Sozialisierungsstörungen in Folge von Kriegserlebnissen am Beispiel von Kindersoldaten und Flüchtlingskindern in der „Dritten Welt“


Mémoire (de fin d'études), 2003

118 Pages, Note: Sehr Gut


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Allgemeine Situation.
1.1 Was ist ein Kindersoldat? – Über das Zusatzprotokoll zur UN- Kinderrechtskonvention
1.2 Internationale Konventionen – Ein Überblick

2 Die Situation der Kinder im Krieg
2.1 Rekrutierung von Kindersoldaten
2.2 Flucht und Trennung
2.2.1 Die Bedeutung von Flucht für Kinder
2.3 Sexuelle Ausbeutung

3 Der illegale Handel mit Waffen
3.1 Kleinwaffen für kleine Hände – die Folgen für Kinder
3.2 Landminen – ihre spezielle Bedrohung für Kinder

4 Auswirkungen von kriegsbedingten Erlebnissen
4.1 Physische Auswirkungen
4.1.1 Gesundheit
4.1.2 Ernährung
4.2 Psychische Auswirkungen
4.2.1 Allgemeine Definition von Trauma
4.2.2 Posttraumatische Belastungsstörung
4.2.3 Traumatische Reaktionen bei Kindern
4.2.4 Posttraumatische Belastungsstörungen bei Kindern
4.2.5 Hilfe für traumatisierte Kinder
4.3 Psychosoziale Auswirkungen

5 Möglichkeiten der psychosozialen Hilfe
5.1 Demobilisierung, Rehabilitation und soziale Reintegration
5.1.1 Demobilisierung
5.1.2 Rehabilitation und Reintegration
5.1.3 Familienzusammenführung
5.2 Ökonomische Überlegungen
5.3 Erziehung und Berufsausbildung

6 Institutionen – SOS- Kinderdorf
6.1 Ziele und Grundsätze
6.1.1 SOS- Kinderdorf – Sozialpädagogische Intervention
6.1.2 Allgemeinpädagogische Prinzipien
6.2 SOS- Kinderdorf Clearinghouse (Salzburg)

7 Schlussbetrachtung

Bibliographie

Einleitung

Did you kill ? – no.

Did you have a gun? – yes. Did you aim the gun? – yes.

Did you fire? – yes.

What happened? – They just fell down.

(„Brot für die Welt“ und Lutherischer Weltbund, 1997)

Dieses Zitat aus dem Munde eines Kindersoldaten dokumentiert in eindrucksvoller Weise die Situation des bewaffneten Kindes im Krieg. Es hat weder den Sinn des Krieges, noch die Bedeutung von Tod, noch die kausalen Zusammenhänge verstanden, sondern nur, dass es etwas tut und erlebt, das in seiner Wahrnehmung alltäglich geworden ist.

Die vorliegende Arbeit setzt sich mit den weitreichenden Folgen von Krieg für Kinder auseinander, die sowohl aktiv an ihm teilnehmen als ihn auch passiv erleben mussten und damit in fundamentaler Weise sozialisationsstörenden Faktoren in ihrem Entwicklungsprozess ausgesetzt waren. Zentrale Fragestellungen in den Bereichen der physischen, psychischen und psychosozialen Auswirkungen auf betroffene Kinder sollen die komplexen Zusammenhänge aufzeigen, mit denen die Experten in den verschiedenen Bereichen der Hilfsmaßnahmen und Kriseninterventionen konfrontiert sind. Nach Erfassung des jeweiligen Ist- Zustandes von Flüchtlingskindern stehen Therapeuten und Sozialpädagogen im Rahmen ihrer Arbeit in verschiedensten Hilfsorganisationen vor den vielschichtigen Problemlagen und Aufgaben, die es zu bewältigen gilt.

Sowohl die traumatischen Reaktionen von Kindersoldaten und die therapeutischen bzw. sozialpädagogischen Möglichkeiten, als auch die komplexen Umstände und Hintergründe, in denen nicht nur die Ursachen für ihre Beteiligung an Kriegsaktivitäten, sondern insbesondere auch die Bedingungen für ihre soziale Wiedereingliederung zu suchen sind, sollen einander gegenüber gestellt werden.

Kinder, die Kriege miterleben, sind verschiedenen Stressoren ausgesetzt. Die traumatisierenden Ereignisse lassen sich in drei zeitlich aufeinander folgende Phasen, nämlich Kriegszeit, Nachkriegszeit, bzw. Flucht und darauf folgende Rückkehr in die Heimat bzw. endgültiges Niederlassen in fremder Umgebung unterteilen. Jede dieser drei Phasen ist mit spezifischen, belastenden Ereignissen verbunden, wobei nachfolgende Phasen, sofern sie durchlebt werden, die Wirkung der vorhergegangenen jeweils verstärken können. In welcher Weise auf den Verlauf der einzelnen Problemlagen in Form von entsprechenden Rahmenbedingungen und unter Inanspruchnahme verschiedener Disziplinen eingegangen werden kann, soll anhand der Maßnahmen von Clearing stellen und am Beispiel von SOS- Kinderdorf - Projekten veranschaulicht werden. Diese 1949 von dem Sozialpädagogen Hermann Gmeiner ins Leben gerufene Institution hat ein Netzwerk aufgebaut, das den durch Krieg und Flucht entwurzelten Kindern in familienähnlichen Gemeinschaften neuen Halt und Geborgenheit geben soll. Im Rahmen von sozialpädagogischen Zielsetzungen wird mit der Arbeit phasenspezifisch dort angesetzt, wo tiefgreifende Einschnitte in die kindlichen Entwicklungsprozesse statt gefunden haben. Ziel dieser Langzeitbetreuung ist es, in Form von koordinierter Zusammenarbeit Hilfe zur Selbsthilfe zu bieten und den Weg in die Selbsterhaltungsfähigkeit und Integration in eine friedliche Gesellschaft zu ermöglichen.

Diese Aktivitäten im Bereich der humanitären Hilfe beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit den psychosozialen Auswirkungen von Kriegsereignissen auf die Menschen, wobei dem Konzept des Traumas immer größere Bedeutung zukommt. Die Situation kriegsgeschädigter Kinder, insbesondere die von ehemaligen Kindersoldaten, deren schwierige Lebensumstände erst in jüngerer Vergangenheit öffentliche und politische Aufmerksamkeit erhalten haben, verlangt neben geeigneten therapeutischen Maßnahmen umfassende Lösungskonzepte, vor allem was soziale Reintegration im Kontext von Schulbildung, Schaffung von Berufsmöglichkeiten und ökonomischer Sicherheit betrifft, Voraussetzungen also, die ihrerseits wiederum ausschlaggebend für ein zukunftsorientiertes Leben sind. Programme zur Demobilisierung, Rehabilitation und sozialen Reintegration von

Kindersoldaten berücksichtigen diese Aspekte, um eine effektive Nachhaltigkeit ihrer Anstrengungen zu sichern.

Der thematische Aufbau der Arbeit über „Sozialisierungsstörungen in Folge von Kriegserlebnissen“ setzt sich aus folgenden Schwerpunkten zusammen. Eine Skizzierung der allgemeinen Situation von Kindern im Krieg soll zunächst die Schwierigkeiten einer Begriffsbestimmung des Terminus „Kindersoldat“ aufzeigen. Vergegenwärtigt man sich die unterschiedlichen Rechtsauffassungen, die über den Status des Kindes selbst sowie über das legitimierte Mindestalter für die Teilnahme an bewaffneten Konflikten herrschen, gewinnt die Diskussion der UN- Konvention über die Rechte des Kindes besondere Bedeutung. Dabei steht die kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff und seinen Folgen im Vordergrund. Die Situation der Kinder, die an bewaffneten Konflikten teilnehmen und/oder in anderer Weise vom Krieg betroffen sind, wird auf der Ebene der Umstände ihrer Rekrutierung bzw. anhand ihrer Schwierigkeiten nach Flucht und Trennung veranschaulicht. Auch auf die Hintergründe der Waffenindustrie, die indirekt, aber auch sehr direkt in Form von Kleinwaffen und Minen eine Bedrohung für Kinder darstellt, soll eingegangen werden. Die physischen, psychischen und psychosozialen Folgen von Kriegserlebnissen werden aus den körperlichen und seelischen Verletzungen der Kinder ersichtlich, die sich als traumatische und posttraumatische Störungen manifestieren. Daher wird der Terminus „Trauma“ im Hinblick auf Ansätze und Methoden zur Definition und Behandlung von traumatischen Reaktionen und posttraumatischen Belastungsstörungen in den Mittelpunkt gestellt.

Möglichkeiten der psychosozialen Hilfe werden anhand der Aufgabenbereiche, die sich im Zuge der Bemühungen um Demobilisierung, Rehabilitation bzw. soziale Reintegration der Kinder, die an bewaffneten Konflikten beteiligt waren, erläutert. Hier wird besonders auf pädagogische und sozialpädagogische Krisenintervention eingegangen, indem die Ziele und Grundsätze, wie sie in diesem Zusammenhang diverse Hilfsorganisationen verfolgen, beschrieben werden. Als Beispiel für diese zielorientierte und praxisbezogene Arbeit werden die erwähnten Institutionen SOS- Kinderdorf und SOS- Kinderdorf Clearinghouse (Salzburg) vorgestellt. Ein Überblick über unterstützende Maßnahmen und interdisziplinäre

Arbeitsweisen konzentriert sich auf Schwerpunkte sozialpädagogischer Intervention, die behandlungsorientiert vorgeht, aber auch pädagogische Prinzipien im Sinne von Bildung und Weiterbildung mit einschließt, um Zukunftsperspektiven eröffnen zu können. Der organisatorische Hintergrund, Zielsetzung, Arbeitsbereiche und Methoden werden veranschaulicht und die Parallelität der Maß- nahmen erklärt.

Die Vorgehensweise, sich den komplexen Sachverhalten zu nähern, die für das Thema dieser Arbeit relevant sind, wurde davon bestimmt, Projektund Evaluationsberichte von Hilfsorganisationen, inhaltsbezogene Texte bzw. Textstücke aus Fachliteratur, aber auch aus Informationen im Internet sorgfältig zu untersuchen und zu vergleichen. Die Auswahl und Zusammenstellung des Materials erfolgte unter dem Aspekt der traumatisierenden und sozialisierungsstörenden Faktoren, die sich generell negativ auf Kinder und Jugendliche während und nach Kriegsereignissen auswirken, besonders dann, wenn sie aktiv an diesen teilnehmen mussten. Daher wird in der vorliegenden Arbeit nicht auf die spezifischen gesellschaftlichen und politischen Umstände einzelner Regionen und Länder eingegangen, vielmehr sollen die schwierigen Bedingungen unabhängig von der geographischen Lage der Herkunftsländer, aus denen die ehemaligen Kindersoldaten und Flüchtlingskinder stammen, untersucht werden. Die kritischhermeneutische Methode erlaubt es, anhand der Vielzahl von Veröffentlichungen und Diskussionen über die Auswirkungen von Krieg, vor allem in der so genannten „Dritten Welt“, aber auch am Beispiel des Balkankrieges im hinsichtlich seiner Errungenschaften auf humanitärem Gebiet so stolzen Europa, Rückschlüsse zu ziehen und Zusammenhänge aufzuzeigen. Unabhängig von den Zuständen in den zahlreichen Kriegsund Krisengebieten ist der Verlust von Kindheit allen „Kindersoldaten“, die aktiv oder passiv um ihr Überleben kämpfen müssen, gemeinsam.

Die folgenden Kapitel haben die Komplexität des (fast) weltweit aktuellen Themas zum Inhalt, indem sie die vielschichtigen, gut recherchierbaren Ebenen der Diskussion in Zusammenhang bringen. Erleichtert wird dies dadurch, dass die Arbeit nationaler und internationaler Hilfsorganisationen, die permanent mit der Erfassung und Bearbeitung der vielfältigen Aufgaben mit ehemaligen Kindersoldaten und Kinderflüchtlingen konfrontiert sind, dokumentiert und zugänglich ist. Zusätzlich findet man in der themenbezogenen Literatur eine Fülle von Abhandlungen über Traumabewältigung, über diverse unterstützende Behandlungsmethoden und über resozialisierende Maßnahmen, die speziell für kriegsgeschädigte Kinder konzipiert werden. Eine Vielzahl von Berichterstattungen und Artikeln verweist auf die politische und gesellschaftliche Brisanz und spiegelt die quantitative wie qualitative Zunahme von Problemlagen wider, die auch vor Österreichs Grenzen nicht Halt machen.

1 Allgemeine Situation

Wie lässt sich die schwierige allgemeine Situation von Minderjährigen, die den Krieg erleben, unter dem Aspekt der weitreichenden Sozialisierungsstörungen, denen sie ausgesetzt werden, beschreiben? Der Prozess der Sozialisierung bedeutet, dass das Kind lernt, sich und seine Umwelt zu verstehen und sich in ein ziviles soziales Umfeld einzuordnen. Dafür benötigt es ein sicheres Netzwerk, das seine körperliche und seelische Unversehrtheit garantiert und das ihm Orientierungsund Bildungsmöglichkeiten auf dem Weg zur selbständigen Lebensführung anbietet. Die Basis hierfür erhält das Kind zunächst in seiner zentralen sozialen Gemeinschaft, innerhalb der Familie, und in Folge im Gemeinwesen durch Erziehung, Schulung und Bildung gemäß seiner jeweiligen kulturellen Traditionen. Voraussetzungen für diesen Idealverlauf der Sozialisation sind stabile soziale, politische und ökonomische Verhältnisse, in denen eine bestimmte Gesellschaft lebt. In Regionen und Ländern, in denen diese Voraussetzungen durch Kriegsereignisse destabilisiert werden, ist ein gesunder Entwicklungsprozess von Kindern massiv gefährdet.

Gegenwärtig sind mehr als dreihunderttausend Kinder und Jugendliche unter achtzehn Jahren – sowohl Mädchen wie Jungen – in den Streitkräften und bewaffneten Oppositionsgruppen von mehr als dreißig Ländern als Soldaten im Kampfeinsatz. Weitere Hunderttausende Minderjährige werden in Regierungsarmeen und paramilitärische Milizverbände eingezogen und für eine Vielzahl von nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen in fünfundachtzig verschiedenen Staaten rekrutiert. Weltweit erhalten Millionen Kinder militärisches Training und werden in Jugendbewegungen und Schulen indoktriniert. Kindersoldaten stammen zumeist aus benachteiligten sozialen Verhältnissen, entweder sind ihre Familien arm, oder sie sind überhaupt Waisen.

Die Chancen auf den Sieg wachsen, wenn die Bevölkerung des Kriegsgegners demoralisiert und entmutigt wird. Vielfältige Techniken haben die Strategen ersonnen, um diese Ziele zu erreichen: das Niederbrennen von Dörfern, Plünderungen, Vertreibungen, Vergewaltigungen, Massaker bis hin zu Völkermord. All das sind heute keine zufälligen, vereinzelten Exzesse, sondern Belege für zielgerichtetes brutalisiertes Kriegsgeschehen, das ganze Zivilbevölkerungen systematisch in lähmende Verzweiflung versetzt.

Vor diesem Hintergrund haben unzählige Kinder in ihrem bisherigen Leben nichts als Vertreibung, Angst, Gewalt und Tod erlebt. Tausende wurden entführt, zum Töten gedrillt und zu unvorstellbaren Grausamkeiten gezwungen. Denn Kinder gelten als besonders gefügig und furchtlos. Aufgrund der Trennung von ihren Familien und ihrer mangelnden Lebenserfahrung sind sie leicht manipulierbar und unterwerfen sich bedingungslos einer autoritären, auf Befehl und Gehorsam angelegten Ordnung. Besonders in innerstaatlichen Konflikten werden immer mehr Jugendliche ins Kampfgeschehen hineingezogen. Diejenigen, die zu jung sind zum Kämpfen, werden als Spione und Boten missbraucht und Mädchen müssen den Soldaten oft auch sexuell zur Verfügung stehen.

Kriegsherren haben die Bedeutung des Einsatzes von Kindern in diesem grausamen Kalkül erkannt. „Etwa zwei Millionen Kinder wurden während der letzten zehn Jahre in Kriegen getötet. Zehn Millionen Kinder, so wird geschätzt, wurden durch Kriegserlebnisse traumatisiert. Zwölf Millionen Kinder verloren ihr Zuhause, fünf Millionen leben in Flüchtlingslagern, und/oder kamen ums Leben. Kinder werden als lebende Detektoren in Minenfelder geschickt.“1 Zehnjährigen hängt man Maschinengewehre um und drillt sie, auf alles zu schießen, was sich bewegt. Und selbst in den Ländern, in denen offiziell Frieden herrscht, wird das Leben vieler Kinder von Waffen bestimmt. Jugendliche, die sich ausgestoßen und ohne Perspektive sehen, reagieren mit Hass und suchen ihre (Überlebens- )Chance in Kriminalität und Gewalt.

Das Leben eines Kindes kann im Krieg durch eine Vielzahl von Erfahrungen gekennzeichnet sein, die sicher niemand als „kindgerecht" bezeichnen würde. Sowohl physisch als auch psychisch sind Kinder bedroht. Die zahlreichen Kriegsgefahren gefährden die körperliche Unversehrtheit, während die seelische Gesundheit durch massive Angst, Traurigkeit, Hilflosigkeit, Schmerz, Verwirrung schweren Belastungen ausgesetzt wird. Die Verluste, die Kinder in Kriegszeiten erleiden, können vielfältig sein. Häufig verlieren Kinder wichtige Bezugspersonen wie Eltern, Geschwister, Freunde, Verwandte und Lehrer. Grundbedürfnisse, wie ein Zuhause, Besitz von Kleidung und Spielsachen, sowie die Möglichkeit zum Schulbesuch können nicht erfüllt werden. Kindern werden im Krieg Unschuld, Sicherheit, Vertrauen, Identität, Selbstwertgefühl, Erziehung, soziale Entwicklung geraubt – und damit die Kindheit selbst.

Akuten Mangel erleben Kinder während des Krieges in den Bereichen der medizinische Versorgung, des ausreichenden Schutzes gegen Witterung und der Ernährung. Dies wirkt sich vorrangig auf die physische, in der Folge aber auch oft auf die psychische Gesundheit der Kinder negativ aus.

Drei Schwerpunkte kennzeichnen also die folgenreichen Auswirkungen sowohl auf Kindersoldaten als auch auf die allgemein vom Krieg betroffenen Kinder:

- Verletzungen, Erkrankungen und deren mangelnde medizinische Betreuung, mindestens aber Mangelerscheinungen hinsichtlich Ernährung und/oder Unterkunft;
- schwere Verstörung durch Ausbeutung in Kriegsdiensten, bzw. durch Trennung und/oder Verfolgung;
- die Bewältigung der Rückkehr in ein ziviles Leben, das vorrangig die Familienzusammenführung voraussetzt und von umfassender medizinische und psychologische Betreuung begleitet werden muss.

Die zu den Vereinten Nationen gehörenden Organisationen UNICEF (Kinderhilfswerk) und UNHCR (Flüchtlingshochkommissariat), das Internationale Rote Kreuz und bestimmte Nicht- Regierungsorganisationen wie Save the Children haben systematische Methoden entwickelt, um den kriegsgeschädigten Kindern zu helfen. Ihr Vertrauen gewinnen die Mitarbeiter dieser Zentren oft nur mit großer Mühe und in langwierigen Prozessen.

So versucht z.B. UNICEF, diesen aus der Gemeinschaft ausgestoßenen Kindern den Weg zurück in den Frieden zu ebnen und die Familienzusammenführung voranzutreiben, indem sie Übergangsheime einrichtet und Sozialarbeiter ausbildet.

In den provisorischen Unterkünften werden die Kinder betreut und mit Nahrung, Kleidung und sauberem Wasser versorgt; auch für Unterricht und Ausbildung wird gesorgt. Die Sozialarbeiter begleiten den schwierigen Weg der Wiedereingliederung in ein kindergerechtes Zivilleben. Kinder, die mit dem Krieg aufgewachsen sind, müssen den Frieden erst wieder lernen.2

1.1 Was ist ein Kindersoldat? – Über das Zusatzprotokoll zur UN- Kinderrechtskonvention

Der Begriff „Kindersoldat“ ist weit verbreitet als gängige Bezeichnung für Kinder, die aktiv in Militärdienst und kriegerische Auseinandersetzungen verstrickt sind. In der Broschüre Brot für die Welt, die sich mit dem Phänomen der Kindersoldaten befasst, wird folgende Definition geboten: „Ein Kindersoldat ist eine Person unter achtzehn Jahren, die zum Wehrdienst eingezogen wurde, sich entweder freiwillig gemeldet hat oder dazu gezwungen wurde.“3

In Artikel 1 der UN- Konvention über die Rechte des Kindes (Convention on the Rights of the Child) von 1989 wird das Alter von achtzehn Jahren als der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenendasein definiert.4 In der übergroßen Mehrheit aller Länder legt das nationale Recht achtzehn Jahre als Wahlalter fest, weil damit der formale Übergang zwischen Kindheit und Erwachsensein mit seinen rechtlichen und moralischen Verpflichtungen markiert wird.5 Zudem stimmt diese Altersgrenze mit der oben genannten allgemeinen Festlegung des

Kindesbzw. Erwachsenenstatus in internationalen Menschenrechtsdokumentationen überein, so etwa in der Konvention von 1989.6

Trotzdem setzt die UN- Kinderrechtskonvention für die militärische Rekrutierung und die Beteiligung an bewaffneten Konflikten von Kindersoldaten das niedrige Alter von fünfzehn Jahren fest, wobei gleichzeitig unter Artikel 38 der UN- Kinderrechtskonvention an die Staaten appelliert wird, bei Rekrutierung unter achtzehn Jahren die Ältesten prioritär heranzuziehen. Somit beinhaltet Artikel 38 über die Rechte des Kindes eine Widersprüchlichkeit, was das Mindestalter für die Rekrutierung und den Kampfeinsatz von Kindern in bewaffneten Konflikten betrifft. Der Artikel lautet vollständig:

- Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die für sie verbindlichen Regeln des in bewaffneten Konflikten anwendbaren humanitären Völkerrechts, die für das Kind Bedeutung haben, zu beachten und für deren Einhaltung zu sorgen.
- Die Vertragsstaaten treffen alle durchführbaren Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Personen, die das fünfzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen.
- Die Vertragsstaaten nehmen davon Abstand, Personen, die das fünfzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, zu ihren Streitkräften einzuziehen. Werden Personen zu den Streitkräften eingezogen, die zwar das fünfzehnte, nicht aber das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben, so bemühen sich die Vertragsstaaten, vorrangig die jeweils ältesten einzuziehen.
- Im Einklang mit ihren Verpflichtungen gemäß dem humanitären Völkerrecht, die Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten zu schützen, treffen die Vertragsstaaten alle durchführbaren Maßnahmen, um sicherzustellen, dass von einem bewaffneten Konflikt betroffene Kinder geschützt und betreut werden.7

In diesen Willenserklärungen wird also der Widerspruch deutlich, demzufolge ein Kind zwar erst mit achtzehn Jahren die Volljährigkeit erreicht, jedoch bereits mit fünfzehn Jahren völkerrechtlich legitimiert aktiv an Kriegseinsätzen beteiligt sein kann. Damit erhebt sich die Frage, warum Minderjährige besonderen Schutz vor Todesstrafe, vor lebenslänglichen Gefängnisstrafen und vor gefährlichen Arbeiten genießen (humanitäres Völkerrecht für Kinder!), wenn man sie andererseits zu einer Art von „Arbeit“ heranziehen darf, die nach allen vernünftigen Maßstäben als die bei weitem gefährlichste einzustufen ist. Der Forderung in Artikel 38, dass „von einem bewaffneten Konflikt betroffene Kinder geschützt und betreut“ werden sollten, ist nicht zu entnehmen, wie das für die im Kriegseinsatz befindlichen Kinder gewährleistet werden könnte. Sind Kindersoldaten keine Kinder mehr oder Kinder, für die andere Regeln gelten?

Die Kinderrechtskonvention ist inzwischen von zahlreichen Regierungen ratifiziert worden. Durch den wachsenden Einfluss auf die Haltung von Staaten auf internationaler, regionaler Ebene und auf nichtstaatliche Organisationen ist immer deutlicher geworden, dass die Ausnahmeregelung in Artikel 38 der Konvention untragbar geworden ist.8 So wurde von dem Komitee der Kinderrechte eine Umsetzung und Veränderung der Konvention über die Rechte des Kindes massiv vorangetrieben. Auf einer Tagung zu diesem Thema einigte man sich auf die Empfehlung, ein fakultatives Zusatzprotokoll zur Kinderrechtskonvention abzufassen, in dem das Mindestalter für die Rekrutierung und den Kriegseinsatz von Kindern auf achtzehn Jahre erhöht werden sollte.

Die UN- Generalversammlung ist diesen Forderungen nachgekommen und hat die ehemalige Erziehungsministerin Mosambiks, Graça Machel, mit einer Studie über Kinder in bewaffneten Konflikten betraut. Diese 1995 durchgeführte Studie erwies sich als bahnbrechend. Die Debatte bekam neuen Aufschwung, als die weitreichende Bedeutung des Problems der Kindersoldaten und die verheerenden Auswirkungen des Soldatendaseins auf Kinder, vor allem in den herrschenden Bürgerkriegen, eindrucksvoll nachgewiesen werden konnte. Unter diesem Eindruck forderten nicht nur der UN- Generalsekretär, UNICEF, der UN- Hochkommissar für Menschenrechrechte, der Sonderbeauftragte des UN- Generalsekretärs für Kinder und bewaffnete Konflikte, sondern auch viele Regierungen, Regionalzusammenschlüsse und Nichtregierungszusammenschlüsse das Verbot der militärischen Rekrutierung und die Beteiligung von Kindern unter achtzehn Jahren an kriegerischen Auseinandersetzungen. Diese Forderung wurde, in Anspielung auf diese Mindesteinschränkung, als „straight 18“ Position bekannt.9

Nach jahrelangen Verhandlungen wurde das Fakultativprotokoll (es steht den Staaten frei, das Protokoll zu unterzeichnen) zum Übereinkommen über die Rechte der Kinder, sowie über deren Beteiligung an bewaffneten Konflikten, von der UN- Vollversammlung endlich verabschiedet. Das neue Zusatzprotokoll soll bei der Korrektur von Ungereimtheiten der Kinderrechtskonvention helfen, indem es das Mindestalter für die direkte Beteiligung an Kampfhandlungen, für die Wehrpflicht, und damit für jede Form der Rekrutierung durch bewaffnete Gruppen, von fünfzehn auf achtzehn Jahre anhebt.10

1.2 Internationale Konventionen – Ein Überblick

Die 1996 der UN- Vollversammlung von Graça Machel vorgelegte Studie über Kinder, die an bewaffneten Konflikten teilnehmen und deren Auswirkungen ertragen müssen, hat weltweit Aufmerksamkeit und Veränderungen für die Rechte der Kinder bewirkt. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es global kein Friedensabkommen, das die Existenz von Kindersoldaten auch nur erwähnte. Und dies, obwohl bekannt war, dass nationale Armeen, aber auch bewaffnete Oppositionsgruppen Hunderttausende von Jungen und Mädchen schon jahrelang als Soldaten rekrutiert und in den Krieg geschickt haben.11

Folgende Missachtung der Rechte von Kindern im Krieg zeigt Machel in ihrer Studie auf:

- schwere körperliche und seelische Gefährdung durch den Zwang zum Kämpfen;
- schwere seelische Traumatisierung durch den Verlust der Familie und der vertrauten Umgebung;
- Verletzungen und sexueller Missbrauch im Kriegseinsatz;
- Verlust wesentlicher Jahre der Sozialisierung.

Auf Grund dieser Tatsachen wird gefordert, dass in jedem Friedensabkommen die Frage der Kindersoldaten einen besondern Stellenwert erreichen muss. Medien aller Art, UN und Nichtregierungsorganisationen setzen sich daher massiv dafür ein, dass die Entlassung von Kindern aus dem Militärdienst forciert wird und Programme zur Familienzusammenführung gestartet werden. Hilfsmaßnahmen also, nach dem Muster von UNICEF und Terre des Hommes und diverser anderer nationaler und internationale Organisationen, die ihre Hilfe für Kinder in Not durch großartige Projekte zur Verfügung stellen und Rehabilitationsund Reintegrationsmaßnahmen zur Erleichterung der Rückkehr in die Zivilgesellschaft veranlassen. Die internationale Coalition to Stop the Use of Child Soldiers konnte erreichen, dass die Standards des Völkerrechtes verschärft wurden und die

Rekrutierung von Kindern unter achtzehn Jahren endlich verboten wurde.12

Terre des Hommes hat in einer Broschüre die Maßnahmen der verschieden Konventionen und die entsprechenden Beschlüsse der letzten Jahre, die sich für das Recht der Kinder im Krieg einsetzen, chronologisch zusammengestellt. Sie werden hier in einem Überblick zusammengefasst:

- 1997: Ottawa- Vertrag. Er ächtet Herstellung, Verkauf, Export und Einsatz von Anti- Personen- Minen.
- 1998: Rom- Statut für die Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofs. Er wird Personen verfolgen, anklagen und verurteilen, die für die schwersten Verbrechen verantwortlich sind. Dazu zählen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Nun werden auch die Rekrutierung von Kindersoldaten und das Verlegen von Anti- Personen- Minen zu den Kriegsverbrechen gezählt.
- 1999: Die internationale Arbeitsorganisation (ILO) greift das Thema „Kindersoldaten“ auf und verabschiedet im Juni einstimmig die Konvention 182 über das Verbot von und Sofortmaßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Form von Kinderarbeit.
- 2000: Zusatzprotokoll zur UN- Kinderrechtskonvention gegen die Rekrutierung und den Einsatz von Kindersoldaten. Nach über sechs Jahre dauernden zähen Verhandlungen und Dank intensiver Lobbyarbeit, an der sich auch Terre des Hommes beteiligt hat, verabschiedete die UN- Generalversammlung im Mai 2000 ein Zusatzprotokoll zum Schutz von Kindern vor Rekrutierung
und vor Einsatz im Krieg. Vierundsiebzig Staaten haben mit ihrer Unterzeichnung Zustimmung signalisiert.13

Graça Machel setzt sich trotz der erreichten Fortschritte weiterhin für Konfliktprävention ein und betont in ihrem Report, dass man von dem großen Durchbruch, der Ächtung und Abschaffung des Krieges, noch weit entfernt sei, solange in vielen Ländern der Erde kriegsähnliche Zustände und bewaffnete Konflikte herrschen. Ihre Botschaft lautet daher, dass auch im Krieg nicht zu jedem Mittel und vor allem nicht zu jeder Waffe gegriffen werden dürfe, um den Gegner zu schädigen.

Ein wesentlicher Fortschritt ist jedoch, dass künftig Jugendliche unter achtzehn Jahren nicht mehr zwangsrekrutiert werden, noch an bewaffneten Auseinandersetzungen teilnehmen dürfen. Kommandeure, die Kinder unter fünfzehn Jahre in den Krieg schicken, werden laut Statuten des Weltgerichtshofes als Kriegsverbrecher verfolgt. Obwohl mit dem Zusatzprotokoll ein neuer Standard geschaffen wurde, beinhaltet er dennoch nach wie vor Kompromisse, die zu Lasten der Kinder gehen, außerdem sind einige Formulierungen sehr vage gehalten worden. So können sich zum Beispiel Sechzehnjährige freiwillig dem Militär anschließen.14 So lange in einem Land Krieg herrscht, werden solche Kompromisse nicht auszuschließen sein. Gerade in armen Ländern und in unsicheren Zeiten sehen die jungen Soldaten durch den freiwilligen Beitritt zum Militär ihren Lebensunterhalt gesichert und haben so betrachtet „fast“ keine andere Wahl.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: URL: http://www.tdh.de, Stand: [12. 10. 2002].

2 Die Situation der Kinder im Krieg

In den folgenden Kapiteln wird auf die Auswirkungen und Folgen, wie sie sich für Kinder im Krieg ergeben, eingegangen. Kinder, die aktiv an bewaffneten Konflikten teilnehmen oder teilnehmen müssen, sind auf allen Ebenen ihrer Entwicklung psychisch, emotional und sozial betroffen. Es findet ein Bruch statt, der normalen Entwicklungsund Sozialisationsprozessen zuwiderläuft. Die Folgen dieses Bruches sind in der Regel negativ und schädlich für das Wohlergehen des Kindes.

Krieg und Vertreibung gehören für die meisten Menschen in Krisenregionen schon zum Alltag. Kriegerische Angriffe richten sich immer häufiger gegen Zivilisten. Die wenigsten Kriege werden heute zwischen staatlich organisierten Streitkräften ausgetragen, vielmehr kämpfen meist bewaffnete Gruppen gegeneinander oder gegen die staatliche Armee. Oft geht es um die Kontrolle ganzer Regionen, die reich an Bodenschätzen sind. Die Folgen und Auswirkungen sind dramatisch, denn der Konflikt beginnt sich zu verselbstständigen, wodurch auch Nachbarstaaten in die Kriegswirren hineingezogen werden. Der Zerfall vieler Staaten wird begünstigt. „Kriegsakteure sind heute weit zersplitterte Guerillagruppen, Privatarmeen, zentral organisierte Militärapparate, sich über kriminelle Aktivitäten finanzierende Teile der Armee, breite soziale Bewegungen, Guerillaorganisationen mit staatsähnlichen Funktionen, staatlich geförderte paramilitä- rische Gruppen, Söldnergruppen oder zwangsrekrutierte Kinder.“15

Nicht mehr so sehr die Eroberung anderer Länder steht im Vordergrund, sondern deren systematische Zerstörung auf sozialer und infrastruktureller Ebene, so dass die Gegner langfristig und nachhaltig in ihrer Existenz geschwächt werden. Zwischen diesen chaotischen „Fronten“ sind Kinder und Jugendliche in ganz besonderer Weise von den grausamen Kriegen der Erwachsenen betroffen. Ihr

Tod, ihre Verstümmelung, Vertreibung, Vergewaltigung, Verschleppung und Rekrutierung als Soldaten sind grausames Kalkül. Weltweit ist der Terror gegen die Zivilbevölkerung zu einem wesentlichen Bestandteil der Kriegstaktik geworden. Die häufigsten Opfer sind Frauen und Kinder.

Mindestens dreihunderttausend Kinder unter achtzehn Jahren beiderlei Geschlechts sind in vielen Regionen der Welt in kriegerische Aktivitäten verwickelt. Weitere hunderttausend sind in Armeen eingebunden und können jederzeit zum Kämpfen gezwungen werden.16

Viele Jugendliche werden legal rekrutiert, zahllose andere aber entführt und zu kriegerischen Handlungen gezwungen. Je länger ein Konflikt dauert, um so eher finden Zwangsrekrutierungen statt, denn durch schwere Verluste wird es immer schwieriger, geeignete Rekruten zu finden, die die Lücken in den Reihen füllen. Der Missbrauch von Drogen und Alkohol spielt dabei eine wesentliche Rolle und wird bedenkenlos eingesetzt, um die Kinder gefügig und willenlos zu machen.

Das Leben der jugendlichen Rekruten ist in jedem Fall sehr hart. Nachdem sie skrupellos gefügig gemacht wurden, werden sie als Handlanger, Wachen, Leibwächter, Boten, Träger und Spione missbraucht. Sehr oft aber landen sie direkt an der Front oder werden als Voraustrupps für Minenfelder benutzt. Auch Mädchen werden für Kampfhandlungen eingesetzt und ansonsten als Köchinnen und Prostituierte ausgebeutet.

Träume, Wünsche, Hoffnungen und Phantasien über die Zukunft haben alle Kinder gemeinsam. Die Rahmenbedingungen für Kinder, die in vielen Teilen dieser Welt als Soldaten ihr Leben fristen, sind für diese kindlichen Zukunftsperspektiven denkbar ungeeignet.

Extreme Armut, der Verlust der Eltern und des übrigen familiären bzw. sozialen Umfelds sind Negativfaktoren, die nicht nur ein freies und heiles Leben von Kindern in unmittelbar betroffenen Kriegsund Krisengebieten unmöglich machen, sondern auch das Dasein von Straßenkindern und Flüchtlingskindern bestimmen.

Die Herkunft und Identität vieler Kinder kann nicht mehr festgestellt werden, da gültige Dokumente fehlen. Zahllose Kinder und Jugendliche sehen ihre einzige Überlebenschance im Beitritt zur Armee, oder sie sind auf Grund ihrer desolaten Lebensumstände zu geschwächt, um sich gegen eine Zwangsrekrutierung zu wehren. Durch die systematischen Zerstörung von ganzen Dörfern, Wohnungen und Schulen ist ein soziales Leben meist auf Jahre hinaus unmöglich; lebenswichtigen Einrichtungen fehlen, die ein sicheres und normales Umfeld garantieren könnten.

Kinder, die in abgelegenen Konfliktgebieten leben oder in Heimen aufwachsen, sind besonders gefährdet, von bewaffneten Einheiten verschleppt und ausgebeutet zu werden. Um nicht mehr zu ihren Familien zurückkehren zu können, werden die jungen Soldaten gezwungen, diese zu töten. Jüngere Kinder aus den zerstörten Familienverbänden bleiben einfach sich selbst überlassen. Die Unterstützungsstrukturen in den Kriegsgebieten funktionieren nicht mehr, es herrschen soziale und wirtschaftliche Unsicherheit und allgemeines Chaos.

Flüchtlinge finden oft nur in der Armee Unterschlupf. Sobald Kinder in eine Armee oder in eine bewaffnete Gruppe eingezogen worden sind, werden sie automatisch gemäß internationalem Recht in einem bewaffneten Konflikt zum„legitimen“ Ziel. Schutz ist dann nicht mehr möglich. 17

Die Faktoren, die Kinder veranlasst, freiwillig der Armee beizutreten, sind von der physischen und psychischen Not gekennzeichnet, in die sie geraten sind: dem Überlebenswillen nicht zu verhungern, der Suche nach Vergeltung und/oder der Flucht aus der Ohnmacht. In einer Kultur von Gewalt spielt auch die Verführung durch Gleichaltrige bei einer solchen Entscheidung eine gewisse Rolle im Zusammenhang mit Imponiergehabe als Beweis von „Männlichkeit“.

Die „Freiwilligkeit“, die Kinder dazu treibt, sich militärischen Verbänden anzuschließen, ist in jedem Fall ambivalent. Das Militär, und damit ein Milieu der Gewalt, bietet vielen Kindern eine scheinbar sichere Gemeinschaft, die sie mit Nahrung und Kleidung versorgt und die vermeintlich kompensiert, was sie verloren haben.

Zusätzlich verwischt der Einsatz von Kindersoldaten die Kriterien, durch die

„zivile“ von „militarisierten“ Kindern unterschieden werden können. Kinder, die in den Konfliktzonen leben, geraten daher automatisch in den Verdacht, ein Soldat zu sein. Jedes Kind muss aus diesem Grund Angst haben, verschleppt, verhört, vorzeitig rekrutiert oder getötet zu werden.

Aber auch in den Augen der Zivilbevölkerung haben die Kinder ihre Unschuld verloren. Kindersoldaten sind ein Risiko. Sie sind leicht manipulierbar, Werte und Normen einer stabilen Gesellschaft sind ihnen entfremdet worden, in kritischen Situationen halten sie weniger Druck aus als Erwachsene und gelten somit als „schießfreudiger“, weil sie unter anderem auch eher auf Befehle hören. Auf der Suche nach Vorbildern haben sie den Wunsch, Erwachsenen zu gefallen. Wenn Kinder aber töten, so ist das in den meisten Fällen die Folge einer von Erwachsenen vermittelten Verhaltensweise!18

Zu dem großen Risiko, als Kindersoldat zu sterben oder schwerwiegende Verletzungen zu erleiden, kommen die harten Lebensbedingungen, die sich physisch wie psychisch auf die kindliche Entwicklung extrem negativ auswirken. Die Kinder leiden an schweren Rückenund Schulterschmerzen durch das Tragen von Waffen und anderer für den jungen Körper ungeeigneter Lasten. Dauerschäden sind die Folge. Schäden, von denen vor allem jüngere Kinder betroffen sind. Darüber hinaus leiden Kinder häufig an Infektionen der Atemwege und der Haut, sowie an Geschlechtskrankheiten, auch Aids ist keine Seltenheit. Unterernährung, Hörund Sehprobleme kommen hinzu in einer endlosen Liste von schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen, denen Kindersoldaten ausgesetzt sind. Die schwerwiegendsten Schäden und Wunden trägt wohl die jugendliche Seele davon. Von den psychischen Traumata wird noch ausführlich die Rede sein. Zunächst soll in Unterkapiteln auf die einschneidenden Stationen, die Kinder im Krieg erleben, eingegangen werden.

2.1 Rekrutierung von Kindersoldaten

Will man die Motive untersuchen, die für die Rekrutierung von Kindern für den Krieg relevant sind, bzw. die Beweggründe analysieren, die Kinder dazu bringt, Soldaten zu werden, dann drängen sich zunächst folgende Fragen auf: Warum werden Kinder für militärische Zwecke herangezogen? Woher kommen diese Kinder? Welche Notlage zwingt sie zu dieser Entscheidung?

Viele Kinder werden legal rekrutiert, andere aber entführt, erpresst oder auf eine andere Art und Weise Zwängen ausgesetzt. Kinder werden um so eher (zwangs- ) rekrutiert, je länger ein Konflikt in einem Land dauert. Je langwieriger sich die kriegerischen Auseinandersetzungen gestalten, desto größer sind die Verluste und umso dringender werden geeignete Kräfte für den Kampf gebraucht. Die neuen

Rekruten, die die Lücken in den Reihen auffüllen sollen, sind angesichts dieser Schwierigkeiten immer häufiger Kinder.19

In jedem Land gibt es andere Gründe, warum Kinder durch körperliche und/oder geistige Gefangennahme in die Kampfausbildung gezwungen werden, um dann als Handlanger, Wachen, Leibwächter, Boten, Träger und Spione, oft aber auch an der Front oder als Voraustrupps für Minenfelder, eingesetzt zu werden.

Aus der Sicht von kriegsführenden Parteien hat der Einsatz von Kindern eine Reihe von Vorteilen. Kindersoldaten sind billiger, denn sie brauchen weniger Nahrung, kaum Sold und stellen auch sonst weniger Ansprüche als „echte Soldaten“. Kinder zeigen mehr Stehvermögen, sie verstehen es besser, im Busch zu überleben, auch beklagen sie sich weniger und gehorchen den Befehlen, die man ihnen erteilt, so schildert ein desertierter Soldat in der Zeitschrift der überblick den zynischen Pragmatismus von Kommandanten und deren kriegerischen Parteien.20 Es gibt auch Beobachtungen, dass Kinder Massaker mit mehr Enthusiasmus und mit größerer Brutalität verüben. Um Kinder dazu fähig machen zu können, werden sie psychologisch manipuliert, sadistischen Initiationsriten und brutalem Druck ausgesetzt. Diese Methoden werden häufig durch die Verabreichung von Alkohol und Drogen wie Marihuana, Heroin oder

Kokain ergänzt, um die Kinder willig und gefügig zu machen und um ihnen Hemmung und Angst zu nehmen.21 Kinder, die fliehen wollen, bezahlen mit ihrem Leben.

Sind dies die Motive bzw. die Methoden, die die Skrupellosigkeit der Kriegsführenden zur Erreichung ihrer Ziele kennzeichnen, so sind die Gründe, warum sich Kinder dem Militär anschließen, vielschichtiger. Oft liegt die Ursache tief verwurzelt in den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Problemen eines jeweiligen Landes, die zwangsläufig auch Auswirkungen auf die Kinder haben und deren Leben bestimmen.

Wie aus einem Bericht der Terre des Hommes über Kinderarbeit hervorgeht, kommt die große Mehrheit der Kindersoldaten aus folgenden Gruppen:

- Kinder, die von ihren Familien getrennt wurden oder deren Familien zerstört wurden, wie zum Beispiel Waisen, unbegleitete Kinder, Kinder aus unvollständigen Familien oder aus Familien, deren Oberhaupt selbst noch Kind ist;
- Kinder aus wirtschaftlich oder sozial benachteiligten Verhältnissen – arme Kinder also, sowohl auf dem Land als auch in der Stadt, ohne Zugang zu Bildung und ohne einen halbwegs gesicherten Lebensstandard;
- Randgruppen wie Straßenkinder, gewisse Minderheiten, Flüchtlinge und inländische Vertriebene;
- Kinder aus der Konfliktzone selbst.22

Kinder werden in bewaffneten Konflikten in ihrer Umgebung Zeugen von Gräueltaten, struktureller Gewalt und erfahren oder beobachten Gewalttaten wie Tötungen, Verschleppungen, Folter, sexuellen Missbrauch, Verbannung – die Zerstörung sämtlicher gültiger Normen einer zivilen menschlichen Gesellschaft findet vor ihren Augen statt.

Eine von vielen Motivationen, sich dem Militär anzuschließen, ist daher sicher, dass Kinder sich für diese Verbrechen rächen und Vergeltung üben möchten. Ein weiterer Grund für Kinder, sich bewaffneten Gruppen anzuschließen, ist der gesicherte Zugang zu Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und Kleidung, um wenigsten die nötigsten Grundbedürfnisse erfüllt zu bekommen, die zum Überleben notwendig sind. Das Militär „ködert“ also depravierte Kinder durch materielle Vergünstigungen und verführt sie dazu, sich an bewaffneten Konflikten zu beteiligen. Viele Kinder und Jugendliche sehen dies noch als die beste von mehreren schlechten Alternativen.

Die Militäreinheit kann für Kinder Überlebenshilfe bedeuten. Die vermeintliche Sicherheit steht einer Extremgefährdung in paradoxer Weise gegenüber. Die Kinder suchen oft bei genau jenen militärischen Verbänden Zuflucht, die ihr gesichertes Umfeld gefährdet, wenn nicht zur Gänze zerstört haben, und werden nun zusätzlich für deren Zwecke instrumentalisiert. Diese Zusammenhänge werden von Kindersoldaten auf ihrer Suche nach Familienersatz und Geborgenheit zumeist nicht durchschaut.

Andere Faktoren sind der Druck von Gleichaltrigen und Abenteuerlust, geschürt durch falsche Versprechungen. Viele Jugendliche wollen auch durch den Beitritt zu Militäreinheiten Macht demonstrieren, speziell, wenn sie aus instabilen Familienverhältnissen kommen. Hier spielt die aufgestaute Aggression gegen eine ungenügende Erwachsenenwelt eine große Rolle.

Unsicherheit und mangelndes Selbstwertgefühl in der Pubertät sind weitere Gründe, die zum Beitritt zum Militär führen können. Vordergründige Ideologien wecken falsche Hoffnungen, die ihrerseits den Entschluss der Kinder, sich Kriegseinheiten anzuschließen, beeinflussen. Strategien, Kinder und Jugendliche für den Kriegsdienst anzuwerben, werden in missbräuchlicher Weise eingesetzt, indem Visionen von einer besseren Welt und positiven Veränderungen vorgegaukelt werden, für die den jungen Menschen zumeist jegliches kritisches Urteilsvermögen bzw. Hintergrundinformationen fehlen. Auf diese Weise entsteht für viele Kindersoldaten die Überzeugung, dass ihr Einsatz an bewaffneten Konflikten für sie nicht nur die einzige Überlebenschance darstellt, sondern dass sie gleichzeitig auch für eine bessere Welt kämpfen. Die Militarisierung des Alltagslebens, die ständige Präsenz von Militärpatrouillen in den Strassen, sowie die militärische Kontrolle von Lehrplänen in Schulen, tragen sicher dazu bei, dass Kinder sich für Gewalt und den bewaffneten Kampf entscheiden.23

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die so genannte „Freiwilligkeit“, mit der sich Kinder dazu entschließen, Armeen oder Rebellengruppen beizutreten, unter dem Aspekt der Not, des absichtlich geschürten Hasses, der falschen Versprechungen und der Indoktrinierung betrachtet werden muss.

Welche Folgen entstehen für Kinder, die an Kampfhandlungen teilnehmen? Das ist die komplexe Frage, die sich zwangsläufig im Zusammenhang mit der Rekrutierung von Kindersoldaten stellt. Dass die Folgen schwerwiegend sind, ist unumstritten. Sie können wie folgt kurz umrissen werden:

- Verlust der Familie bzw. gesicherter häuslicher Umgebung;
- physische und psychische Verletzungen;
- Verlust der Chancen auf Schulund Ausbildung;
- jahrelange Nachwirkungen der traumatischen Erlebnisse im Krieg, wie Depressionen, Albträume, Schuldgefühle;
- hohe Gewaltbereitschaft aus mangelnder Unterweisung für friedliche Konfliktlösungen;
- Verlust der Kindheit.

Mit dieser Liste von Problemen sind nicht nur die Kinder selbst, sondern die zivile Gesellschaft ganzer Völker konfrontiert. Ist der Krieg vorbei, interessiert sich niemand mehr für die Kinder, die Opfer und Täter zugleich sind. In Ländern, in denen der Krieg sehr lange dauert, wächst eine Generation heran, die weder schreiben noch lesen kann noch gelernt hat, Konflikte friedlich zu lösen. Ihre Rehabilitation ist ein langer und schwieriger Prozess, auf den noch genauer eingegangen wird.

2.2 Flucht und Trennung

Millionen von Menschen sind in den vergangenen Jahrzehnten durch Gewalt und Krieg gezwungen worden, ihre Heimat zu verlassen, da sie nicht mehr sicher leben konnten.

„Kriege gehören zu den wichtigsten ‚Produzenten’ von Flüchtlingen.“24 Neben vielen Ursachen, wie politische Verfolgung, wirtschaftlicher Niedergang und Umweltzerstörung, kommt es in der Regel erst dann zu Massenfluchtbewegungen, wenn kriegerische Auseinandersetzungen stattfinden. Die Flüchtlinge müssen nicht nur die Flucht selbst verkraften, sondern erleiden auch den Verlust von sämtlichem Hab und Gut. Hinzu kommt die Angst um Sicherheit und Leben, die Furcht, außerhalb der gewohnten und vertrauten Umgebung nicht überleben zu können, sowie die Trennung von Familienangehörigen und Freunden. Die Flüchtlinge leiden unter dem passiven und perspektivelosen Leben in Flüchtlinslagern, der Drangsalierung durch Behörden bzw. Armeen, sowie unter der Polizeigewalt von Aufnahmeländern. Zusätzlich ist man als Flüchtling und Heimatloser Feindseligkeiten der Gastbevölkerung ausgeliefert.

Auch nach gelungener Flucht ist Sicherheit nicht immer gewährleistet. „Sie werden als Geiseln, Faustpfänder und Puffer missbraucht und politisch instrumentalisiert, ihre Lager angegriffen und bombardiert, junge Männer zwangsrekrutiert, ihre letzte Habe geplündert.“25 Besonders betroffen sind Flüchtlinge von Krankheiten und Hungersnöten, unter denen sie oft unmittelbar nach der Flucht zu leiden haben, bevor die internationale Hilfe sie erreicht. Äußerst benachteiligt unter den Flüchtlingen sind die Menschen, die der Gruppe der geistig und/oder körperlich Behinderten angehören und „Opfer unter Opfern“ sind. Frauen und Kinder haben es in Kriegen besonders schwer und machen daher auch eindeutig die „vernachlässigte“ Mehrheit unter den Flüchtlingsopfern aus, da sie besonders viel Schutz und Betreuung brauchen würden. Frauen leiden unter sexueller Diskriminierung, Gewalt, Ausbeutung und werden zusätzlich zu Vergewaltigungsopfern. Ebenso leiden Kinder in einem sehr hohen Maße an kriegsbedingten Vertreibungen. Etwa die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit sind Kinder.

Die Kinder sind meist unterernährt und medizinisch schlecht versorgt, leiden unter Krankheiten, erhalten keine Schulbildung und sind seelisch extrem vom Verlust der Familienangehörigen belastet. Hinzu kommen Vernachlässigung und oftmalige Misshandlung.26

Hunger, Unterernährung bzw. Fehlernährung haben viele Ursachen, unter anderem politische, soziale, natürliche und ökonomische. In Kriegsgebieten kommt es immer wieder zu großen Hungersnöten, die zu massenhaftem Hungerstod führen. In Ländern, in denen Krieg herrscht, werden der Wirtschaft finanzielle Ressourcen entzogen, und somit ist die Versorgung der Bevölkerung nicht mehr gewährleistet, da die Produktion und der Import von Nahrungsmittel massiv gestört sind.

Eine der vielen gegnerischen Kriegstaktiken ist unter anderem, die Wirtschaft lahm zu legen, indem landwirtschaftliche Produktionsanlagen und Anbauflächen zerstört, Nahrungsmittelvorräte geplündert oder vernichtet werden. Auch Arbeitskräfte werden in Kriegsgebieten systematisch dezimiert, da sie als Kämpfer und Soldaten für den Kriegseinsatz rekrutiert werden. In den Gebieten, aus denen die

Zivilbevölkerung fliehen musste, bzw. aus denen sie umgesiedelt wurden, bleiben ganze Landstriche unbestellt. Aber selbst nach Kriegsende ist ein Wiederaufbau der Landwirtschaft durch Bauern massiv eingeschränkt, da das Land oft so vermint ist, dass die Bestellung der Äcker bzw. Besiedelung der Gebiete für lange Zeit unmöglich wird. Wo die ländliche Infrastruktur, wie Strassen, Brücken, Märkte, Versorgungseinrichtungen und Siedlungen zum Ziel von Angriffen wird, sind die Leidtragenden immer die Zivilbevölkerung, die durch die Zerstörungen nicht ausreichend mit Lebensmittel versorgt werden kann.27

In vielen Fällen gehört das Aushungern der Bevölkerung auch zur Kriegstaktik und wird gezielt als Waffe im Kampf eingesetzt. Hungerblockaden bzw. Behinderungen der Transporte und der Verteilung von Nahrungsmitteln sind Maß- nahmen, um die Zivilisten zu schwächen, „auszuhungern“ und damit zu demoralisieren: „Als besonders von kriegsbedingtem Hunger bedrohte Bevölkerungsgruppen gelten die in den Kampfzonen ansässigen Menschen sowie die Kriegsflüchtlinge, innerhalb dieser Gruppen wiederum die sozial Schwachen und physisch Benachteiligten, namentlich Alte, Behinderte, Kranke, Waisen, Kinder und Frauen.“28

2.2.1 Die Bedeutung von Flucht für Kinder

Für Kinder ist die Flucht von ihrem Zuhause besonders dramatisch und mit großen, traumatisierenden Ängsten verbunden, denn es handelt sich nicht nur um einen einfachen Wechsel von einer alten Bleibe in eine neue. Die Flucht ist immer gekennzeichnet durch zahlreiche Verlusterlebnisse und durch die Gefahren während der Flucht.

Kinder sind in einem besonders hohen Maß von ihrer Familie, ihrer vertrauten Umgebung, dem sozialen Bereich des Familienverbandes abhängig. Die Familie, sowie das ganze Beziehungsgefüge innerhalb des Familienverbandes, sind für die physische und psychische Entwicklung des Kindes von größter Bedeutung. In einem Krieg geht aber dieser so wichtige physische und psychische Kontakt verloren, wenn der Familienverband zerrissen wird und nun nicht mehr für die Geborgenheit und das Wohlergehen eines Kindes zur Verfügung steht. Kinder werden im Krieg mit Situationen konfrontiert, die sie sehr schwer verstehen bzw. einschätzen können und für die es in einer veränderten Umgebung auch keine plausible Erklärung gibt. Letztlich verlieren Kinder im Krieg vieles und oft alles, was für ihre Entwicklung wichtig ist. Das fängt an bei Spielsachen, dem eigenen Bett, den geliebten Haustieren und dem Zuhause, und für diese großen Verluste gibt es natürlich keinen Ersatz.29 Aber der Verlust beschränkt sich nicht nur auf Objekte, sondern betrifft auch die sozialen Beziehungen zu Verwandten, Freunden und Nachbarn, die zurückgelassen werden müssen.

Verlieren Kinder wichtige Bezugspersonen durch den Tod, so bedeutet das für sie einerseits den Verlust von Menschen, die für sie gesorgt und sie beschützt haben, andererseits leiden sie aber auch direkt am Tod von geliebten Personen, der unter schwierigsten Bedingungen umso schmerzlicher empfunden wird.

Der Verlust der eigenen engeren Heimat, die für Geborgenheit in vertrauter Umgebung, Sicherheit und in gewisser Weise auch für Identität steht, wird von Kindern als ungeheure Bedrohung empfunden und wirkt sich schädigend auf ihre Entwicklung und damit auf ihr weiteres Leben aus. Kinder, die mit ansehen müssen, wie ihre Eltern gedemütigt werden, ihre Würde verlieren und ihnen keine Sicherheit mehr bieten können, weil sie selbst schwierigen Situationen ohnmächtig ausgeliefert sind, verlieren dadurch das Urvertrauen zu ihren wichtigsten Bezugspersonen. Die größten Schäden erleidet die kindliche Psyche, wenn sie Zeuge der Ermordung ihrer Familienmitglieder wird.30

Auch in vermeintlich sicheren Flüchtlingslagern drohen Kindern immer noch viele Gefahren. Häufig herrscht in den Lagern Gewalttätigkeit, es kommt zu

Vergewaltigungen und Zwangsrekrutierungen. Auch Unterversorgung bzw. Mangel an Lebensmitteln und sauberem Wasser sind keine Seltenheit. Zudem treten zahlreiche Krankheiten auf bis hin zu Seuchen und Epidemien, weil nur beschränkte medizinische Hilfsmöglichkeiten vorhanden sind. Unbegleitete Kinder sind von diesen Gefahren besonders betroffen, da sie schutzlos diesen schlechten Bedingungen ausgeliefert sind.

Häufig verlieren sich die Familienmitglieder in den Wirren des Krieges und auf der Flucht aus den Augen; Kinder werden von ihren Eltern getrennt und sind sich selbst und ihrem Schicksal überlassen. Die Folge ist, dass die von ihren Angehörigen getrennten Kinder viel häufiger gefoltert, ausgeraubt, getötet, vergewaltigt oder als Kindersoldaten rekrutiert werden als Kinder in Begleitung einer erwachsenen Bezugsperson. UNICEF sieht es daher als eine der wichtigsten Aufgaben in Kriegszeiten, die Aufspaltung von Familien zu verhindern und unbegleitete Kinder auszuforschen und sie wieder mit ihren Familien zusammenzuführen. Wenn das vorläufig unmöglich sein sollte, dann bemüht sich die Organisation, die Kinder in Pflegefamilien oder in entsprechenden Rehabilitationszentren unterzubringen, wo psychosoziale und sozialpädagogische Betreuung erfolgen kann, um sie vor weiterem Schaden zu schützen.31

Zusätzliche nachhaltige Schädigung der Kinder stellt der Mangel an Schulbildung dar; insbesondere die zu Militärdiensten herangezogenen Kinder erhalten keinerlei Schulunterricht mehr. Die Zeit, die sie als Kindersoldaten verbringen müssen, ist gleichzusetzen mit verlorenen Bildungschancen. Je länger Kinder unter solchen Bedingungen leben, desto schwieriger ist es, das Versäumte nachzuholen oder überhaupt wieder einen Schulbesuch zu ermöglichen. Daher können viele Kinder nicht lesen und schreiben, oder sie haben die erlernten Fähigkeiten im Laufe der Zeit wieder verlernt. Die Folgen dieses Mangels an Schulunterricht wirken sich langfristig mindernd auf die Berufsausbildungschancen aus. Durch fehlende Berufsausbildung wiederum sind die Aussichten, eines Tages zum Unterhalt der

Familie beitragen zu können, denkbar schlecht. Die Realisierung einer erfolgreichen sozialen Integration wird durch diesen Umstand zusätzlich erschwert.

Es ist ein verhängnisvoller Kreislauf, in dem Kinder gefangen sind. Sind sie auch noch als Kindersoldaten zwangsweise im Kriegseinsatz, verschärft sich für sie die Lage nochmals dramatisch durch die physischen und psychischen Belastungen, die eine solche Arbeit mit sich bringt. Für die meist ohnehin aus ärmlichen sozialen Verhältnissen stammenden Kinder verschlechtern sich die Zukunftsaussichten, je länger ein Krieg andauert, in dem sie gezwungen sind, einer militä- rischen Konfliktpartei zu dienen, und desto größer wird die Wahrscheinlichkeit nachteiliger Folgen für die ökonomischen Verhältnisse ihrer Familien und für die sozialen Strukturen, in denen sie leben. Aber auch der Zusammenbruch sozialer Netzwerke innerhalb einer Bevölkerung, oder der totale Ausfall von Infrastrukturen, wie fehlende Schulen und nicht vorhandene Arbeitsplätze, hindert die Kinder an einem zukunftsorientierten, sozial ausgewogenen Leben nach dem Krieg.32

2.3 Sexuelle Ausbeutung

Der Terminus „Kindersoldat“ suggeriert die Vorstellung, dass ausschließlich oder überwiegend Jungen aktiv an bewaffneten Konflikten beteiligt sein würden. Während Regierungsarmeen größtenteils, wenn nicht ausschließlich, junge Männer einberufen, vereinnahmen bewaffnete Oppositionsgruppen auch Mädchen.33 Generell kann man davon ausgehen, dass sich auch Mädchen unter den Kindersoldaten befinden. Die Aufgaben, die Mädchen in Militäreinheiten zufallen, unterscheiden sich geschlechtsspezifisch von denen der Jungen. Zwar werden auch sie militärisch trainiert und nehmen an Kampfhandlungen teil, aber sie werden hauptsächlich für Arbeiten wie Kochen, Putzen, Waschen und für die Beaufsichtigung der jüngeren Kinder herangezogen. Gleichzeitig bedeutet diese geschlechtsspezifische Arbeitszuteilung, dass sie ständig auch der Gefahr des sexuellen Missbrauchs ausgesetzt sind. Kinder zählen immer zu den schwächsten und wehrlosesten Mitgliedern einer Gesellschaft. Diese Tatsache betrifft vor allem Mädchen, die in vielen Teilen der Welt nach wie vor benachteiligt werden. Gerade in den Ländern und Krisengebieten, wo Kindersoldaten eingesetzt werden, werden Frauen in einer von Männern dominierten Gesellschaftsordnung noch immer unterdrückt und ausgebeutet. In Kriegszeiten und in einer martialisch aufgeheizten Lage verschlimmert sich die Situation der Frauen drastisch.

Während Bürgerkriegen, kriegsähnlichen Unruhen und Partisanenoder Guerillaanschlägen wird die Vergewaltigung von Frauen gezielt zur Demütigung und Demoralisierung des Gegners eingesetzt. Massenvergewaltigungslager im Zuge von ethnischen Säuberungen, wie sie etwa in Bosnien geschehen sind, können eine ganze Bevölkerung terrorisieren und zur Massenflucht zwingen.

Besonders sehr junge Mädchen und Frauen sind von sexuellen Übergriffen bedroht, da bei ihnen kaum Geschlechtskrankheiten vermutet werden. Berichten der Hilfsorganisation Terre des Hommes zufolge, erleben viele junge Frauen sexuelle Übergriffe nicht nur einmal; sie werden gezwungen, den Soldaten als Sexsklavinnen bzw. Prostituierte zu Verfügung zu stehen. Frauen und Mädchen sind im Krieg an kaum einem Ort vor dieser Art des Terrors sicher, weder in ihrer Heimat, noch auf der Flucht oder in Flüchtlingslagern. So ist bekannt, dass tausende Frauen bei nächtlichen Überfällen vergewaltigt wurden.34

Neben der sexuellen Gewaltanwendung, kommt es häufig auch zur freiwilligen Prostitution von Mädchen und Frauen. Diese „Freiwilligkeit“ ist vor dem Hintergrund ihrer verzweifelten Notlage zu sehen – als Strategie zum Überleben, um Nahrung, Ausweisdokumente und dergleichen besorgen zu können, oder um ihren eigenen Schutz zu erkaufen. Außerdem ist es keine Seltenheit, dass die jungen Mädchen von den eigenen Familien für ein paar Annehmlichkeiten zur Prostitution gezwungen werden.

[...]


1 Stephan Stolze, „Kinder gegen Krieg“ in: Martin Große- Oetringhaus, Hrsg., „Ich will endlich Frieden“. Kinder im Krieg, S. 21.

2 Vgl. Christina Rau, „Dem Leid ein Ende bereiten“ in: Im inneren der Erde verschwinden – Kinder sind keine Soldaten!, hrsg. von MISEREOR, Brot für die Welt, Deutsches Jugendrotkreuz, Kindernothilfe, Deutsches Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundes, medico international,, terre des hommes und UNICEF, S. 8f.

3 Brot für die Welt und Lutherischer Weltbund, „Krieg ist kein Kinderspiel. Kindersoldaten“, S. 3.

4 Vgl. Margrit Schmid und Alice Schmid, “I killed people”. Wenn Kinder in den Krieg ziehen, S. 124.

5 Vgl. Brot für die Welt und Lutherischer Weltbund, S. 3.

6 Vgl. „Kinder sind keine Soldaten“ in: 20. terre des hommes edition (2/1999). S. 7.

7 M. Schmid und A. Schmid, S. 139.

8 Vgl. der überblick (4/98), S. 46.

9 Vgl. terre des hommes, „Kindersoldaten“ in: Globaler Bericht (5/2001), übers. von Andreas Rister. Online im WWW unter URL: http://www.tdh.de, Stand: [20. 03. 2002].

10 Vgl. ebenda.

11 Vgl. terre des hommes - Broschüre, „Albtraum ohne Ende – Kinder zwischen den Fronten“ (3/2000), S. 4.

12 Vgl. ebenda.

13 Vgl. ebenda.

14 Vgl. ebenda.

15 Thomas Hax- Schoppenhorst, Im Inneren der Erde verschwinden – Kinder sind keine Soldaten!,, hrsg. von MISEREOR, Brot für die Welt, Deutsches Jugendrotkreuz, Kindernothilfe, Deutsches Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundes, medico international, terre des hommes, UNICEF, S. 16.

16 Vgl. ebenda, S. 30.

17 Vgl. ebenda, S. 32.

18 Vgl. ebenda, S. 33.

19 Vgl. ebenda, S. 31.

20 Vgl. der überblick (4/98), S. 7.

21 Vgl. ebenda.

22 Vgl. 20. edition terre des hommes (2/1999), S. 9.

23 Vgl. Brot für die Welt und Lutherischer Weltbund, S. 5.

24 Volker Matthies, Immer wieder Krieg? Eindämmen – beenden – verhüten? Schutz und Hilfe für die Menschen? in: „Analysen“ (Band 46), Hrsg. Göttrik Wewer, S. 46.

25 Ebenda, S. 46ff.

26 Vgl. ebenda.

27 Vgl. ebenda.

28 Ebenda.

29 Vgl. Dubravka Kocijan- Hercigonja, „Kinder im Krieg. Erfahrungen aus Kroatien“ in: Kindheit und Trauma. Trennung, Missbrauch, Krieg. Hrsg. Werner Hilweg und Elisabeth Ullmann, S.177f.

30 Vgl. UNICEF Information, „Wenn die Seele brennt – Trauma bei Kindern“, S. 2.

31 Vgl. UNICEF Programme, „Ein neues Leben für die Kriegskinder”, S. 1.

32 Vgl. Helmut Spitzer, „Kindersoldaten“ – Verlorene Kindheit und Trauma. Möglichkeiten der Rehabilitation am Beispiel Norduganda, S. 25.

33 Vgl. ebenda, S. 21.

34 Vgl. 20. edition terre des hommes (2/1999), S. 1f.

Fin de l'extrait de 118 pages

Résumé des informations

Titre
Sozialisierungsstörungen in Folge von Kriegserlebnissen am Beispiel von Kindersoldaten und Flüchtlingskindern in der „Dritten Welt“
Université
University of Vienna  (Universität Wien)
Note
Sehr Gut
Auteur
Année
2003
Pages
118
N° de catalogue
V113928
ISBN (ebook)
9783640138258
ISBN (Livre)
9783640138449
Taille d'un fichier
1072 KB
Langue
allemand
Mots clés
Sozialisierungsstörungen, Folge, Kriegserlebnissen, Beispiel, Kindersoldaten, Flüchtlingskindern, Welt“
Citation du texte
Mag.phil. Barbara Pierer (Auteur), 2003, Sozialisierungsstörungen in Folge von Kriegserlebnissen am Beispiel von Kindersoldaten und Flüchtlingskindern in der „Dritten Welt“, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113928

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