Leseprobe
Gliederung
1. Einleitung
2. Verschiedene Arten der Figurencharakterisierung
3. Das Pferd im Mittelalter
4. Die Pferdeszenen
4.1. Pferdedienste- Zwischen Bestrafung und Erhöhung
4.2. Die Pferdegeschenke
4.2.1. Erstes Pferdegeschenk
4.2.2. Zweites Pferdegeschenk: Enites Wunderpferd
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
und ware daz got hie uf erde rite,
ich wane in genuocte dâ mite,
ob er selhen marstaller hate,
so weiz ich daz wip noch man
süezer schiltkneht nie gewan
dan Erec fil de roi Lac,
do si sines pherdes phlac.
im gezam von selhem knehte
sin fuoter wol mit rehte. (Erec, Z. 356-365)1
Ein marstaller, der selbst Gott, wäre dieser denn ein Ritter auf Erden, genügen würde? Der süßeste Schildknecht, den je jemand gehabt hat? Ein knehte, von dem sogar die Pferde ihr Futter lieber nehmen, als von einem anderen? Allein aus diesen wenigen Zeilen zu Beginn des Romans Erec von Hartmann von Aue wird ersichtlich: hier muss es um einen ganz außergewöhnlichen Schildknecht gehen!
Enite, die sich hinter dieser Beschreibung verbirgt, wird erst einige Seiten nach diesen Zeilen namentlich eingeführt. Zu Beginn der Erzählung ist dem Leser die spätere Gemahlin des Protagonisten Erec nur über Dritte erfahrbar: über den Erzähler selbst, der Gott „in die Gestalt eines Ritters mit einem Pferd bemüht“2, um das Geschehen zu beschreiben, über den Protagonisten, der ir ungemach (Erec, Z. 342) bedauert und eben über die Reaktion dessen Pferdes auf den ungewöhnlichen knehte. In ein Bild übertragen könnte man sagen: Enite erscheint hier ausschließlich im Spiegel anderer Charaktere oder eben der Pferde. Durch diesen eindeutigen Fokus beim ersten „Aufeinandertreffen“ von Leser und Enite wirkt es beinah, als könnte dies als ein „Fingerzeig“ des Autors verstanden werden, welcher so den Blick des Rezipienten auf die Bedeutung externer Hinweise zum Charakter der Enite lenken möchte. Dieser Perspektive folgend fällt besonders Enites Beziehung zu den Reittieren auf, derim Verlauf des höfischen Romans eine einzigartige narrative wie diskursive Aufmerksamkeit zukommt (Vgl. Kragl S.130), sodass sich hier die Frage stellt: Inwiefern wird die Figur Enite durch ihren Kontakt zu Pferden charakterisiert? Oder, um bei der Spiegelmetapher zu bleiben: Welches Bild von Enite erscheint dem Leser im „Spiegel“ ihrer Pferde?
Umhier zu einer Antwort zu kommen soll im Folgenden zuerst konturiert werden, welche Rolle den Pferden bei einer Charakterisierung der Figur Enite zukommen kann. Im zweiten Schritt wird dann der Fokus auf der mittelalterlichen Bedeutung des Pferdes liegen. Mitdieser Vorarbeit im Hinterkopf richtet sich schließlich der Blick auf konkreten Szenen, in denen Enites Beziehung zu Pferden Erwähnung findet,um hieraus schlussendlich eine Erkenntnis zu ziehen.
2. Verschiedene Arten der Figurencharakterisierung
Figuren sind wohl der zentrale Dreh- und Angelpunkt der meisten Romane, sie erwecken das Interesse des Lesers, springen gewissermaßen aus dem Textkorpus, auf den sie -ganz unromantisch-eigentlich zu reduzieren wären,in die Fantasie des Rezipienten über, in dersiezu einem „Persönlichkeit“ ausgemalt werden und sich außerhalb der eindimensionalen Erzählung plastischverselbstständigen. Die Wurzeln des Begriffsder „Figur“ liegenim lateinischen fingere „vortäuschen“, „erdichten“ und so scheint gerade in diesem fantastischen Eigenleben der Figur eine ihrer zentralen Eigenschaften zu liegen. Fotis Jannidis gehtin seinem Buch Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie (2004) sogar soweit, dass er die Figur ganz auf das konstruktivistische Moment des Lesers zurückführt und somit als „mentales Modell“3 dessen beschreibt. Als Figur wird folglich ein ganzes Spektrum bezeichnet, welches vom rein technischen „durch Sprache erzeugtem Textkonstrukt“4 bis zur geisthaft lebendigen „sprachlich vermittelten Persönlichkeit“5 reicht.
In der Basis entspringt die Idee der Figur aber doch stets dem Schriftstück desAutors, welcher über verschiedene Techniken das Personal seines Textes konturiert und so für den Leser mittelbar macht. Hansens Erweitertes Strukturmodell 6 bietet eine grundsätzliche Klassifizierung dieser Techniken an. Hierin wird in erster Instanz zwischen dem Erzählen (telling) und dem Zeigen (showing) unterschieden. Während Ersteres sämtliche expliziten Kommentare eines allwissenden Erzählers zu einer Figur umfasst, lässt sich der Begriff des Zeigens, also der Techniken implizierter Konturierung einer Figur, noch weiter differenzieren: Zum einen können solche indirekten Rückschlüsse aus der Sprache des Charakters gezogen werden. Hier ist neben dem Inhalt auch der Stil, in dem gesprochen wird, aufschlussreich, gleichermaßen ergibt sich über die Beziehungen der Romanfiguren untereinander eine interpersonelle Charakterisierung. Interessant für die Betrachtung der Beziehung Enites zu den Pferden ist jedoch vor allem die Betrachtung des Figurenhandelns. Hieraus lässt sich ein Bild des psychologischen Typus der Figur gewinnen, der Leser erfährt gewissermaßen „in welche Schubladen“ er den Charakter einordnen kann, welche Ideologien, Denkmuster und Werte er verkörpert. Zweitens ist es möglich, die Pferde als Attribute Enites und somit als Teile ihres jeweiligen äußeren Erscheinungsbildes zu betrachten, um daraus eventuelle Hinweise auf ihre Rolle im Text zu erhalten.
Schon aus Jannidis Definition wird die Bedeutung des Lesers für den Begriff der Figur ersichtlich und somit auch, dass die Figur, als leserabhängiges Konstrukt begriffen, sich im Wandel der Zeit und der Leserschaft verändert. Der vorliegende Text Hartmanns von Aue blickt bereits auf eine lange Rezeptionsgeschichte zurück, er entstand um 1180 und dementsprechend ist es sinnvoll, einen Blick darauf zu werfen, wie sich das Figurenkonzept explizit in mediävistischen Texten darstellt. A. Schulz ist sich dieser Diskrepanz bewusst, wenn er den Leser auffordert „sich doch um eine historisch angemessene Interpretation zu bemühen“7, worunter er versteht, den Text „in bezug auf die Vorstellung vom Menschen und von der Welt“, die er voraussetzt, zu betrachten.
Was also ist bei der Betrachtung der literarischen Figur Enite „durch“ ihre Pferde mit Blick auf den mediävistischen Kontext zu beachten?
Die mittelalterlichen Figuren „erscheinen kaum je als komplexe Charaktere [...], sondern in erster Linie als Handlungsträger, die bestimmte Typen repräsentieren“8, es ist folglich wichtig, bei ihrer Analyse diese besondere Bedeutung ihres Handelns zu bedenken. Das zentrale Ziel der Repräsentation von Typen schließt außerdem die Beschreibung individueller Eigenheiten aus, so ist die mittelalterliche Figur viel mehr eine prototypische Rolle als ein Spezialfall. Auf Enite bezogen ließe sich daraus folgern, dass sämtliche Kenntnisse über ihren Bezug zu den Pferden und ihren Charakter nicht als ihre spezielle Eigenart zu verstehen sind. Vielmehr wäre sie demzufolge Stellvertreter eines Typen, welcher eine bestimmte Funktion im Textkörper erfüllt und eine bestimmte mittelalterliche Universalie verwirklicht“9. Gerade weil diese Idealität interne Psychologisierungen streng unterbindet „macht sie externe Psychologisierung umso nötiger, ja, fordert sie mit ihren Paradoxien und Aporien geradezu ein.“10 Was bereits bei der Einführung als „Fingerzeig des Autors“ für den Leser anzunehmen war, lässt sich folglich verallgemeinern: Der Erzähler führt bedacht den Blick des Lesers, indem er über die „poetische[...] Faktur, [...] dieses Hineinpsychologisieren im Modus der Allegorese wo nicht fördert, so doch erheblich erleichtert.“11
3. Das Pferd im Mittelalter
Auf Basis dessen scheint es sinnvoll, geradezu notwendig, den Blickwinkeln zu folgen, die der Text anbietet, sich also gleichsam vertrauensvoll in die Hände des meisterhaften Textstrategen zu begeben und dementsprechend Enite mittels ihrer Pferde zu betrachten. Doch zuvor sollte die Qualität dieses Spiegels „Pferd“ geklärt werden. Welche Bedeutung kam dem Pferd im Mittelalter zu? Und welche Aussage lässt sich allein daraus gewinnen, dass eben dieses Pferd stets als Mittlungsinstanz zum Leser gewählt wurde, um dadurch die schöne Enite darzustellen?
Das Pferd war im Mittelalter, vergleichbar mit dem Auto in der Moderne, Inbegriff der Mobilität. Blickt man in höfische Romane, so fällt auf, dass diese Mobilität vor allem bei Männern vorzufinden ist, während „weibliche Gestalten [.] in der Regel ortsgebunden“12 sind. Auch Dietmar Peschel-Rentschs Übersetzung des Begriffs „Ritter“ als „Pferdemann“13 stellt heraus, dass das Pferd als „Symbol ritterlicher Männlichkeit schlechthin“14 galt. Auf Basis dessen sticht die Diskrepanz ins Auge, dass die von Kuhn recht pathetisch als „reiste Frauengestalt im Mittelalter“ beschriebene Enite ausgerechnet in einem anscheinend genuin männlichen Spiegel gezeigt wird. Womöglich ist dies eine der Paradoxien, die Kragl als Anzeichen für externalisiert dargestellte Figurenpsyche annimmt und die den Leser geradezu auffordert, ein besonderes Augenmerk auf diese Darstellung zu legen.
In Bezug auf das Reittier ist im Mittelalter zudem eine Differenzierung zu beobachten: „Das ros bezeichnet das Streitross des Ritters, von dem sich funktional das pherit der Damen unterscheidet.“15 Während ersterer Begriff ein eher animalisch ungestümes Tier bezeichnet, welches im Kampf mit seinem Reiter eine Einheit bilden soll, kommt dem pherit der Dame eine ganz andere Aufgabe zu. Der Zelter, wie dieses „Modell“ Pferd auch genannt wird, soll seinem weiblichen Reiter eine möglichst angenehmen, sanfte Reise ermöglichen. So sind diese Tiere an die zierlichere Statur der Frau angepasst und beherrschen „eine speziell erlernte Gangform, das Passen, [um] Unebenheiten im Gelände auszugleichen“.16
4. Die Pferdeszenen
Blickt man mit diesem Hintergedanken auf die verschiedenen Pferde der Enite, so lässt sich feststellen, dass auch diese sich in die zwei Kategorien einteilen lassen: Zum einen gibt es die Rösser, Pferde, die aus Männerhand an Enite geraten, zum Beispiel das Pferd Erecs in der eingangs zitierten Szene. Auch die Pferde der Räuber, an denen Enite unter der Strafe ihres Gemahlen den Pferdedienst zu verrichten hat, fallen in diese Kategorie. Auf der anderen Seite erhält Enite zwei Pferdegeschenke, die jeweils aus der Hand von verschiedenen Frauen stammen und die als Zelter oder Damenpferde zu identifizieren sind. Während Enite bei den Rossen stets neben dem Pferd auftritt, nimmt sie bei den Zeltern die Position der Reiterin ein und macht sich so „die Kräfte des Tieres untertan“17. Dieser Einteilung gemäß sollen nun folgend die Pferdeszenen im Roman in den Blick genommen werden.
4.1. Pferdedienste - Zwischen Bestrafung und Erhöhung
Im Verlauf des Romans wird gleich dreimal beschrieben, wie Enite den Dienst am Pferd verrichtet. Neben der Tatsache, dass das Pferd im allgemeinen männlich konnotiert war, liegt auch in dieser Arbeit „ein Widerspruch zum weiblichen Geschlecht.“ Dies wird geradezu unterstrichen, wenn „Enite im Ausführen dieser Tätigkeit von Hartmann mit den männlich-ritterlichen Appellativa marstaller, schildknehte und knehte belegt wird.“18 Unter dem Begriff schildknehte zum Beispiel wurden eigentlich schildtragende Diener, die Rüstung und Ross besorgten (Vgl. Lexer „schilt-knëht“)19 verstanden, ganz bestimmt aber keine adelige junge Dame.
Das erste Mal wird Enite als schildknehte bezeichnet wird, während sie den Dienst an Erecs Pferd verrichtet, als dieser bei Enites Vater Koralus einkehrt. Hier fällt auf, dass nicht nur Enite „durch“ Erecs Pferd vorgestellt wird, vielmehr wird der deutliche Eindruck wachgerufen, dass sie auch durch Erecs Augen dargestellt wird. Schließlich ist einer der ersten Rückschlüsse, die aus dem Bild des schönen Pferdewirts gezogen werden, dass Enite ze lobelichem wibe nichts fehlen würde. Das macht stutzig, wurde Enite doch wenige Zeilen vorher vom Erzähler noch als kinde beschrieben. Erec hingegen scheint in diesem Kind aber sofort seine künftige Ehefrau zu sehen. Diese Verschränkung der beiden Figuren, eine im Blick des anderen, legt den Schluss nah, dass Enite trotz der völlig unziemlichen Männerarbeit, die sie zu verrichten hat, oder vielleicht gerade wegen dieser, eine enorme Weiblichkeit ausstrahlt, die Erec zu seiner Aussage bringt. Auch über verschiedene Farben und die Gegenüberstellung von Enites makellosen Leib mit ihrer zerrissenen Kleidung, wird der Blick des Lesers für Kontraste geschärft und so tritt dieses „Aufeinanderprallen der Geschlechterrollen“ besonders zutage.
[...]
1 Hartmann von Aue: Erec. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert v. Volker Mertens, Stuttgart (Reclam) 2008, S. 26, im Folgenden zitiert unter Erec, alle Zeilenangaben im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
2 Irmgard Gephart: Enite und die Pferde. Animalischer und zivilisierter Körper in Hartmanns von Aue Erec, in: Friedrich Wolfzettel (Hg.): Körperkonzepte im arthurischen Roman. Tübingen (Niemeyer) 2007.
3 Silke Lahn/ Jan Christoph Meister: Figuren, in: Ders.: Einführung in die Erzähltextanalyse. Stuttgart (Metzler) 2016, S. 237.
4 Lahn/ Meister: Figuren, S. 235.
5 Lahn/Meister: Figuren, S. 236.
6 Per Krogh Hansen: Karakterens rolle. Aspekter af en litterrer karakterologi [Die Rolle des Charakters. Aspekte einer literarischen Charakterologie]. Holte 2000, zitiert nach: Lahn/Meister: Figuren, S. 239.Ebd.
7 Armin Schulz: Echte Menschen und literarische Figuren, in: Manuel Braun u.a. (Hg.): Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Studienausgabe, Berlin/München/Boston (de Gruyter) 2012, S. 9.
8 Schulz: literarische Figuren, S.12.
9 Florian Kragl: Enites schöne Seele. Über einige Schwierigkeiten des höfischen Romans der Blütezeit, Figuren als Charaktere zu erzählen. Mit Seitenblicken auf Chrétien de Troyes und auf den Wilhelm von Orlens des Rudolf von Ems. In Cora Dietl u.a. (Hg.): Emotion und Handlung im Artusroman. Berlin 2017, S. 119.
10 Kragl: Enites schöne Seele, S. 139.
11 Kragl: Enites schöne Seele, S. 135.
12 Manuela Niesner: Schiltkneht Enite. Zur gender-Transzendierung im Erec Hartmanns von Aue, in Zeitschrift für deutsche Philologie 126 (2007), S. 11.
13 Ingrid Bennewitz: Die Pferde der Enite. In Matthias Meyer, Hans-Jochen Schwieer (Hg.): Literarisches Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittels. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Tübingen 2002, S. 6.
14 Niesner: Schildkneht Enite, S. 6.
15 Gephart: Enite und die Pferde, S. 356.
16 Bennewitz: Die Pferde der Enite, S. 7.
17 Gephart: Enite und die Pferde, S. 365.
18 Niesner: Schildkneht Enite, S. 5.
19 Lexer: schilt-knëht, in: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch von Martin Lexer, unter: https://woerterbuchnetz.de/?sigle=Lexer#1 [14.03.2021]