Bedingungsloses Grundeinkommen. Eine Alternative für eine gerechte und würdige Teilhabe aller an der Gesellschaft?


Diploma Thesis, 2008

91 Pages


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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Gesellschaftliche Situation und sozialpolitische Rahmenbedingungen
1.1 Armut im reichen Deutschland
1.1.1 Definitionen von Armut
1.1.2 Relative Armut
1.1.3 Armut und gesellschaftliche Auswirkungen
1.2 Situation am Arbeitsmarkt
1.2.1 Arbeitslosigkeit
1.2.2 Prekarisierung
1.3 Umbau des Sozialstaates
1.3.1. Hartz-Gesetze
1.3.2 Auswirkungen von Hartz IV
1.3.3 Armutsfalle und Aktivierung
1.3.4 Kritische Betrachtung von Hartz IV
1.4 Fazit
1.5 Exkurs: Ökonomisierung der Sozialen Arbeit

2 Das Dilemma der Arbeit
2.1 Definition von Arbeit
2.2 Bedeutung von Arbeit
2.3 Von der Arbeitszur Tätigkeitsgesellschaft
2.4 Fazit

3 Gesellschaftliche Teilhabe
3.1 Gerechtigkeit
3.2 Würde
3.3 Fazit

4 Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE)
4.1 Begriffsannäherung
4.1.1 Grundsätzliche Varianten
4.1.2 Aussagen über ein BGE
4.2 Vergleich von Arbeitslosengeld II und BGE
4.3 Finanzierungsfrage
4.4 Erwartungen und Befürchtungen
4.4.1 Arbeitsmarkt
4.4.2 Soziale Identität contra BGE
4.4.3 Leistungsgerechtigkeit
4.4.4 Soziale Hängematte
4.4.5 Bedingungslosigkeit
4.5 Menschenbild und BGE
4.6 Fazit

5 BGE im Kontext der Sozialen Arbeit
5.1 Definition von Sozialarbeit
5.2 Handlungstheorien und BGE
5.2.1 Empowerment
5.2.2 Lebensweltorientierte Soziale Arbeit
5.3 Fazit

6 Soziale Probleme, BGE und Soziale Arbeit

7 Exkurs eigene Praxiserfahrung

8 Schlussbetrachtung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang

Inhaltsverzeichnis des Anhangs

Einleitung

Seit Umsetzung der „Agenda 2010“ scheint für einen Teil unserer Gesellschaft, Existenzunsicherheit und Armut, verursacht durch zunehmenden Sozialabbau und die Auswirkungen der jüngsten Hartz IV-Gesetze, zuzunehmen

Unser Wirtschaftssystem bietet immer weniger Menschen ein finanzielles Auskommen durch Vollbeschäftigung. Da soziale Absicherung und gesellschaftliche Teilhabe weitgehend an Erwerbsarbeit gekoppelt ist, entsteht ein starker Druck eine bezahlte Arbeit anzunehmen. Unser Sozialversicherungssystem speist sich vor allem aus Beiträgen an Kranken-, Arbeitslosen-, Rentenund Pflegeversicherung. Die hohe Arbeitslosigkeit und die ständigen Rationalisierungsbemühungen lassen Zweifel aufkommen, ob das auf Erwerbsarbeit basierende Beitragssystem dauerhaft in der Lage ist, unsere soziale Absicherung zu finanzieren. Zudem fühlen nicht nur Erwerbslose, sondern auch Beschäftigte durch ständigen Rationalisierungsdruck eine existentielle Bedrohung

Vor diesem Hintergrund, scheint die Forderung nach einem bedingungslosen Einkommen, aus verschiedenen Perspektiven eine willkommene Alternative zu sein, um die ökonomischen wie gesellschaftlichen Probleme anzugehen. Die Einführung einer solchen Existenzsicherung würde einen Paradigmenwechsel für alle unsere bestehenden Sozialsysteme bedeuten, einschließlich deren Finanzierung. Der Gedanke, unser Sozialsystem mit der Entkopplung von Erwerbsarbeit und Einkommen zu revolutionieren, fällt immer mehr auf fruchtbaren Boden unterschiedlichster Kreise wie Unternehmer, Ökonomen, Globalisierungskritiker, Arbeitsloseninitiativen und politischen Parteien von Bündnis 90 / Die Grünen über Die Linke und CDU. Selbst Bundespräsident Horst KÖHLER findet es laut einem Interview im Spiegel vom 29.12.2005 notwendig, darüber nachzudenken

In seiner Berliner Rede vom Oktober 2007 stellte Horst Köhler die rhetorische Frage, ob die Globalisierung am Ende unser ganzes Sozialmodell gefährde, denn der weltweite Wettbewerbsdruck stelle Vieles auf die Probe, die Wirtschaftsunternehmen genauso wie das staatliche Handeln. Er geht in seiner Rede davon aus, dass es soziale Härten gibt, der Sozialstaat aber Bestand habe (vgl. KÖHLER 25.03.2008)

Die Aussage des Bundespräsidenten regt im Rahmen dieser Arbeit die Frage nach dem gegenwärtigen Zustand unseres Sozialstaates an. So geht der erste Teil auf die gesellschaftliche und sozialpolitische Situation ein

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Bedeutung und Bewertung von Arbeit, um herauszufinden, ob in der heutigen gesellschaftlichen Situation eine neue Sichtweise darüber notwendig ist und wie dies im Zusammenhang mit einem bedingungslosem Grundeinkommen steht. Ein weiteres Kapitel stellt das Verständnis von gesellschaftlicher Teilhabe vor. Das anschließende vierte Kapitel betrachtet und erläutert das bedingungslose Grundeinkommen. Dabei interessieren folgende Fragen: Was kann von einem Grundeinkommen erwartet werden? Könnte es die prekäre Lage vieler davon Betroffener ändern? Ist ein würdigeres Leben mit einem bedingungslosen Grundeinkommen eher möglich als mit den heute bestehenden bedarfsorientierten staatlichen Transferleistungen? Die Antworten auf diese Fragen können entsprechend des Menschenbildes kontrovers diskutiert werden. Inwieweit ein bedingungsloses Einkommen die Soziale Arbeit tangiert und sie verändern könnte beschreiben die letzten Kapitel

Ziel dieser Arbeit ist es, die Leserin und den Leser zur weiteren Diskussion über eine mögliche Neugestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens mit einem bedingungslosen Grundeinkommen anzuregen. Gleichzeitig sollen aber in die Diskussion die durchaus ernst zu nehmenden Kritikpunkte mit einfließen

Wünschenswert sind Gespräche über eine andere Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und vor allem über eine neue Gesellschaftsform, in der alle Mitglieder die Möglichkeit haben, dazuzugehören. Dieses Thema ist aktueller denn je, denn es geht um nichts Geringeres als unsere Zukunft

In der vorliegenden Arbeit wird aus Gründen des einfacheren Leseflusses vermehrt die männliche Form personenbezogener Begriffe verwendet, die weibliche Form wurde im Ausarbeitungsprozess stets mitgedacht

Internetquellen werden – wo möglich – mit dem Nachnamen des Autors und dem Besuchsdatum der Internetseite zitiert. Ist kein Autor bekannt, wird ggf. der Titel und die Internetadresse in Kurzform mit Besuchsdatum angegeben. Im Literaturverzeichnis ist jeweils die komplette Seitenangabe aufgenommen. Für Zitate aus Büchern, die im Internet abrufbar sind, werden wegen fehlender Seitenzahlen, sofern möglich, lediglich die Kapitel angegeben

1 Gesellschaftliche Situation und sozialpolitische Rahmenbedingungen

Die heutige soziale Situation in Deutschland scheint paradox: „trotz gestiegener Produktivitätsund Versorgungsfähigkeit nehmen Armut und soziale Ungleichheit zu. Erwerbsarbeit wird zunehmend einkommenslos ...“ (FLYER: Das bedingungslose Grundeinkommen. Initiator: Götz WERNER). Armut steht in besonderer Beziehung zum technologisch bedingten Strukturwandel der Arbeit. Welche Auswirkungen hat Armut für die Betroffenen? Wie sieht der aktuelle Arbeitsmarkt aus? Was ist die sozialpolitische Antwort? Dieses Kapitel versucht, sich diesen Fragen anzunähern

1.1 Armut im reichen Deutschland

Seit der Ära Ludwig Erhards als Wirtschaftsminister (1949-63), der die soziale Marktwirtschaft in der BRD einführte und Wohlstand für alle versprach, war Armut lange Zeit ein Tabuthema. Armut wurde nur als Randphänomen der Gesellschaft gesehen und die Sozialsysteme hatten zu Zeiten annähernder Vollbeschäftigung keine Mühe, die Betroffenen zu unterstützen. Das Wirtschaftswachstum hielt bis in die 1970er Jahre an. Vielen Menschen war es möglich, an dieser „Aufstiegsgesellschaft“ zu partizipieren. Wer an diesem Reichtum doch nicht teilhaben konnte, den fing ein eng geknüpftes soziales Netz auf. Seit dem programmatischen Kurswechsel der Schröder-Regierung, scheint es erhebliche Lücken in diesem Netz zu geben

Armut steht in Relation zum gesellschaftlich vorherrschenden Verteilungsmechanismus. Im Kapitalismus legt die Funktionsweise des Arbeitsmarkts „Produktionseinsatz (Arbeit) und Existenzchance (Essen) [fest]“ (VOBRUBA 2007: 47f)

Die Vorstellung einer gerechten Verteilung unseres erwirtschafteten Reichtums in Deutschland korrespondiert mit dem Gedanken einer Verteilung nach Leistung. Dass in unserer Leistungsgesellschaft manchem „Mehrleister“ vom Reichtum mehr – im Sinne von „angemessen“ mehr – zusteht, sollte nicht das Problem sein, jedoch, dass immer mehr Mitmenschen in Armut verfallen schon. Widersinnig mutet es an, wenn allein sechs Spitzenmanager des Autobauers Porsche Jahresbezüge in Höhe von 112,7 Millionen Euro für ein Geschäftsjahr kassieren (vgl. www.spiegel.de. 25.03.2008), während 2003 nach dem 2. Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung deutschlandweit 11,1 Millionen Menschen (13,5% der Bevölkerung) in relativer Armut lebten (vgl. 2005: 19)

(Vorbemerkung: LEBENSLAGEN in Deutschland – Der 2. Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung, veröffentlicht 2005 und im Folgenden 2. NARB genannt, analysiert die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen von 1998 bis an den aktuellen Rand.)

Natürlich hat Armut in Deutschland ein anderes Gesicht als in Entwicklungsländern, in denen ein fehlendes soziales Netz zu einer lebensbedrohlichen Situation werden kann. Eine vergleichbare Not herrscht in Deutschland meist nicht, dennoch nimmt die Zahl armer Menschen in unserem reichen Land besorgniserregend zu. Unter den Eindrücken der neuesten, im November 2007 veröffentlichten Studien des Deutschen Kinderhilfswerks steht besonders die ansteigende Kinderarmut im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Doch was ist unter Armut zu verstehen?

„Deutschland verliert seine Mitte“, konstatiert Gernot STEGERT von der Heilbronner Stimme. In seinem Artikel vom März 2008 bezieht er sich auf das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, das in einer Studie festgestellt habe, dass die Mittelschicht von 2000 bis 2006 von 62 auf 54 Prozent der Bevölkerung gesunken und ein deutlicher Zuwachs in den untersten Schichten zu verzeichnen sei. Ihr Anteil sei um mehr als 6 Prozentpunkte auf 25 Prozent angestiegen. Arbeitslosigkeit, Hartz IV und Lohnzurückhaltung zeige Wirkung. Auch Spitzenverdiener gäbe es mehr, ihr Anteil stieg um ca. zwei Prozent (vgl. insgesamt STEGERT 2008: 3)

1.1.1 Definitionen von Armut

Armut ist ein schwer zu beschreibender Begriff, da er sich immer an von einer bestimmten Gesellschaft festgelegten Werten orientiert. Sie ist eine Situation wirtschaftlichen Mangels, die nach dem Politiklexikon auf der Internetseite der BUNDESZENTRALE für politische Bildung wie folgt definiert wird:

1. „Objektive Armut, d.h. einzelne Personen, Gruppen oder (Teile von) Bevölkerungen sind nicht in der Lage, ihr Existenzminimum aus eigener Kraft zu bestreiten
2. Subjektive Armut liegt vor, wenn ein Mangel an Mitteln, die der individuellen Bedürfnisbefriedigung dienen, empfunden wird
3. Absolute Armut bedroht die physische Existenz von Menschen unmittelbar (bspw. durch Verhungern oder Erfrieren) oder mittelbar (bspw. aufgrund mangelnder gesundheitlicher Widerstandskraft)
4. Relative Armut, d.h. das Unterschreiten des soziokulturellen Existenzminimums (oft gleichgesetzt mit der Bedrohung der Menschenwürde).“ (Armut: www.bpb.de. 28.03.2008)

Weitere Definitionen:

Als „absolut arm“ gelten Menschen, deren Mittel für ein physisches Existenzminimum nicht ausreichen (vgl. 2. NARB 2005: 25). „In mehr als 40 Ländern lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Sie wird von der Weltbank derzeit bei einem Jahreseinkommen von 370 US-$ angesetzt.“ (WIRTSCHAFTSLEXIKON 2004 www.bpb.de. 03.03.2008)

Daneben wird noch die „verdeckte Armut“ definiert: Personen mit Anspruch auf staatliche Transferleistungen, die diese aber aus Scham oder Unwissenheit nicht geltend machen (vgl. LAMPERT/ALTHAMMER 2007: 363)

Auf die Definition der relativen Armut gehe ich näher ein, da dieser Begriff für Deutschland eine wichtige Rolle spielt

1.1.2 Relative Armut

Der 2. NARB für Deutschland basiert auf einem relativen Armutsbegriff, auf dessen Definition sich die EU-Mitglieder geeinigt haben. Diese Begriffsbestimmung gilt für die Wertvorstellung unserer Gesellschaft, in der „das durchschnittliche Wohlstandsniveau wesentlich über dem physischen Existenzminimum [liege]“ (2005: XV). Nach dem Bericht gelten Menschen in Deutschland als arm, wenn ihr bedarfsgewichtetes Netto- äquivalenzeinkommen weniger als 60 Prozent des Mittelwerts (Median) aller Personen beträgt. In Deutschland liegt demzufolge die Armutsrisikogrenze auf der Datenbasis von 2003 für einen Ein-Personen-Haushalt bei 938 Euro

Das Nettoäquivalenzeinkommen orientiert sich neben der Höhe des Einkommens auch an der Haushaltssituation. Das gesamte Haushaltseinkommen wird rechnerisch auf die Haushaltsmitglieder verteilt, wobei für einen Mehrpersonenhaushalt ein geringerer Bedarf angenommen wird. Der Haupteinkommensbezieher wird mit Faktor 1.0 gerechnet, weitere Personen, die älter als 14 Jahre sind, werden mit 0,5 angesetzt und Kinder bis 14 Jahre haben einen Gewichtungsfaktor von 0,3. (vgl. insgesamt boeckler-boxen.de. (Armut) 29.03.2008) Für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und einem Kind unter 14 Jahren entspricht dies einer Armutsgrenze von 1688,40 Euro [938 Euro x (1.0 + 0, + 0,3)]

Nach den Angaben des 2. NARBs lebten in den Jahren zwischen 1998 und 2003 etwa 7 Prozent der Bevölkerung unter der relativen Armutsgrenze (vgl. 2005: S. XXIII)

Der Trend zum Anstieg der relativen Armut ließ sich bereits im Ersten Armutsbericht der Bundesregierung (2001) ausmachen. Ausgehend von der Erkenntnis über die Zunahme der relativen Einkommensarmut seit den 1980er Jahren nehmen LAMPERT/ALTHAMMER an, dass die jüngsten Sozialreformen diese Tendenz verstärken werden (vgl. 2007: 525)

Der betroffene Personenkreis ist im 2. NARB folgendermaßen definiert: „Personen, die über einen längeren Zeitraum einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt sind, weisen häufig ein vergleichsweise niedriges Qualifikationsniveau auf. Sie sind zudem oft alleinerziehend oder leben in Haushalten mit drei oder mehr Kindern, sind getrennt oder geschieden, selbst arbeitslos oder leben in Haushalten von Arbeitslosen oder Nichterwerbstätigen.“ (2005: 7) Bei Kindern unter 18 Jahren konstatiert der 2. NARB 1,1 Mio Sozialhilfebezieher (vgl. 2005: 76)

Bei LAMPERT/ALTHAMMER ist nachzulesen, dass im Jahr 2002 von 1,7 Mio. Empfängern von Hilfe zum Lebensunterhalt 43,5 Prozent arbeitslos waren. Nach den Autoren bestehen die Ursachen der Hilfsbedürftigkeit nicht mehr in erster Linie in sozialen Ausnahmesituationen, wie das bis Ende der 1970er Jahre noch der Fall war, sondern besonders in der Arbeitslosigkeit (vgl. 2007: 354)

Höchst beunruhigend sind die neuesten Erkenntnisse zur Kinderarmut. (vgl. für folgenden Abschnitt insgesamt www.spiegel online.de. 02.03.2008)

SPIEGEL online bezieht sich auf den Kinderreport Deutschland 2007 des Deutschen Kinderhilfswerks: Während vor 42 Jahren nur jedes 75. Kind unter sieben Jahre auf Sozialhilfe angewiesen war, sei es 2006 bereits jedes sechste. Die materielle Armut habe sich etwa alle 10 Jahre verdoppelt. 14 Prozent aller Kinder würden offiziell als arm gelten. Durch die Hartz IV-Gesetze habe sich die Zahl der auf Transferleistungen angewiesenen Kinder auf 2,5 Millionen nahezu verdoppelt. Besonders betroffen seien Kinder aus Einwandererfamilien. Schätzungsweise würden 5,9 Millionen Kinder in Haushalten mit einem Jahreseinkommen der Eltern von bis zu 15.300 Euro leben

1.1.3 Armut und gesellschaftliche Auswirkungen

Das Forschungsprojekt von Dietrich ENGELS benennt Studien, deren Befunde belegen, dass Menschen aus höheren Bildungsund Einkommensschichten sich mehr an der Gestaltung der politischen und gesellschaftlichen Lebensverhältnisse beteiligen als Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen und Bildungsstand. Nur ein Viertel des Personenkreises unterhalb der Armutsgrenze ist regelmäßig bürgerschaftlich engagiert. Im Gegensatz hierzu ist es ein Drittel der Personen oberhalb dieser Abgrenzung. Einkommensschwache Gruppen sind auch von Sportund Freizeitaktivitäten stärker ausgegrenzt. Der Zusammenhang von Einkommen und Partizipation existiert auch auf politischer Ebene: Einkommensschwache Personen sind seltener Mitglied einer politischen Partei, Gewerkschaft oder Bürgerinitiative (vgl. insgesamt ENGELS 2004: 34f.)

„Armut im Sinne sozialer Ausgrenzung und nicht mehr gewährleisteter Teilhabe liegt dann vor, wenn die Handlungsspielräume von Personen in gravierender Weise eingeschränkt und gleichberechtigte Teilhabechancen an den Aktivitäten und Lebensbedingungen der Gesellschaft ausgeschlossen sind.“ (2. NARB 2005: 9) Bei einem geringen Einkommen nehmen Familien oft kulturelle und soziale Bedürfnisse nicht wahr. Dem Forderungskatalog des Deutschen Kinderhilfswerks zufolge sind Kinder und Jugendliche immer mehr von sozialer Teilhabe ausgeschlossen, da sie vielfach auf Taschengeld, Freizeitund Sportangebote verzichten müssen (vgl. DEUTSCHES KINDER- HILFSWERK. www.dkhw.de. 31.03.2008)

Armut wirkt sich auch auf die Gesundheit aus. Der Forderungskatalog benennt Studien, die nachweisen, dass in den unteren sozialen Schichten die Säuglingssterblichkeit, sowie die Mortalitätsrate durch Unfälle, akute und chronische Erkrankungen deutlich häufiger auftreten als in besser gestellten Schichten (vgl. DEUTSCHES KINDERHILFSWERK. www.dkhw.de. 31.03.2008)

Von welchen Konsumgütern der angesprochene Personenkreis (überwiegend Arbeitslose, Geringverdiener, Alleinerziehende, kinderreiche Familien und Menschen mit Migrationshintergrund) ausgeschlossen ist, geben die Themenseiten der Hans-Böckler- Stiftung Auskunft. Sie beziehen sich auf ein Gutachten im Rahmen des 2. NARBs. Demnach können 7 bis 10 Prozent der Westdeutschen sich kein Auto finanzieren und ein Fünftel der Bevölkerung kann sich keine neuen Möbel anschaffen und nicht in Urlaub fahren (vgl. insgesamt www.boeckler-boxen.de. (Armut) 29.03.2008)

Das Informationsportal „DEUTSCHLANDS ARMUT – Armes Deutschland“ zitiert die Pisa Studie 2004, die nachweist, dass in Deutschland der Schulerfolg sehr stark vom Familieneinkommen abhängt. Des Weiteren habe der 2. NARB festgestellt, dass Kinder von Besserverdienenden eine 7-fach größere Chance haben, ein Studium aufzunehmen, als Kinder aus einem Elternhaus mit niedrigem sozialen Status. Somit bestehe keine Chancengleichheit (vgl. insgesamt www.jjahnke.net. 31.03.2008)

Auch delinquentes Verhalten wird in unserer Gesellschaft mit Armut in Verbindung gebracht. Der ehemalige Bundespräsidenten Johannes RAU betont in seiner Rede auf dem Symposium „Perspektiven der Armutsund Reichtumsberichterstattung in Deutschland“ im Jahr 2001: Die sozialen und politischen Kosten von Armut und Ausgrenzung hätten alle zu tragen. Er sieht Armut und Kriminalität in engem Zusammenhang und die Armutsbekämpfung als vorbeugende Maßnahme gegen Kriminalität (vgl. RAU 28.03.2008)

Die Bundesregierung möchte der Armut mit dem im Jahr 2004 aktualisierten „Nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung 2003-2005“ (Nationaler Aktionsplan) begegnen. Sie setzt vor allem auf soziale Eingliederung. Der Aktionsplan sieht u.a. Maßnahmen vor, die den Zugang zur Erwerbsarbeit erleichterter und eine stärkere Integration in den Arbeitsmarkt gewährleisten (vgl. BMAS Nationaler Aktionsplan. www.bmas.de. 20.02.2008). Dieses Vorhaben soll die Agenda 2010, die auch auf eine verstärkte Aktivierung des Individuum zielt, möglich machen

Die bisherigen Ausführungen zeigen: Mit der (Kinder-) Armut lassen sich nicht nur materieller Mangel, sondern auch nicht ausreichende soziale Teilhabe, Defizite im Gesundheitszustand sowie schlechtere Zugangschancen zur Bildung und zum Arbeitsmarkt beobachten. Die Bereiche Bildung, Erwerbsarbeit, Kultur, Freizeit und Gesundheit bedingen sich im sozialen Miteinander. Ist ein Zugangsbereich verwehrt, zieht das die Gefahr der Ausgrenzung aus den übrigen Bereichen nach sich

1.2 Situation am Arbeitsmarkt

1.2.1 Arbeitslosigkeit

In den 1970er Jahren entwickelte sich in Deutschland eine strukturelle Arbeitslosigkeit, die als große Belastung unseres Sozialsystems gesehen wird. In den 1960er bis Anfang der 1970er Jahre – unterbrochen von einer milden Rezession – konnte man von einer annähernden Vollbeschäftigung sprechen. Ab Mitte der 1970er überstieg die Arbeitslosenzahl die Millionengrenze und steigerte sich in den 1980ern auf über 2 Millionen. Nach der Wiedervereinigung bis etwa Ende 1990 stieg die Zahl fast kontinuierlich auf ca. 4,5 Millionen, danach sank sie bis zum Jahr 2000 auf unter 4 Millionen. In der Folge ist ein stetiger Anstieg bis 2006 zu verzeichnen; die 4-Millionen-Marke wurde bis dahin nicht mehr unterschritten (alle Zahlen entstammen den Statistiken der BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT. www.pub.arbeitsamt.de. 12.03.2008). Obwohl die Arbeitslosigkeit sich als gesamtwirtschaftliches Problem darstellt, ist das Vorurteil, sie beruhe auf individuellem Versagen, weit verbreitet

Im November 2007 wurde die Öffentlichkeit mit der Schlagzeile von nur noch 3,5 Millionen Menschen ohne Arbeit überrascht. Doch SCHÜTZ von stern.de sieht in dieser Entwicklung auch eine kosmetische Änderung der Arbeitslosenstatistik. Eine große Anzahl von Menschen sei aus der offiziellen Arbeitslosenzahl ausgeblendet, da sie sich in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen befinde oder unter andere Sonderregelungen falle (vgl. hierzu insgesamt SCHÜTZ 12.03.2008)

Weiterhin wird nicht erfasst, wer zwar arbeitslos gemeldet ist, aber kein Arbeitslosengeld II erhält, weil er noch Ersparnisse besitzt, die erst bis auf ein paar tausend Euro aufgebraucht werden müssen (vgl. § 12 Sozialgesetzbuch II (SGB II))

Nach sueddeutsche.de vom 04.03.2008 kommt der allerseits propagierte wirtschaftliche Aufschwung der vergangenen drei Jahre bei den Beschäftigten nicht an. sueddeutsche.de zitiert eine Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), derzufolge der Wirtschaftszuwachs überwiegend in Unternehmensgewinne und Vermögen geflossen sei. Das Nettoeinkommen eines durchschnittlichen Arbeitnehmerhaushalts sei deutlich langsamer gestiegen als die Teuerungsrate (vgl. insgesamt www.sueddeutsche.de. 14.03.2008)

Als Gründe für die strukturellen Arbeitslosigkeit werden immer wieder genannt:

- Das wirtschaftliche Wachstum der letzten Jahre reicht nicht aus zum Abbau der Arbeitslosigkeit
- Erwerbsarbeit wird vermehrt nachgefragt
- Arbeitsplätze werden abgebaut durch gesteigerte Produktivität, resultierend aus dem technischen Fortschritt
- Unternehmen sehen sich in ihrer Wettbewerbsfähigkeit insbesondere durch hohe

Lohnkosten eingeschränkt, was als Grund zur Produktionsverlagerung in sogenannte Billiglohnländer angeführt wird

1.2.2 Prekarisierung

Was versteht man unter Prekarisierung und gehört sie bereits zum Alltag? In unserem kapitalistisch geprägten Wirtschaftssystem ist die Existenzsicherung im Grunde vom Verkauf der Ware Arbeitskraft abhängig. Ein erfolgreicher Verkauf ist aber nicht immer garantiert. ENGLER spricht von „Vergewaltigung des Menschseins“ (2005: 360), wenn Arbeit als Ware behandelt und den üblichen Marktgesetzen unterworfen wird

Zum Begriff der Prekarität gibt es keine verbindliche Definition, deshalb ein Vorschlag von Martin DIECKMANN: „Prekarität ist die Unsicherheit von Lebensverhältnissen durch Widerruflichkeit des Erwerbs.“ (DIECKMANN 10.03.2008)

Sofern nicht anders gekennzeichnet, entstammen sämtliche Informationen und Zitate des nächsten Abschnitts den Themenseiten der Hans-Böckler-Stiftung (www.boecklerboxen.de. (prekäre Arbeitsverhältnisse) 10.03.2008)

In einem prekären Arbeitsverhältnis ist der Lohn nicht existenzsichernd, die soziale Absicherung und die üblichen Arbeitnehmerrechte (etwa Kündigungsschutz) sind eingeschränkt. Insgesamt dürften nach einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2006 über 5 Millionen Menschen – rund 15 Prozent der Beschäftigten – betroffen sein. Immer mehr Menschen beziehen ihr Einkommen aus einer atypischen Beschäftigung, dazu gehören: Leihoder Zeitarbeit, befristete und geringfügige Beschäftigung, Teilzeitarbeit oder Niedriglohnbeschäftigung. Eine weitere neue Form der Beschäftigung findet in der

„Generation Praktikum“ ihren Ausdruck. „Jeder zweite Absolvent der Geistesund der Sozialwissenschaften und mehr als jeder dritte der Wirtschaftswissenschaften macht mindestens ein Praktikum nach dem Studium.“ Die steigende Zahl der atypischen Beschäftigungsverhältnisse und die zurückgehende Bedeutung des Normalarbeitsverhältnisses wurden durch die Deregulierungspolitik der Regierung forciert, z.B. durch das Beschäftigungsförderungsgesetz, das Teilzeitund Befristungsgesetz und Projekte der Hartz-Gesetze. Diese Richtungsänderung in der Politik, welche die Verdrängung sozialversicherungspflichtiger durch sozialversicherungsfreie Beschäftigung in Kauf nimmt, ist mitverantwortlich für die Aushöhlung unseres beitragsfinanzierten Systems der sozialen Sicherung. Hiervon ist insbesondere die Arbeitslosen-, Krankenund Rentenversicherung betroffen und somit die Arbeitnehmer in ihren sozialen Absicherungen

Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit ging zwischen 1991 und 2005 bei einer fast gleichbleibenden Zahl von Erwerbstätigen der Anteil sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung um 13 Prozent – von 30 auf gut 26 Millionen Menschen – zurück (IAB zitiert in NIEJAHR: 2006)

Die durch die Arbeitsmarktreform bedingten Auswirkungen wie Armut, soziale Unsicherheit, Abstiegsängste und die staatlich praktizierte „Aktivierung“ tragen sicher dazu bei, dass Lohnzahlungen von der Wirtschaft unter ein existenzsicherndes Niveau gedrückt werden können

(Für den nächsten Abschnitt gilt: sämtliche Zahlen stammen vom Statistischen Bundesamt 2005, zitiert nach: KELLER/SEIFERT 2006)

Ein Anteil von über 7 Millionen = 23 Prozent der Gesamtbeschäftigten entfällt auf Teilzeitkräfte. Größtenteils sind das Mini- (400 Euro Monatsverdienst) oder Midijobs (400 bis 800 Euro). Nach Einführung der Hartz-Gesetze stieg die Anzahl der geringfügig Beschäftigten von 4,1 Millionen Anfang 2003 auf 6,7 Millionen in 2005. Die Zahl der befristet Beschäftigten liegt mit 2,25 Millionen Menschen bei 8 Prozent der Gesamtbeschäftigung. Hinzu kommen 400.000 Leiharbeiter, deren Anteil bei 1,3 Prozent liegt

Die Heilbronner Stimme berichtet im April 2008 von besorgniserregenden Befunden und beruft sich dabei auf Studien des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Uni Duisburg-Essen; demnach arbeitet jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland inzwischen im Niedriglohnbereich (6,5 Millionen Menschen), wobei der Durchschnittsverdienst in diesem Bereich im Westen bei 6,89 und im Osten bei 4,86 Euro pro Stunde liegt (vgl „ARBEITEN FÜR WENIG GELD“)

Aus dem Kurzbericht des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung (IAB) vom November 2007 geht hervor, dass immer weniger Menschen vom Lohn ihrer Arbeit leben können. Diese Erwerbstätigen sind deshalb auf eine Aufstockung durch das Arbeitslosengeld II angewiesen. Der Studie zufolge ist zwischen 2005 und Januar 2007 die Zahl der Aufstocker um 420 000 auf etwa 1,3 Millionen gestiegen. Die Mehrheit der Aufstocker ist nach der Studie geringfügig beschäftigt (vgl. insgesamt IAB 2007: 1)

Der am 19.05.2008 in vorläufiger Form vorgestellte 3. Armutsbericht bestätigt, dass die Zahl derjenigen, die arbeiteten und sich dennoch im Armutsrisikobereich befinden, größer geworden ist (vgl. 2008: ARMUTSZEUGNIS FÜR DEUTSCHLAND)

Unter dieser Vielzahl von Erwerbstätigen, die gleichzeitig hilfebedürftig im Sinne des SGB II sind, findet eigentlich bereits eine Entkopplung von Arbeit und Einkommen statt

Wenn Lohnarbeit die Existenz nicht mehr sichern kann und somit die Gefahr des Verlustes einer menschenwürdigen Teilhabe an der Gesellschaft besteht, sollte grundsätzlich über eine Existenzsicherung, unabhängig von bezahlter Arbeit, nachgedacht werden. Diesem Gedanke wird das Kapitel „Bedingungsloses Grundeinkommen“ nachgehen

Der Soziologe Georg VOBRUBA geht davon aus, dass künftig die Existenzsicherung aus mehreren Quellen gespeist wird, und nennt diese Konstellation Income Mixes (vgl. VOBRUBA 2007: 147). Die problematischen Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt, die hohe Arbeitslosigkeit und die zunehmende Armut konfrontieren unsere Gesellschaft mit der Frage nach dem Schicksal von Millionen „Überflüssiger“, für die es anscheinend keine Verwendung mehr gibt

1.3 Umbau des Sozialstaates

Die Ursachen der bisher hierher geschilderten gesellschaftlichen Misere werden im Wesentlichen immer wieder auf die Globalisierung und den demografischen Wandel zurückgeführt, die den seit 2003 erfolgten massiven Umund Abbau unseres wohlfahrtstaatlichen Systems rechtfertigen sollen. Nachfolgende Ausführungen zeigen, was den beiden häufigsten Pro-Umbau-Argumenten erwidert werden kann

- Die Globalisierung mit der sich verschärfenden Weltmarktkonkurrenz gefährde, besonders nach den Aussagen der Neoliberalen, die Wettbewerbsfähigkeit, etwa durch hohe Lohnnebenkosten am Standort Deutschland. Wie kann dann aber sein, wie BUTTERWEGGE fragt, dass gerade die exportierende Wirtschaft der Bundesrepublik zu den Hauptgewinnern des ökonomischen Globalisierungsprozesses zählt (vgl. 2005: 108)? Scheinbar spielen andere Aspekte ebenfalls eine Rolle. Positiv zu Buche schlagen dürften etwa die stabile Infrastruktur sowie eine gut ausgebildete Arbeitnehmerschaft. Die Bewahrung der Demokratie und des inneren Friedens sind laut BUTTERWEGGE darüber hinaus Gründe, um einen großzügigen Sozialstaat zu erhalten und damit weiterhin auf den Weltmärkten konkurrenzfähig zu bleiben (vgl. ebd.)

- Die Medien berichten immer wieder von einer Überlastung des Sozialstaates durch

den demografischen Wandel. Die allmähliche „Vergreisung“ überfordere strukturell das soziale Sicherungssystem (Renten-, Pflegeund Krankenversicherung). Diesem „Problem“ begegnet man mit Leistungsreduzierung auf der Kostenseite (Beispiel Krankenkasse) und mittels (Teil-)Privatisierung auf der Beitragsseite. Vergessen werden, so meint Christoph BUTTERWEGGE, die mit der Änderung der Altersstruktur verbundenen Entlastungen, z.B. die Kriegsopferversorgung, die Kinderund Jugendhilfe oder der Bildungsbereich (vgl. 2005: 106f.) Auch könnte über eine solidarische Einbeziehung von Selbstständigen, Freiberuflern und Beamten in das bestehende Rentensystem nachgedacht werden (vgl. ebd.). „Alle seriösen Berechnungen zeigen, dass sich die Folgen des demografischen Wandels für Einnahmen und Ausgaben der gesetzlichen Renten-, Krankenund Pflegeversicherung in engen Grenzen halten.“ (BUTTERWEGGE 2005: 107)

Mit den Entgegnungen BUTTERWEGGES könnten Zweifel aufkommen, ob die mit der Agenda 2010 eingeleiteten Reformen des Sozialsystems und des Arbeitsmarkts gerechtfertigt sind. In Bezug auf diese Diplomarbeit interessiert insbesondere die Reform des Arbeitsmarkts

1.3.1. Hartz-Gesetze

Sozialpolitik hat hauptsächlich die Aufgabe, Vorkehrungen zum Schutz von Lebensrisiken zu treffen, mithin die Sicherung des Einkommens der Arbeitnehmer und ihrer Familien, z.B. im Falle von Krankheit, Berufsoder Erwerbsunfähigkeit, im Alter oder bei Arbeitslosigkeit (vgl. insgesamt LAMPERT/ALTHAMMER 2007: 3 und BUTTERWEGGE 2005: 12f.). Unser soziales Sicherungssystem basiert auf einem Umlageverfahren und geht mehr oder weniger von Vollbeschäftigung aus. Wenn durch hohe Arbeitslosigkeit der Geldzustrom in unser Sozialsystem reduziert wird, „dann verliert die staatliche Daseinsfürsorge ihr bisheriges Fundament ... “ (ENGLER 2005: 183)

Die gesellschaftliche Situation zeigte Anzeichen, dass dieses Fundament zu bröckeln beginnt. Einen Baustein, um eine weitere Erosion zu verhindern, sah die Bundesregierung unter Gerhard Schröder in der Arbeitsmarktreform. Die sogenannte Hartz- Kommission wurde mit dem Ziel eingesetzt, Vorschläge für eine verbesserte Arbeitsmarktpolitik zu unterbreiten, z.B. sollte die Arbeitslosenzahl im Jahr 2003 von 4 Millionen innerhalb von 4 Jahren halbiert werden. Dieses Ziel wurde bis heute nicht erreicht. Die Vorschläge der Kommission, bekannt als Hartz-Gesetze, traten schrittweise zwischen 2003 und 2005 in Kraft. Viele sozialpolitische Reformen, die insbesondere auf die Aktivierung von Arbeitslosen zielen, wurden verabschiedet. Kernstück des vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz IV) ist die Zusammenführung von Arbeitslosenund Sozialhilfe für erwerbsfähige Hilfebedürftige und ihre Angehörigen zum Arbeitslosengeld II (Grundsicherung für Arbeitssuchende), geregelt im SGB II. Die Hartz IV-Gesetze entscheiden für einen großen Teil der Bevölkerung maßgeblich über den Zugang zum gesellschaftlichen Leben

Das sozialstaatliche Sicherungsprogramm für Erwerbslose bestand bis dahin aus drei Komponenten: zunächst das Arbeitslosengeld (eine Versicherungsleistung), abhängig von Alter und Versicherungsdauer, daran anschließend bei Bedürftigkeit unbefristete Arbeitslosenhilfe (Steuermittel des Bundes) und als letzte Säule die Sozialhilfe (finanziert durch die Kommunen) bei zu geringer Dauer einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Die Höhe der Transferleistungen und die an sie geknüpften Bedingungen haben sich nach der Hartz IV-Reform für erwerbsfähige Hilfebedürftige grundsätzlich geändert. Orientierte sich die Arbeitslosenhilfe zuvor am Einkommen des Empfängers, so gilt jetzt eine zum soziokulurellen Existenzminimum hin orientierte Grundsicherung

In sämtlichen Agenturen für Arbeit (früher Arbeitsämter) wurden Personal-Service- Agenturen (PSA) eingerichtet, in denen Arbeitslosen eine Beschäftigung als Leihbzw. Zeitarbeiter angeboten bzw. als zumutbar zugewiesen werden kann. Die „Arbeitslosen“ sollen den potenziellen Arbeitgebern kostengünstig überlassen werden. Die Leihoder Zeitarbeiter erhalten von der PSA während der Probezeit zunächst einen Nettolohn in Höhe des Arbeitslosengeldes und später einen Tariflohn (vgl. insgesamt BUTTERWEGGE 2005: 187)

Ein Arbeitsloser wird von einem Fallmanager der Bundesagentur für Arbeit betreut, der mit ihm eine Eingliederungsvereinbarung trifft, in der Leistungen, Maßnahmen und Eigenbemühungen geregelt werden (Grundsatz „Fördern und Fordern“)

Seit Juli 2007 gilt einheitlich für ganz Deutschland eine Regelleistung für ALG II- Empfänger von 347 Euro monatlich. Für Personen, die von der Arbeitslosenversicherung in die Grundsicherung übergehen, kommt ein befristeter Zuschlag hinzu. Ferner werden Wohnungsund Heizkosten in angemessener Höhe übernommen

Ein wesentliches Element von Hartz IV sind außerdem die „Ein-Euro-Jobs“ (Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung), die eine Zuverdienstmöglichkeit zum Arbeitslosengeld II (ALG II) darstellen

1.3.2 Auswirkungen von Hartz IV

Mit der Idee der Aktivierung von Arbeitslosen sieht Michael OPIELKA die Ansprüche auf soziale Grundrechte deutlich beschränkt (vgl. 2004a: 86). OLK bemerkt in diesem Zusammenhang: „Es ist sorgfältig zu prüfen, ob und unter welchen Bedingungen die stärkere Betonung von Pflichten gerade die schwächsten Gruppen erneut benachteiligt.“ (OLK 2000, zitiert in OPIELKA 2004a: 87) „Worum es gehen muss, ist die Verteidigung sozialer Ansprüche, Ansprüche an ein gutes Leben für alle als soziale Grundrechte, d.h. als bedingungsloses und unteilbares Recht für jeden Menschen, unabhängig von ... einer Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt.“ (HAUER 16.03.2008)

Die verschärften Regeln, nämlich jede zumutbare Tätigkeit anzunehmen, gehen damit einher, dass der Schutz der erreichten Qualifikation und des bisherigen Lohnes aufgehoben wird. Darüber hinaus besitzt das SGB II weitgehende Sanktionsmöglichkeiten (Kürzungen von 10 bis 100 Prozent des Leistungsbezugs), vergleiche hierzu § 31 SGB II. Liegt eine Pflichtverletzung etwa wegen Ablehnung von Arbeit, Abbruch einer Bildungsmaßnahme oder aus der geschlossenen Eingliederungsvereinbarung ohne wichtigen Grund vor, wird eine Sanktion (große Sanktion) ausgesprochen. Diese Sanktion sieht bei einmaligem Verstoß eine Kürzung von 30 Prozent, bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung eine Minderung des ALG II bereits um 60 Prozent der maßgebenden Regelleistung vor. Jede weitere wiederholte Pflichtverletzung löst eine

Kürzung des ALG II um 100 Prozent aus. Daneben werden ohne wichtigen Grund versäumte Termine beim zuständigen Träger oder bei ärztlichen Untersuchungen ebenfalls – wenn auch nicht so hart – sanktioniert (kleine Sanktion). Hier sieht bspw. eine einfache Pflichtverletzung eine Minderung um 10 Prozent der Regelleistung nach sich

Eine Kürzung oder komplette Streichung des ALG II trifft alle Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft. Da sie gegenseitig für sich einstehen, wird das ihnen zur Verfügung stehende Geld faktisch gekürzt

Verschärfte Bestimmungen für die große Sanktion gelten bei den unter 25-jährigen. Sie erhalten bereits nach einem einfachen Pflichtverstoß keine Regelleistung mehr; nach der ersten wiederholten Pflichtverletzung entfällt das ALG II in voller Höhe. Eine solche

„erzieherische“ Maßnahme kann junge Menschen in Hunger und Obdachlosigkeit treiben, oder unter Umständen gar notgedrungen in die Kriminalität

Nach § 31 Abs. 6 SGB II besteht während einer Sanktion auch kein Anspruch auf ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt (Sozialhilfe). Da aber ohne Einkommen ein Leben in einer monetären Gesellschaft nicht möglich ist, wird durch eine Verweigerung von Sozialhilfe jegliche Lebensgrundlage entzogen. So besteht für den Einzelnen quasi Arbeitszwang. Ein Leben in Würde, wie es § 1 SGB I vorsieht, kann ein Betroffener nicht führen

Die Zahl der Sanktionierten stieg innerhalb eines Jahres von 1,9 auf 2,7 Prozent. Im September 2006 waren ca. 87.500 Menschen und ein Jahr später bereits 138.700 davon betroffen (vgl. SOZIALVERSICHERUNG: www.haufe.de/sozialversicherung. 17.03.2008). Diese Sanktionen scheinen in einer Situation, in der geeignete Arbeitsplätze fehlen, nicht gerechtfertigt. Außerdem kommen sie einer Bestrafung der Arbeitslosen gleich, die ohne persönliches Verschulden arbeitslos geworden sind

Die Aktivierung der Hartz IV-Empfänger in Beschäftigungsverhältnisse der sogenannten Ein-Euro-Jobs dürfte einer gesellschaftlichen Integration eher hinderlich sein, da diesen Jobs das Stigma Arbeitslosigkeit mit all ihren negativen Zuschreibungen anhaftet. Zudem besteht die Gefahr der Verdrängung regulärer Beschäftigungen auf dem Ersten Arbeitsmarkt

1.3.3 Armutsfalle und Aktivierung

Das Armutsfallen-Theorem geht davon aus, dass sozialstaatliche Lohnersatzleistungen keinen Anreiz zur Erwerbsaufnahme darstellen. Auf eine Erwerbsarbeit werde verzichtet, weil Einkommensvorteile nur gering sind, was so betrachtet für den Bezieher staatlicher Leistungen auch kurzfristig rational erscheine. Aber ein langfristiger Verzicht auf bezahlte Arbeit verbaue die Chancen, die eine Teilhabe am Arbeitsmarkt biete (steigendes Einkommen, Ansehen usw.). Diese „Denkgewißheit“ (GEBAUER u.a. 2002: 11) hat weitreichende politische Konsequenzen und birgt nach GEBAUER u.a. ein erhebliches legitimatorisches Potenzial für Zwangsmaßnahmen. Da sich die Betroffenen, so die Verhaltensannahme, systematisch für ihre kurzfristigen und damit kurzsichtigen Interessen entscheiden würden, schädigen sie sich langfristig selbst. Durch eine solche Sichtweise soll eine Zwangsausübung im Interesse der Betroffenen gerechtfertigt werden (vgl. hierzu insgesamt GEBAUER u.a. 2002: 11ff.)

Nach GEBAUER u. a. sehen viele in der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht nur einen finanziellen Anreiz sondern auch eine immaterielle Verbesserung (vgl. 2002: 202f.). Eine empirischen Untersuchung belegt, dass das Letztere sogar eine übergeordnete Bedeutung genießt (vgl. ebd.). Soweit erscheint die Armutsfalle widerlegt und die „zwangsweise Aktivierung“, die mit Hartz IV einhergeht, infrage gestellt.

Excerpt out of 91 pages

Details

Title
Bedingungsloses Grundeinkommen. Eine Alternative für eine gerechte und würdige Teilhabe aller an der Gesellschaft?
College
Protestant University of Applied Sciences Reutlingen-Ludwigsburg
Author
Year
2008
Pages
91
Catalog Number
V114080
ISBN (eBook)
9783640143931
ISBN (Book)
9783640345502
File size
1729 KB
Language
German
Keywords
Bedingungsloses, Grundeinkommen, Eine, Alternative, Teilhabe, Gesellschaft
Quote paper
Dipl.-Soz.Arb./Soz.Päd. (FH) Karin Dentz-Bauer (Author), 2008, Bedingungsloses Grundeinkommen. Eine Alternative für eine gerechte und würdige Teilhabe aller an der Gesellschaft?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/114080

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