Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
A. Poes "tales of ratiocination" als Paradigma analytischen Erzählens
B. Die Trichotomie der literarischen Konstruktion
I. Handlungskonstruktion
1. Handlungssubstanz und Handlungsverlauf
2. Betrachterfigur, Mittlerfigur und Gegenfigur
II. Narrative Modellierung
1. Ereigniszusammenhang vs. Erzählzusammenhang
2. Chronologie, Erzähltes und Erzählvorgang
III. Die Kommunikation zwischen Autor und Leser
1. Verrätselung und Enträtselung
2. Das problematische Dénouement
IV. Poetologische und kompositionelle Besonderheiten
C. Dupins analytische Methode
I. "Ratiocination", Abduktion und der "Calculus of Probabilities"
II. Detektion als exakte Wissenschaft
D. Authentischer und fiktiver Mord: Mary Rogers und Marie Roget
Literaturverzeichnis
A. Poes "tales of ratiocination" als Paradigma analytischen Erzählens
Obgleich allgemein anerkannt als Pionier der Detektivgeschichte, hat Poe in seinen "tales of ratiocination" trotz gattungskonstitutiver Merkmale, die in die Tradition des Genres eingegangen sind,[1] spezifische Varianten der detective story kreiert. "The Mystery of Marie Rogêt" entspricht nur partiell dem Typus der klassischen Detektivgeschichte, repräsentiert aber gleichwohl ein Paradigma analytischen Erzählens, wobei signifikante Unterschiede gegenüber den beiden anderen Dupin-Geschichten evident sind. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Elemente analytischen Erzählens gemäß Webers Theorie in dieser Geschichte zu eruieren und ihre Funktion zu bestimmen. Ergänzend werden die Taxonomien von Alewyn und Neuhaus herangezogen, um der Spezifik der detective story als eines möglichen Falls analytischen Erzählens gerecht zu werden. Dabei wird sich zeigen, dass der facettenreiche Begriff "analytisch" bei Poe insofern eine über Webers Definition hinausgehende Bedeutung besitzt, als er nicht nur die Erzähltechnik, sondern auch die von Dupin eingesetzte detektivische Methode bezeichnet und neben einer psychologischen auch eine semiotische Dimension aufweist.
Nicht nur unter dem letzten Aspekt wird scharf zwischen Dupin als fiktiver Figur, dem Erzähler als Figur und als Vermittlungsinstanz und schließlich Poe als Autor nicht bloß der Geschichte, sondern des kriminologischen Rätsels und seiner Lösung zu differenzieren sein:"Der Gefahr der Verwechslung von Poe und Dupin haben viele Kritiker nicht widerstanden."[2] Hinzu kommt, dass in diesem Text - anders als in der ersten und der dritten Dupin-Geschichte - ein authentischer Mordfall fiktionalisiert wird; aufschlussreich ist dabei, welche Distanz Poe zum historisch dokumentierten Mord gewinnt, insbesondere indem er mehr die analytisches Talent exemplifizierende theoretisch-modellhafte Auflösung als die konkrete Ergreifung des Täters und die Erhellung seiner Motive akzentuiert. Das manifestiert sich im Handlungsverlauf, in Poes Umarbeitung des Textes, in Erzählerkommentaren zu Beginn und am Schluss und vor allem im Dénouement.
B. Die Trichotomie der literarischen Konstruktion
In einer ersten theoriegeleiteten Annäherung an die Spezifik analytischen Erzählens in "The Mystery of Marie Rogêt" werden die von Weber definierten Ebenen der Handlungs-, Darstellungs- und Mitteilungskonstruktion analysiert, wobei es, wie generell im Gedankengang dieser Arbeit, nicht um Vollständigkeit, sondern um die Herausarbeitung gerade der unkonventionellen und für Poe charakteristischen Elemente geht:"Poe was interested in the gap between fact and conclusion. Almost any simpleton, he held, could master a physical environment."[3]
I. Handlungskonstruktion
1. Handlungssubstanz und Handlungsverlauf
Ganz im Sinne von Webers Ansatz erzählt ein namenlos bleibender Erzähler in der Ich-Form die Geschichte des Mordfalls an einer Pariser Grisette. Dabei ist die Rolle des Erfahrungssubjekts auf ihn selbst, auf Dupin als semiprofessionellen Detektiv und auf die Polizei, repräsentiert vom Präfekten G-, verteilt. Als Erfahrungsobjekt fungiert zunächst die Ermordete selbst, des weiteren aber auch der Nexus von Begebenheiten, der zu ihrem Tod geführt hat, was den zunächst nur als hypothetische Größe vorhandenen Täter einschließt. Der Plot weist zwar alle fünf Momente des Handlungsverlaufes bei Weber auf, allerdings bleibt das Klärungsmoment vage. Besteht das Wahrnehmungs- und Unbestimmtheitsmoment im Referat des Präfekten G- über die polizeilichen Ermittlungen und ihre Ergebnislosigkeit und in der Lektüre der Zeitungsberichte, so äußert sich das Reflexmoment als Bewusstsein der Komplexität des Problems in Dupins Feststellung:
This is an ordinary, although an atrocious, instance of crime. There is nothing peculiarly outre about it. You will observe that, for this reason, the mystery has been considered easy, when, for this reason, it should have been considered difficult, of solution. (S. 180)[4]
Besonders evident ist das analytische Moment, weil das Gros des Textes in einer minuziösen Schilderung des Abduktions- und Kombinationsprozesses besteht, den Dupin demonstriert. Die Sammlung von Material, das Aufstellen von Hypothesen, deren Falsifizierung oder Plausibilisierung und die daraus gezogenen Schlüsse - all dies ist hierunter zu subsumieren. Während dieser Aufklärungsbemühungen sehen sich Dupin und der Erzähler primär mit zwei Hindernissen konfrontiert, die gemeinsam das Widerstandsmoment ausmachen: die Identität der Leiche, die es zu sichern gilt, und der von der Presse kolportierte Verdacht, eine Verbrecherbande habe Marie auf dem Gewissen, der unterminiert wird, sobald sich die Sachen im Gebüsch am Barrière du Roule als red herring erweisen. Auch die anderen Spekulationen der Presse verstellen den Blick auf die Wahrheit und müssen deshalb relativiert bzw. widerlegt werden. Es ist das Klärungsmoment, das nur partiell auftritt, insofern Dupin zwar zum Schluss eine Art Lösung präsentiert, dabei jedoch weder den konkreten Täter benennt noch zeigt, wie man ihn über einen Indizienbeweis hinaus definitiv überführen kann. Der Detektiv löst hier weniger einen Fall als ein ihn als moralisch wenig engagierten, bisweilen monomanisch erscheinenden Intellektuellen interessierendes Denkproblem, mit dem er sich lediglich um der Kurzweil willen beschäftigt. Dabei ist die Methode wichtiger als die praktische Lösung, ein Merkmal, das Dupin in die Nähe des Wissenschaftlers, besonders des Mathematikers, rückt.[5]
Insgesamt ist die Geschichte als handlungsarm zu bezeichnen, insofern nicht mehr passiert, als dass der Präfekt den Erzähler und Dupin zu Beginn besucht und der Erzähler die relevante Presse zusammenstellt und die Stichhaltigkeit der Zeugenaussagen überprüft, was einen Besuch der Präfektur erfordert. Dupin selbst ist hier ein armchair detective, der allein kraft seines analytischen Verstandes den Fall 'löst', ohne außerhalb seines Domizils zu recherchieren; zweifellos werden seine extraordinären Fähigkeiten dadurch noch mehr in den Vordergrund gestellt:"The centre of interest is Dupin's brilliant analytical reasoning, and other men or women who appear in the tales serve merely to create the problems he is to solve."[6]
2. Betrachterfigur, Mittlerfigur und Gegenfigur
Dass Weber diese Termini heuristisch und nicht individualontologisch meint,[7] passt zum Personal des Textes, da etwa die Rolle Betrachterfigur auf Dupin und den Erzähler verteilt ist, wenngleich der letztere in Bezug auf den Detektiv und seine Aufklärung nicht mehr als ein assistierender Komparse ist, wie es der "Watson"-Technik entspricht. Dupin kann ferner als Mittlerfigur bezeichnet werden, denn er ist sowohl wesentlich am Klärungsprozess beteiligt, als auch -wenn auch in geringerem Maße als in "The Murders in the Rue Morgue" -Objekt der Erforschung seitens des Erzählers, der seinen Freund nach seinen Ansichten über diverse Spekulationen in der Presse fragt und über die ihm von Dupin vorgelegten Zeitungsexzerpte sagt:
Upon reading these various extracts, they not only seemed to me irrelevant, but I could perceive no mode in which any one of them could be brought to bear upon the matter in hand. I waited for some explanation from Dupin. (S. 193)
Als Gegenfigur fungiert zunächst der Täter, der sich als Marineoffizier entpuppt; darüber hinaus fällt auch das Opfer in diese Kategorie, denn Maries zweifaches Verschwinden ist genauso erklärungsbedürftig wie das Delikt und das Motiv des Täters. Zunächst wird ihre Biographie ausgeleuchtet, bevor der Mörder zumindest theoretisch benannt werden kann, was den einfachen Grund hat, dass die beiden eine Affäre hatten und gemeinsame Pläne schmiedeten. Allgemein weist die Figurenkonstellation die von Neuhaus beschriebene "2 + 1 + 3 "-Konfiguration auf, da ein peripherer Ich-Erzähler, C. Auguste Dupin als Detektiv und Prefect G als Repräsentant der Polizei figurieren.[8] Damit fällt die Geschichte in seiner Typologie in Segment 7, während sie nach Weber als komplexe analytische Erzählung klassiert, da es sich um die Geschichte der Erfahrung der Geschichte der dualen Gegenfigur, des Opfers wie des Täters, handelt, die von Dupin auf der Handlungsebene wie vom Erzähler auf der Ebene des Erzählvorgangs zum Gegenstand des analytischen Prozesses gemacht wird.
Auffallend sind die Charakteristika des Detektivs, die genrebestimmend werden sollten. Als ingeniöser und exzentrischer Außenseiter, dessen Kombinationen der anonym bleibende und damit weiter marginalisierte Erzähler nur mit Mühe zu folgen vermag, bietet er eine letzte Option für die hilflose Polizei. In nachgerade rationalistischer Manier führt Poe vor, wie sein Detektiv allein dank seines analytischen Verstandes zu einer Lösung kommt. Indem die Geschichte im Untertitel als "A Sequel to 'The Murders in the Rue Morgue'" ausgewiesen wird, wird die Rezeption zusätzlich in diese Richtung gesteuert, denn in jener ersten Dupin-Geschichte war der Detektiv explizit charakterisiert worden:
[...]! could not help remarking and admiring (although from his rich ideality I had been prepared to expect it) a peculiar analytic ability in Dupin. He seemed, too, to take an eager delight in its exercise - if not exactly in its display - and did not hesitate to confess the pleasure thus derived [. . . ] His manner at these moments was frigid and abstract; his eyes were vacant in expression [. . . ] I often dwelt meditatively upon the old philosophy of the Bi-Part Soul, and amused myself with the fancy of a double Dupin -the creative and the resolvent. (S. 144)
Hier lassen sich Züge eines schizophrenen Monomanen ausmachen, auch wenn Dupin das
natürlich nicht ist. Es geht vielmehr darum, die sprichwörtlich schmale Grenze zwischen Genie und Wahnsinn und außerdem "Dupin's physical and mental separateness"[9] zu illustrieren, wie es später auch Doyle in der Figur des Sherlock Holmes getan hat.
[...]
[1] Cf. Binyon: Murder, S. 5:"In the stories in which Dupin plays a part [. . . ] Poe adumbrates many of the themes and devices of later writers."
[2] Weissberg: Poe, S. 100.
[3] Panek: Introduction, S. 25.
[4] Alle Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf: The Collected Tales and Poems of Edgar Allan Poe.
[5] Die Affinität zur Wissenschaft im Blick auf den Verfasser expliziert Möbius: Poes detektivische Methode, S. 179:"Klare methodische Regeln und Selbstreflexion, Aufmerksamkeit für das Unscheinbare und induktives Schließen sinfd Orientierungen, die Poes Denken als Vorstufe einer entwickelteren Methodologie des Positivismus ausweisen [...]." Ob dies für Poe zutrifft, sei dahingestellt; in jedem Falle gilt es für Dupins Herangehensweise.
[6] Murch: Development, S.72.
[7] Cf. Weber: Theorie, S. 25.
[8] Cf. Neuhaus: Mysterion, S. 32f.
[9] Engel: Truth, S. 85.