Das Museum als Ort für den Geschichtsunterricht von Grundschülern. Reflexion über die Epoche des Mittelalters


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2012

71 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Ziel der Arbeit und persönliche Motivation
1.2 Methodisches Vorgehen

2 Zur Legitimation historischen Lernens in der Grundschule
2.1 Begriffsklärungen
2.2 Argumente gegen historisches Lernen in der Grundschule
2.2.1 Aspekt der Verfrühung
2.2.2 Vorstellungen von Geschichtsunterricht
2.2.2.1 Traditioneller Heimatunterricht
2.2.2.2 Chronologischer Geschichtsunterricht als Basis der Vorbehalte
2.2.3 Mehr Transparenz für Lehrkräfte
2.3 Argumente für historisches Lernen in der Grundschule
2.3.1 Veränderte Lebensbedingungen der Kinder
2.3.2 Neue Erkenntnisse der Psychologie
2.3.3 Allgegenwärtigkeit von Geschichtskultur
2.3.3.1 Begriffsklärung
2.3.3.2 Gefahren und Risiken
2.3.3.3 Chancen für den Unterricht
2.3.4 Förderung von Geschichtsbewusstsein
2.4 Zusammenfassung

3 Außerschulischer Lernort Museum
3.1 Historisches Lernen braucht die Öffnung der Schule
3.2 Das Museum als Ort historischen Lernens
3.3 Das Museum als notwendige Ergänzung zum Unterricht
3.3.1 Anschaulichkeit und Realbegegnung
3.3.2 Förderung der Motivation
3.3.3 Einschränkungen und Grenzen der musealen Darstellung

4 Das romantische Mittelalter
4.1 Gegenwartsbezug für Grundschulkinder
4.2 Fachwissenschaftliche Auseinandersetzung
4.2.1 Periodisierung und Epochenbegriff
4.2.2 Soziale Struktur und Lebensverhältnisse im Mittelalter
4.2.3 Die Kleidung der Menschen
4.2.4 Das Rittertum
4.2.5 Die Ernährung und der mittelalterliche Markt

5 Handlungsorientierte Verfahren für das historische Lernen im Museum
5.1 Das methodische Prinzip der Handlungsorientierung
5.1.1 Handlungsorientierung als allgemeinpädagogisches Prinzip
5.1.2 Handlungsorientierung als Prinzip historischen Lernens
5.2 Praktische Umsetzungsmöglichkeiten
5.2.1 Das Tragen von mittelalterlicher Kleidung
5.2.2 Das Nachkochen mittelalterlicher Speisen
5.2.3 Das mittelalterliche Turnier als Spielform
5.2.4 Das Marktgeschehen als inszenierter Spielraum

6 Zusammenfassung und Ausblick

7 Literaturverzeichnis

1.Einleitung

Das historische Lernen in der Grundschule spielt in der modernen Geschichtsdidaktik, im Vergleich mit dem Geschichtsunterricht der weiterführenden Schulen, eine eher untergeordnete Rolle. Dies wird mit der allgemeinen Annahme begründet, dass Kinder im Grundschulalter kognitiv noch nicht dazu bereit sind, sich mit historischen Sachverhalten auseinanderzusetzen. Die Kinder würden geschichtlichen Themen noch hilflos und überfordert gegenüberstehen. Dieser Irrtum lässt sich damit begründen, dass der Geschichtsunterricht, mit seinem chronologischen Abhandeln von festgeschriebenen Themen, dem historischen Lernen in der Grundschule gleichgesetzt wird. Anzeichen hierfür lassen sich in der Literatur und in den Lehrplänen finden. Der Wandel in der Geschichtsdidaktik, der ab Mitte der 1970er Jahre allmählich einsetzte, muss jedoch als Anlass genommen werden, diese Vorstellungen zu überdenken. In der Grundschule geht es folglich nicht um die rezeptive Vermittlung von wissenschaftlich fundiertem Wissen, sondern vielmehr um die Aneignung von historischen Denkweisen.

Grundschulkinder stehen der Geschichte keineswegs hilflos und desorientiert gegenüber, was die allgegenwärtige Geschichtskultur in der heutigen modernen Gesellschaft zweifellos zeigt. Die Kinder treten bereits vor dem Eintritt in die Grundschule mit den verschiedensten Produkten und Erzeugnissen der Geschichtskultur in Kontakt. Die Medienlandschaft mit ihren zahlreichen Angeboten, wie bspw. Fernsehen oder Internet, ist hier exemplarisch zu nennen. Aber auch die offensichtlichen Relikte der Vergangenheit, die sich bspw. in Form von alten Burgruinen zeigen, können stellvertretend genannt werden. Jedoch findet der Kontakt im Lebensumfeld der Kinder meist unbewusst und vor allem unreflektiert statt. Hierbei besteht die Gefahr, und dies gilt besonders für die Medien und manche Erzählungen in der Familie, dass sich falsche Wertvorstellungen und Denkweisen in den Köpfen der Kinder festsetzen. An dieser Stelle muss die Grundschule in korrektiver Form einschreiten und den Kindern helfen, richtig und bewusst mit der Vergangenheit umzugehen.

Die reformpädagogische Forderung zur Öffnung der Schule muss in Bezug auf das historische Lernen in der Grundschule als Aufforderung und Chance angesehen werden. Das Aufsuchen von außerschulischen Lernorten ist aufgrund der Eigenart des Fachs Geschichte von besonders großer Bedeutung für die Kinder. Das Museum stellt hierbei mit seinem direkten Objektbezug die Möglichkeit dar, die es zu nutzen gilt.

1.1 Ziel der Arbeit und persönliche Motivation

In der vorliegenden Arbeit soll anhand der geschichtlichen Epoche des Mittelalters aufgezeigt werden, dass ein handlungsorientierter Umgang mit unterschiedlichsten Relikten und Sachverhalten im Museum die Kinder dabei unterstützen kann, ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein aufzubauen. Dabei soll deutlich werden, dass der handelnde Umgang im Museum Kinder dazu befähigen kann, sich historische Denkweisen und Methoden anzueignen. Hierfür werden exemplarisch Möglichkeiten aufgezeigt. Es soll demzufolge verdeutlicht werden, dass historisches Lernen im schulischen Unterricht durch das Museum ergänzt werden muss, insbesondere im Hinblick auf den handelnden Umgang mit den historischen Objekten und Sachverhalten.

Die Wahl des Mittelalters als geschichtliche Epoche ist damit zu begründen, dass Kinder bereits sehr früh Relikten aus dieser Zeit in ihrem Lebensumfeld begegnen. Im Rahmen von Familienausflügen können Schlösser und Burgruinen bestaunt werden. Beim Besuch von saisonbedingten Festen oder Märkten, wie beispielsweise einem mittelalterlichen Weihnachtsmarkt, sind die Auswirkungen dieser Epoche bis in die Gegenwart nicht zu übersehen. Andere Formen der Geschichtskultur, die sich mit dem Mittelalter beschäftigen, sind für Kinder sehr interessant und rufen Erstaunen und Neugierde hervor. Die Faszination, die das Leben der Ritter und Prinzessinnen auf die Kinder hat, ist ungebrochen und äußert sich in den Wünschen, diese Personengruppen beim gemeinsamen Spielen selbst verkörpern zu wollen. Die Artus-Sage, die als Anlass für viele Historienfilme diente, sowie Kenntnisse von Personen wie Robin Hood oder Prinz Eisenherz bezeugen die Anziehungskraft, die das Mittelalter auf Kinder hat.

Im Hinblick auf meine berufliche Zukunft als Grundschullehrer sind die Potenziale, die das Museum für das historische Lernen bietet und die Neugierde und Offenheit der Kinder historischen Themen gegenüber, ausreichend Gründe, mich dieser Thematik intensiver zu widmen. Der Rückblick auf meine eigene Grundschulzeit und die fehlenden Erfahrungen aus den Praktika im Zuge meines Studiums bestärken mich zusätzlich zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dieser Thematik. Durch die intensive Beschäftigung mit dem Thema erhoffe ich mir einen großen Nutzen für meine spätere berufliche Arbeit mit den Kindern.

1.2 Methodisches Vorgehen

Zunächst wird die Frage nach der Legitimation historischen Lernens in der Grundschule diskutiert. Dabei wird das Augenmerk sowohl auf die kritischen Vorbehalte als auch auf die Ansichten gelegt, die für ein frühes historisches Lernen in der Grundschule sprechen. Daran anschließend werden die Ergebnisse der Diskussion zusammengefasst und sollen als Grundlage für die weiteren Ausführungen der vorliegenden Arbeit dienen. Die Vorgehensweise ist damit zu erklären, dass zuerst eine Basis gelegt werden muss, um sich mit der Thematik des historischen Lernens in der Grundschule überhaupt beschäftigen zu können.

In einem weiteren Schritt werden die Chancen des außerschulischen Lernorts Museum im Hinblick auf das historische Lernen dargestellt. In diesem Abschnitt wird es um die Möglichkeiten gehen, die das Museum als Ort der Geschichtskultur für die Kinder bereithält.

In der darauffolgenden fachwissenschaftlichen Vorstellung des Mittelalters werden ausgewählte Aspekte der Epoche behandelt. Die Auswahl der Aspekte wird mit den unterschiedlichen handlungsorientierten Verfahren begründet, die anschließend vorgestellt werden. Auf eine Darstellung der dunklen und negativen Seiten des Mittelalters wird verzichtet, was sich auch im Titel der vorliegenden Arbeit widerspiegelt.

Im Anschluss daran wird die Handlungsorientierung als ein Prinzip historischen Lernens beschrieben. Auf Grundlage dessen und der vorangegangenen Ergebnisse sollen handlungsorientierte Verfahren und Möglichkeiten beschrieben werden, die es Kindern möglich machen im Museum, anhand der Thematik des Mittelalters, Geschichte zu reflektieren.

Den Abschluss dieser Arbeit bildet eine Zusammenfassung der Ergebnisse mit einem anschließenden Ausblick.

2 Zur Legitimation historischen Lernens in der Grundschule

Es wird nicht selten die Frage gestellt, ob es sinnvoll ist Geschichte bereits in der Grundschule zum Inhalt des Unterrichts zu machen. Häufige Aussagen, wie beispielsweise Kinder seien entwicklungspsychologisch noch nicht dazu in der Lage historische Inhalte und Themen gedanklich zu verarbeiten, sind dabei keine Rarität. Es gibt nicht wenige Menschen, die ihren eigenen Geschichtsunterricht als eine Schulveranstaltung empfunden haben, die sehr zählebig und teilweise ohne Bezug zur eigenen Lebenswelt sein konnte. Man musste Namen und Jahreszahlen, die mit besonderen Ereignissen in der Vergangenheit verbunden sind, in mühsamer Arbeit im Gedächtnis abspeichern. In Klausuren wurde dieses Wissen abgefragt und danach wurde es wieder aus dem Gedächtnis verdrängt. Dieses Phänomen, das natürlich nicht nur für den Geschichtsunterricht gilt, ist auch unter der Bezeichnung „Schubladenlernen“ bekannt. Aus diesem Grund ist die oben genannte Aussage zugegebenermaßen nicht verwunderlich. Hier begegnet man aber bereits einem weitverbreiteten Irrtum. In der Grundschule wird nicht Geschichte unterrichtet, wie man es ab der Sekundarstufe I, in Form der chronologischen Abhandlung von Ereignissen und Epochen, kennt. Es handelt sich zudem nicht um ein eigenständiges Unterrichtsfach, sondern ist in den Fächerverbund MeNuK1 integriert. Um die oben genannte Behauptung zu widerlegen, ist es einerseits notwendig zu hinterfragen, was Geschichtsunterricht in der Grundschule überhaupt bedeutet. Hierfür müssen in einem ersten Schritt zwei Begriffsdefinitionen vorgenommen zu werden, um in weiteren Schritten aufzeigen zu können, dass historisches Lernen in der Grundschule nicht nur empfehlenswert, sondern absolut notwendig ist. Im Folgenden werden die Begrifflichkeiten Geschichte und historisches Lernen beschrieben, um eine Basis für die anschließende Diskussion um die Legitimation historischen Lernens in der Grundschule zu legen.

2.1 Begriffsklärungen

Geschichte wird als ein sinnhafter Bedeutungszusammenhang zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit umschrieben.2 Oftmals werden die Begriffe Geschichte und Vergangenheit gleichgesetzt, was jedoch aus geschichtstheoretischer Sicht nicht korrekt ist. Teile der Vergangenheit werden erst dann zur Geschichte, wenn ein sinnhafter Bezug zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hergestellt werden kann. Es müssen demzufolge zielgerichtete Fragen an die Vergangenheit gerichtet werden und daraufhin Informationen, die zur Lösung der Frage beitragen können, gesucht werden. Diese Informationen, Daten und Zeugnisse der Vergangenheit werden von der Geschichtsforschung bereitgestellt und müssen dann sinnvoll narrativ miteinander verbunden werden.3 Es geht folglich um einen sinnhaften und zielgerichteten Rekonstruktionsprozess von Vergangenem, der durch gegenwärtige und zukunftsorientierte Orientierungsbedürfnisse angestoßen wird. Hans-Jürgen Pandel bezeichnet die Vergangenheit als „eine inhaltsleere Zeitdimension“4 und verweist damit ebenfalls auf die Bedingtheit der Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit. Desweiteren ist Geschichte, oder um es jetzt gezielter auszudrücken, die Rekonstruktion der Vergangenheit, immer nur bruchstückhaft möglich. Durch gezielte perspektivische Erkenntnisinteressen werden folglich bestimmte Aspekte der Vergangenheit nicht beachtet. Die Konzentration richtet sich nur auf das, was als wichtig und sinnvoll für das gegenwärtige Interesse erscheint. Aus den Ausführungen lässt sich folgern, dass Geschichte nur durch das enge Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verstanden werden kann.

Der Begriff des historischen Lernens, in Bezug auf die Grundschule, scheint aus mehreren Gründen zutreffender als der des Geschichtsunterrichts. Zum einen hebt er sich von der weitverbreiteten Annahme ab, dass es im historischen Lernen nur um das systematische Auswendiglernen von Daten und Fakten in chronologischer Reihenfolge geht. Zum anderen impliziert der Begriff des historischen Lernens, dass es um das Einüben bzw. Initiieren einer Kompetenz geht, die Kinder dazu befähigen soll, sich der Vergangenheit zu erinnern, um gegenwärtige Fragen und Probleme lösen zu können. Die Erinnerungen an Erfahrungen der Menschen, die in der Vergangenheit gelebt haben, sollen den Kindern helfen, den immer wieder auftretenden Fragen der Gegenwart sinnvoll zu begegnen, um ihr zukünftiges Handeln darauf aufzubauen. Bergmann spricht in diesem Zusammenhang von den „Großen Fragen unserer Zeit“5, die sich im Lauf der Vergangenheit mehrmals in den unterschiedlichsten zeitlichen Epochen wiederholt haben. Beispiele sind Fragen über Minderheiten, Armut, Unterdrückung oder auch, etwas allgemeiner ausgedrückt, über die Lebensverhältnisse der Menschen. Dadurch, dass Kinder bereits in der Grundschule lernen, sich bei Orientierungslosigkeit oder Fragen zu gegenwärtigen Problemen an die Erfahrungen der Vergangenheit zu wenden, kann bereits früh ein Fundament für historisches Denken und Geschichtsverständnis gelegt werden. Es ist bekanntermaßen unbestritten, dass Kinder im Grundschulalter bereits unzählige Fragen an die Vergangenheit haben und nach Erklärungen hierfür suchen. Ihre Lebenswelt ist voll von Relikten und Überresten der Geschichte, die bewusst und unbewusst wahrgenommen werden. Beispiel hierzu wären Straßennamen, Denkmäler, Schlösser, Museen, Printmedien, Erzählungen von älteren Menschen und auch Redewendungen. Diese kleine Auswahl an Beispielen, die unter dem Fachbegriff der Geschichtskultur zusammenzufassen ist, soll zeigen, wie omnipräsent Geschichte in der außerschulischen Welt der Kinder ist. Diese „empirisch fassbare Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart“6 muss das historische Lernen in der Grundschule zur unbedingten Folge haben.

2.2 Argumente gegen historisches Lernen in der Grundschule

Es gibt jedoch auch Vorbehalte, die dem frühen historischen Lernen in der Grundschulzeit kritisch gegenüberstehen. In den folgenden Ausführungen werden zunächst Begründungen dargelegt, die sich gegen historisches Lernen in der Grundschule richten. Hierfür werden Annahmen vorgestellt, die einerseits auf den Forschungen der Entwicklungspsychologie basieren und andererseits auf falschen Vorstellungen bezüglich des Unterrichts in der Grundschule zurückzuführen sind.

2.2.1 Aspekt der Verfrühung

Einer der Vorbehalte gegen historisches Lernen in der Grundschule ist die Annahme, dass Kinder im Grundschulalter kognitiv noch nicht in der Lage sind, historische Denkprozesse zu bewältigen. Es wird argumentiert, dass geschichtliche Zusammenhänge nicht begriffen werden können, weil Kinder in ihrer geistigen Entwicklung noch nicht reif dafür sind.7 Geschichte hat mit vielen Jahreszahlen, Namen und Ereignissen der Vergangenheit zu tun. Und diese müssen, so ist die verbreitete Annahme zum Geschichtsunterricht, in eine chronologische Reihenfolge gebracht und gelernt werden. Dies erfordert geistige Denkprozesse, die Kinder in dieser frühen Lebensphase nicht bewältigen können und sollen. Um dieser Verfrühung Einhalt zu gebieten, soll der Geschichtsunterricht auf die Sekundarstufe I verschoben werden, damit den Kindern die schwierigen und nicht alterstypischen Denkprozesse erspart werden können. Es geht folglich darum, Kinder erst dann mit historischen Denkprozessen zu konfrontieren, wenn sie in ihrer geistigen Entwicklung dazu bereit sind. Hierbei spielen Aspekte des Stufenmodells der geistigen Entwicklung vom Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget eine bedeutende Rolle. Piaget geht in seinem Modell davon aus, dass endogene Steuerungsprozesse die geistige Entwicklung von Kindern steuern. Altersabhängige Entwicklungsstufen, die in einer festgelegten Reihenfolge durchlaufen werden, zeigen auf, zu welchen Zeitpunkten die Kinder bestimmte Denkprozesse, Fähigkeiten und Verhaltensformen aufzeigen.8 Damit richtet er sich klar gegen den aufkommenden Trend der späten 1960er Jahre. Auf eine detaillierte Beschreibung des Modells von Piaget soll an dieser Stelle verzichtet werden, denn dies würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit überschreiten. Jedoch ist festzuhalten, dass sich Piaget mit seinem Stufenmodell, bezüglich der kognitiven Entwicklung von Kindern, gegen eine Verfrühung von Lerninhalten ausspricht, die sich gegen den natürlichen Reifungsprozess richten. Hinsichtlich historischer Lerninhalte hat sich Piaget in seinen Forschungen auffallend zurückhaltend geäußert. Er geht nicht konkret auf das Verstehen von historischen Denkstrukturen bei Kindern ein. Es kann dennoch vermutet werden, dass er Kindern im Grundschulalter nicht zutraut, historische Prozesse zu verstehen, da diese mit abstrakt-formalen Denkprozessen verbunden sind. Und diese Form der kognitiven Leistung wird in seinem Stufenmodell erst ab dem zwölften Lebensjahr angeordnet, welches in der Regel ja nicht mehr grundschulrelevant ist.9 Desweiteren führt Krieger an, dass bei Piaget „die Erkenntnis der Dingwelt im Mittelpunkt seiner Forschungen steht“10 und es aufgrund dessen schwierig ist, diesen Aspekt auf das historische Lernen zu übertragen. Historisches Lernen hat, im Gegensatz zu den Eindrücken der Dingwelt, mit narrativen Strukturen zu tun.

Es bleibt festzuhalten, dass die Vorbehalte gegen eine Verfrühung von historischen Inhalten im Unterricht der Grundschule unter anderem auf entwicklungspsychologische Gründe zurückzuführen sind. Unterstützt durch das Stufenmodell von Piaget ist der Geschichtsunterricht11 solange aufzuschieben, bis Kinder geistig dazu in der Lage sind, historische Zusammenhänge zu verstehen. Solange diese Entwicklungsstufe nicht erreicht wird, soll Kindern konsequenterweise Geschichte vorenthalten werden und nur in abgeschwächter Form präsentiert werden.12 Diese falsche Vorstellung von Geschichtsunterricht in der Grundschule wird hierbei als Basis genommen, um die Vorbehalte zu begründen.

2.2.2 Vorstellungen von Geschichtsunterricht

Im Folgenden werden zwei Ansichten und Denkweisen vorgestellt, die oft mit historischem Lernen in der Grundschule in einen engen Zusammenhang gebracht werden. Zum einen handelt es sich um die Ansicht, dass historisches Lernen im traditionellen Heimatunterricht für ideologische Zwecke genutzt wurde und daher einen kritischen Beigeschmack bekam, der sich noch bis in die Gegenwart hält. Zum anderen werden die Denkweisen vorgestellt, die Menschen im Allgemeinen bezüglich der Inhalte von Geschichtsunterricht haben und darauf ihre Skepsis hinsichtlich der Grundschulkinder gründen.

2.2.2.1 Traditioneller Heimatunterricht

Der ideologisch geprägte traditionelle Heimatunterricht machte es sich zur Aufgabe, die Kinder mittels der Themenauswahl ganz an ihren jeweiligen Lebensraum zu binden. Dies galt auch für die historischen Themeninhalte. Der Begriff der Heimat war daher im Unterricht von zentraler Bedeutung, da angenommen wurde, das Kind würde sein Verständnis der Welt von seinem Standpunkt, der jeweiligen Heimat, basierend aufbauen.13 Ziel des Unterrichts war es, den Kindern ein „geistige(s) Wurzelgefühl“14 für ihren heimatlichen Lebensraum zu vermitteln. Eduard Spranger, der in diesem Zusammenhang zu nennen ist, wollte die einzelnen Fachdisziplinen aus ihrem „klassischen Wissenschaftsgebäude“15 herauslösen und sie für den Heimatunterricht fruchtbar machen. Mit der Ablehnung gegenüber einer Wissenschaftsorientierung ging zudem eine klare Absage an die Interessen der Kinder mit ein. Den Kindern wurde demnach Wissen präsentiert, das als geeignet erschien, um der Ideologisierung des Heimatraums zu dienen und sie an ihre Heimat zu binden. Die enge Begrenzung auf die geographische Umgebung verhindert somit die Auseinandersetzung mit weltlichen Themen und Inhalten. Diese Tatsache ist vor allem hinsichtlich des historischen Lernens sehr kritisch zu bewerten. Kinder waren weder in der Vergangenheit, noch sind sie gegenwärtig ausschließlich an der Geschichte ihrer unmittelbaren Lebenswelt interessiert. Hartmut Voit fordert in diesem Zusammenhang eine klare Abkehr vom engen heimatlichen Raumbezug hinsichtlich historischer Themen im Unterricht der Grundschule.16 Es muss demzufolge deutlich gemacht werden, dass historisches Lernen nicht mehr im traditionellen ideologischen Heimatunterricht verhaftet ist. Vielmehr müssen historische Themen an der Lebenswelt der Kinder anknüpfen. Dies wird zwar durch die Formulierung des Fächerverbundes MeNuK formal erreicht, muss sich aber auch in den Köpfen der Menschen festsetzen.

2.2.2.2 Chronologischer Geschichtsunterricht als Basis der Vorbehalte

Die durchaus weitverbreitete Vorstellung von Geschichtsunterricht in der Schule lässt Zweifel aufkommen, ob diese Art von Unterricht bereits in der Grundschule möglich ist. Diese Vorstellungen, und die damit verbundenen Vorurteile, werden in den meisten Fällen durch eigene Erfahrungen mit Geschichtsunterricht begründet. In den weiterführenden Schulen hat der chronologische Geschichtsunterricht eine vorherrschende Stellung. Es geht hierbei um das Abhandeln von Namen, Jahreszahlen, Ereignissen und Epochen, die von der Lehrkraft vorgegeben werden, weil es der Lehrplan so verlangt. Der Unterricht ist lehrerzentriert und wird nicht selten als ein Lernzwang, anstatt einer Lernchance, empfunden.17 Man könnte in diesem Zusammenhang von Standardthemen sprechen, die in bestimmten Klassenstufen chronologisch durchgenommen werden müssen. Schülerinnen und Schüler fragen sich nicht selten, was das Thema mit ihnen zu tun hat und was sie daraus für ihre weitere Zukunft lernen sollen. Aber nicht nur der fehlende Schülerbezug, sondern auch das Lernen für Klausuren ist ein demotivierender Faktor. Es kommt nicht selten vor, dass zum Beispiel eine falsche Jahreszahl oder ein falsch zugeordneter Name zum Punktabzug führt und sich auf die Note niederschlägt und damit verbunden auf die Motivation der Schülerinnen und Schüler. Diese Art von Unterricht ist in den wenigsten Fällen nachhaltig, weil es als „ein buchhalterisches, chronologisch geordnetes System von Wissensbeständen und Wissbarkeiten“18 angesehen wird.

Es steht außer Zweifel, dass sich der Geschichtsunterricht mit Ereignissen der Vergangenheit beschäftigen muss, die anhand von Jahreszahlen und Epochen chronologisch gegliedert werden. Nimmt man jedoch die Definition des Begriffs Geschichte zur Hand, kann das zusammenhangslose Abhandeln von Epochen und Ereignissen im Unterricht nicht als Geschichtsunterricht verstanden werden. Geschichte ist der sinnvolle Bedeutungszusammenhang zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Durch gezielte Fragen an die Vergangenheit wird Geschichte rekonstruiert. Die jeweiligen Daten und Fakten werden dabei sinnvoll miteinander verknüpft, um einen Ausschnitt der Vergangenheit herzustellen, der für das gegenwärtige Interesse von Bedeutung ist.19

Die Ausführungen machen deutlich, dass die Vorbehalte bezüglich der Vorstellungen von Geschichtsunterricht durchaus nachvollziehbar sind. Gleichzeitig gilt es festzuhalten, dass diese Art von Unterricht für das historische Lernen in der Grundschule nicht als Basis gelten kann. Die Vorstellungen eines chronologischen Geschichtsunterrichts entsprechen nicht dem historischen Lernen der Grundschule. Demzufolge muss ein völlig anderes und neues Bild von Geschichtsunterricht in Bezug auf die Grundschule vermittelt werden, damit über die Legitimation historischen Lernens ernsthaft diskutiert werden kann. Dietmar von Reeken verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass die Grundschule nicht den eigentlichen, chronologischen, Geschichtsunterricht ab der Sekundarstufe I vorbereiten kann und soll.20 Es geht nicht darum, den Geschichtsunterricht von der Sekundarstufe in die Grundschule zurückzustufen, um hier die Anfänge zu machen. Die Grundschule soll demnach nicht als eine Art Vorbereiter oder Vorläufer für den chronologischen Geschichtsunterricht dienen, wie er ab der Klassenstufe fünf gelehrt wird. Vielmehr besteht das Ziel historischen Lernens in der Förderung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins, auf das zukünftig aufgebaut werden kann.

2.2.3 Mehr Transparenz für Lehrkräfte

Wie im vorigen Abschnitt bereits angeklungen, haben viele Menschen eine falsche Vorstellung vom historischen Lernen in der Grundschule. Der chronologische Geschichtsunterricht, wie er ab der Sekundarstufe I unterrichtet wird, dient hier als Ausgangspunkt dieser Vorstellungen. Damit einhergehend fragen sich Lehrkräfte oft, wie historisches Lernen im Unterricht ablaufen kann und soll. Kinder sind noch nicht in der Lage, sich die vielen Jahreszahlen und bedeutenden Namen der Vergangenheit zu merken und Epochen in die richtige Reihenfolge zu bringen. Dass diese Art von Unterricht nicht dem historischen Lernen entspricht, wurde bereits deutlich und kann deshalb nicht mehr als Ablehnungskriterium gelten. Im Bildungsplan von 2004 für die Grundschule finden sich jedoch Formulierungen und Angaben, die aufzeigen, dass historisches Lernen teilweise noch falsch verstanden wird. Es werden vorgeschriebene und ausgewählte Themenbereiche und Epochen angeführt, die chronologisch angeordnet sind. Dies würde eher dem eigentlichen Geschichtsunterricht, wie er ab der fünften Klasse stattfindet, entsprechen. Desweiteren wird vom Aufbau eines „Epochen- und Datengerüst“21 gesprochen.

Klaus Bergmann und Susanne Popp kritisieren zu Recht, dass fachfremd unterrichtende Lehrkräfte die vielfältigen Potenziale historischen Lernens in den Bildungs- und Lehrplänen nicht erkennen und nutzen können.22 Dabei bieten die Bildungspläne viele Ideen und Anstöße, die für historisches Lernen genutzt werden können.23 Um dies beispielhaft zu belegen, soll auf den Bildungsplan von Baden-Württemberg für die Grundschule hingewiesen werden. Bei den Kompetenzen und Inhalten zum Fächerverbund MeNuK heißt es beispielsweise, dass Kinder „sich an ihre Lebensgeschichte erinnern, sich darüber mitteilen und Vorstellungen für ihre Zukunft entwickeln“24 können. Desweiteren werden Hinweise gegeben, wie diese Kompetenzen gefördert werden können. Das Beispiel zeigt sehr gut, dass es sich hier um eine Form historischen Lernens handelt. Die Kinder sollen sich unter Anleitung der Lehrkräfte an ihre Vergangenheit erinnern, um sie in der Gegenwart mitzuteilen und ihre Wünsche und Gedanken über die Zukunft zu äußern. Die drei Zeitdimensionen, über die sich Geschichte definiert, werden hier präsentiert. Dieses Beispiel unterstreicht die Aussagen von Klaus Bergmann und Susanne Popp, wonach Lehrkräfte, die keine Kenntnisse von Geschichtsdidaktik haben, diese Potenziale nicht erkennen können.

Es bleibt folglich festzuhalten, dass historisches Lernen in das Curriculum der Grundschule gehört. Jedoch wird von den vorhandenen Möglichkeiten und Angeboten historisches Lernen zu initiieren von den Lehrkräften kaum Gebrauch gemacht. Dies soll keine Kritik an den fachfremden Lehrkräften darstellen, sondern vielmehr auf die defizitäre Beschäftigung der Geschichtsdidaktik mit historischem Lernen in der Grundschule25 hinweisen. Lehrkräfte stützen ihre Aussagen und Denkweisen über Geschichte in der Grundschule auf das, was sie bisher darüber erfahren und gelesen haben. Und dies ist, im Vergleich zu den Publikationen zum „eigentlichen“ Geschichtsunterricht, durchaus ausbaufähig. Damit einher geht demzufolge die Forderung an die moderne Geschichtsdidaktik, sich noch intensiver mit dem Thema historisches Lernen in der Grundschule zu beschäftigen, um den Lehrkräften ausreichendes Material und wichtige Informationen für die tägliche Praxis an die Hand zu geben.

2.3 Argumente für historisches Lernen in der Grundschule

Im folgenden Kapitel sollen die Argumente dargelegt werden, die für historisches Lernen in der Grundschule sprechen. Es muss jedoch nochmals betont werden, dass sich die moderne Geschichtsdidaktik empirisch kaum mit dieser so wichtigen Thematik auseinandergesetzt hat. Es gibt zwar erwähnenswerte Veröffentlichungen aus den letzten Jahren, die sich mit Kindern und deren Fähigkeit, historisch zu lernen, auseinandersetzen26, dennoch fokussiert sich ein Großteil der Forschungen auf den „eigentlichen“ Geschichtsunterricht, wie er ab Klasse fünf unterrichtet werden soll.

2.3.1 Veränderte Lebensbedingungen der Kinder

Kinder leben in einer durch Massenmedien und Konsum geprägten modernen Gesellschaft. Die gewandelten Lebensbedingungen haben mitunter zur Folge, dass die Welt der Kinder „randvoll mit Geschichte“27 ist. Die Gefahr, die mit dieser weitreichenden Präsenz von Geschichtskultur einhergeht, wird in einem weiteren Kapitel noch vertiefend dargestellt. Wortneuschöpfungen wie beispielsweise Medienkindheit und Konsumgesellschaft zeigen dieses Phänomen deutlich auf. Die gewandelten und neuen Lebensbedingungen der Kinder haben zur Folge, dass sie andere Erfahrungen und Vorkenntnisse als früher mit in die Schule bringen. Diese Erfahrungen können jedoch sehr unterschiedlich sein, was zum Teil auf die familiären Lebensumstände der Kinder zurückzuführen ist.28 Kinder aus sozial benachteiligten Familien haben oft nicht die Gelegenheit sich mit Relikten der Vergangenheit so auseinanderzusetzen, wie es für sie förderlich wäre. Gemeint sind hier beispielsweise Museumsbesuche mit den Eltern oder andere unmittelbare Erfahrungen mit Geschichte. In diesem Zusammenhang muss die Familie ihre Kinder außerschulisch unterstützend begleiten, um sie an den Umgang mit der Geschichtskultur heranzuführen. Dies beginnt beim Erzählen von Geschichten über die Vergangenheit und führt bis zum Besuch von alten Schlössern oder Mittelaltermärkten.29 Die Aufgabe der Eltern besteht somit darin, die Kinder während und vor der Grundschulzeit langsam und gezielt an den Umgang mit den unterschiedlichsten Ausprägungen von Geschichtskultur heranzuführen. Sie sollen ihre Kinder begleiten und sie vor Gefahren schützen, die vor allem von den neuen Medien ausgehen. Die Medienkultur hat nicht nur auf Kinder einen sehr manipulativen Einfluss, auch Erwachsene sind sich dieser Gefahr oft nicht bewusst. Aus diesem Grund müssen Kinder im Umgang mit dem Internet oder dem Fernsehen von den Eltern unterstützt und beraten werden. Die Schule kann auf diese Problematik aufmerksam machen und dies im Unterricht thematisieren. Dennoch muss diese Arbeit zusätzlich von Eltern und Verwandten unterstützt werden. Rita Rohrbach hat in diesem Zusammenhang auf die sogenannten „Medienkinder“30 verwiesen. Diese Kinder sind leichte Opfer der manipulativen Medienkultur, da sie Inhalte im Internet oder dem Fernsehen zu sehen bekommen, die von den Eltern nicht kontrolliert werden.

Ein weiterer Aspekt der neuen Lebensbedingungen der Kinder ist die Möglichkeit, dass sie viel stärker als früher ihren „eigenen Schonraum“31 verlassen und die Welt neu entdecken können. In Anlehnung an den traditionellen Heimatunterricht bedeutet dies, dass sich die Umwelt der Kinder nicht nur auf einen kleinen Radius begrenzt. Vielmehr werden die Kinder durch die neuen Massenmedien immer mehr in die Welt der Erwachsenen gedrängt. Damit einhergehend bleiben ihnen Themen, zu denen sie bisher keinen Zugang hatten, nicht mehr verschlossen.32 Die Problematik der Arbeitslosigkeit, die politischen Ereignisse in der Welt oder auch die Thematik von Ausländern in Deutschland33 können an dieser Stelle stellvertretend genannt werden. Es gilt somit festzuhalten, dass der Aspekt der Verfrühung hinsichtlich des historischen Lernens in der Grundschule (vgl. Kapitel 2.2.1) aufgrund der neuen Lebens- und Umweltbedingungen der Kinder nicht mehr Stand halten kann.

2.3.2 Neue Erkenntnisse der Psychologie

Aus entwicklungspsychologischer Sichtweise wurde der Vorbehalt der Verfrühung damit begründet, dass Kinder im Grundschulalter kognitiv nicht in der Lage sind, historische Inhalte zu verarbeiten. Es wurden alterstypische Denkstrukturen34 vorausgesetzt, an denen sich Unterrichtsinhalte ausrichten sollten. Aus heutiger Sicht sind diese Argumente und Denkweisen durch neue Forschungsergebnisse der Psychologie klar zu verwerfen. Es fand ein Wechsel von der Entwicklungs- zur Lernpsychologie statt. Das bedeutet, dass sich bestimmte kognitive Denkstrukturen durch Umwelteinflüsse entwickeln können und nicht ausschließlich als naturbedingte Reifungsprozesse anzusehen sind.35 Demnach durchlaufen Kinder zwar bestimmte Entwicklungsstufen, jedoch, bedingt durch äußere Einflüsse, in unterschiedlicher und individueller Geschwindigkeit. Die Entwicklungsstufen dürfen somit nicht als starr und naturgegeben angesehen werden, sondern sind durch die Umwelt der Kinder zu beeinflussen. Als Beispiel kann hierfür die Familie genannt werden. Wie bereits im vorigen Abschnitt beschrieben, können Eltern und Verwandte den Kindern helfen, sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden. Wenn Eltern ihren Kindern die Möglichkeit geben, mit Produkten der Geschichtskultur richtig umzugehen und sie bei ihrem Entwicklungsprozess unterstützen, können gewisse Denkstrukturen bereits frühzeitig angeregt werden. Desweiteren gilt es zu erwähnen, dass Kinder viel mehr können, als Erwachsene von ihnen erwarten.

In diesem Zusammenhang muss auf die neuen Begriffe der Entwicklungspsychologie hingewiesen werden, die deutlich machen, dass Kinder bereits vor dem Eintritt in die Grundschule über historisches Wissen und historische Denkweisen verfügen. Es handelt sich um die Begriffe „Wissensveränderung“ und „bereichsspezifisches Wissen“36.Wissensveränderung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Kinder bereits Vorkenntnisse oder Wissensfragmente mit in die Schule bringen und diese dort mit neuen Informationen assimiliert werden. Bereichsspezifisches Wissen äußert sich dadurch, dass Kinder zu bestimmten Themengebieten, wie beispielsweise zu Dinosauriern, Rittern, Wikingern oder Indianern ein Wissen besitzen, welches Rita Rohrbach als „Kernwissen“ oder „Expertenwissen“37 bezeichnet. Kinder beschäftigen sich in ihrer Freizeit mit geschichtlichen Themen, die für sie interessant erscheinen, und vernachlässigen Themen, die für sie nicht lernrelevant sind. Bei diesen Themen fehlt ihnen folglich das Wissen. An dieser Stelle vermuten Psychologen und Lehrkräfte Defizite und „altersbedingte Einschränkungen“38 hinsichtlich historischer Inhalte. Folglich wird von einer Verfrühung gesprochen und den Kindern in der Grundschule nicht zugetraut Geschichte zu lernen. Daran schließt sich gleich der nächste Denkfehler an. Psychologen haben eine falsche Auffassung von historischem Lernen in der Grundschule und gründen hierauf ihre Zweifel. Damit einher geht auch die Aussage von Dietmar von Reeken über die Relevanz der entwicklungspsychologischen Entwicklungsmodelle. Für ihn ist das historische Denken eine Kombination unterschiedlichster Fähigkeiten39, die sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten ausbilden können. Aufgrund dessen kann historisches Denken nicht als ein zentraler Begriff verstanden werden, sondern es muss deutlich werden, dass er sich aus mehreren einzelnen Fähigkeiten und Dimensionen zusammensetzt.

Die neuesten Forschungen in der Psychologie zeigen demnach, dass Piagets Modell, auf das sich die Vorbehalte der Verfrühung mitunter stützen, widerlegt ist. Der Hauptkritikpunkt gegenüber Piaget ist dabei die zu hohe Ansetzung bezüglich der Altersangaben für die jeweiligen Stufen seines Modells. Es wurde festgestellt, dass Entwicklungsstufen und Denkprozesse bereits viel früher einsetzen können, wenn dies von den Lehrkräften ausreichend gefördert wird.40

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Aspekt der Verfrühung aus psychologischer Sichtweise nicht mehr gelten kann. Vielmehr muss es darum gehen, und dies gilt nicht nur für das historische Lernen, den Kindern frühzeitige Erfahrungen mit dem Lerngegenstand zu ermöglichen. Dies hat zur Folge, dass eine andauernde und tragfähige Lernmotivation frühzeitig aufgebaut werden muss.41 Es stellt sich immer als problematisch dar, einen verpassten Zeitpunkt bei der Entwicklung eines Kindes im Nachhinein noch aufholen zu wollen. Man könnte diese Tatsache mit dem banalen Sprichwort „lieber zu früh, als zu spät“ zusätzlich untermalen. Eng damit verbunden ist außerdem der Aufbau einer grundlegenden Motivation, sich mit historischen Themen im Hinblick auf den weiteren Geschichtsunterricht beschäftigen zu wollen. Defizite in diesen Bereichen können nur schwer ausgeglichen werden. Daher gilt es, die Phase in der Kindheit, in der Kinder lernwillig, neugierig und vor allem wissbegierig sind, unbedingt zu nutzen, um die Basis für historisches Lernen und Denken zu legen.

2.3.3 Allgegenwärtigkeit von Geschichtskultur

Kinder begegnen in ihrer außerschulischen Lebenswelt unzähligen Erscheinungsformen, die unmittelbar mit der Vergangenheit zu tun haben. Diese Begegnungen passieren jeden Tag und sie geschehen in den meisten Fällen unbewusst. Ein Besuch auf dem mittelalterlichen Weihnachtsmarkt, vorbei an den alten Fachwerkhäusern durch die Straßen mit Namen wie Schlossstraße oder Marktplatz. Bei Tagesausflügen mit den Eltern sehen Kinder Überreste einer alten Burgruine oder können sogar ein Schloss von innen betrachten. Kinder sehen sich im Fernsehen oder im Internet Zeichentrickserien an, die von tapferen Rittern oder von furchtlosen Indianern handeln. Zum Geburtstag oder zu Weihnachten sind Wünsche wie beispielsweise eine Lego-Ritterburg oder eine Prinzessin zum Spielen längst ganz oben auf dem Wunschzettel der Kinder angelangt. In der eigenen Familie oder im Freundeskreis werden jeden Tag Geschichten erzählt, die mit Ereignissen der Vergangenheit zu tun haben. Aber auch Romane und Kinderbücher, die von spannenden und abenteuerlichen Geschichten aus längst vergangenen Zeiten berichten, faszinieren die Kinder. Anhand der kleinen Auswahl alltäglicher Beispiele wird deutlich, dass Produkte und Relikte der Vergangenheit allgegenwärtig in der Lebenswelt der Kinder zu finden sind. Die Kontakte der Kinder mit den unterschiedlichsten Erscheinungsformen und Erzeugnissen der Vergangenheit, die sich in ihrer Art grundlegend voneinander unterscheiden, sind für die Grundschule eine herausfordernde Aufgabe.

Im Anschluss an die folgende terminologische Klärung des Begriffs Geschichtskultur sollen die diesbezüglichen Gefahren und Chancen für das historische Lernen in der Grundschule dargestellt werden.

2.3.3.1 Begriffsklärung

Zunächst gilt es also, den wichtigen geschichtsdidaktischen Begriff der Geschichtskultur aus fachwissenschaftlicher Sicht zu beschreiben. Geschichtskultur umfasst Organisation, Institutionen und Erzeugnisse, die sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen und diese für gegenwärtige und zukünftige Gesellschaften in unterschiedlicher Art und Weise aufbereiten. In der Geschichtskultur einer Gesellschaft äußert sich deren Umgang mit der Vergangenheit.42 Dieser Umgang äußert sich beispielsweise bei politischen Reden anlässlich historischer Ereignisse, bei Feiertagen oder der Art und Weise wie in den Medien mit Vergangenheit umgegangen wird. Durch die Geschichtskultur werden den Menschen folglich Möglichkeiten gegeben, sich mit der Vergangenheit auf unterschiedlichste Weise auseinanderzusetzen und sich darüber zu informieren. Hans-Jürgen Pandel spricht in diesem Zusammenhang von „Sinnbildungsangebote(n)“43. Nachfolgend sollen auszugsweise Erzeugnisse und Produkte von Geschichtskultur aufgezählt werden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Zur Geschichtskultur gehören unter anderem Schulen, Museen, Denkmäler, Kunstgemälde, Historienfilme, Schlösser, Burgruinen, Gedenktage, Feste, Geschichtslehrer, Literatur, Archive und Dokumentationen im Fernsehen. Diese Aufzählung kann noch weiter fortgeführt werden und vermittelt auf den ersten Blick eine willkürliche und ungeordnete Auflistung. Aufgrund dessen hat der Geschichtsdidaktiker Bernd Schönemann eine kategoriale Einordnung vorgenommen, um aufzuzeigen, dass es sich bei Geschichtskultur nicht um ein „waberndes Chaos, sondern ein soziales System“44 handelt. Schönemann unterscheidet demzufolge zwischen den Elementen der Institutionen, Professionen, Medien und der Publika, die sich jeweils zur Aufgabe gemacht haben, Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft aufzubereiten und historisches Lernen und Denken zu fördern.45 Allerdings muss festgehalten werden, dass jedes dieser Elemente seine Eigenart hat, Vergangenheit aufzubereiten und sich daraus unter anderem Chancen und Gefahren für die Kinder ergeben.

...


1 Der integrative Fächerverbund Mensch, Natur und Kultur (nachstehend MeNuK genannt) wurde zum Schuljahr 2004/2005 neu gegründet. Er bietet den Kindern ein breites Spektrum an bildungsbedeutsamen Themen an, die eine zentrale Rolle bei deren Persönlichkeitsentwicklung spielen und ersetzte den bisherigen Sachunterricht.

2 Vgl. Bergmann 2008, S. 142

3 Vgl. Bergmann 2008, S. 142

4 Pandel 2009, S. 80

5 Bergmann 2001, S. 9

6 Schreiber 1999, S. 20

7 Vgl. von Reeken 2011, S. 18

8 Vgl. Krieger 2001, S. 33

9 Vgl. Krieger 2001, S. 40

10 Vgl. Krieger 2001, S. 41

11 Geschichtsunterricht wird in diesem Zusammenhang als der „eigentliche“ chronologische Geschichtsunterricht verstanden, wie er ab der fünften Klasse unterrichtet wird. Diese falsche Vorstellung von historischem Lernen wird im folgenden Kapitel thematisiert.

12 Vgl. Bergmann 2001, S. 14

13 Vgl. Zöpfl 1971, S. 92

14 Feige 2004, S. 22

15 Feige 2004, S. 22

16 Vgl. Voit 2001, S. 62

17 Vgl. Rohrbach 2009, S. 99

18 Bergmann 2001, S. 14

19 Vgl. Bergmann 2001, S. 17

20 Vgl. von Reeken 2011, S. 31

21 Bildungsplan 2004, S. 14

22 Vgl. Bergmann 2001, S. 10; Popp 2000, S. 8

23 An dieser Stelle soll auf das Vorwort von Hartmut von Hentig im Bildungsplan 2004 für die Grundschule verwiesen werden. Die historischen Komponenten sind klar erkennbar, wenn von vorgeschichtlichen und geschichtlichen Befunden gesprochen wird. Desweiteren machen Begriffe wie Geschichtlichkeit und geschichtliche Gestaltung deutlich, dass der Bildungsplan historische Inhalte vorgibt und bereithält (vgl. Bildungsplan 2004, S. 14).

24 Bildungsplan 2004, S. 100

25 Susanne Popp (2000), Dietmar von Reeken (2011) und Hartmut Voit (1980 & 2001) weisen ebenfalls auf die Problematik hin.

26 Vgl. Bergmann 2001 & 2008; von Reeken 2011; Rohrbach 2009; Schreiber 1999 & 2000; Voit 2001

27 Vgl. Bergmann 2001, S. 15

28 Vgl. von Reeken 2011, S. 20

29 Vgl. Rohrbach 2009, S. 84

30 Rohrbach 2009, S. 55

31 von Reeken 2011, S. 21

32 Vgl. von Reeken 2011, S. 20

33 Hartmut Voit hat hierzu eine interessante empirische Untersuchung unter Grundschülern durchgeführt, die sich mit außerschulisch erworbenen Kenntnissen und Einstellungen zum Thema Ausländer in Deutschland beschäftigt (vgl. Voit 2001, S. 59-60).

34 An dieser Stelle soll auf das Stufenmodell der geistigen Entwicklung von Jean Piaget hingewiesen werden, das bereits in Kapitel 2.2.1 erwähnt wurde.

35 Vgl. von Reeken 2011, S. 18

36 Krieger 2001, S. 47

37 Rohrbach 2009, S. 72 f.

38 Rohrbach 2009, S. 73

39 Vgl. von Reeken 2011, S. 16

40 Vgl. Krieger 2001, S. 43

41 Vgl. Voit 2001, S. 61

42 Vgl. Pandel 2009, S. 86

43 Pandel 2009, S. 86

44 Schönemann 2003, S. 18

45 Vgl. Schönemann 2003, S. 18 f.

Ende der Leseprobe aus 71 Seiten

Details

Titel
Das Museum als Ort für den Geschichtsunterricht von Grundschülern. Reflexion über die Epoche des Mittelalters
Hochschule
Pädagogische Hochschule Ludwigsburg  (Geschichte)
Note
2,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
71
Katalognummer
V1146302
ISBN (eBook)
9783346528001
ISBN (Buch)
9783346528018
Sprache
Deutsch
Schlagworte
museum, geschichtsunterricht, grundschülern, reflexion, epoche, mittelalters, Grundschule, Geschichte, Sachunterricht, Ritter, Handlungsorientierung, Wissenschaftliche Hausarbeit
Arbeit zitieren
Christoph Jaun (Autor:in), 2012, Das Museum als Ort für den Geschichtsunterricht von Grundschülern. Reflexion über die Epoche des Mittelalters, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1146302

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