter eigener Verantwortung nicht einfach beschreiten. Durch eine mythische Deutung lassen sich irritierenden Beobachtungen und Probleme auf einfache Sinnzusammenhänge reduzieren.[13] Dieses impliziert notwendigerweise exakte, schroffe Gegensätze, z.B. gut – böse, stark – schwach, reich – arm usw.[14] Mythen sind somit auch Mediationen zwischen polaren Kontrasten.[15]

Wichtig ist, dass Mythen nicht erschaffen, sondern überliefert werden. Ein Mythos hat zu eigen, dass er immer schon vorhanden war, überliefert und rezepiert wurde, aber niemals in einer noch so intelligenten „Kreativschmiede“ völlig neu entwickelt und produziert werden kann. Es ist aber möglich, Traditionen aufzunehmen, sie mit anderen Elementen zu mischen und so einen „neuen“ Mythos entstehen zu lassen.[16] Diese Elemente müssen im Wesentlichen den Menschen in seinen Ängsten oder Bedürfnissen berühren, d.h. sie werden entweder anderen Traditionen entnommen oder aus den Erkenntnissen der Tiefen- und Massenpsychologie konstruiert, wobei letzteres ein sehr schwieriges, weil ohne Erfahrungswerte auskommendes Unterfangen darstellt. Aber auch hier sind Mischverhältnisse denkbar.

3 Mythen in Hitlers Jugend

Es soll hier zunächst eine Untersuchung über die mythologischen Stoffe und Personen, die Hitler Material geliefert haben, aus denen er später, in eklektischer Methode, seinen „neuen“ Mythos produzierte, vorgenommen werden. Eine zentrale These der vorliegenden Arbeit ist, dass Elemente der nordisch-germanischen Mythologie einen nicht unerheblichen Teil dieses Materials ausmachten.

3.1 Kurzer Abriss von Hitlers Werdegang bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges

Der am 20. April 1889 in Braunau/Inn zur Welt gekommene Adolf Hitler war das vierte von sechs Kindern. Durch den Zollberuf des Vaters musste die Familie des öfteren umziehen. Hitler besuchte nach zwei Grundschulen von 1900 bis 1904 die Realschule in Linz, später die Staatsoberrealschule in Steyr. Nach Schulabbruch siedelte er Anfang 1908 nach Wien über, wo er nach zweimaligem Scheitern bei der Aufnahmeprüfung an der Malschule der Kunstakademie ein Leben im „Selbststudium“ führte. August Kubizek, einen jungen Tapezierer aus Linz, den er bei einem Linzer Opernbesuch kennengelernt hatte, überredete er, auch nach Wien zu ziehen, um ein Musikstudium aufzunehmen. Bis November 1908 bewohnte Hitler mit Kubizek ein „Kabinett“. Nach überraschendem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung schlug er sich alleine als Postkartenmaler durch. Seine „Männerwohnheimphase“ wurde im Mai 1913 mit der Übersiedlung nach München beendet, durch die er sich dem österreichischen Militärdienst entzog. Bei Kriegsausbruch meldete er sich jedoch freiwillig in die bayrische Armee.[17]

3.2 Romantische und mythologische Strömungen in Deutschland

Hitlers Einstieg in die Welt der Mythologie ermöglichte der deutsch-national-gesinnte Linzer Geographie- und Geschichtslehrer Dr. Leopold Poetsch[18], der den jungen Adolf von 1901 bis 1904 unterrichtete.[19]

Poetsch war der Ansicht, dass man nach dem deutschen Sieg von 1870/71 sich die germanischen Vorfahren viel mehr bewußt machen müsse, indem man „mit größerer Liebe in den Büchern deutscher Mythe, Sage und Geschichte“ nachlese.[20]

Poetsch stand mit dieser Ansicht nicht alleine da. Nicht erst seit der Schlacht von Sedan versuchten die Deutschen, eine identitätsstiftende Geschlossenheit und vermeintliche Größe zu gewinnen, die sie dann bedingt in der politischen Einigung durch die „preußische“ Reichsgründung relativ spät fanden.

Das Sammelsurium von kleinen Königreichen, Fürstentümern und Grafschaften, das mit Österreich und Preußen bis 1806 das späte Heilige Römische Reich Deutscher Nation bildete, taugte ebensowenig wie sein Nachfolger, der Deutsche Bund, dazu, sich auf glorreiche Zeiten eines großen Volkes zu besinnen.[21]

Schon die „Sturm und Drang“-Schriftsteller des ausgehenden 18. Jahrhunderts und später, Mitte des 19. Jahrhunderts, auch die nationalgesinnten Kreise beriefen sich daher lieber auf das frühe Mittelalter, suchten nach Quellen und überzeichneten in idyllischen, naturbezogenen Bildern diese Epoche als die der „wahren“ deutschen Nation, auch wenn diese realpolitisch nie bestanden hatte.[22]

Diese Tendenz verstärkte sich trotz der neuen Identitätsbildung auch nach der Gründung des Zweiten Reiches 1871, als die zwar äußerst traditionsbewußte und „stockkonservative“ Regierung Industrialisierung und Städtebau rigoros vorantrieb und damit den ländlichen Charakter Deutschlands zerstörte.[23] Diese modernen materialistischen Bemühungen des neuen Reiches gingen trotz des sichtbaren Niedergangs der Landschaft mit verstärkten romantisch-germanischen Vorstellungen einher. Man sah zwar die Notwendigkeit der forcierten Industrialisierung, um das Reich groß zu machen, wollte sich diese Modernität aber nicht ständig vor Augen führen.[24]

Diese romantischen Vorstellungen beinhalteten bereits Visionen von deutschem Führertum, Sieg, Stärke, Lebenskraft, Tapferkeit und Heldentum und wurden genährt durch die militärischen Siege über Frankreich durch die „Völkerschlacht von Leipzig“ und, wie angesprochen, bei Sedan.[25]

Deutsche „Mythe, Sage und Geschichte“ spiegelte sich in heidnischen Licht- und Feuerfesten oder auch in der Errichtung von Nationaldenkmälern wie dem Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald oder dem Germaniastandbild auf dem Niederwald bei Rüdesheim.[26]

3.3 „Quellen“ der nordisch-germanischen Mythologie

Hitler kannte die germanische Mythologie nicht nur durch seinen alten Geschichtslehrer und den symbolischen Ausdruck in Traditionselementen oder Denkmälern. Er beschäftigte sich mit ihr auch intensiv in seinem „Selbststudium“.

Zwar führte er weder Tagebuch noch eine „Leseliste“[27] ; es ist aber vor allem den späteren Erinnerungen Kubizeks[28] zu verdanken, dass wenigstens ein vages Bild über die gelesenen Schriften des späteren „Führers“ existiert. Über die Art, wie Hitler las, berichten „Mein Kampf“ und „Adolf Hitler - Mein Jugendfreund“ übereinstimmend: Hitler war „Autodidakt“. Die Kunst des Lesens bestand für ihn darin, „das Wertvolle vom Wertlosen zu sondern“[29]. Welche Texte und Inhalte zu welcher Kategorie gehören, entscheidet der Autodidakt naturgemäß selber. Deshalb konnte Hitler, vor allem in seiner Wiener Zeit, „Weltbilder“ konstruieren, die aus vielen Fassetten bestanden, die aber nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben mussten. Wenn ihm das Ergebnis gefiel, erzählte er es anderen Leuten[30], wobei er anscheinend durch das laute Vortragen sich selbst zuhörte und dabei über die Richtigkeit seiner gewonnenen Einsicht entschied. Sein Gegenüber wurde in diesen Urteilsprozess nicht einbezogen, sondern stellte für Hitler lediglich einen Grund dar, nicht als Selbstgesprächler zu gelten. In dieser Form einer „Dialektik“ zählte also nur die eigene, eventuell später (durch Hitler selber) verifizierte Meinung. Diese Art der „Erkenntnismanifestierung“ blieb in Hitlers gesamtem Leben konstant, wofür seine „Monologe“ bzw. „Tischgespräche“ im Führerhauptquartier gute Beispiele sind.[31]

3.3.1 Deutsche Heldensagen

Hitlers Hang zur germanischen Mythologie wurde von August Kubizek als einziges stetiges Moment in dessen Jugend und während seines Wiener „Studiums“ beschrieben. Adolf habe sich an den Erzählungen der deutschen Heldensage „berauscht“[32]. Unter allen Büchern nahmen den ersten Rang die deutschen Heldensagen ein. „Unberührt von der jeweiligen Stimmung und der äußeren Situation, in der er sich befand, wurden sie immer wieder vorgenommen und gelesen. Längst kannte er sie alle auswendig. Trotzdem las er sie immer wieder von neuem.“[33] Kubizek gab weiterhin an, dass Hitlers Beschäftigung mit der deutschen Sagenwelt keineswegs nur „jugendliche Schwärmerei“[34] war. Diese Mythologie war „die Welt, der er sich zugehörig fühlte.“[35] „Nichts erschien ihm erstrebenswerter, als nach einem Leben voll kühner, weitreichender Taten, einem möglichst heroischen Leben, nach Walhalla einzuziehen und für alle Zeiten zu einer mythischen Gestalt zu werden, ähnlich jenen, die er selbst so innig verehrte.“[36] Für den Freund war es eine Tatsache, „daß Adolf Hitler zeitlebens keinen anderen Boden fand, auf dem er in geradezu frommer Gläubigkeit verweilen konnte, als jenen, zu dem ihm die deutsche Heldensage das Tor geöffnet hatte.“[37]

Auch wenn die sogenannten „Deutschen Heldensagen“ nicht als „echte“ Quelle der germanischen Mythologie gelten können, weil sie höchstens Rückschlüsse auf die ursprünglichen Mythen zulassen[38], soll hier dennoch an erster Stelle etwas zu ihnen gesagt werden. Denn nach Kubizeks Ausführungen bestimmten sie, wie oben gezeigt, entscheidend die Persönlichkeit Hitlers.

Gustav Schwab[39], der Sagen und Märchen der griechischen, römischen und deutschen Mythologie sammelte und sie in umgeschriebener, einfacher, also „volkstümlicher“ Form herausbrachte, lieferte Hitler vor allem in seiner Linzer Zeit die „liebste Lektüre“[40].

Die Heldengestalten entsprangen den mündlichen Überlieferungen diverser Heldenlieder, -sagas, aber natürlich vor allem den unten näher beschriebenen Stoffen der Edda und des Nibelungenliedes. Zu ihnen zählten Siegfried, sein Pendant Arminius oder Hermann der Cherusker, Hildebrandt, Volker von Alzey, Dietrich von Bern, Rüdiger von Bechelaren aber auch Hagen von Tronje, der in seiner Heldenrolle als Inbegriff des treuen und starken Gefolgsmannes galt und hier nicht mehr als der Siegfriedmörder erkannt wurde.[41]

Hitler ließ sich noch über Sinngehalt und Geschichtlichkeit von Sagen aus, als sich Deutschland bereits im Zeiten Weltkrieg befand: „Nun kann ja die Sage nicht aus dem Nichts gegriffen haben. Der Begriff setzt immer die Erscheinung voraus. Wir sind durch nichts gehindert, ja ich glaube, wir tun gut daran anzunehmen, daß das, was die Mythologie von Gestalten zu berichten weiß, die Erinnerung ist an eine einstige Wirklichkeit.“[42]

3.3.2 Die Edda

Hitler kannte und verehrte die Edda[43]. Im Kapitel „Adolf verfasst eine Oper“ bemerkte Kubizek: „Aus der Edda, einem Buche, das ihm heilig war, kannte er Island, die rauhe Nordlandinsel, auf der sich die Elemente, aus denen die Erde erschaffen wurde, so unmittelbar wie in den Tagen der Schöpfung begegnen. Der grimmige Sturm, der kahle, dunkle Fels, das helle Eis, der Gletscher, das lodernde Feuer der Vulkane. Dorthin verlegte er den Schauplatz seiner Oper, denn dort befand sich auch die Natur selbst noch in jener leidenschaftlichen Bewegung, die das Geschehene unter den Göttern und Menschen durchpulste.“[44]

Dass Hitler zudem ein Buch mit dem Titel „Götter und Helden“[45] besaß, in dem die Wieland-Sage zu finden war, zeigt, dass er den Stoff der Edda auch in vereinfachter prosaischer Form nachlesen konnte.[46] Die Edda enthält 16 Götterlieder und 24 Heldenlieder, von denen das bekannteste und bedeutendste wohl die „Völuspá“ ist. Wörtlich übersetzt „Seherin Gesicht“, beschreibt es in kosmogonischen bis eschatologischen Weissagungen[47] das Schicksal von Göttern und der Welt, vom Anfang bis zur „Götterdämmerung“.[48]

Das Lied der Völuspá[49] nimmt vor Beginn der Zeit einen magischen Abgrund an, an dessen Nordende Niflhel (Nibelheim, Nebelheim) kalte Dunstschwaden in das Nichts sandte und an dessen Süden das heiße Land Muspelheim grenzte. In diesem Abgrund entstand der Riese Ymir, der sich von der Milch der Kuh Audumla ernährte, die aus schmelzendem Eis entstand. Die Kuh erschuf Buri, dessen Sohn Bur mit Bestla drei Söhne Odin, Willi und We hatte. Diese drei Männer erschlugen Ymir und schufen aus seinem Körper Himmel und Erde, wobei sein Fleisch die Materie für die Erde abgab, sein Blut das Meer und seine Schädeldecke das Firmament bildeten. Der Abgrund wurde somit aufgefüllt. Aus ihm entstand Mittgart (Midgard), die grünende, friedliche Erde. Um Mittgart liegt eine Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt, die eine der größten Gefahren für die „Mittelerde“ darstellt und die Grenze zu Niflhel und Muspelheim bildet.

In der Mitte von Mittgart befindet sich die Weltenesche Yggdrasil, deren Wurzeln in das Reich der Toten, aber auch in die beiden befremdeten „Nachbarländer“ Mittgarts reichen.

Insgesamt werden in der Edda neun Weltteile angenommen, von denen, außer den schon genannten, noch Asgard bemerkenswert ist.[50] Asgard ist das Reich der Asen, der Götter, deren Hauptgötter Odin (Wothan) und Donar (Thor) sind. In dieser Region befindet sich auch Walhall, die goldene Wohnstatt der Götter. Asgard wird nicht näher lokalisiert, es liegt aber anscheinend auch im Norden, da zwischen Asgard und Niflhel die leuchtende Regenbogenbrücke zu finden ist, die beide Erdteile miteinander verbindet.[51]

Die Asen schufen auf Mittgart die ersten Menschen, nachdem sie zwei weitere Welten (Muspelheim und Alfheim) mit Kreaturen, den Zwergen und Alfen (Alben) besiedelt hatten. Die ersten Menschen entstanden aus Esche und Ulme (männliches und weibliches Geschlecht), indem den abgestorbenen Bäumen, die die Asen am Ufer des Meeres fanden, Seelen gegeben wurden. Durch diesen Umstand sind die Asen die Herren über die bekannte Welt. Über ihnen stehen und weben nur die drei Nornen, die Frauen Urd, Verdandi und Skuld, die das Schicksal in ihren Händen halten, und dem die Asen unbedingt verpflichtet sind. Die Nornen sind es auch, die für das Geschick Mittgarts und Asgards Stäbe schneiden (Runen).[52]

Das Schicksal sieht die Götterdämmerung vor. Dieser Weltuntergang ist im Losreißen und Losschlagen der zerstörenden und dunklen Kräfte (Mittgartschlange, Fenrirwolf usw.) begründet, aus dem es kein Entweichen gibt. Götter, Menschen und auch alle dunklen Elemente finden in der Götterdämmerung ihr Ende. Obwohl Odin um diesen Umstand weiß, sammelt er alle Menschen, die in den Schlachten auf der Erde fallen, in Wallhal, wo sie bestens versorgt und für diese Endschlacht trainiert werden.[53] Nachdem Odin und alle anderen diesen Kampf verloren haben, wird die Sonne schwarz, die Erde versinkt im Meer, und zurück bleibt das Chaos, aus dem ein neuer Kosmos entsteht und damit ein neuer Kreislauf beginnt.[54]

Die Heldenlieder der isländischen Edda beschreiben die gleichen Umstände, die nachfolgend in dem jüngeren, aber doch „deutscheren“, weil in eine christliche Umgebung gehörenden, Nibelungenlied dargestellt werden. In der Edda finden sich jedoch drastischere Bilder. Auch der Kampf Siegfrieds (Sigurds) mit dem Drachen lässt sich zunächst nur in der Edda nachlesen.[55] Eine andere altisländische Saga, die Völsunga-Saga, auf die hier nicht näher eingegangen wird, beschreibt ähnliches.[56]

3.3.3 Das Nibelungenlied

Eine frühzeitige Kenntnis des Nibelungenliedes darf bei Hitler vorausgesetzt werden, da es als Quelle der meisten deutschen Heldensagen gilt. Außerdem gehörte es um die Jahrhundertwende zur Pflichtlektüre in jeder Schule.[57] Da sein Lehrer Poetsch, wie oben aufgezeigt, Hitler in die deutsche Heldensagen eingeweiht hat, wird er um das Nibelungenlied in „Reinform“ keinen Bogen gemacht haben.

Das Nibelungenlied[58] gibt in der ersten Strophe an, wovon es berichten will: von Freude, Leid, hohen Festen, kühnem Kampf, Untergang und Klage.[59]

Es beginnt mit der Jugend Kriemhilds, ihren drei Brüdern Gunter, Gernot und Giselher, dem Leben am Königshof von Worms und seinen Helden, unter denen Hagen und Volker von Bedeutung sind. Kriemhild erlebt ihre große Liebe mit Siegfried, der nach Worms kam, nachdem er mit den Sachsen gekämpft hat. Auf diesem Weg erhält Siegfried einen Schatz von Schilbung und Nibelung, denen er bei der Teilung behilflich sein soll, was aber im Streit und im Tod der beiden Königssöhne endet. Siegfried übernimmt den Schatz und nennt seine Gefolgsleute (etwas ungereimt) die „Nibelungen“. In Worms hilft Siegfried Gunter, die stolze Brünhild zu gewinnen. Darauf folgt ein todbringender Streit der beiden Königinnen, der dazu führt, dass Siegfried verraten und erschlagen wird. Krimhild lässt Siegfrieds Schatz an den Rhein bringen, wo Hagen ihn an der tiefsten Stelle versenkt.

Der zweite Zyklus berichtet vom Werben König Etzels von Ungarland um Kriemhild, von der Heirat, vom Besuch der Verwandten Kriemhilds (den Nibelungen), der eher einem Heerzug ähnelt. Schließlich treibt Kriemhild ihre Ränkespiel so weit, dass sich eine Schlacht zwischen Burgundern und Hunnen entwickelt, in der alle Beteiligten den Tod finden. Hagen wird am Ende von Kriemhild und diese von Hildebrand erschlagen.[60]

Lange Zeit nicht oder nur mit Abneigung beachtet fand der Stoff des Nibelungenliedes erst nach den preußischen Niederlagen von Jena und Auerstedt Beachtung. Man suchte nach einer Art Nationalepos und fand das Nibelungenlied. Friedrich Schlegel schrieb schon 1803, dass es zur „Grundlage und Eckstein“ der deutschen Poesie werden solle. Und August Wilhelm Schlegel kam bereits 1802 zu der „Erkenntnis“, dass das Nibelungenlied die Homersche „Ilias“ überrage.[61]

Während der Befreiungskriege wurde das Nibelungenlied als „Feld- und Zeltausgabe“ an die „tapferen vaterländischen Krieger“ verteilt.[62] Siegfried war durch eddische Vermischung und Synthese mit christlichen Heiligenhelden wie Erzengel Michael oder Sankt Georg bereits primär als Drachen- oder Schlangentöter etabliert. Nun sollte er als „deutscher Held“ gegen den „Schlangenkaiser“[63] Napoleon antreten und ihn bezwingen.

Durch diese Popularität bedingt, wird auch Hitler von dem „Nationalepos“ begeistert gewesen sein und es als solches auch akzeptiert haben. Schließlich war er seit seinem sechzehnten Lebensjahr deutscher „Nationalist“[64].

Friedrich Heer bemerkte mit einem Ausblick auf die spätere fatale Entwicklung Deutschlands: „Was aber lag näher, als in Linz, nahe dem ‚Nibelungengau‘, der Nibelungenstraße an der Donau, nahe an Passau, dessen hoher Klerus im Hochmittelalter mit der mittelhochdeutschen Fassung des Nibelungenliedes eng verbunden war, die Nibelungen als frühe Heilsgeschichte der Deutschen vorzustellen? Fuhren sie nicht gen Osten und gehen verraten im Osten unter?“[65]

3.3.4 Der Thule-Mythos

Hitler wird im Laufe seiner Jugend mit den kosmologischen bzw. anthropologischen Mythen von Atlantis oder Thule in Berührung gekommen sein.

Vor allem mit Atlantis assoziierten Menschen in den westlichen Kulturen das Goldene Zeitalter, das Paradies, das durch eine Flutkatastrophe entweder im Mittelmeer oder im Atlantischen Ozean untergegangen war. Viele antike Quellen berichten von diesem sagenumwobenen Kontinent. Die bekanntesten Aufzeichnungen stammen von Platon und Hesiod.[66]

Für die romantischen Vorstellungen eines aus der germanischen Tradition neu geborenen Deutschlands taugte aber eher der Mythos von Thule. Auch er stützt sich auf zahlreiche antike Aufzeichnungen. So schilderte z.B. Pytheas (400 v. Chr.) Thule als einen Ort, der sechs Tagesfahrten nördlich von Britannien am Nordrand der Erdscheibe liegt[67] und an dem die Naturgesetze nicht zu gelten scheinen, wo Erde und Wasser sich vermischen und wo Alles frei herumzuschweben scheint.[68] Prokop (500-562) berichtete: „Thule ist eine sehr große Insel, über zehnmal größer als Britannien; es liegt von dort aus noch weit nach Norden.“[69]

Durch diese „nordische“ Lokalisierung konnte Thule als der Inbegriff der Urheimat der Arier bzw. der Germanen in Anspruch genommen werden. Mit Thule verband sich die Vorstellung von Asgard bzw. Walhall aus der Edda mit der „Insel der Seligen“, auf der das Wissen um die einstige Hochkultur der Germanen weiterlebte. Die Gegensätze von Leben oder Tod waren hier überbrückt. Lebensabwendung, Ewigkeit, Trost und Vereinigung in der „Volkhaftigkeit“ waren die zentralen Momente, die der Begriff „Thule“ unterschwellig vermittelte.[70]

Einige zweifelhafte Autoren, darunter der unten besprochene Guido von List, setzten Thule auch mit Atlantis gleich oder gaben Thule als Hauptstadt des untergegangenen Kontinents an.[71] Bei Hitler findet sich der Begriff „Thule“ nicht, obwohl er ihn und seinen Inhalt spätestens durch Dietrich Eckart, der u.a. als Gast in der Thule-Gesellschaft[72] verkehrte, gekannt haben wird. Hitler nahm eine Urheimat der Arier im Norden an, bezeichnete diese aber mit keinem Namen. Damit distanzierte er sich wahrscheinlich weitgehend von den okkulten Umtrieben einiger deutsch-nationaler Sektierer und Theoretiker, übertrug aber alle wesentlichen Eigenschaften und Vorstellungen von Thule auf seine numinose Konstruktion.

[...]


[1] Felix Genzmer (Übers.), Die Edda, Die wesentlichen Gesänge der altnordischen Götter- und Heldendichtung, , Düsseldorf, Köln 1964, S. 47.

[2] Auf die Problematik dieser Mythenbildung und -festigung soll hier aber nicht näher eingegangen werden, da es sich hierbei um ein aktuelles sozio-politisches Feld handelt.

[3] Zum Thema Nationalsozialismus = Hitlerismus vgl. Eberhard Jäckel, Hitlers Weltanschauung, Entwurf einer Herrschaft, Tübingen 1969, S. 19f; vgl. Joachim C. Fest, Hitler und die historische Größe, in: Wolfgang Wippermann (Hrsg.), Kontroversen um Hitler. Frankfurt a. M. 1986, S.140; vgl. Klaus Hildebrand, Nationalsozialismus oder Hitlerismus?, in: Wippermann, S. 199ff; vgl. Hans Mommsen, Nationalsozialismus oder Hitlerismus?, in: Wippermann, S. 206ff.

[4] Alfred Rosenberg, ohne Zeit- und Ortsangabe, zit. in: Joachim Fest, Das Gesicht des Dritten Reiches, Profile einer totalen Herrschaft, München51997, S. 225.

[5] Vgl. Johannes Hoffmeister (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg21955, S. 662.

[6] Alfred Rosenberg auf einer Tagung im Juli 1924 in Weimar, zit. in: Werner Maser, Die Frühgeschichte der NSDAP, Hitlers Weg bis 1924, Frankfurt a. M., Bonn 1965, S. 252f.

[7] Benito Mussolini, ohne Zeit- und Ortsangabe, zit. in: Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches, Faszination und Gewalt des Faschismus, Frankfurt a. M.21994, S. 209.

[8] Hoffmeister, S. 418f.

[9] Franz Schupp, „Mythos und Religion: Der Spielraum der Ordnung“, in: Hans Poser (Hrsg.), Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, Berlin, New York 1979, S. 60.

[10] Hoffmeister, S. 418f.

[11] Murray Edelman, Politik als Ritual, Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns, Frankfurt a. M. 1990, S. 111; Sabine Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden, Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 – 1945, Vierow bei Greifswald 1996, S. 44.

[12] Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden, S. 45

[13] Edelman, S. 146.

[14] Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden, S. 46.

[15] Walter Burkert, Mythisches Denken, in: Poser, S. 24f.

[16] Walter Burkert, Mythisches Denken, in: Poser, S. 17f; vgl. auch Fußnote 6.

[17] Vgl. Helm Stierlin, Adolf Hitler, Familienperspektiven, Frankfurt 1975, S.25f; vgl. Joachim Fest, Hitler, Eine Biographie, München32000, S. 109.

[18] Poetsch ist auch eine der wenigen Personen, die Hitler bewundernd in „Mein Kampf“ aufführte: „Noch heute erinnere ich mich mit leiser Rührung an den grauen Mann, der uns im Feuer seiner Darstellung manchmal die Gegenwart vergessen ließ, uns zurückzauberte in vergangene Zeiten und aus dem Nebelschleier der Jahrtausende die trockene geschichtliche Erinnerung zur lebendigen Wirklichkeit formte. Wir saßen da, oft zu heller Glut begeistert, mitunter sogar zu Tränen gerührt.“ (Adolf Hitler, Mein Kampf, München501939, S. 12.).

[19] Vgl. Brigitte Hamann, Hitlers Wien, Lehrjahre eines Diktators, München 1996, S. 24.

[20] Hamann, S. 24.

[21] Nicholas Goodrick-Clarke, Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Graz22000, S. 11.

[22] Goodrick-Clarke, S. 11f.

[23] Goodrick-Clarke, S. 12.

[24] Diese Tendenzen waren natürlich auch in der deutsch-nationalen bzw. „völkischen“ Szene der Habsburger Monarchie vorhanden. (Vgl. Francis L. Carsten, Faschismus in Österreich, Von Schönerer zu Hitler, München 1977, S.37f.).

[25] Ian Kershaw, Der Hitler-Mythos, Führerkult und Volksmeinung, Stuttgart 1999, S. 29.

[26] Vgl. Ian Kershaw, Hitler, 1889 - 1936, Stuttgart21998, S. 113.

[27] Eine „Leseliste“ führte z.B. Heinrich Himmler, in der neben der Aufstellung der gelesenen Bücher auch Gedanken über diese notiert wurden. (Vgl. Josef Ackermann, Heinrich Himmler als Ideologe, Göttingen, Zürich, Frankfurt 1970, S. 13.).

[28] Zur Quelle Kubizek: vgl. Hamann, S. 77ff. Hamanns Resümee: „Aber alles in allem ist Kubizek glaubwürdig.“

[29] Hitler, Mein Kampf, S. 36.

[30] Vgl. die Darstellungen von Hamann über das Wohnverhältnis zwischen Hitler und August Kubizek, z.B. „Nachts hält H. den Freund mit stundenlangen Monologen wach“ (S.89) oder: „Er prägte sich das Gelesene ein, indem er ausgiebig und in steter Wiederholung darüber spricht. [...] Eindeutig benutzt H. seine Zuhörer für seine Zwecke, duldet weder Widerspruch noch eine Diskussion.“ (S. 286).

[31] Vgl. Werner Jochmann (Hrsg.), Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941 - 1944, Hamburg 1980, S. 13.

[32] August Kubizek, Adolf Hitler, Mein Jugendfreund, Graz und Stuttgart51989, S. 82.

[33] Kubizek, S. 190.

[34] Kubizek, S. 82.

[35] Kubizek, S. 82.

[36] Kubizek, S. 82.

[37] Kubizek, S. 82f.

[38] Vgl. Paul Herrmann, Deutsche Mythologie, Berlin31994, S. 14; vgl. Heiko Uecker, Germanische Heldensage, Stuttgart 1972, S. 9ff.

[39] Gustav Benjamin Schwab, 1792 – 1850.

[40] Kubizek, S. 82.

[41] Vgl. eine ähnliche Sammlung: Hans Friedrich Blunck, Deutsche Heldensagen, Bayreuth101975.

[42] Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Berlin21997, Eintrag Nr. 18 vom 25./26. 1. 1942S. 128; Jochmann, Eintrag Nr. 112 vom 25./26. 1. 1942, S. 232.

[43] Der isländische Name „Edda“ meint „Urgroßmutter“ und damit „Urahnin aller Dichtung“. Untermauert und bestätigt von älteren Bilddenkmäler, Skaldenfragmenten, Zeichnungen usw., stellt die Edda in relativ abgerundeter Form die gesamte nordische Mythologie dar. (Mythen der Edda – Geschichte, Die Entstehung der Edda, publiziert unter: http://www.geocities.com/Athens/Olympus/5342/myths/edda.html, Stand: März 2001) Ihren Ursprung haben die dort aufgezeichneten Helden- und Göttersagen bzw. –lieder wahrscheinlich in Island. Island hatte für die Überlieferung der nordischen Mythologie die denkbar besten Voraussetzungen. Die Christianisierung vollzog sich im Vergleich mit dem europäischen Umfeld sehr spät (1000 n.Chr. wurde die Annahme des neuen Glaubens auf dem Allthing beschlossen) und sie erfolgte relativ freiwillig und nicht durch Zwangsmissionierung. Durch diesen Umstand spielten auch Verdammung und Verdrängung der „heidnischen“ Überlieferungen keine größere Rolle.( Klaus Böldl, Der Mythos der Edda, Nordische Mythologie zwischen europäischer Aufklärung und nationaler Romantik, Tübingen / Basel 2000, S. 287.) Auch wenn die Menschen im Allgemeinen des Schreibens nicht kundig waren, so konnte doch später die mündliche Weitergabe in der Schriftform erfolgen.

Der Begriff „Edda“ wurde zuerst von dem Isländer Snorri Sturluson geprägt, der um 1220 eine mit Gedichtzitaten durchsetzte Schilderung der nordischen Dichtersprache und Versformen vornahm. Auch eine Darstellung der heidnischen Mythen findet sich in diesem Werk. Die Lieder-Edda wurde ein halbes Jahrhundert nach der Snorri-Edda aufgeschrieben, sie enthält aber Stoffe, die mindestens bis in die Völkerwanderungszeit zurückreichen. Dass die Lieder-Edda auch als die Ältere Edda bekannt ist, lässt sich dadurch erklären, dass die Herausgeber der Lieder-Edda diese für die Quelle von Snorri hielten. (Böldl, S. 289.).

[44] Kubizek, S. 207.

[45] Kubizek, S. 201.

[46] Kubizek gab keinen Autor für dieses Buch an. Es ist anzunehmen, dass es sich auch hier um eine Art „Gustav Schwab“ handelte, also um einen Schriftsteller, der die ungewohnte Versform und die kontinental-unüblichen Namen der Edda in eine leichtere und „deutschere“ Form übertrug. Möglich ist ein ähnliches Werk wie: Hans W. Fischer, Götter und Helden, Germanisch-deutscher Sagenschatz aus einem Jahrtausend, Leipzig 1934.

[47] Heinz Klingenberg, Edda - Sammlung und Dichtung (= Beiträge zur nordischen Philologie, hrsg. von der Schweizerische Gesellschaft für skandinavische Studien, Bd. 3, Basel, Stuttgart 1974, S. 46.

[48] Böldl, S. 288.

[49] Genzmer, S. 43ff.

[50] Genzmer, S. 43.

[51] Vgl. Jörg Wichmann, Germanische Götter, publiziert unter: http://www.boudicca.de/wichmann5.htm; Stand: März 2001.

[52] Vgl. Wichmann.

[53] Menschen, die auf dem Sterbebett enden, kommen in das öde Hel; für sie gibt es keine weitere Verwendung.

[54] Vgl. Ragnarök – die Götterdämmerung, publiziert unter: http://geocities.com/Athens/Olympus/5342/myths/ragnark.html; Stand März 2001.

[55] Vgl. Genzmer, S. 155ff.

[56] Näheres zur Entstehung der Välsunga-Saga und ihren Gemeinsamkeiten und ihrer Abgrenzung zum Nibelungenlied im Nachwort von Stephan Grundy, Rheingold, Frankfurt a. M. 1995, S. 841ff.

[57] Heinz Ritter-Schaumburg, Die Nibelungen zogen nordwärts, München, Berlin 1983, S. 28.

[58] Die älteste erhaltene Handschrift (Hohenems-Donaueschingen-Handschrift C, vgl. . Julius Kolb, Vom Rhein zur Donau - Auf den Spuren der Nibelungen, München 1989, S. 11. ) des Nibelungenliedes wurde 1755 durch Jacob Hermann Obereit entdeckt (Vgl. Kolb, S. 14.). Friedrich der Große, mit dessen Portrait Hitler noch Ende des Zweiten Weltkrieges Zwiesprache hielt, schrieb 1784 in einem Brief an den Herausgeber des ersten vollständigen Abdrucks des Nibelungenliedes, Professor Heinrich, das Werk sei „nicht einen Schuß Pulver werth“ und verdiene es nicht „aus dem Staube der Vergangenheit gezogen zu werden“ (Brief von Friedrich dem Großen vom 22. Februar 1784, zit. in Ritter-Schaumburg, S. 25.).

[59] Vgl. Ritter-Schaumburg, S. 26.

[60] Vgl. Ritter-Schaumburg, S. 27f.

[61] Vgl. Ursula Schulze, Das Nibelungenlied, Stuttgart 1997, S. 281.

[62] Vgl. Schulze, S. 283.

[63] Schulze, S. 283.

[64] Kubizek, S. 91.

[65] Friedrich Heer, Der Glaube des Adolf Hitler, Anatomie einer politischen Religiosität, München,Eßlingen 1968, S. 28.

[66] Vgl. Manfred Ehmer, Die Weisheit des Westens, Mensch, Mythos und Geschichte, Düsseldorf 1998, S. 17ff.

[67] Hansferdinand Döbler, Die Germanen, Legende und Wirklichkeit von A-Z, Ein Lexikon zur europäischen Frühgeschichte, Güterloh, Berlin, München, Wien51975, S. 265

[68] Vgl. Ulrich Wendlandt, Atlantis und andere mythische Kulturen (=Atlantis, Mythenlexikon, Lexikon der der Geheimlehren - Lexikon der Esoterik - Lexikon der Symbole), publiziert unter: http://www.mythen-forum.de/Atlantis.htm; Stand: März 2001.

[69] Prokop, Gotenkrieg, II, 15, zit. in: Detlev Rose, Die Thule-Gesellschaft, Legende - Mythos - Wirklichkeit (= Veröffentlichungen des Institutes für deutsche Nachkriegsgeschichte, Bd. 21), Tübingen22000, S. 36

[70] Rose, S. 37.

[71] Vgl. Hamann, S. 295.

[72] Rudolf v. Sebottendorf, der Gründer der Thule-Gesellschaft erklärt den Begriff in seinem Buch „Bevor Hitler kam“: „Zuerst von als ultima Thule von Pytheas von Marseille erwähnt um 400 v. Chr., wahrscheinlich Island. Als die Christianisierung der Germanen einsetzte, war Island die letzte Zuflucht der sich nicht zum Christentum bekehrenden Germanen. hier wurden die Sagen aufbewahrt, Edda, so dass eine Wiederherstellung der germanischen Religion möglich war.“( Rudolf v. Sebottendorf, Bevor Hitler kam, zit. in: Rose, S. 36.).

Ende der Leseprobe aus 100 Seiten

Details

Titel
Mythen und Symbole in der nationalsozialistischen Weltanschauung
Hochschule
Bergische Universität Wuppertal
Note
1,3
Autor
Jahr
2001
Seiten
100
Katalognummer
V113848
ISBN (eBook)
9783640140381
ISBN (Buch)
9783640140602
Dateigröße
2514 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mythen, Symbole, Weltanschauung
Arbeit zitieren
Ulrich Krietenbrink (Autor:in), 2001, Mythen und Symbole in der nationalsozialistischen Weltanschauung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113848

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