Quo Vadis, Theatrum? Das Theater in Pandemiezeiten


Essay, 2021

13 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Die erzwungene Digitalisierung?

Auf zu neuen Räumen (und Publika?)

Werther.live als Beispiel für gelungenes Netztheater

Gewollte Integration und Partizipation des Publikums

Literaturverzeichnis

Die erzwungene Digitalisierung?

Während fast alle Bereiche des alltäglichen Lebens um des weiteren Überlebens willen gezwungen waren, neue Wege der gesellschaftlichen Interaktion zu finden und zu betreten, etwa der Bildungssektor, so galt dies gleichermaßen auch für die Schauspielhäuser. Zwar ist die Beschäftigung mit der digitalen Revolution auch in der Theaterbranche nicht unmittelbar aus der Not des CoVid-19-Lockdowns heraus geboren worden, denn auch zuvor gab es bereits eine Beschäftigung mit der Verschränkung von offline- und online-Theater1, dennoch war nach Ausrufen des Lockdowns wohl unbestritten, dass auch für das Theater bis auf Weiteres der Weg nicht in die örtlichen Proberäume und auf die Theaterbühnen führen würde, sondern – pandemiebedingt – kurz- und mittelfristig neue Räume der darstellenden Kunst erschlossen werden müssten. „Ich denke an ein Theater ohne Theater“, sagte ein Dramaturg des Wiener Burgtheaters kurz nach der Postulation des ersten Lockdowns, wenig später begann man unter dem Internet-Hashtag #vorstellungsänderung hunderte Menschen digital vor den Bildschirmen zu vereinen, mit dem Ziel, dass ein jeder von einer Vorstellung berichten sollte, die nur in den Köpfen der Menschen stattfindet. Gemeinsames Spiel, gemeinsame Imagination und Kreation.2 Dies sollte zwar ein einmaliges Projekt gewesen sein, zweifelsohne in der Not der Stunde geboren, gleichwohl legte es das Fundament für vielerlei Fragen, wie sie im Fortlauf der Pandemie in der künstlerischen Branche noch häufig gefragt werden würden. Fragen, inwieweit sich etwa theatrale Formen ganz digital und ohne klassisches Theatersetting verwirklichen lassen könnten – Fragen auch bezüglich des Raumes, der Rollen und des Publikums.

Dass der fast schon gezwungene Schritt hin zur digitalen Innovation vielen Theaterhäusern (immer noch) schwerfällt, mitunter vielleicht auch aus einer alteingesessenen, konservativen Tradition schlicht missfällt, zeigen die vereinzelten Versuche, der Pandemie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu trotzen und die für das Theater so überlebenswichtige Währung – das Publikum – zurück in die Theatersäle zu locken unter gleichzeitiger Versicherung maximaler Hygiene3. Doch auch diese „große Vernebelung“, wie die Süddeutsche Zeitung die Versuche, Theaterhäuser mittels Wasserstoffperoxid-Bedampfung Corona-frei zu machen, betitelt, kann letzten Endes die Theater des Landes nicht davor bewahren, sich kurz- und mittelfristig auf unbekanntes Terrain, „Neuland“ nach Angela Merkel4, zu begeben und dort ihre eigenen Grenzen in neuen, endlos wirkenden, digitalen Räumen neuauszuloten. Die Etablierung des Netztheaters hat durch den Lockdown somit einen enormen Aufschwung erhalten – eine Chance also für den kulturellen Spielbetrieb, die Pandemie möglicherweise halbwegs unbeschadet zu bestehen und möglicherweise auch darüber hinaus neue, innovative Wege der Darstellung zu beschreiten, sofern diese Chance denn auch zielführend und gewinnbringend genutzt wird. Unbestritten ist jedoch, dass mit dieser Chance allerdings auch zugleich eine ganze Palette an Herausforderungen aufwarten, die es zu bewältigen gilt.

Auf zu neuen Räumen (und Publika?)

Bei all den Überlegungen bezüglich jener Neuauslotung der eigenen Grenzen des Theaters drängt sich natürlich die Frage nach der technischen, produktionsästhetischen wie auch rezeptorischen Umsetzung auf. Allein auf technischer Ebene stellen sich dem Netztheater ganz neue Herausforderungen und Fragestellungen, etwa wie man eine Theateraufführung möglichst ohne zeitlichen Versatz einem lediglich online vor den Bildschirmen anwesendem Publikum präsentieren kann („Liveness“), oder ob mangels (und oft politisch moniertem) flächendeckendem Breitbandausbaus auch in den entlegenen, ländlichen Gebieten eine schnelle und stabile Übertragung überhaupt gewährleistet sein würde. Auf produktionsästhetischer und rezeptorischer Seite gilt es unterdessen herauszufinden, wie etwa die traditionelle Wirkung des Theaters mit Darstellenden und Zuschauenden im ehemals gemeinsam geteilten, physischen Raum trotz nun nicht mehr geteilter, physischer Räume möglichst aufrechterhalten werden kann, um am Ende nicht mit einer (aufgezeichneten) Fernsehsendung gleichgesetzt oder verwechselt zu werden. Welche digitalen Plattformen sollten also im Netztheater Verwendung finden? Lässt man die Schauspieler im leeren Theatersaal auf der Bühne vor einer aufgestellten Kamera spielen, welche dann das Geschehen live in die Weiten und Tiefen des Netzes übertragen würde und das Publikum zum passiven Betrachter werden lässt, welcher jederzeit die Übertragung pausieren, oder mit einem Mausklick komplett abschalten könnte? Kurz gesagt: die Rezeptionssituation ändert sich beim Netztheater grundlegend und damit kommt auch dem Publikum eine tragende Rolle zu, denn dieses muss (unter anderem durch den Wegfall des gemeinsam geteilten Raumes im Offline-Theater) im Netztheater nun wieder das Gefühl vermittelt bekommen, trotz der räumlichen Distanz dennoch teilzuhaben im nunmehr digital geteilten Raum.

Eine solche Möglichkeit der Teilhabe sieht Judith Ackermann (Forschungsprofessorin für digitale und vernetzte Medien an der Fachhochschule Potsdam) in der Entwicklung interaktiver Theaterformate. Im klassischen, digitalen Theater-Livestream besitzt der Zuschauer jedoch keine unmittelbare Möglichkeit zur Interaktion, sondern muss sich stattdessen strikt auf das passive Zuschauen konzentrieren, was nach Ackermann in der multimodalen und multikodalen digitalen Welt von heute nicht (mehr) gut funktioniere: „Wir sind anders konditioniert in unserem Digitalverhalten, man wird also anfangen, gleichzeitig noch etwas anderes zu machen, und den Anschluss verlieren an den Stream. Das produziert Frust.“5 Die Frage nach der aktiven Beteiligung der Zuschauer bzw. die gemeinschaftliche „Produktion eines künstlerischen Ereignisses“6 ist unterdessen zwar kein Novum (in den zurückliegenden rund 30 Jahren sind vermehrt freiere Theaterformate entstanden, die auf die Integration der Zuschauer/innen und deren aktive Mitgestaltung der Aufführung abzielen7 ), dennoch stellt sie, insbesondere aufgrund der konstant fortschreitenden Digitalisierung, „eine der zentralen Fragen der Gegenwartskunst und des -theaters [dar]“8. Die globale, digitale Evolution hat somit also nicht nur das gesellschaftliche Miteinander wie auch die individuelle Wahrnehmung in großem Maße verändert, auch die Kunst ist von diesen Veränderungen selbstverständlich nicht verschont geblieben. Dies zeigt sich insbesondere am Verhältnis zwischen KünstlerIn und dem Publikum, welchem man im Gegenwartstheater nun vermehrt ein hohes Maß an Engagement, Beteiligung und Verantwortung zuschreibt und nach einem durch den Journalisten Jay Rosen geprägten Terminus gar von „ People Formerly Known as the Audience “ – also den Leuten, die früher als Publikum bekannt waren, spricht.9 Engagement, Beteiligung und Interaktion sind Aspekte, die für die jüngeren Generationen, welche bereits in einer durch Digitalisierung und Internet vernetzten Welt aufgewachsen sind (den sogenannten „Digital Natives“), auch im Theater selbstverständlich und erwartbar sind. Netztheater zielt damit nicht nur auf den Einsatz digitaler Hilfsmittel ab, um alten Wein in neuen Schläuchen zu vermarkten, vielmehr bezeichnet es eine „[…] Kunstform, die die fortschreitende Digitalisierung als Chance nutzt, um neue Formen der Teilhabe zu erproben […] [und] um neue Narrative und Dramaturgien, um neue Arten der Gemeinschaft [zu etablieren]“10.

Das Publikum hat somit im digitalen Theater eine nicht zu unterschätzende Einschlagskraft. Dies unterstreicht auch Cornelius Puschke (Dramaturg, Dozent und Autor in Berlin) und übt zugleich Kritik an einer teilweise starren Inflexibilität des traditionellen Theaters: „Im Theater erleben wir momentan eine Krise des Publikums und den Leerlauf der Apparate gleichzeitig. Statt den Blick für neue Verhältnisse der Kopräsenz zu öffnen, wird der alte Guckkasten gehegt und gepflegt, als müsste man ein einsturzgefährdetes Haus nur gründlich genug putzen, damit es nicht zusammenbricht.“11 Die mit der Pandemie einhergehenden, vielschichtigen Änderungen zwingen letztlich auch das Theater aus der traditionellen Erstarrung: „Es entsteht ein neues Dispositiv, ein anderes Display, das ein neues Theatererlebnis erzeugt, nicht vergleichbar mit dem alten.“12 Festzuhalten ist nun allerdings auch, dass es in diesem Dispositiv nicht DAS Publikum geben kann, sondern von vielen möglichen Publika die Rede sein muss. Viele verschiedene Publika, welche „sich in unterschiedlichen Situationen befinden, Medien unterschiedlich nutzen und verschiedene Bedürfnisse, Erwartungen und Motivationen haben.“13

Bei den weiter oben bereits angesprochenen „interaktiven Formen der Teilhabe“ im Netztheater ergeben sich eng damit verknüpft Fragestellungen, wie etwa auf welche Weise und an welchem Ort man ein Publikum teilhaben lassen kann, ohne es dabei zu überfordern, oder auch wie man den Schauspielenden das Gefühl vermittelt, dass sie trotz eines nicht physisch anwesenden Publikums mit eben diesem in Interaktion treten können. Letztendlich ist es eine gemeinsame Aufgabe, sowohl der Theater als auch der Rezipienten, den jeweiligen Raum neu auszuloten bzw. zu definieren, in welchem Theater stattfinden soll. Zieht man die Übersetzung des lateinischen Lexems <theatrum> mit hinzu, ergibt sich auf Deutsch unter anderem <Schauplatz>. Solche Schauplätze existieren bereits um uns herum, es hängt lediglich davon ab, diese Schauplätze mit einer für das Theater relevanten Bedeutung zu versehen, sie dafür nutzbar zu machen. Im Frühjahr 2020, als die erste Pandemiewelle über uns hereinbrach, erschufen beispielsweise Övül Ö. Durmusoglu und Joanna Warsza in Berlin Prenzlauer Berg eine Serie von Balkon-Performances und -Installationen („Die Balkone – Life, art, pandemic and proximity“)14. Die Balkone fungieren hier als Erweiterung des privaten Raumes nach außen in die Öffentlichkeit. Auf ähnliche Weise fungieren auch digitale Räume als Erweiterung des privaten Raumes nach außen. Es sind emanzipative Räume, von denen hier die Rede ist, nichtsdestotrotz aber dennoch wieder Orte der Begegnung, des Austauschs und der Versammlung. So gesehen, könnte man argumentieren, spielt es keine große Rolle mehr, ob wir uns im traditionellen Theaterraum versammeln, um einer Kunstdarbietung beizuwohnen, oder in einem jener „1000 neuen Theater“, von denen Cornelius Puschke spricht. Indem wir unsere kollektive Vorstellung darüber, was Theater ist, kann und darf überdenken und gegebenenfalls erweitern, können wir dem Theater durch die Pandemie verhelfen und sicherlich auch darüber hinaus das postdramatische Verständnis darüber beeinflussen und prägen. „Es ist die Aufgabe von Kulturpolitiker/innen und Intendant/innen, nun die dafür notwendigen Kapazitäten zur Verfügung zu stellen, damit Künstler/innen diese neuen «theatres» der Zukunft erfinden können. Nicht alles, was Theater ist, muss in den einen universellen Raum gepresst werden. Vielleicht braucht jedes Stück sein eigenes Theater, und es ist jetzt an der Zeit, diese zu erfinden.“15

Werther.live als Beispiel für gelungenes Netztheater

Die Leiden des Jungen Werther, geschrieben 1774 von Johann Wolfgang von Goethe, dient uns als Vorlage für „werther.live“. Wir haben das Stück für die virtuelle Gegenwart adaptiert und fusionieren Theater mit Social Media und Film: Ebay statt Tanzball, Skype statt Spaziergang im Wald. Lotte und Werther verlieben sich auf eBay Kleinanzeigen, und obwohl sie sich nie persönlich begegnet sind, bringt das Lottes langjährige Beziehung ins Wanken.

Wie verhandelt Werther im 21. Jahrhundert sein Leid, und seine Gedanken zum Freitod? Und wie gehen seine Freunde damit um, dass er ihnen immer mehr entgleitet?

Auf sehr eindringliche und intime Weise macht das Stück diese Themen erlebbar, indem man in Werthers und Willhelms virtuelles Handeln eintaucht.

https://werther-live.de/#home (28.01.21)

Mit diesen kurzen, aber prägnanten Sätzen wirbt das Produktionsteam von Werther.Live auf der eigenen Homepage für das gleichnamige Stück. Es handelt sich dabei nach der Aussage von Cosmea Spelleken, der Regisseurin, um ein reines „Corona-Projekt“, welches ebenso wie das weiter oben vorgestellte Projekt des Wiener Burgtheaters (#vorstellungsänderung) aus der Not des Lockdowns heraus entstand. Auch das Team um Werther.Live stand vor der wichtigen Frage, auf welche Weise und wo genau Theater inmitten geschlossener Theaterhäuser weiter fortgeführt werden sollte. Allerdings stand für das Produktionsteam von Anfang an fest, dass ein reines Abfilmen einer Bühnenproduktion und das anschließende Bereitstellen im Internet zum digitalen Abruf nicht dem Geist des Netztheaters entspräche, sondern vielmehr die ohnehin schon kritischen Stimmen befeuerte, welche der felsenfesten Überzeugung sind, ein „Theater im Netz [könne] Theater im Theater nicht ersetzen!“16

[...]


1 vgl. Heinrich-Böll-Stiftung (2020): Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen. S. 7, 29 & 36.

2 vgl. Aschenbrenner, Anne et al (2020): Vorstellungsänderung: Digitale Formate am Burgtheater während der Corona-Krise. In: Heinrich-Böll-Stiftung (2020): Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen. S. 13.

3 https://www.sueddeutsche.de/kultur/theater-corona-nebel-1.4964679 (20.01.21)

4 https://www.tagesspiegel.de/politik/die-kanzlerin-und-das-internet-merkels-neuland-wird-zur-lachnummer-im-netz/8375974.html (20.01.21)

5 Ackermann, Judith (2020): Auf zu neuen Publika! Zur Praxis des Zuschauens im Online-Theater. In: Heinrich-Böll-Stiftung (2020): Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen. S. 21.

6 Barca, Irina-Simona et. al. (2020): Das Theater der Digital Natives: Einübung in Szenarien des Widerstands und der Empathie. In: Heinrich-Böll-Stiftung (2020): Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen. S. 17.

7 vgl. ebd.

8 ebd.

9 vgl. ebd., S. 16.

10 vgl. ebd., S. 16.

11 Puschke, Cornelius (2020): „The Show Must Not Go On“. Ein Plädoyer für 1000 neue Theater. In: Heinrich-Böll-Stiftung (2020): Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen. S. 36.

12 ebd.

13 Hütter, Christiane (2020): Theater der Gegenwart: Strategiemaschine am Weltübergang. In: Heinrich-Böll-Stiftung (2020): Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen. S. 41.

14 https://www.udk-berlin.de/forschung/graduiertenschule/aktuelles-archiv/archiv/2020/die-balkone-life-art-pandemic-and-proximity/ (22.01.21)

15 Puschke, Cornelius (2020): „The Show Must Not Go On“. Ein Plädoyer für 1000 neue Theater. In: Heinrich-Böll-Stiftung (2020): Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen. S. 39.

16 vgl. Römer, Christian (2020): Live und auf Verlangen: Für ein Theater @home!. In: Heinrich-Böll-Stiftung (2020): Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen. S. 30.

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Quo Vadis, Theatrum? Das Theater in Pandemiezeiten
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Note
1,7
Autor
Jahr
2021
Seiten
13
Katalognummer
V1145802
ISBN (eBook)
9783346523341
ISBN (Buch)
9783346523358
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Theaterwissenschaften, Theater, Pandemie, Corona, Covid, Pandemiezeiten, Quo, Vadis, Theatrum, Digitales Theater, Digital, Online, Online-Theater
Arbeit zitieren
Jannik Streeb (Autor:in), 2021, Quo Vadis, Theatrum? Das Theater in Pandemiezeiten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1145802

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