Potenzielle Einflussfaktoren auf prosoziales Verhalten

Ein Resümee ausgewählter sozialpsychologischer Theorien


Hausarbeit, 2021

13 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Relevante Begriffe und Termini

3 Sozialpsychologische Theorien und Hypothesen prosozialen Verhaltens
3.1 Der Bystander-Effekt
3.2 Die Empathie-Altruismus-Hypothese
3.3 Die Theorie des sozialen Austauschs

4 Fazit

5 Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

„Fünf Stunden lag ein Mann in der Wiener Innenstadt im Sterben, zu Hilfe kam ihm niemand. [...] Keiner betätigt den Notruf, niemand meldet den Vorfall [...].“

(Zeit Online, 2015, o.S.).

Der 58-jährige Mann lag, einen Herzinfarkt erleidend, über mehrere Stunden in einem Fahrstuhl, bevor er letztlich verstarb. Jener Fahrstuhl wurde unterdessen durch verschiedene Personen genutzt. Unweigerlich drängt sich bereits an dieser Stelle die Frage auf: Aus welchen Gründen hat keine der anwesenden Personen dem Mann zu helfen versucht? Unabhängig der im konkreten Fallbeispiel individuellen Begründungsversuche oder des subjektiven Tatbestandes einer unterlassenen Hilfeleistung1, exploriert die Sozialpsychologie unter Zuhilfenahme diverser theoretischer Konstrukte die Hintergründe prosozialen Verhaltens. Faktoren, die prosoziales Verhalten in hemmender oder fördernde Weise zu beeinflussen vermögen, stehen bereits seit Jahrzehnten im Fokus sozialpsychologischer Forschung. Tragische Vorkommnisse, wie das hier gewählte reale Exempel verdeutlichen die fortwährende Relevanz der Thematik.

Menschen innerhalb sozialer Gefüge profitieren grundsätzlich sowohl von eigenen als auch von prosozialen Verhaltensweisen anderer. Umso wichtiger scheint die Erkenntnis, dass Hilfeverhalten keinesfalls dem immer selben Prinzip folgt.

Ziel der hier vorliegenden Ausarbeitung ist es, prosoziales Hilfeverhalten anhand drei fundierter sozialpsychologischer Theorien darzustellen und die eruierten Einflussfaktoren zu extrahieren. Bei den gewählten Theorien bzw. Hypothesen handelt es sich um die Bystander-Hypothese, die Empathie-Altruismus-Hypothese sowie eine sozialpsychologische Theorie des sozialen Austauschs.

Mittels Sachverhaltserweiterungen ist in Form einer Transferleistung zusätzlich die Anwendung der erarbeiteten Erkenntnisse auf das anfangs angeführte Fallbeispiel möglich. Dabei sollen die theoretisch erarbeiteten potentiellen Motive prosozialen Verhaltens fiktiv, aber realitätsnah, auf den Sachverhalt angewendet werden.

Im Rahmen dieser Ausarbeitung wird durch das Resümee drei relevanter sozialpsychologischer Theorien bzw. Hypothesen, inklusive der fokussierten Reflexion der konkreten Einflussfaktoren sowie der Anwendung dieser auf einen Beispielsachverhalt, eine Übersicht über prosoziale Verhaltensweisen in Notsituationen gegeben. Im Ergebnis wird so die Beantwortung der hier in Rede stehenden Forschungsfrage „Welche Faktoren können sich hemmend oder fördernd auf prosoziales Verhalten auswirken?“ ermöglicht.

2 Relevante Begriffe und Termini

Zum umfassenden Verständnis der im folgenden Kapitel dargestellten sozialpsychologischen Theorie ist die Kenntnis und definitorische Eingrenzung bestimmter Begrifflichkeiten erforderlich. Vor diesem Hintergrund sollen an dieser Stelle ausgewählte Termini vorgestellt werden, welche als theoretische Grundlage der hier relevanten prosozialen Verhaltenstheorien fungieren.

In diesem Zusammenhang ist zunächst die Explikation des Ausdrucks „prosoziales Verhaltens“ obligatorisch. Charakteristisch für prosoziales Verhalten scheint unabhängig einzelner definitorischer Nuancierungen eine „freiwillige Handlung“, welche einer anderen Person „potentiell [oder] tatsächlich [...] zugutekommt“ (Bierhoff, 2014, S. 1316), wobei „Hilfeverhalten“ als eine Unterkategorie prosozialen Verhaltens bezeichnet werden kann (Greitemeyer, 2012, S. 159).2 Prosoziales Verhalten beschreibt ferner jegliche Formen zwischenmenschlicher Unterstützung (Batson & Shaw, 1991).

Bezüglich der prosozialem Verhalten zu Grunde liegenden Motivationen, soll, zunächst ungeachtet der im weiteren Verlauf dargestellten Theorien, an dieser Stelle bereits eine definitorische Differenzierung zwischen egoistischen und altruistischen Impulsen getroffen werden. Egoismus zeichnet sich u.a. durch Verhaltensweisen aus, bei denen die Manifestierung eines persönlichen Vorteils im Mittelpunkt steht (Weigel, Hessing & Elffers, 1999, S. 349), wohingegen Altruismus – als das oppositionelle Pendant dazu – „Rücksichtnahme [und] Selbstlosigkeit“ (Bergius & Six, 2014, S. 135) Relevanz beimisst.

Hinsichtlich prosozialen Verhaltens bedeutet dies, dass zwischen egoistischem Eigennutz und altruistischem Fremdnutz der „intentionale[n] und freiwillige[n] Handlung“ (Bierhoff, 2014, S. 1316) differenziert werden kann, wobei sich die Beweggründe nicht gegenseitig ausschließen (Lück, 1984, S. 311).

Weiterhin elementar ist die Definition des Begriffes „Empathie“. Insbesondere die im weiteren Verlauf erläuterte „Empathie-Altruismus-Hypothese“ stellt empathische Fähigkeiten ins Zentrum prosozialer Handlungen. Empathie kann im in Rede stehenden Kontext als „affektive Nachempfindung“ (Altmann, 2014, S. 472) einer Emotion bezeichnet werden. Voraussetzung dieser Nachempfindung ist die kognitive Fähigkeit hierzu, da nur so eine Perspektivübernahme realisierbar ist (Greitemeyer, 2012, S. 161).

Inwiefern diese Perspektivübernahme, egoistische sowie altruistische Verhaltensmotive oder andere personelle und situative Faktoren prosoziales Agieren beeinflussen können, wird im Folgenden dargestellt.

3 Sozialpsychologische Theorien und Hypothesen prosozialen Verhaltens

Im Rahmen der sozialpsychologischen Forschung zu prosozialem Verhalten wurden verschiedene Theorien und Hypothesen entwickelt, die Erklärungsansätze für Motivationen hinter Hilfeverhalten zu generieren versuchen. Im Rahmen der vorliegenden Ausarbeitung sollen in diesem Kapitel drei populäre und wissenschaftlich fundierte Theorien vorgestellt werden, die zum Verständnis der hinter prosozialem Verhalten liegenden Prozesse beitragen.

3.1 Der Bystander-Effekt

Zur Eruierung situativer oder personeller Einflussfaktoren prosozialen Verhaltens, kann die Betrachtung von Situationen hilfreich sein, in denen – ohne objektiv nachvollziehbare Gründe – keine Hilfeleistung stattgefunden hat. In diesem Zusammenhang nimmt der sog. Bystander-Effekt (auch: Non-Helping-Bystander-Effekt oder Zuschauereffekt) eine herausragende Rolle ein.

Der Bystander-Effekt beschreibt das beobachtete und experimentell erforschte Phänomen der sinkenden Hilfsbereitschaft eines Individuums, ausgelöst durch die Anwesenheit weiterer Personen, obwohl – oder gerade weil – diese Personen dem (potentiellen) Opfer nicht helfen (Darley & Latané, 1970, S. 31f.). Das Phänomen wurde erstmalig durch die amerikanischen Sozialpsychologen Darley und Latané (1968) beschrieben und theoretisch erfasst. Seinen Ursprung fand der Effekt in einem Mordfall aus dem Jahr 1964: Hier wurden insgesamt 38 Personen Zeuginnen und Zeugen der Vergewaltigung und Ermordung einer Frau namens Kitty Genovese, wobei keine der anwesenden Personen ihr zur Hilfe eilte (Cook, 2014).3 Dieser Sachverhalt stellt sich retrospektiv als Initiator für etliche Experimente und Studien heraus, die bis heute nicht an Aktualität verloren haben. Vielmehr werden die Untersuchungen an aktuelle Entwicklungen angepasst und beschäftigen sich beispielweise mit der Übertragbarkeit des Bystander-Effekts auf das Hilfeverhalten in den Kontext sozialer Medien (You & Lee, 2019; Machackova, Dedkova & Mezulanikova, 2015). Entsprechende Studien legen nahe, dass der Effekt bspw. im Zusammenhang mit Cybermobbing auftreten und insbesondere durch die Anonymität der Individuen verstärkt werden kann (You & Lee, 2019).

Gemäß des Bystander-Effekts wirkt sich also ein situativer Faktor, in Form der Anwesenheit anderer Personen, auf prosoziales Verhalten aus. Verschiedene Begründungen hierfür liefert insbesondere das fünfstufige Prozessmodell von Darley und Latané (1968), welches diverse psychologische Prozesse beschreibt, die prosoziales Agieren beeinflussen. Als eine primäre Voraussetzung für Hilfeverhalten wird dabei die Wahrnehmung des potentiell schädigenden Ereignisses formuliert. Die Notsituation muss folglich kognitiv bemerkt werden (Darley & Latané, 1970). Als eine weitere Prämisse gilt die realitätsgetreue Interpretation der Situation, also das tatsächliche Verstehen der Notlage. Kommt es an dieser Stelle bereits zu Missverständnissen, besteht durch die Anwesenheit mehrerer Personen die Gefahr des Eintritts einer sog. pluralistischen Ignoranz (Frey, Greitemeyer, Fischer & Niesta, 2005, S. 181f.). Hier orientiert sich das (nicht helfende) Individuum am (nicht helfenden) Verhalten der ebenfalls gegenwärtigen Personen. Aus Sicht des „Bystanders“ scheinen die ebenfalls anwesenden Personen die vorliegende Situation nicht als Notsituation wahrzunehmen, woraus der „Bystander“ ableitet, dass es sich objektiv um keine Notsituation handeln dürfte – anderenfalls würde dieser ein Einschreiten der umstehenden Personen erwarten.

Überträgt man diese Erkenntnis exemplarisch auf den anfangs angeführten Sachverhalt würde dies bedeuten, dass die sich gleichzeitig (oder kurz nacheinander) in dem Fahrstuhl befindlichen Personen nicht auf den bewusstlosen Mann reagiert haben könnten, weil sie sich jeweils am Verhalten der anderen Personen orientierten, die ebenfalls keine Hilfereaktion zeigten. Dieses antisoziale (i.S.d. Gegenteils zu „prosozial“) Verhalten könnte aus einer falschen Bewertung der eigentlichen Notsituation resultieren, welcher sich der „Bystander“ ggf. unbewusst anschließt. Konkret könnten die nichthelfenden Personen fälschlicherweise davon ausgegangen sein, dass es sich bspw. um einen schlafenden Obdachlosen handele.

In diesem Zusammenhang greift auch das Konzept der Verantwortungsdiffusion. Nach dem hier in Rede stehenden Modell muss sich ein Individuum zunächst verantwortlich fühlen (Siegal, 1972, S. 226f. ). Der Grad der Verantwortung scheint sich bei gleicher (non-existenter) Beziehung zum Opfer jedoch unter den Anwesenden aufzuteilen (Fischer et al., 2011, S. 517ff.). Das bedeutet, dass mit steigender Anzahl der anwesenden Personen die subjektiv empfundene Verantwortung für das Individuum folglich sinkt.

Weiterhin wird die persönliche Kompetenz hinterfragt. Der „Bystander“ bewertet subjektiv, inwiefern er sich in der Lage sieht, Hilfe zu leisten. Hierbei kann die Befürchtung negativer Beurteilungen durch andere anwesende Personen die Hilfereaktion beeinflussen, was als Bewertungsangst bezeichnet wird (Frey et al., 2005, S. 181f.). Diese Bewertungsangst ist insbesondere dann ausgeprägt, wenn die eigene Fähigkeit zu einer adäquaten Reaktion angezweifelt wird (Latané & Nida, 1981, S. 308ff.). Im Kontext des Beispielsachverhalts könnte sich die Bewertungsangst beispielsweise in Zurückhaltung aufgrund mangelnder Kenntnisse bezüglich medizinischer erster Hilfe wiederfinden.

Eine bewusste Entscheidung für oder gegen die Hilfeleistung kann erst dann stattfinden, wenn die gennannten Stufen durchlaufen worden sind, ohne dabei durch die psychologischen Prozesse der pluralistischen Ignoranz, der Verantwortungsdiffusion und der Bewertungsangst beeinflusst bzw. durchbrochen worden zu sein. Bei dieser letzten Stufe des Prozessmodells kommt es folglich zu einem Vergleich von Kosten und Nutzen der Hilfeleistung (Frey et al., 2005, S. 180). Die Hypothese des Bystander-Effekts legt die Vermutung nahe, dass sich primär die situativen Begebenheiten auf prosoziales Verhalten auszuwirken scheinen. Betrachtet werden müssen jedoch auch personenbezogene Faktoren. Diesbezüglich bringt die im Folgenden dargestellte Empathie-Altruismus-Hypothese einen Erklärungsansatz hervor.

3.2 Empathie-Altruismus-Hypothese

Die Empathie-Altruismus-Hypothese fokussiert die empathischen Beweggründe prosozialen Verhaltens. Batson et al. (1981) stellten fest, dass das Empfinden von Empathie sich insofern auf Hilfeverhalten auswirken kann, als dass manche Personen persönliche, potentiell negative soziale Konsequenzen ihres Hilfeverhaltens in Kauf nehmen, um anderen Personen zu helfen (Batson, Duncan, Ackermann, Buckley & Birch, 1981, S. 209ff.; Batson et al., 1991, S. 413ff.). Dieses, zunächst vollkommen altruistisch anmutende, Verhalten wird im Rahmen der hier in Rede stehenden Hypothese mit dem Empfinden von hoher Empathie begründet: Laut der Empathie-Altruismus-Hypothese führt die Perzeption empathischer Sorge zu einem Hilfeverhalten aus selbstlosen Gründen (Batson, 1991). Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch nicht, dass ekpathische (i.S.d. Gegenteils zu „empathisch“) Menschen grundsätzlich kein prosoziales Verhalten offerieren. Hier kehrt sich jedoch die Motivlage um: Prosoziales Agieren wird zur Reduktion des persönlichen – durch die potenziell negativen sozialen Konsequenzen ausgelösten – Unbehagens realisiert und entspringt somit egoistischen Bestrebungen (Batson, van Langem, Ahmad & Lishner, 2003, S. 285ff.). Daraus resultiert auch, dass sich nicht-empathische Individuen bei Vorhandensein einer Fluchtmöglichkeit eher der Situation entziehen würden, da sie auch so jene negativen Konsequenzen umgehen, die es für sie zu vermeiden gilt (Batson, 1991). Somit kann das Empfinden von Empathie als ein personeller Einflussfaktor prosozialen Verhaltens gewertet werden.

Bezogen auf das angeführte Beispiel würde dies bedeuten, dass eine Person, die Empathie für das Opfer im Fahrstuhl empfindet, eher zur Hilfeleistung geneigt sein könnte – während sich eine nicht-empathische Person bei für sie günstiger Gelegenheit der Situation entziehen würde, indem sie beispielsweise den Fahrstuhl schnellstmöglich verlässt. Sollte sich die nicht-empathische Person trotzdem für die Hilfeleistung entscheiden, dann einzig aus dem egoistischen Motiv heraus, negative soziale Konsequenzen zu vermeiden. An dieser Stelle muss jedoch erwähnt werden, dass insbesondere das Handeln aus exklusiv altruistischen Gründen, der sog. genuine Altruismus, regelmäßig kritisch erörtert wird (Batson, 1991; Fetchenhauer & Bierhoff, 2004; Fischer et al., 2011). Es könnte auch zunächst altruistisch anmutendes Verhalten aus ursprünglich egoistischen Grundmotiven resultieren, wie beispielsweise auf Grundlage der Erwartung einer zukünftigen Gegenleistung, sodass Reziprozität gewahrt werden würde (Trivers, 1971, S. 39.; Trivers, 2006, S. 68ff.). Prinzipiell egoistische Motive im reziproken Sinne hinter altruistischen Verhaltensweisen zu unterstellen, scheint jedoch allein aufgrund des Vorkommens prosozialen Verhaltens gegenüber fremden Personen in einmaligen Situationen inadäquat (Diekmann, 2009). Aufgrund der diversen Forschungsergebnisse und Theorienvielfalt ist davon auszugehen, dass die strikte, theoretische Differenzierung altruistischer und egoistischer Motive im Zusammenhang mit prosozialem Verhalten nur bedingt auf praktische Sachverhalte zu übertragen ist und demnach egoistische und altruistische Motivationen simultan auftreten können.

Resümieren lässt sich an dieser Stelle, dass das Empfinden von Empathie in hilfewürdigen Situationen nicht nur die Motive hinter einer eventuellen Hilfeleistung bestimmen kann, sondern auch die prosoziale Reaktion an sich beeinflusst.

3.3 Theorien des sozialen Austauschs

Bereits im Rahmen der Empathie-Altruismus-Hypothese wurde das Konzept der Reziprozität eingeführt, bzw. reziproke Denkmuster hinter altruistischen Verhaltensweisen in Betracht gezogen. Die Theorien des sozialen Austauschs (auch: Exchange Theories oder Austauschtheorien) knüpfen ebenfalls an das System der Gegenseitigkeit an. In diesem Kapitel soll die Theorie des sozialen Austauschs nach Thibaut und Kelley (1959) vorgestellt und ihr Beitrag zur Erklärung prosozialen Verhaltens herausgearbeitet sowie exemplarisch angewandt werden.

Die hier in Rede stehende Theorie des sozialen Austauschs besagt, dass prosoziale Verhaltensweisen durch die Erwartungshaltung hervorgerufen werden, selbst positiv von diesen profitieren zu können. Dabei stellt die helfende Person in ökonomischer-rationaler Weise die zu erwartenden persönlichen Vorteile in den Vordergrund ihres Hilfeverhaltens, indem sie eine Form der Kosten-Nutzen-Analyse durchführt (Thibaut & Kelley, 1986). Als Kosten können dabei die Hilfeleistung und die damit verbundenen Anstrengungen, als Nutzen die erwarteten positiven, persönlichen Konsequenzen interpretiert werden. Diese Konsequenzen sollten in ihrer subjektiven Wertigkeit mit dem Aufwand des Hilfeverhaltens übereinstimmen, da nur so die Stabilität der zwischenmenschlichen Beziehung gewährleistet werden kann (Thibaut & Kelley, 1986, S. 64ff.). Der genannte persönliche Nutzen bezieht sich dabei auf individuelle und subjektive Äquivalente. Es kann sich bspw. um materielle Güter, um positiv erlebte Gefühle oder um die soziale Anerkennung – aufgrund des prosozialen Agierens – handeln (Barkow, Cosmides & Tooby, 1992). Auch der ursprüngliche Gemütszustand kann an dieser Stelle Einfluss nehmen: Nach der Negative-State-Relief-Hypothese steigt die Wahrscheinlichkeit einer Hilfeleistung, wenn dadurch die Verbesserung der eigenen Stimmung zu erwarten ist (Schaller & Cialdini, 1988). Bezüglich des eingangs angeführten Beispiels könnte sich die Theorie des sozialen Austauschs in der Beziehung zwischen den individuell definierten Kosten – wie bspw. Zeit- oder Kraftaufwand für eventuell einzuleitende Hilfemaßnahmen – und dem errechneten, daraus resultierenden persönlichen Nutzen realisieren. Obwohl die Bemessung eines persönlichen Nutzens im Kontext der Rettung eines Menschenlebens befremdlich wirken kann, könnte es für die Bewertung u.a. eine Rolle spielen, ob es sich bei der hilflosen Person um eine solche handelt, von welcher bspw. materieller Dank zu erwarten ist. Als weiterer Nutzen könnte auch das, durch die soziale Anerkennung anderer anwesenden Personen ausgelöste, positive Selbstwertgefühl empfunden werden.

Die Variabilität der individuellen Interpretationen eigener Kosten und persönlichem Nutzen verdeutlicht, dass die Theorie des sozialen Austauschs vielfältige Einflussfaktoren auf prosoziales Verhalten hervorzubringen vermag. Diese und viele weitere Einflussfaktoren können auch unabhängig von sozialtheoretischen Hypothesen existieren, simultan auftreten oder sich widersprechen. Gemein scheint ihnen jedoch, dass ihre nachträgliche Determination, eben aufgrund ihrer Individualität und Diversität, insbesondere im Kontext realer Situationen, Limitationen unterliegt. Zusätzlich werden weiterhin, bislang unbekannte Einflussfaktoren erforscht: So eruiert eine aktuelle Studie bspw. den Einfluss der Außentemperatur auf Hilfeverhalten – und erkennt Korrelationen (Ayari, 2018; Belkin & Kouchaki, 2017). Mittels der genannten und weiterer existierender Theorien und Hypothesen, Forschungen und Experimente sowie der daraus resultierenden Entwicklung weiterer theoretischer Konstrukte, kann die Sozialpsychologie letztlich in herausragender Weise zum Verständnis prosozialen Verhaltens beitragen.

[...]


1 Strafrechtliche Ermittlungen wegen unterlassener Hilfeleistung gemäß § 323c Strafgesetzbuch wurden nach Bekanntwerden des Sachverhalts initiiert, weisen für diese sozialpsychologische Ausarbeitung jedoch keine Relevanz auf (Zeit Online, 2015, o.S.).

2 Im Rahmen dieser Ausarbeitung werden die Begrifflichkeiten „prosoziales Verhalten“ und „Hilfeverhalten“ synonym genutzt.

3 Auf eine kritische Reflexion des tatsächlichen Tathergangs wird an dieser Stelle verzichtet (vgl. Rosenthal, 2015; Manning et al. 2007, S. 555-562).

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Potenzielle Einflussfaktoren auf prosoziales Verhalten
Untertitel
Ein Resümee ausgewählter sozialpsychologischer Theorien
Hochschule
Hamburger Fern-Hochschule
Note
1,3
Autor
Jahr
2021
Seiten
13
Katalognummer
V1141827
ISBN (eBook)
9783346517210
ISBN (Buch)
9783346517227
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Prosoziales Verhalten, Hilfsbereitschaft, Sozialpsychologie, Bystander, Bystander-Effekt, Empathie, Altruismus, Empathie-Altruismus-Hypothese, Sozial, sozialer Austausch, Theorie des sozialen Austauschs
Arbeit zitieren
Anna Frieda Brockmann (Autor:in), 2021, Potenzielle Einflussfaktoren auf prosoziales Verhalten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1141827

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Potenzielle Einflussfaktoren auf prosoziales Verhalten



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden