Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Geschichte der Heimerziehung
3 Rechtliche Grundlagen
4 Organisation
5 Leistungsangebot
6 Aufnahmeprozess
7 Adressat*innen
8 Methoden der Heimerziehung
9 Fazit
10 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Das Arbeitsfeld der Hilfen zur Erziehung ist mittlerweile breit gefächert, um Angebote für Kinder, Jugendliche und deren Familien je nach Problemlage anbieten zu können. Daher erfolgt die Ausrichtung dieser Hausarbeit darauf, sich mit der Heimerziehung laut § 34 (Heimerziehung und sonstige betreute Wohnformen) des Sozialgesetzbuches auseinanderzusetzen, um somit einen Schwerpunkt zu setzen.
Für den Einstieg wird die Geschichte der Heimerziehung erläutert, welche sich bis in das Mittelalter zurückführen lässt. Dadurch wird der starke Wandel hervorgehoben und deutlich gemacht, warum das Arbeitsfeld derart umstritten ist. Im darauffolgenden Abschnitt werden rechtliche Grundlagen der Erziehungshilfe mit Bezug auf das Kinder- und Jugendhilfegesetz dargestellt, Im Anschluss erfolgt eine Darstellung organisatorischer Aspekte, wozu eine Aufklärung über Träger und Finanzierung der Hilfen zählen. Nachfolgend befasst sich die Hausarbeit mit dem Angebot der Hilfen zur Erziehung und spezifisch mit den Leistungen der Heimerziehung nach § 34. In diesem Kapitel werden verschiedene Arten von Wohngruppen vorgestellt und – mit Blick auf die jeweiligen Problemlagen – erklärt, wie der Aufnahmeprozess abläuft und welche Adressat*innen es gibt. Darauf folgt eine Ausführung der Methoden in der Heimerziehung. Unter anderem wird der Hilfeplan, die Partizipation, sowie die Eltern- und Familienarbeit beschrieben. Abschließend folgt ein kurzes Fazit.
2 Geschichte der Heimerziehung
Um sich mit dem Praxisfeld der Hilfen zur Erziehung auseinanderzusetzen, muss sich zunächst einen Überblick verschafft werden, an welchem Punkt der geschichtlichen Entwicklung dieses steht. Oft wird der Begriff der Heimerziehung mit negativen Assoziationen und Vorurteilen in Verbindung gebracht, die mit dem Wissen über die Art von erzieherischen Hilfen damals zu erklären sind.
Der Anfang der Kinder- und Jugendhilfe entstand im 16. Jahrhundert als erste Waisenhäuser gegründet wurden, um elternlosen und/oder verwahrlosten Kindern zu helfen. Damals war es nicht unüblich, dass Familien ihre Kinder als Arbeitskraft verkauften, um sich selbst sowie auch ihre Kinder am Leben halten zu können. Vor solchen Bedingungen sollten Waisenhäuser schützen, denn an Bildung oder einem positiv geschaffenen Lebensort zur Persönlichkeitsentwicklung war als Arbeiterkind gar nicht zu denken. Doch auch in den Waisenhäusern ging es letztendlich hauptsächlich darum, Kinder am Leben zu halten und sie für den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Ein wichtiger Aspekt während des Aufenthaltes war die religiöse Bildung. Kinder wurden besonders im Gottesglauben bestärkt. Erst durch Hermann Francke wurden 1698 erste pädagogische Vorgehensweisen angestrebt, indem er lebenspraktische Fähigkeiten lehrte, auch wenn sich diese noch auf häusliche Arbeiten beschränkten und streng überwacht wurden. Disziplin war weiterhin ein wesentlicher Faktor. Um dies überschaubarer zu machen, versuchte Francke die Einrichtungen bzw. Gruppen relativ klein zu halten.
Jedoch entwickelte sich durch den Dreißigjährigen Krieg eine unüberschaubare Masse an Waisenkindern, sodass die Einrichtungen mit hohen Sterberaten und Krankheiten zu kämpfen hatten und erstmalig auch Missbrauch ein Thema wurde. Die Anschuldigungen wurden zwar im kleinen Rahmen gehalten, doch die Konsequenzen waren für die Heimerziehung derart groß, dass Waisenhäuser bald mit der Bezeichnung „Mördergrube“ (Günder, 2015, S.18) belegt wurden. Dadurch stieg die Unzufriedenheit der Bürger und der Gedanke an Familienpflege gewann immer mehr an Bedeutung. 1779 wurde demzufolge eine Untersuchung veröffentlicht, welche die Fragestellung behandelt, welche Variante der Unterbringung finanziell vorteilhafter bzw. günstiger ist. Wie erwartet schnitten die Waisenhäuser im Vergleich zu Familienpflege aufgrund der einhergehenden hohen Kosten deutlich schlechter ab. Ungeachtet dessen hat sich die anderweitige Unterbringung in Pflegefamilien nicht durchsetzen können, schlicht und einfach, weil es nicht genug Familien gab, die als tauglich genug befunden wurden.
Gegen 1798 änderte sich wieder einiges durch Pestalozzi, der sich der kindorientierten Erziehung hingab und Beziehungsarbeit leistete, wodurch er das Familienprinzip der Heimerziehung – die Fürsorgeerziehung – gründete. Noch heute zeichnet dies den zentralen Meilenstein für die Sozialpädagogik. Indem er die Leitung einer Einrichtung bekam, teilte er sein Leben mit den Waisenkindern und bot ihnen eine liebenswürdige Familie. Pestalozzis Arbeit wurde wie folgt beschrieben: „Der Waisenvater musste seinen Kindern alles sein: Vater, Diener, Aufseher, Krankenwärter und Lehrer. Bei der Kärglichkeit der Hilfsmittel musste sich die Erziehung der Kinder auf das Wichtigste beschränken; die Erziehungsmethode war diejenige der Liebe“ (Rattner 1968, S.100; zit. nach Günder, 2015, S.20). Zum ersten Mal in der Geschichte wurde in Einrichtungen Bindung zu den Kindern und Jugendlichen aufgebaut, wodurch eine Vertrauensebene entstehen und die Arbeit aus einem neuen Blickwinkel betrachtet werden konnte.
1833 kam es anschließend zu der Rettungshausbewegung, welche das Ziel hatte, verwaiste Kinder und Jugendliche durch religiöse Bildung Gott näher zu bringen und sie somit zu potenziellen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. Der Theologe und Impulsgeber Wichern erschuf als Vertreter dieser Bewegung das Rauhe Haus, um vor allem auch Pestalozzis Pädagogik weiterzuführen. Seine Einrichtung wurde als Vorbild für viele andere evangelische Anstalten genutzt. Das Rauhe Haus stellte eine neue Unterkunft für Waisenkinder und im Zuge des Industriekapitalismus verwahrlosten Kinder dar, welche schnell zu einer Kolonie wurde und sich in ganz Deutschland ausbreitete. Damit gehört er zu einem der Mitgründer pädagogischer Prozesse (vgl. Günder, 2015).
Mit der Aufhebung des Gesetzes der Zwangserziehung1871 begann nachfolgend die offizielle Unterstützung von verwahrlosten Kindern und jugendliche Straftäter. Im Jahre 1900 folgte im Zuge dessen die Erlassung des Fürsorgeerziehungsgesetzes, wodurch die Kinder und Jugendlichen in stationäre Unterbringungen integriert wurden und der Fokus insbesondere auf Jugendliche und die damit einhergehende Adoleszenzphase fiel. Die Zeit zwischen 1878 und 1922 galt in Deutschland auch als „Gründerzeit der Jugendhilfe“ (Hechler, 2011, S.17), da sich erstmals systematische Fürsorgeerziehung entwickelte. Ebenso erfolgte die Errichtung der ersten Jugendämter, welche „zunächst auf die Zähmung der ‚Jugendlichen‘ (die damals entstandene Bezeichnung eines als bedrohlich wahrgenommenen neuen Typus des jugendlichen Arbeiters), auf die Schließung der ‚Kontrolllücke zwischen Schulbank und Kasernentor‘ bei jungen Männern der Unterschicht und ihrer Erziehung zu gesellschaftlicher „Brauchbarkeit“ zielt[en].“( Bieker/Floerecke, 2011) Außerdem wurde zu der Zeit in Deutschland die soziale Arbeit und Sozialpädagogik professionalisiert, wodurch Reformansätze sowie die ersten Ausarbeitungen von Konzepten entstanden (vgl. Schröer/Struck/Wolff, 2016). Mit dem 1924 verbindlich eingesetzten Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes wurde „die Entwicklung eines institutionalisierten und ausdifferenzierten System[s] der Kinder- und Jugendhilfe“ zunächst abgeschlossen.“ (Schröer/Struck/Wolff, 2016, S. 795)
Im dritten Reich wurde es wieder prekärer für Kinder und Jugendliche, denn sie waren „massiven ideologisch ausgerichteten Erziehungsgewalten“ (Günder, 2015, S. 23) ausgesetzt. Dadurch kam es sogar zu einer Klassifizierung in „gute Elemente, die als erbgesund, normal begabt und eingliederungsfähig galten und in NSV [d.V Nationalsozialistische Volkswohlfahrt] Jugendheimstätten untergebracht und erzogen wurden, in ,halbgute‘ Elemente – sie erhielten auf der Grundlage des RJWG [v.V Reichsjugendwohlfahrtsgesetz] aus dem Jahre 1922 Fürsorgeerziehung – und die ,bösen’ Elemente, die als schwersterziehbar ab 1940 in polizeilichen Jugendschutzlagern untergebracht und mit Erreichung der Volljährigkeit in ein Arbeitshaus oder in ein Konzentrationslager übergeführt wurden.“ (Lampert, 1983, S.198; zit. nach Günder, 2015, S. 23f.) Das heißt alle, die als nicht erbgesund galten, wurden in Anstalten der Wohlfahrtsverbände untergebracht. Diese hatten zu der Zeit und situationsbedingt kein ausgebildetes Personal und konnten die Kinder und Jugendlichen auch nur in Großgruppen unterbringen, was ebenso verdeutlicht, dass kein pädagogisches Handeln den Alltag bestimmte. Nach dem zweiten Weltkrieg gab es erneut viele heimatlose Kinder und Jugendliche und zu wenige übrig gebliebene pädagogische Einrichtungen, wodurch ein dramatischer Rückschritt erfolgte. Einrichtungen hatten erneut mit Personalmangel und Großgruppen zu kämpfen, wodurch Methoden basierend auf Strenge und Disziplin wieder zum Alltag gehörten. Es gab wenige Ausnahmen, wie zum Beispiel Andreas Mehringer (1911-2004), welcher sich weiterhin mit seinem Haus „realitäts- und hilfebezogen“ für das Familienprinzip einsetzte und allgemeine Reformen für die Heimerziehung forderte. Aber auch die Kinderdorfbewegung kam zustande, was mehr Abstand zur Anstaltserziehung gewährte und somit den Blick auf kindgerechte Entwicklungsmöglichkeiten frei gab.
Kurz darauf entstand die Gründung von heilpädagogischen Heimen und somit gleichzeitig eine Professionalisierung in den Hilfen zur Erziehung, was nicht zuletzt durch die Heimkampgange 1969 ausgelöst wurde. Grund dafür waren linke Student*innengruppen, welche das Gesellschaftssystem in Frage stellten und durch Demonstrationen auf die Zustände und Erziehungspraktiken in Heimeinrichtungen aufmerksam machten. Auf politischer und gesellschaftlicher Ebene wurde das Thema stark diskutiert und immer mehr Einstellungen bezüglich der Heimerziehung überdacht. Reformforderungen waren unter anderem „(1) die Abschaffung repressiver, autoritärer Erziehungsmethoden, (2) die Verkleinerung der Gruppen, (3) tarifgerechte Entlohnung sowie Weiter- und Fortbildungsmöglichkeiten für Erzieher*innen, (4) die Abschaffung von Stigmatisierungsmerkmalen, etwa Anstaltskleidung, Heime in abgelegener Lage, etc.“ (Almstedt, M./Munkwitz, B. 1982, S. 21-33; zit. nach Günder, 1999, S.114). Diese bekamen mit der Zeit gesellschaftliche Anerkennung und wurden dadurch realisiert und ausgeführt, wodurch die moderne Jugendhilfe/Heimerziehung entstand und sich zudem weiter differenzierte (vgl. Günder, 2015). Im Zuge dessen wurde pädagogisch ausgebildetes Personal eingestellt sowie Richtlinien zu Heimaufsichtsbehörden erlassen und die Gruppengröße wieder dezentralisiert. Einrichtungen wurden somit familienähnlicher und geben nun der Persönlichkeit Raum, sodass Kinder und Jugendliche die Möglichkeit haben, ihre Auffälligkeiten und Defizite zu verringern (vgl. Günder, 1999) „Der allgemeine Weg zur Veränderung weg von der Anstaltserziehung in der Großinstitution Heim hin zu überschaubaren familienähnlichen Formen, setzte auf breiter Ebene erst mit Beginn der 1970er-Jahre ein und fand seinen Ausdruck in der Auflösung großer Institutionen, im Auftauchen von Kinderhäusern, Außenwohngruppen und Wohngruppen.“ (Günder, 2015, S.25) Die moderne Heimerziehung ist seitdem nicht mehr vergleichbar mit der damaligen Anstaltserziehung.
1991 trat letztendlich das Kinder- und Jugendhilfegesetz in Kraft, welches 2005 nochmals mit einem Schutzauftrag in Bezug auf Kindeswohlgefährdung erweitert wurde. Die Erziehungshilfe wird damit als ein ausdifferenziertes System dargestellt, welches sich auf die Betreuung, Begleitung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen, sowie auf ihre Familien konzentriert. Auch wurde in den letzten Jahren verstärkt auf die Prävention geschaut, was zu weiteren Maßnahmen der Hilfen zur Erziehung führte (Erziehungsberatung, soziale Gruppenarbeit, Erziehungsbeistand, Betreuungshelfer, sozialpädagogische Familienhilfe, Erziehung in einer Tagesgruppe) (vgl. Günder, 2015).
Trotz allem hat das Arbeitsfeld der Heimerziehung bis heute mit Vorurteilen zu kämpfen, was den vergangenen Ereignissen in der Geschichte geschuldet ist.
3 Rechtliche Grundlagen
Mit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (verortet im Sozialgesetzbuch VIII) bekam die Heimerziehung 1991 eine neue Regelung, wodurch jeden Personensorgeberechtigten das Recht auf Hilfe zur Erziehung zugesprochen wird, wenn das Wohl des Kindes nicht mehr gewährleistet werden kann. Dadurch hat sich der Blickwinkel auf das Arbeitsfeld der Heimerziehung grundlegend verändert. „Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere erstens junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen, zweitens Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung zu beraten und zu unterstützen, drittens Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen, viertens dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine Kinder und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen“( Kricheldorff/Becker/Schwab, 2012, S.107). Dadurch werden zum Beispiel Eltern als Partner der Erzieher angesehen und sind laut Gesetz in den Hilfeprozess zu involvieren (§ 27 SGB VIII). Auch Kinder und Jugendliche können sich beispielsweise beim Jugendamt melden und um Inobhutnahme bitten. Durch § 42 SGB VIII werden sie dann aus der prekären Lebensform herausgeführt und zunächst in eine geeignete Wohnform untergebracht. Infolgedessen wird überprüft, ob das Kind/der Jugendliche in die Herkunftsfamilie zurückgeführt werden kann oder eine anderweitige Unterbringung nötig ist. Dazu folgt ein Antrag auf Hilfen zur Erziehung beim zuständigen Jugendamt. Kommt der Jugendliche in eine Wohnform der Heimerziehung umfasst es § 34 SGB VIII, wo die Betreuung 24 Stunden stattfindet und das Alltagsleben mit pädagogischen oder therapeutischen Angeboten verknüpft ist, mit dem Ziel der Rückführung in die Herkunftsfamilie. Ist eine Rückkehr in die Ursprungsfamilie ausgeschlossen, so spricht der Gesetzgeber davon, Jugendliche auf ein selbstständiges Leben vorzubereiten und dahingehend zu beraten und unterstützen. Ein wichtiger Aspekt des Hilfsverfahrens ist das Wunsch und Wahlrecht § 5, da die Leistungsträger zwischen verschiedenen Anbietern wählen dürfen.
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